»Ich hätte nie geglaubt, daß es so etwas Schönes gibt«, sagte Goldmond leise. Der Tagesmarsch war anstrengend gewesen, aber die Belohnung am Ende übertraf ihre kühnsten Träume. Die Gefährten standen auf einer Klippe, hoch über der legendären Stadt Qualinost.
Vier schlanke Turmspitzen ragten an den vier Ecken der Stadt empor wie schimmernde Spindeln; der glänzende weiße Stein war mit strahlendem Silber gesprenkelt. Zierliche, mit den Turmspitzen verbundene Bögen erhoben sich in die Luft. Vor langer Zeit von Zwergenschmieden gebaut, waren sie stark genug, um eine ganze Armee zu tragen, dennoch erschienen sie so zerbrechlich, als ob ein Vogel schon ausreichen würde, sie niederzureißen. Diese glitzernden Bögen bezeichneten die Stadtgrenzen; es gab keine Mauern um Qualinost. Die Elfenstadt öffnete ihre Arme liebevoll der Wildnis entgegen.
Die Gebäude in Qualinost zeigten die Verwobenheit mit der Natur. Die Häuser und Geschäfte waren aus rosafarbenem Quarz gebaut. Hoch und schlank wie Espen wölbten sie sich in bizarren Spiralen von quarzgesäumten Straßen nach oben. Im Zentrum stand ein großartiger Turm aus poliertem Gold, der das Sonnenlicht in wirbelnden funkelnden Mustern einfing, die dem Turm Leben gaben. Wenn man auf die Stadt hinuntersah, hatte man den Eindruck, als hätte es seit Jahrhunderten in Qualinost nur Friede und Schönheit gegeben, falls es das überhaupt auf Krynn gab.
»Ruht euch aus«, sagte Gilthanas, als sie ein Espenwäldchen erreichten. »Die Reise war lang, und dafür entschuldige ich mich. Ich weiß, ihr seid müde und hungrig…«
Caramon sah hoffnungsvoll auf.
»Aber ich muß euch noch etwas länger um Nachsicht bitten. Entschuldigt mich.« Gilthanas verbeugte sich und ging dann zu seinem Bruder. Seufzend begann Caramon zum fünften Mal in seinem Rucksack nach Eßbarem zu suchen. Raistlin las in seinem Zauberbuch, seine Lippen wiederholten die schwierigen Worte, versuchten ihre Bedeutung zu erfassen, ihre richtige Betonung zu finden.
Die anderen sahen sich um, bestaunten die Schönheit der Stadt unter ihnen und die Aura uralter Ruhe und Gelassenheit, die über ihr lag. Selbst Flußwind schien berührt zu sein; sein Gesicht entspannte sich, und er hielt Goldmond eng an sich gedrückt. Einen kurzen Moment linderten sich ihre Sorgen und Leiden, und sie fanden Wohlbehagen in der Nähe des anderen. Tika saß abseits und beobachtete sie versonnen. Tolpan versuchte, eine Karte über ihren Weg von Torweg nach Qualinost zu zeichnen, obwohl Tanis ihm bereits viermal gesagt hatte, daß der Weg geheim sei und die Elfen ihn niemals mit einer solchen Karte gehen lassen würden. Der alte Magier Fizban schlief. Sturm und Flint beobachteten Tanis besorgt. Flint, weil nur er allein eine Vorstellung davon hatte, wie der Halb-Elf litt. Sturm, weil er wußte, wie es ist, in eine Heimat zurückzukehren, in der man unerwünscht ist.
Der Ritter legte seine Hand auf Tanis’ Arm. »Nach Hause zurückkehren ist nicht einfach, mein Freund, nicht wahr?« fragte er.
»Nein«, antwortete Tanis leise. »Ich habe gedacht, ich hätte all dies vor langer Zeit hinter mir gelassen, aber jetzt weiß ich, daß das überhaupt nicht der Fall war. Qualinost ist ein Teil von mir, gleichgültig, wie sehr ich es auch leugnen möchte.«
»Psst – Gilthanas«, warnte Flint.
Der Elf ging auf Tanis zu. »Läufer wurden vorgeschickt und sind jetzt zurückgekommen«, sagte er in der Elfensprache. »Mein Vater möchte dich – euch alle – sofort im Sonnenturm sehen. Es gibt leider keine Zeit für Erfrischungen. Wir scheinen roh und unhöflich zu wirken…«
»Gilthanas«, Tanis unterbrach ihn in der Umgangssprache. »Meine Freunde und ich sind durch unvorstellbare Gefahren gegangen. Wir haben Straßen bereist, auf denen – wortwörtlich – die Toten gehen. Wir werden nicht vor Hunger zusammenbrechen« – er blickte kurz zu Caramon, »zumindest die meisten von uns nicht.«
Der Krieger seufzte und schnallte seinen Gürtel enger.
»Danke«, sagte Gilthanas steif. »Ich freue mich, daß du verstehst. Jetzt folgt mir bitte, so schnell ihr könnt.«
Die Gefährten packten eilig ihre Sachen zusammen und weckten Fizban. Als er sich erheben wollte, fiel er über eine Baumwurzel. »Alter Trottel!« schalt er und schlug mit seinem Stab auf die Wurzel ein. »Da – hast du gesehen? Wollte mir eine Falle stellen!« sagte er zu Raistlin.
Der Magier verstaute sein kostbares Buch in seinem Beutel. »Ja, Alter.« Raistlin lächelte und half Fizban beim Aufstehen. Der alte Magier lehnte sich an die Schulter des jüngeren, als sie den anderen folgten. Tanis beobachtete sie erstaunt. Der alte Magier war offensichtlich wirklich etwas senil. Doch dann erinnerte sich Tanis an Raistlins entsetzten Blick, als er wach geworden war und Fizban über sich gebeugt gesehen hatte. Was hatte der Magier gesehen? Was wußte er über den alten Mann? Tanis nahm sich vor, ihn später zu fragen. Nun hatte er jedoch andere Probleme. Er ging schneller und holte den Elf ein.
»Erzähl mir, Gilthanas«, sagte Raistlin in der Elfensprache, die nicht mehr vertrauten Worte fielen ihm nach und nach wieder ein. »Was ist los? Ich habe ein Recht, es zu erfahren.«
»Hast du?« fragte Gilthanas barsch und sah Tanis aus den Winkeln seiner mandelförmigen Augen an. »Hat es dich je gekümmert, was mit den Elfen geschieht? Du kannst ja kaum noch unsere Sprache sprechen!«
»Natürlich kümmert es mich«, sagte Tanis wütend. »Ihr seid auch mein Volk!«
»Und warum stellst du dann dein menschliches Erbe zur Schau?« Gilthanas zeigte auf Tanis’ bärtiges Gesicht. »Man könnte meinen, du würdest dich schämen…« Er stockte, biß sich auf die Lippen und errötete.
Tanis nickte bitter. »Ja, ich habe mich geschämt, und darum bin ich fortgegangen. Aber daß ich mich geschämt habe – wer brachte mich dazu?«
»Vergib mir, Tanthalas«, sagte Gilthanas und schüttelte den Kopf. »Was ich sagte, war gemein, und ich meinte es wirklich nicht so. Es ist nur so… Wenn du nur die Gefahr verstehen würdest, der wir gegenüberstehen!«
»Erzähl mir!« Tanis schrie. »Ich will verstehen!«
»Wir werden Qualinost verlassen«, sagte Gilthanas.
Tanis hielt an und starrte den Elf an. »Qualinost verlassen?« wiederholte er, in seiner Bestürzung hatte er in der Umgangssprache geredet. Die Gefährten hörten ihn und tauschten Blicke aus. Das Gesicht des alten Magiers verdunkelte sich, als er an seinem Bart zog.
»Das kann nicht dein Ernst sein!« sagte Tanis. »Qualinost verlassen! Warum? Sicherlich stehen die Dinge nicht so schlimm…«
»Es steht schlimmer«, sagte Gilthanas traurig. »Sieh dich genau um, Tanthalas. Du siehst Qualinost in seinen letzten Tagen.«
Sie betraten die ersten Straßen der Stadt. Tanis sah auf den ersten Blick, daß alles genauso war, wie er es vor fünfzig Jahren verlassen hatte. Weder die Straßen noch die Espenbäume hatten sich verändert: Die sauberen Straßen glänzten hell im Sonnenschein; die Espen waren vielleicht größer geworden. Ihre Blätter schimmerten im Morgenlicht; die mit Gold und Silber eingelegten Zweige raschelten und sangen. Die Häuser an den Straßen hatten sich nicht verändert. Ihre Quarzverzierungen glänzten im Sonnenlicht und schufen kleine Regenbögen, wohin das Auge sah. Alles schien so, wie es die Elfen lieben – wunderschön, ordentlich, unverändert…
Nein, es stimmte nicht, bemerkte Tanis. Das Lied der Bäume war jetzt traurig und klagend, es war nicht das friedliche und lustige Lied, an das sich Tanis erinnerte. Qualinost hatte sich verändert. Er versuchte, sie zu erfassen, sie zu verstehen, selbst als er spürte, wie seine Seele vor Kummer schmerzte. Die Veränderung lag nicht in den Gebäuden, nicht in den Bäumen, nicht in der Sonne, die durch die Blätter schien. Die Veränderung lag in der Luft, die vor Spannung knisterte wie vor einem Sturm. Und als Tanis durch die Straßen von Qualinost lief, sah er Dinge, die er nie zuvor in seiner Heimat gesehen hatte. Er sah Eile. Er sah Hast. Er sah Unentschlossenheit. Er sah Panik, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.
Frauen, die einander trafen, umarmten sich und weinten, dann trennten sie sich und eilten auf verschiedenen Wegen weiter. Kinder saßen verloren da, verstanden nicht, wußten nur, daß Spielen nicht passend war. Männer versammelten sich in Gruppen, die Hand am Schwert, und hielten ein wachsames Auge auf ihre Familien. Hier und dort brannten Feuer. Die Elfen vernichteten alles, was sie liebten und doch nicht mitnehmen konnten, um es nicht der kommenden Dunkelheit anheimfallen zu lassen.
Tanis hatte um die Zerstörung von Solace getrauert, aber der Anblick dessen, was in Qualinost geschah, drang in seine Seele wie die Klinge eines stumpfen Messers. Er hatte nicht gewußt, was ihm das alles bedeutete. Er hatte gewußt, tief in seinem Herzen, daß Qualinost immer da sein würde, selbst wenn er nie zurückkehren würde. Und nun sollte er selbst das verlieren. Qualinost würde untergehen.
Tanis hörte ein seltsames Geräusch, er wandte sich um und sah den alten Magier weinen.
»Was für Pläne habt ihr? Wohin wollt ihr gehen? Könnt ihr entkommen?« fragte Tanis Gilthanas düster.
»Du wirst die Antworten auf diese Fragen und noch mehr bald bekommen, zu bald, zu bald«, murmelte Gilthanas.
Der Sonnenturm überragte hoch die anderen Gebäude in Qualinost. Das sich in der goldenen Oberfläche reflektierende Sonnenlicht schuf die Illusion von wirbelnder Bewegung. Die Gefährten betraten schweigend den Turm, von Ehrfurcht ergriffen über die Schönheit und Erhabenheit des uralten Gebäudes. Nur Raistlin sah sich unbeeindruckt um. Für seine Augen gab es keine Schönheit, nur Tod.
Gilthanas führte die Gefährten zu einer kleinen Nische. »Wir befinden uns direkt vor dem Hauptsaal«, erklärte er. »Mein Vater trifft sich mit den Familienoberhäuptern, um die Evakuierung zu besprechen. Mein Bruder ist vorgegangen, um ihm unsere Ankunft mitzuteilen. Wenn sie fertig sind, werden wir hineingerufen.« Auf sein Zeichen erschienen Elfen mit Krügen und Schüsseln mit kühlem Wasser. »Bitte, erfrischt euch, solange noch Zeit ist.«
Die Gefährten tranken, dann wuschen sie sich den Reisestaub von Gesicht und Händen. Sturm legte seinen Umhang ab und polierte sorgfältig seine Rüstung mit einem von Tolpans Taschentüchern. Goldmond bürstete ihr glänzendes Haar, behielt aber ihren Umhang an. Sie und Tanis hatten entschieden, das Amulett von Mishakal zu verbergen, bis die Zeit gekommen war, es zu enthüllen. Sie befürchteten, einige könnten es wiedererkennen. Fizban versuchte ohne viel Erfolg, seinen zerbeulten Hut zu richten. Caramon sah sich nach Eßbarem um. Gilthanas stand abseits von ihnen, sein Gesicht war blaß und verkrampft.
Kurz darauf erschien Porthios im gewölbten Türeingang. »Ihr seid aufgerufen«, sagte er ernst.
Die Gefährten betraten den Saal der Stimme der Sonnen. Seit Jahrhunderten hatte kein Mensch das Innere dieses Gebäudes gesehen. Ein Kender gar hatte es noch nie gesehen. Die letzten Zwerge, die ihn gesehen hatten, waren jene, die zur Bauzeit anwesend waren, und das war vor vielen hundert Jahren gewesen.
»Ah, das ist wahre Kunstfertigkeit«, sagte Flint. In seinen Augen schimmerten Tränen.
Der Saal war rund und viel größer, als man von draußen hätte vermuten können. Er war völlig aus weißem Marmor gebaut und wurde weder von Balken noch von Säulen getragen. Der Raum erhob sich einige hundert Meter nach oben und bildete an der Turmspitze eine Kuppel, in der ein wunderschönes Mosaik aus eingelegten glitzernden Kacheln auf der einen Seite den blauen Himmel und die Sonne, auf der anderen den silbernen Mond, den roten Mond und die Sterne darstellte; die Hälften waren durch einen Regenbogen getrennt.
Im Saal gab es keine Lampen. Geschickt gebaute Fenster und Spiegel reflektierten das Sonnenlicht in den Raum, egal, wo sich die Sonne befand. Die Sonnenstrahlen liefen in der Mitte des Raumes zusammen und beleuchteten ein Podium.
Sitzmöglichkeiten waren im Turm nicht vorhanden. Die Elfen standen – Männer und Frauen: Nur die Familienoberhäupter hatten das Recht, an der Versammlung teilzunehmen. Es waren viel mehr Frauen anwesend als früher, wie Tanis sich erinnern konnte; viele waren in Dunkelrosa gekleidet, die Trauerfarbe. Elfen heirateten für das ganze Leben, und eine Wiederheirat nach dem Tod eines Gatten war ausgeschlossen. Dann hatte die Witwe den Status des Familienoberhaupts bis zu ihrem Tod inne.
Die Gefährten wurden zum vorderen Teil des Saales geführt.
Die Elfen machten ihnen in respektvollem Schweigen Platz, warfen ihnen aber seltsam bedrohliche Blicke zu – besonders dem Zwerg, dem Kender und den beiden Barbaren, die in ihren Pelzen grotesk wirkten. Beim Anblick des stolzen und edlen Ritters von Solamnia hob erstauntes Gemurmel an. Vereinzeltes Murren erfolgte beim Erscheinen von Raistlin in seinen roten Gewändern. Elfische Magier trugen die weißen Roben des Guten, und nicht die roten, die für Neutralität standen. Die Elfen glaubten, daß Rot nur eine Stufe von Schwarz entfernt war. Als sich die Menge beruhigt hatte, trat die Stimme der Sonnen auf das Podium.
Es war schon viele Jahre her, daß Tanis die Stimme der Sonnen, seinen Adoptivater, gesehen hatte. Und auch hier sah er Veränderung. Der Mann war immer noch hochgewachsen, sogar größer als sein Sohn Porthios. Er trug seine gelb schimmernde Amtstracht. Sein Gesicht war ernst und hart, sein Auftreten streng. Er war die Stimme der Sonnen, genannt die Stimme. So hieß er schon seit mehr als einem Jahrhundert. Jene, die seinen Namen kannten, sprachen ihn niemals aus – nicht einmal seine Kinder. Aber Tanis sah in seinen Haaren Silbersträhnen, die vorher noch nicht dagewesen waren, und Falten der Sorge und des Leids waren in sein Gesicht gezeichnet.
Porthios gesellte sich zu seinem Bruder, als die Gefährten, von den Elfen geführt, eintraten. Die Stimme der Sonnen breitete seine Arme aus und rief sie zu sich. Sie gingen nach vorn, um ihren Vater zu umarmen.
»Meine Söhne«, sagte die Stimme der Sonnen gebrochen, und Tanis erschrak über diesen Gefühlsausbruch. »Ich habe nicht gedacht, euch beide in diesem Leben noch wiederzusehen. Erzähle mir vom Überfall«, sagte er zu Gilthanas.
»Zu gegebener Zeit, Stimme der Sonnen«, antwortete Gilthanas. »Zuerst bitte ich dich, unsere Gäste zu begrüßen.«
»Ja, richtig, es tut mir leid.« Die Stimme der Sonnen strich mit einer zitternden Hand über sein Gesicht. »Vergebt mir, Gäste. Ich heiße Euch willkommen. Ihr habt dieses Königreich betreten, zu dem seit vielen Jahren niemand Zutritt hatte.«
Gilthanas sprach zu ihm ein paar Worte, und die Stimme der Sonnen warf Tanis einen scharfen Blick zu, dann winkte er den Halb-Elfen zu sich. Seine Worte waren kühl, sein Auftreten höflich angespannt. »Bist du es wirklich, Tanthalas, der Sohn meines Bruders Frau? Es sind viele Jahre vergangen, und wir alle haben uns gefragt, was aus dir geworden ist. Wir heißen dich in unserer Heimat willkommen, obwohl ich fürchte, du wirst ihre letzten Tage erleben. Besonders meine Tochter wird sich freuen, dich zu sehen. Sie hat ihren Gefährten der Kindheit vermißt.«
Bei diesen Worten versteifte sich Gilthanas, sein Gesicht verdunkelte sich, als er Tanis ansah. Der Halb-Elf spürte, wie er errötete. Er verbeugte sich tief vor der Stimme der Sonnen, unfähig, ein Wort herauszubringen.
»Ich heiße Euch andere willkommen und hoffe, Euch später besser kennenzulernen. Wir werden Euch nicht lange aufhalten, aber es ist nur Rechtens, wenn ihr in diesem Raum erfahrt, was in der Welt passiert. Dann werdet ihr Euch ausruhen und erfrischen können. Nun, mein Sohn« – die Stimme der Sonnen wandte sich an Gilthanas, offensichtlich dankbar, die Formalitäten beendet zu haben. »Der Überfall auf Pax Tarkas?«
Gilthanas trat mit gebeugtem Kopf nach vorn. »Ich habe versagt, Stimme der Sonnen.«
Ein Gemurmel ging durch die Elfen. Das Gesicht der Stimme der Sonnen blieb unbeweglich. Er seufzte nur und bat ruhig: »Erzähle deine Geschichte.«
Gilthanas schluckte, dann sprach er so leise, daß die Hinteren im Raum vorrücken mußten, um ihn zu verstehen.
»Ich reiste heimlich in den Süden mit meinen Kriegern, so wie es geplant war. Alles verlief gut. Wir trafen auf eine Gruppe menschlicher Widerstandskämpfer, Flüchtlinge aus Torweg, die sich uns anschlössen. Dann stolperten wir durch einen grausamen Zufall in eine Patrouille der Drakoarmee. Wir kämpften mutig, Elfen und Menschen zusammen, aber ohne Erfolg. Ich wurde am Kopf getroffen und erinnerte mich an nichts mehr. Als ich wieder erwachte, lag ich in einer Bergschlucht, umgeben von den Körpern meiner Kameraden. Offenbar hatten die Drakos die Verwundeten über die Klippe geschoben und gedacht, wir wären tot.« Gilthanas hielt inne und räusperte sich. »Druiden in den Wäldern kümmerten sich um meine Verletzungen. Von ihnen erfuhr ich, daß die meisten meiner Kämpfer noch lebten und gefangengenommen worden waren. Ich verließ die Druiden und folgte den Spuren der Drakoarmee und kam schließlich nach Solace.«
Gilthanas stockte. Sein Gesicht glitzerte vom Schweiß, und seine Hände zuckten nervös. Wieder räusperte er sich, versuchte zu sprechen, es gelang ihm nicht. Sein Vater beobachtete ihn mit wachsender Sorge.
Dann sprach Gilthanas wieder. »Solace ist zerstört.«
Die Zuhörer stöhnten auf.
»Die mächtigen Vallenholzbäume sind gefällt und verbrannt – es stehen nur noch wenige.«
Die Elfen jammerten und weinten vor Abscheu und Wut. Die Stimme der Sonnen hielt seine Hand hoch. »Das sind furchtbare Nachrichten«, sagte er ernst. »Wir trauern um das Vergehen der Bäume, die selbst für unser Verstehen alt sind. Aber fahre fort – was ist mit unseren Leuten?«
»Ich fand meine Männer mitten auf dem Marktplatz an Pfähle gefesselt, zusammen mit den Menschen, die uns geholfen haben«, sagte Gilthanas mit gebrochener Stimme. »Sie waren von Drakonierwachen umgeben. Ich hoffte, sie in der Nacht befreien zu können. Dann…« Jetzt brach seine Stimme völlig, und er senkte seinen Kopf, bis sein älterer Bruder zu ihm trat und eine Hand auf seine Schulter legte. Gilthanas richtete sich wieder auf. »Ein roter Drache erschien am Himmel…«
Von den versammelten Elfen kamen entsetzte und erschreckte Aufschreie. Die Stimme der Sonnen schüttelte kummervoll den Kopf.
»Ja, Stimme der Sonnen«, sagte Gilthanas, und seine Stimme wurde laut, unnatürlich laut und kreischend. »Es ist wahr. Diese Ungeheuer sind nach Krynn zurückgekehrt. Der rote Drache kreiste über Solace, und alle, die ihn sahen, flohen vor Entsetzen. Er flog niedriger und niedriger und landete auf dem Marktplatz. Sein riesiger, glänzender roter Reptilienkörper füllte den ganzen Platz, seine Flügel verbreiteten Zerstörung, sein Schwanz riß Bäume aus. Gelbe Fänge glitzerten, grüner Speichel troff aus seinem Rachen, seine riesigen Klauen krallten sich in den Boden… und auf seinem Rücken saß ein Mensch.
Stabil gebaut, war er in die schwarze Robe eines Klerikers der Königin der Finsternis gekleidet. Ein schwarzgoldener Umhang flatterte um ihn. Sein Gesicht war hinter einer abscheulichen, gehörnten Maske in Schwarz und Gold, in Anlehnung an das Gesicht eines Drachen, verborgen. Die Drachenleute fielen vor Verehrung auf die Knie, als der Drache landete. Die Goblins und Hobgoblins und die verrufenen Menschen, die sich den Drachenleuten angeschlossen hatten, verkrochen sich vor Angst; viele rannten fort. Nur das Beispiel meiner Leute gab mir den Mut auszuharren.«
Jetzt schien Gilthanas geradezu erpicht darauf zu sein, die Geschichte zu Ende zu erzählen. »Einige der an die Pfähle gefesselten Menschen wurden verrückt vor Angst und schrien erbärmlich. Aber meine Krieger blieben ruhig und trotzig, obwohl alle gleichermaßen von der Drachenangst gepackt waren. Der Drachenreiter schien darüber nicht erfreut zu sein. Er starrte sie an, und dann sprach er mit einer Stimme, die aus den Tiefen des Abgrundes kam. Seine Worte sind immer noch in meinem Kopf eingebrannt.
›Ich bin Verminaard, Drachenfürst aus dem Norden. Ich habe gekämpft, um dieses Land und diese Leute von dem falschen Glauben, der von jenen, die sich Sucher nennen, verbreitet wird, zu befreien. Viele sind zu mir gekommen, um für mich zu arbeiten, glücklich, der großen Sache der Drachenfürsten dienen zu können. Ich habe ihnen Gnade erwiesen und sie mit den Segnungen, die meine Göttin mir gewährt hat, ausgezeichnet. Ich verfüge über Zaubersprüche der Heilkunst wie kein anderer in diesem Land, und von daher wißt ihr, daß ich ein Vertreter der wahren Götter bin. Aber ihr Menschen, die ihr jetzt vor mir steht, habt mich herausgefordert. Ihr habt euch entschieden, mich zu bekämpfen, und darum wird eure Bestrafung als Beispiel für all jene dienen, die sich für Torheit und nicht für Weisheit entscheiden.
Dann wandte er sich an die Elfen und sagte:›Durch diesen Akt gebe ich, Verminaard, zu verstehen, daß ich eure Rasse völlig ausrotten werde, wie es meine Göttin bestimmt hat. Menschen kann man ihre Fehler klarmachen, aber Elfen – niemals!‹Die Stimme des Mannes wurde lauter, bis sie die Winde übertönte.›Laßt das eure letzte Warnung sein – für alle, die zusehen! Ember, zerstöre!‹
Und nach diesem Befehl spie der große Drache Feuer auf alle an den Pfählen Gefesselten. Sie krümmten sich hilflos, verbrannten in einem furchtbaren Todeskampf…«
Im Saal war es völlig still. Der Schock und das Entsetzen waren zu groß, um sie in Worte zu fassen.
»Der Wahnsinn überfiel mich«, fuhr Gilthanas fort, seine Augen brannten fiebrig. »Ich wollte vorstürzen, um mit meinen Leuten zu sterben, als mich eine Hand ergriff und nach hinten zog. Es war Theros Eisenfeld, der Schmid von Solace.›Es ist nicht die Zeit zu sterben, Elf‹, sagte er. Jetzt ist die Zeit für Rache. Ich… ich wurde ohnmächtig, und er brachte mich in sein Haus, obwohl er dadurch selbst sein Leben in Gefahr brachte. Und er hätte für seine Hilfsbereitschaft mit seinem Leben bezahlt, wenn diese Frau ihn nicht geheilt hätte!«
Gilthanas zeigte auf Goldmond, die weiter hinten stand, ihr Gesicht kaum erkennbar durch ihren Fellumhang. Die Stimme der Sonnen und die anderen Elfen starrten sie an, ihr Gemurmel war düster und unheilvoll.
»Auch Theros wurde heute hierher gebracht, Stimme der Sonnen«, sagte Porthios. »Der Mann mit nur einem Arm. Unsere Heiler sagen, daß er leben wird. Aber sie sagen auch, daß ein Wunder geschehen sein muß, so schrecklich waren seine Verletzungen.«
»Tritt vor, Frau der Ebenen«, befahl die Stimme der Sonnen ernst. Goldmond trat einen Schritt auf das Podium zu, Flußwind blieb an ihrer Seite. Zwei Elfenwachen wollten ihn aufhalten. Er sah sie nur an, blieb aber dann, wo er war.
Die Tochter des Stammeshäuptlings ging weiter nach vorn. Als sie ihre Kapuze zurückzog, fiel die Sonne auf ihr silbriggoldenes Haar. Die Elfen starrten sie bewundernd an.
»Du behauptest, diesen Mann – Theros Eisenfeld – geheilt zu haben?« fragte die Stimme der Sonnen sie mit Verachtung.
»Ich behaupte nichts«, antwortete Goldmond kühl. »Dein Sohn hat gesehen, wie ich ihn geheilt habe. Bezweifelst du seine Worte?«
»Nein, aber er war erschöpft, krank und verwirrt. Er könnte Hexenkunst mit Heilen verwechselt haben.«
»Schau her«, sagte Goldmond sanft, öffnete ihren Umhang und machte ihren Hals frei. Das Amulett funkelte im Sonnenlicht.
Die Stimme der Sonnen verließ die Plattform und kam auf sie zu, seine Augen voll Zweifel weit aufgerissen. Dann verzerrte sich sein Gesicht vor Zorn. »Gotteslästerung!« schrie er. Er holte aus und wollte Goldmond das Amulett vom Hals reißen.
Blaues Licht blitzte auf. Die Stimme der Sonnen stürzte mit einem Schmerzensschrei zu Boden. Als die Elfen nach den Wachen schrien und ihre Schwerter zogen, griffen die Gefährten nach ihnen. Elfenkrieger umzingelten sie.
»Hört mit dem Unsinn auf!« sagte der alte Magier mit energischer, ernster Stimme. Fizban trottete auf das Podium zu und schob gelassen Schwertklingen beiseite, als wären sie schlanke Zweige eines Espenbaumes. Die Elfen starrten ihn erstaunt an, unfähig, ihn aufzuhalten. Zu sich selbst murmelnd erreichte Fizban die Stimme der Sonnen, der wie gelähmt auf dem Boden lag. Der alte Mann half dem Elf beim Aufstehen.
»Nun denn, du hast danach gefragt, das weißt du«, schimpfte Fizban und streifte mit der Hand über die Robe der Stimme der Sonnen, während der Elf ihn mit offenem Mund angaffte.
»Wer bist du?« keuchte die Stimme der Sonnen.
»Mmmmh. Wie war der Name?« Der alte Magier warf Tolpan einen Blick zu.
»Fizban«, sagte der Kender hilfsbereit.
»Ja, Fizban. Der bin ich.« Der Magier strich über seinen weißen Bart. »Nun, Solostaran, ich schlage vor, du rufst deine Wachen zurück und sagst allen, sie sollen sich beruhigen. Ich für meinen Teil würde gern die Geschichte dieser jungen Frau hören, und du für deinen Teil solltest ihr lieber auch zuhören. Es würde dir auch nicht weh tun, dich zu entschuldigen.«
Als Fizban auf die Stimme der Sonnen mit einem Finger zeigte, rutschte sein zerbeulter Hut nach vorn und bedeckte seine Augen. »Hilfe! Ich bin blind!« Raistlin, mit einem mißtrauischen Blick auf die Elfenwachen, eilte zu ihm. Er nahm den Arm des alten Mannes und schob ihm den Hut aus dem Gesicht.
»Ah, Dank den wahren Göttern«, sagte der Magier, blinzelte und schlurfte davon. Die Stimme der Sonnen beobachtete mit verwirrtem Gesichtsausdruck den alten Magier. Dann, als ob er träumen würde, wandte er sich zu Goldmond.
»Ich entschuldige mich, Dame der Ebenen«, sagte er leise. »Es ist schon über dreihundert Jahre her, seit die Elfenkleriker verschwunden sind, dreihundert Jahre, seit das Symbol von Mishakal in diesem Land gesehen wurde. Mein Herz blutete, als ich das Amulett entweiht sah, wie ich dachte. Vergib mir. Wir sind nun schon so lange verzweifelt, daß ich nicht mehr das Kommen der Hoffnung erkenne. Bitte, wenn du nicht erschöpft bist, erzähle uns deine Geschichte.«
Goldmond erzählte die Geschichte des Stabs, erzählte von Flußwind und der Steinigung, vom Treffen der Gefährten im Wirtshaus und von ihrer Reise nach Xak Tsaroth. Sie erzählte von der Vernichtung des Drachen und wie sie das Amulett von Mishakal erhalten hatte. Aber sie erwähnte nicht die Scheiben.
Die Sonnenstrahlen wurden länger, während sie sprach, änderten ihre Farbe, als die Dämmerung nahte. Als sie mit ihrer Geschichte fertig war, schwieg die Stimme der Sonnen lange Zeit.
»Ich muß über all das nachdenken und darüber, was es für uns bedeutet«, sagte er schließlich. Er wandte sich an die Gefährten. »Ihr seid erschöpft. Ich sehe, einige von euch können sich nur aus reiner Tapferkeit auf den Füßen halten. In der Tat« – er lächelte, als er zu Fizban sah, der an eine Säule gelehnt stand und leise schnarchte – »einige von euch schlafen sogar auf den Füßen. Meine Tochter Laurana wird euch an einen Ort führen, an dem ihr eure Ängste vergessen könnt. Heute abend werden wir euch zu Ehren ein Festessen geben, denn ihr habt uns Hoffnung gebracht. Der Friede der wahren Götter soll mit euch sein.«
Die Elfen teilten sich und ließen eine Elfe durch, die zum Podium ging und sich neben die Stimme der Sonnen stellte. Bei ihrem Anblick blieb Caramon der Mund offen stehen. Flußwinds Augen weiteten sich. Selbst Raistlin erstarrte: Endlich sahen seine Augen Schönheit, denn keine Spur von Zerfall zeichnete das junge Elfenmädchen. Ihr Haar war wie Honig, der aus einem Krug floß; es lief über ihre Arme und über ihren Rücken, ihre Taille, bis zu den Handgelenken. Ihre Haut war glatt und waldbraun. Sie hatte die zarten und feinen Gesichtszüge der Elfen, nur der Mund war ein wenig voller, und ihre Augen waren groß und klar; Augen, die ihre Farbe wie Blätter im flackernden Sonnenschein veränderten.
»Auf meine Ehre als Ritter«, sagte Sturm mit stockender Stimme, »noch nie habe ich solch eine wunderschöne Frau gesehen.«
»Das wirst du auch nicht mehr in dieser Welt«, murmelte Tanis.
Die Gefährten blickten erstaunt auf, als Tanis sprach, aber der Halb-Elf bemerkte es nicht. Seine Augen waren auf das Elfenmädchen gerichtet. Sturm runzelte die Augenbrauen, tauschte mit Caramon Blicke, der seinen Bruder anstieß. Flint schüttelte den Kopf und seufzte tief.
»Jetzt wird vieles klarer«, sagte Goldmond zu Flußwind.
»Für mich ist es aber nicht klar«, sagte Tolpan. »Weißt du, was los ist, Tika?«
Alles, was Tika wußte, als sie Laurana sah, war, daß sie sich plötzlich plump und halbnackt, sommersprossig und rothaarig fühlte. Sie zog ihre Bluse höher über ihren Busen, hoffte, daß sie nicht ganz soviel enthüllte, oder wünschte, daß sie weniger zu enthüllen hätte.
»Sag mir, was los ist?« flüsterte Tolpan, der sah, wie die anderen einander ansahen.
»Ich weiß nicht!« schnappte Tika. »Ich weiß nur, daß sich Caramon zum Narren macht. Sieh dir doch den großen Ochsen an. Man könnte meinen, er hat noch nie eine Frau gesehen.«
»Sie ist hübsch«, sagte Tolpan. »Ganz anders als du, Tika. Sie ist schlanker, und sie geht wie ein Baum, der sich im Wind neigt und…«
»Oh, halt den Mund!« flüsterte Tika wütend und gab Tolpan einen Schubs, daß er beinahe hingefallen wäre.
Tolpan sah sie verletzt an, dann ging er zu Tanis, entschlossen, sich in der Nähe des Halb-Elfs aufzuhalten, bis er wußte, was vor sich ging.
»Ich heiße euch in Qualinost willkommen, geehrte Gäste«, sagte Laurana schüchtern mit einer Stimme, die wie ein klarer Bach perlte. »Folgt mir bitte. Der Weg ist nicht weit, und am Ende könnt ihr essen und trinken und euch ausruhen.«
Anmutig ging sie auf die Gefährten zu, die sich vor ihr teilten, so wie es die Elfen getan hatten, und sie bewundernd anstarrten. Laurana senkte ihre Augen in mädchenhafter Bescheidenheit und Befangenheit, ihre Wangen röteten sich. Sie sah nur einmal auf, als sie an Tanis vorbeiging – ein flüchtiger Blick, den nur Tanis bemerkte. Sein Gesicht wurde finster, seine Augen verdunkelten sich.
Die Gefährten weckten Fizban und verließen den Sonnenturm.