6 Tanis und Laurana

Laurana führte sie zu einem schattigen Espenwäldchen mitten im Stadtzentrum. Sie schienen sich im Herzen eines Waldes zu befinden, obwohl sie von Gebäuden und Straßen umgeben waren. Nur das Gemurmel eines nahen Baches brach die Stille. Laurana zeigte auf Obstbäume zwischen den Espen und bat die Gefährten, sich an den Früchten zu bedienen. Elfenmädchen brachten Körbe mit frischem, duftendem Brot. Die Gefährten wuschen sich im Bach, dann legten sie sich auf das weiche Moos und genossen die friedliche Atmosphäre. Alle außer Tanis. Er lehnte ab zu essen und wanderte in dem Wäldchen herum, in Gedanken versunken. Tolpan beobachtete ihn heimlich, von Neugierde verzehrt.

Laurana war eine vollendet charmante Gastgeberin. Sie kümmerte sich um alle und tauschte mit jedem einzelnen ein paar Worte aus.

»Flint Feuerschmied, nicht wahr?« fragte sie. Der Zwerg errötete vor Freude. »Ich habe immer noch einige wundervolle Spielsachen, die du mir gemacht hast. Wir haben dich in all diesen Jahren vermißt.«

Flint war so verwirrt, daß er nicht sprechen konnte. Er ließ sich auf das Gras fallen und kippte hastig einen riesigen Krug Wasser hinunter.

»Du bist Tika?« fragte Laurana das Barmädchen.

»Tika Waylan«, antwortete das Mädchen heiser.

»Tika, ein schöner Name. Und was für schönes Haar du hast«, sagte Laurana und berührte bewundernd die federnden roten Locken.

»Findest du wirklich?« fragte Tika und errötete, als sie Caramons Augen auf sich gerichtet sah.

»Natürlich! Es ist die Farbe der Flamme. Dein Charakter muß genauso sein. Ich habe gehört, wie du das Leben meines Bruders gerettet hast, Tika. Ich stehe tief in deiner Schuld.«

»Danke«, sagte Tika leise. »Dein Haar ist auch sehr schön.«

Laurana lächelte und ging weiter. Tolpan bemerkte jedoch, daß ihre Augen ständig Tanis suchten. Als der Halb-Elf plötzlich einen Apfel wegwarf und in den Bäumen verschwand, entschuldigte sich Laurana eilig und folgte ihm.

»Ah, jetzt werde ich herausfinden, was hier vor sich geht!« sagte Tolpan zu sich. Er blickte sich um und schlüpfte Tanis hinterher.

Tolpan kroch einen Pfad entlang, der sich unter den Bäumen dahinschlängelte, und war plötzlich dicht beim Halb-Elf, der allein an einem reißenden Fluß stand und Laub in das Wasser warf. Als er zu seiner Linken eine Bewegung wahrnahm, verkroch sich Tolpan schnell hinter einem Gebüsch. Laurana tauchte von einem anderen Pfad auf.

»Tanthalas Quisif nan-Pah!« rief sie.

Als Tanis sich bei dem Klang seines Namens umdrehte, schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn. »Ugh«, sagte sie neckend und bog sich zurück. »Rasier diesen furchtbaren Bart ab. Er kratzt! Und du siehst gar nicht mehr wie Tanthalas aus.«

Tanis legte seine Hände um ihre Taille und schob sie sanft weg. »Laurana…«, begann er.

»Nein, sei jetzt nicht wegen des Barts eingeschnappt. Ich werde mich daran gewöhnen, wenn du darauf bestehst«, bat Laurana schmollend. »Küß mich! Nein? Dann küsse ich dich so lange, bis du nicht mehr anders kannst.« Sie küßte ihn immer wieder, bis sich Tanis schließlich aus ihrem Griff befreite.

»Hör auf, Laurana«, sagte er barsch und wandte sich ab.

»Warum, was ist los?« fragte sie und ergriff seine Hand. »Du warst so viele Jahre fort. Und jetzt bist du zurück. Sei nicht so kalt und düster. Du bist mein Verlobter, erinnerst du dich nicht mehr? Es ist normal, daß ein Mädchen ihren Verlobten küßt.«

»Das ist lange her«, sagte Tanis. »Damals waren wir Kinder und spielten ein Spiel, nichts weiter. Es war romantisch, geheimnisvoll. Du weißt, was geschehen wäre, wenn dein Vater dahintergekommen wäre. Gilthanas hat es herausgefunden, nicht wahr?«

»Natürlich! Ich habe es ihm erzählt«, sagte Laurana, ließ ihren Kopf hängen und sah Tanis durch ihre langen Wimpern an. »Ich erzähle Gilthanas alles, das weißt du. Ich habe nicht geahnt, daß er so reagieren würde! Ich weiß, was er dir damals gesagt hat. Er erzählte es mir später. Es ging ihm sehr schlecht.«

»Darauf werte ich.« Tanis ergriff ihre Handgelenke und hielt ihre Hände fest. »Er hatte recht, Laurana! Ich bin ein uneheliches Kind und ein Mischling. Dein Vater hätte jedes Recht gehabt, mich zu töten! Wie könnte ich Schande über ihn bringen, nach allem, was er für meine Mutter und für mich getan hatte? Das war ein Grund, warum ich fortging – und um herauszufinden, wer ich bin und wohin ich gehöre.«

»Du bist Tanthalas, mein Geliebter, und du gehörst zu mir!« schrie Laurana. Sie befreite sich aus seinem Griff und nahm seine Hände. »Sieh! Du trägst immer noch meinen Ring. Ich weiß, warum du fortgegangen bist. Du hattest Angst, mich zu lieben, aber du brauchst keine Angst mehr zu haben. Alles hat sich geändert. Vater hat so viele Probleme, es würde ihn nicht stören. Außerdem bist du jetzt ein Held. Bitte, laß uns heiraten. Ist das nicht der Grund, warum du zurückgekehrt bist?«

»Laurana«, Tanis sprach sanft, aber bestimmt, »meine Rückkehr war ein Zufall…«

»Nein!« schrie sie und schob ihn weg. »Ich glaube dir nicht.«

»Aber du mußt doch Gilthanas’ Geschichte kennen. Wenn Porthios uns nicht befreit hätte, wären wir jetzt in Pax Tarkas!«

»Er hat es erfunden! Er wollte mir nicht die Wahrheit sagen. Du bist zurückgekommen, weil du mich liebst. Etwas anderes will ich nicht hören.«

»Ich wollte es dir nicht sagen, aber es bleibt mir wohl nichts anderes übrig«, sagte Tanis ärgerlich. »Laurana, ich liebe eine andere – eine menschliche Frau. Sie heißt Kitiara. Das heißt nicht, daß ich dich nicht auch liebe. Ich…«, Tanis stockte.

Laurana starrte ihn an, aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen.

»Ich liebe dich, Laurana. Aber, verstehst du, ich kann dich nicht heiraten, weil ich sie auch liebe. Mein Herz ist gespalten, so wie mein Blut.« Er zog den Ring aus goldenen Efeublättern ab und reichte ihn ihr. »Ich entbinde dich von allen Versprechen, die du mir gegeben hast, Laurana. Ich bitte dich, auch mich zu entbinden.«

Laurana nahm den Ring, unfähig etwas zu sagen. Sie sah Tanis flehend an, doch als sie nur Mitleid in seinem Gesicht sah, schrie sie gellend auf und warf den Ring fort. Er fiel vor Tolpans Füße. Er hob ihn auf und ließ ihn in einen Beutel gleiten.

»Laurana«, sagte Tanis kummervoll, nahm sie in seine Arme, als sie wild aufschluchzte. »Es tut mir leid. Ich habe nie gewollt…«

An diesem Punkt entfernte sich Tolpan und ging wieder zu den anderen.

»Nun«, sagte der Kender zu sich und seufzte zufrieden, »jetzt weiß ich zumindest, was los ist.«

Tanis wurde plötzlich wach, als Gilthanas über ihm stand. »Laurana?« fragte er und erhob sich.

»Mit ihr ist alles in Ordnung«, sagte Gilthanas ruhig. »Ihre Mädchen haben sie nach Hause gebracht. Sie hat mir euer Gespräch erzählt. Ich will nur wissen, ob ich es richtig verstanden habe. Genau das habe ich die ganze Zeit befürchtet. Die menschliche Seite in dir schreit nach anderen Menschen. Ich habe versucht, ihr das zu erklären, habe gehofft, sie nicht zu verletzen. Jetzt wird sie mir zuhören. Vielen Dank, Tanthalas. Ich weiß, es war bestimmt nicht einfach.«

»Das war es wahrhaftig nicht«, sagte Tanis und schluckte. »Ich will ehrlich sein, Gilthanas – ich liebe sie, wirklich. Es ist nur…«

»Bitte, sag nichts mehr. Laß es, wie es ist, und vielleicht, wenn wir schon keine Freunde sein können, können wir uns wenigstens respektieren.« Gilthanas’ Gesicht wirkte im Sonnenuntergang abgespannt und blaß. »Du und deine Freunde müßt euch jetzt vorbereiten. Wenn der silberne Mond aufgeht, wird es ein Fest geben, und dann findet die Zusammenkunft des Obersten Rates statt. Es ist an der Zeit, Entscheidungen zu fällen.«

Er ging. Tanis sah ihm einen Moment nach, dann machte er sich seufzend daran, die anderen zu wecken.

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