2 Der Fremde. Gefangen

An diesem Abend war das Wirtshaus nicht gut besucht. Die Stammgäste waren jetzt Drakonier, nur gelegentlich kehrten auch Bürger von Solace ein. Normalerweise blieben sie nicht lange, empfanden die Gesellschaft als unangenehm, deren Anblick die schrecklichen Erinnerungen wieder heraufbeschwor.

Eine Gruppe von Hobgoblins, mit wachsamen Blicken auf die Drakonier, und drei einfach gekleidete Menschen aus dem Norden saßen im Schankraum. Ursprünglich stolz, in Lord Verminaards Diensten zu stehen, kämpften sie jetzt nur noch aus reiner Lust am Töten und Plündern. Einige Ortsansässige hatten sich in einer Ecke verkrochen. Hederick, der Theokrat, saß nicht an seinem Stammplatz. Lord Verminaard hatte die Dienste des Obersten Theokraten belohnt, indem er ihn als ersten in die Sklavenminen geschickt hatte.

Vor Einbruch der Dämmerung betrat ein Fremder das Wirtshaus und setzte sich an einen Tisch in einer dunklen Ecke nahe der Tür. Tika konnte nicht viel über ihn sagen – er war in einen Mantel gehüllt und trug eine weit ins Gesicht gezogene Kapuze. Er schien müde und erschöpft zu sein und sank in den Stuhl, als würden seine Beine ihn nicht länger tragen.

»Was möchtet Ihr trinken?« fragte Tika.

Der Mann senkte den Kopf und zog mit einer schlanken Hand die Kapuze an einer Seite etwas tiefer. »Nichts, danke«, sagte er mit einer weichen, akzentuierten Stimme. »Ist es erlaubt, hier zu sitzen und sich auszuruhen? Ich soll hier jemanden treffen.«

»Wie wäre es mit einem Glas Bier, während Ihr wartet?« Tika lächelte.

Der Mann sah hoch, und seine braunen Augen blitzten aus der Kapuze hervor. »Sehr schön«, sagte der Fremde. »Ich habe Durst. Bring mir ein Bier.«

Tika steuerte auf die Theke zu. Als sie das Bier zapfte, hörte sie weitere Gäste das Lokal betreten.

»Ich komme gleich«, rief sie. »Setzt euch irgendwo hin. Ich komme so schnell wie möglich!« Sie blickte über die Schulter zu den Neuankömmlingen und ließ fast den Krug fallen. Tika keuchte, dann riß sie sich zusammen. Laß dir nichts anmerken!

»Setzt euch, Fremde«, sagte sie laut.

Einer von ihnen, ein großer Bursche, wollte gerade etwas sagen. Tika sah ihn düster an und schüttelte den Kopf. Ihre Augen bewegten sich zu den Drakoniern, die mitten im Raum saßen. Ein bärtiger Mann führte die Gruppe an den Drakoniern vorbei, die die Fremden neugierig musterten.

Es waren vier Männer und eine Frau, ein Zwerg und ein Kender. Die Gewänder und Stiefel der Männer waren schlammbedeckt. Einer war ungewöhnlich groß, ein anderer ungewöhnlich breit. Die Frau trug Felle und hatte sich bei dem großen Mann eingehakt. Alle schienen niedergeschlagen und müde zu sein. Einer der Männer hustete und stützte sich schwer auf einen seltsam aussehenden Stab. Sie durchquerten den Raum und setzten sich an einen Tisch am äußersten Ende.

»Noch mehr Flüchtlingsabschaum«, höhnte einer der Drakonier. »Aber sie sehen gesund aus, und Zwerge sollen ja gute Arbeiter sein… Ich frage mich, warum sie noch nicht in den Minen sind?«

»Das werden sie schon, sobald der Truppführer sie gesehen hat.«

»Vielleicht sollten wir jetzt gleich diese Angelegenheit regeln«, sagte ein dritter und blickte finster zu den acht Fremden hinüber.

»Na, ich bin jetzt nicht im Dienst. Sie werden sowieso nicht weit kommen.«

Die anderen lachten und wandten sich wieder ihren Getränken zu.

Tika brachte dem braunäugigen Fremden das Bier, stellte es eilig vor ihm ab und eilte zu den neuen Gästen.

»Was möchtet ihr?« fragte sie kühl.

Der große Bärtige antwortete mit heiserer Stimme. »Bier und etwas zu essen und Wein für ihn.« Dabei nickte er dem Mann zu, der fast ununterbrochen hustete.

Der zerbrechliche Mann schüttelte den Kopf. »Heißes Wasser«, flüsterte er.

Tika nickte und drehte sich um, um wie gewöhnlich die Bestellung an die Küche weiterzugeben. Dann erinnerte sie sich, daß die Küche ja zerstört war, fuhr herum und steuerte auf die provisorische Küche zu, die von Goblins unter Aufsicht der Drakonier gebaut worden war. Dort erstaunte sie den Koch, als sie ohne ein Wort die ganze Bratpfanne mit Würzbratkartoffeln nahm und in die Gaststube trug.

»Bier für alle und einen Krug heißes Wasser!« rief sie Dezra hinter der Theke zu. Sie gab den Hobgoblins Zeichen, während sie zu den neuen Gästen zurückeilte. Während sie die Bratpfanne auf dem Tisch abstellte, warf sie den Drakoniern einen schnellen Blick zu. Als sie sah, daß diese ins Trinken vertieft waren, schlang sie plötzlich ihre Arme um den breiten Mann und gab ihm einen Kuß, der ihn erröten ließ.

»O Caramon«, wisperte sie. »Ich wußte, du würdest wegen mir zurückkommen! Nimm mich mit! Bitte, bitte!«

»Nun, nun«, sagte Caramon, tätschelte verlegen ihren Rücken und sah flehend zu Tanis. Der Halb-Elf mischte sich schnell ein, indem er seine Augen auf die Drakonier richtete.

»Tika, beruhige dich«, sagte er. »Wir haben Zuschauer.«

»Du hast recht«, sagte sie lebhaft, richtete sich auf und glättete ihre Schürze. Sie deckte den Tisch und begann, die Würzkartoffeln auszuteilen, als Dezra Bier und heißes Wasser brachte.

»Was ist in Solace passiert?« fragte Tanis mit leiser Stimme.

Tika berichtete schnell, was vorgefallen war, während sie die Teller füllte, wobei sie Caramon die doppelte Portion gab. Die Gefährten lauschten in bitterem Schweigen.

»Und jetzt«, schloß Tika, »sind hier pausenlos die Sklavenkarawanen nach Pax Tarkas unterwegs. Inzwischen haben sie fast alle gefangengenommen, nur brauchbare Handwerker, wie Theros Eisenfeld, dürfen bleiben. Ich habe Angst um ihn.« Sie sprach noch leiser. »Gestern abend hat er mir geschworen, daß er nicht länger für sie arbeiten will. Es fing alles mit dieser Gruppe gefangener Elfen an…«

»Elfen? Was machen denn Elfen hier?« fragte Tanis. Vor Aufregung sprach er zu laut. Die Drakonier wandten sich zu ihm um; der Fremde mit der Kapuze hob seinen Kopf. Tanis kauerte sich zusammen und wartete, bis sich die Drakonier wieder ihrem Bier widmeten. Gerade als Tanis Tika weiter über die Elfen ausfragen wollte, bestellte ein Drakonier ein Bier.

Tika seufzte. »Ich gehe lieber.« Sie stellte die Bratpfanne ab. »Ihr könnt alles essen.«

Die Gefährten aßen lustlos, die Kartoffeln schmeckten nach Asche. Raistlin trank seinen selbstgemischten Kräutertee, worauf sich sein Husten fast umgehend verbesserte. Caramon beobachtete Tika beim Essen mit einem nachdenklichen Gesicht. Er konnte immer noch ihren warmen Körper fühlen, der ihn umarmt hatte, und ihre weichen Lippen. Angenehme Empfindungen durchströmten ihn, und er fragte sich, ob die Geschichten, die er über Tika gehört hatte, wohl stimmten. Der Gedanke stimmte ihn traurig und zugleich wütend.

Einer der Drakonier hob seine Stimme. »Wir sind zwar keine Menschen, an die du gewohnt bist, Süße«, lallte er und warf seinen schuppigen Arm um Tikas Taille. »Aber das heißt nicht, daß wir keine Mittel und Wege finden können, um dich glücklich zu machen.«

Caramon knurrte tief in seiner Brust. Sturm blickte finster drein und hatte seine Hand am Schwert. Als Tanis das bemerkte, sagte er eilig: »Hört beide auf! Wir sind in einer besetzten Stadt! Seid vernünftig. Es ist nicht die Zeit für Ritterlichkeit! Auch du, Caramon! Tika kann das selber regeln.«

Und er hatte recht: Tika entzog sich geschickt dem Griff des Drakoniers und stürzte wütend in die Küche.

»Nun, was machen wir jetzt?« murrte Flint. »Wir sind wegen Vorräten nach Solace gekommen und finden nichts außer Drakoniern. Mein Haus ist wenig mehr als ein paar ausgeglühte Kohlestücke. Tanis hat noch nicht einmal einen Vallenholzbaum, geschweige denn ein Zuhause. Wir haben nur diese Scheiben von irgendeiner alten Göttin und einen kranken Magier mit einigen neuen Zaubersprüchen.« Er ignorierte Raistlins wütenden Blick. »Wir können die Scheiben nicht essen, und der Magier hat nicht gelernt, ein Essen herbeizuzaubern; also selbst wenn wir wüßten, wohin wir gehen sollten, würden wir unterwegs verhungern!«

»Sollen wir immer noch nach Haven gehen?« fragte Goldmond und sah zu Tanis auf. »Was ist, wenn es dort genauso ist wie hier? Und woher wissen wir, ob die Versammlung der Sucher überhaupt noch existiert?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Tanis und seufzte. »Aber ich denke, wir sollten versuchen, Qualinesti zu erreichen.«

Tolpan, von der Unterhaltung gelangweilt, gähnte und lehnte sich zurück. Es war ihm egal, wohin sie gehen würden. Er schaute mit großem Interesse durch die Schankstube. Am liebsten hätte er sich die alte Küche angesehen, aber Tanis hatte ihn zuvor schon gewarnt, kein Aufsehen zu erregen. Also begnügte sich der Kender damit, die anderen Gäste genauer zu mustern.

Sofort fiel ihm der Fremde mit der Kapuze im vorderen Teil der Wirtsstube auf, der sie aufmerksam beobachtet hatte, als sich die Unterhaltung der Gefährten erhitzt hatte. Tanis hob seine Stimme, und das Wort »Qualinesti« ertönte noch einmal. Der Fremde setzte seinen Krug Bier mit einem Krachen ab. Tolpan wollte gerade Tanis’ Aufmerksamkeit auf ihn lenken, als Tika aus der Küche trat und die Drakonier bediente. Dann kam sie wieder zu den Gefährten.

»Kann ich noch mehr Kartoffeln haben?« fragte Caramon.

»Natürlich.« Tika lächelte ihn an und nahm die Bratpfanne, um Nachschub zu holen. Caramon spürte Raistlins Blick auf sich ruhen. Er errötete und begann, mit seiner Gabel zu spielen.

»In Qualinost…« wiederholte Tanis, seine Stimme war lauter geworden, da er sich mit Sturm stritt, der in den Norden wollte.

Tolpan sah den Fremden in der Ecke aufstehen und auf sie zukommen. »Tanis, wir kriegen Gesellschaft«, sagte der Kender leise.

Die Unterhaltung erstarb. Die Augen auf ihre Krüge gerichtet, konnten sie alle das Nahen des Fremden spüren und hören. Tanis verfluchte sich, daß er ihn nicht schon früher bemerkt hatte.

Aber die Drakonier hatten ihn entdeckt. Als er den Tisch der Kreaturen erreichte, streckte ein Drakonier seinen Klauenfuß aus, und der Fremde stolperte und fiel mit dem Kopf gegen einen Tisch. Die Kreaturen lachten laut. Dann erhaschte ein Drakonier einen flüchtigen Blick auf das Gesicht des Fremden.

»Elf!« zischte der Drakonier und riß ihm die Kapuze weg, um die mandelförmigen Augen und die männlichzarten Gesichtszüge eines Elfenlords zu enthüllen.

»Laßt mich vorbei«, sagte der Elf mit erhobenen Händen. »Ich möchte nur ein Wort mit diesen Reisenden dort reden.«

»Du wirst ein Wort mit dem Truppführer reden, Elf«, fauchte der Drakonier. Er sprang auf, packte den Fremden am Kragen und drückte ihn gegen die Theke. Die zwei anderen Drakonier lachten laut.

Tika, die mit der Bratpfanne auf dem Weg zur Küche war, ging auf die Drakonier zu. »Hört auf«, schrie sie und faßte einen Drakonier am Arm. »Laßt ihn in Ruhe. Er ist ein Gast, so wie Ihr auch.«

»Kümmere dich um deine Angelegenheiten, Mädchen!« Der Drakonier schob Tika beiseite, ergriff mit einer Klauenhand den Elf und schlug ihn zweimal ins Gesicht. Der Elf fing zu bluten an. Als der Drakonier ihn losließ, taumelte er und schüttelte benommen den Kopf.

»Ach, mach Schluß mit ihm«, rief einer der Männer aus dem Norden. »Bring ihn zum Kreischen wie die anderen!«

»Ich werde ihm seine Schlitzaugen aus dem Kopf schneiden, das werde ich tun!« Der Drakonier zog sein Schwert.

»Jetzt reicht’s aber!« Sturm eilte vor, die anderen hinterher, obwohl alle fürchteten, daß sie den Elfen kaum retten konnten – sie waren zu weit von ihm entfernt. Jemand anders kam ihnen zuvor. Mit einem schrillen Wutschrei ließ Tika Waylan ihre schwere gußeiserne Bratpfanne auf den Kopf des Drakoniers sausen.

Der Drakonier starrte Tika einen Moment stumpfsinnig an und glitt dann auf den Boden. Der fremde Elf sprang nach vorn und zog ein Messer, als die anderen zwei Drakonier sich auf Tika stürzten. Sturm erreichte sie und schlug einen Drakonier mit seinem Schwert nieder. Caramon fing den anderen in seinen riesigen Armen auf und schlug ihn gegen die Theke.

»Flußwind! Laß sie nicht durch die Tür!« rief Tanis, als er die Hobgoblins aufspringen sah. Der Barbar packte einen Hobgoblin, als dieser bereits die Hand auf die Türklinke gelegt hatte, doch der andere konnte entkommen. Sie hörten ihn nach den Wachen rufen.

Tika, die immer noch die Bratpfanne schwang, ging auf einen Hobgoblin los. Aber ein anderer Hobgoblin sprang aus dem Fenster, bevor Caramon etwas unternehmen konnte.

Goldmond erhob sich. »Gebrauch deine Magie!« sagte sie zu Raistlin und griff ihn am Arm. »Mach etwas!«

Der Magier sah die Frau kühl an. »Es ist sinnlos«, wisperte er. »Ich werde meine Kräfte nicht verschwenden.«

Goldmond funkelte ihn wütend an, aber er hatte sich wieder seinem Getränk zugewandt. Sie biß sich auf die Lippe und rannte zu Flußwind, den Beutel mit den wertvollen Scheiben von Mishakal im Arm. Sie konnte die Männer in den Straßen hören.

»Wir müssen hier verschwinden!« sagte Tanis, aber im selben Moment schlang einer der menschlichen Kämpfer seine Arme um Tanis’ Hals und zog ihn zu Boden. Tolpan sprang mit einem wilden Schrei zur Theke und begann, Krüge auf den Angreifer zu werfen, und verfehlte dabei Tanis nur knapp.

Flint stand mitten im Chaos und starrte auf den fremden Elf. »Ich kenne dich!« schrie er plötzlich. »Tanis, ist das nicht…«

Ein Krug traf den Zwerg am Kopf und schlug ihn bewußtlos.

»Huch«, schrie Tolpan.

Tanis würgte den Kämpfer und ließ ihn ohnmächtig unter einem Tisch liegen. Er schnappte Tolpan von der Theke, setzte den Kender auf den Boden und kniete neben Flint nieder, der stöhnte und versuchte, sich aufzusetzen.

»Tanis, der Elf…«, Flint blinzelte benommen, dann fragte er: »Was hat mich getroffen?«

»Der große Bursche da unter dem Tisch!« zeigte Tolpan.

Tanis erhob sich und sah auf den Elf. »Gilthanas?«

Der Elf starrte ihn an. »Tanthalas«, sagte er kühl. »Ich hätte dich niemals erkannt. Der Bart…«

Wieder ertönten Hörner, dieses Mal lauter.

»Großer Reorx!« stöhnte der Zwerg und erhob sich schwankend. »Wir müssen hier verschwinden! Kommt schon! Zum Hinterausgang!«

»Es gibt keinen Hinterausgang!« schrie Tika heftig, immer noch mit der Bratpfanne in der Hand.

»Nein«, bestätigte eine Stimme an der Tür. »Es gibt keinen Hinterausgang. Ihr seid meine Gefangenen.«

Eine Laterne flackerte im Raum auf. Die Gefährten bedeckten ihre Augen und machten die Umrisse von Hobgoblins hinter einer vierschrötigen Figur auf der Türschwelle aus. Von draußen konnten die Gefährten unzählige trippelnde Schritte hören, an den Fenstern und an der Tür starrten Goblins ins Wirtshaus. Die Hobgoblins im Raum, die noch lebten oder bei Bewußtsein waren, erhoben sich, zogen ihre Waffen und sahen die Gefährten gierig an.

»Sturm, sei kein Narr!« rief Tanis und bekam den Ritter zu fassen, der Vorbereitungen traf, um sich in das Getümmel von Goblins zu stürzen, die langsam einen eisernen Ring um sie bildeten. »Wir sind umzingelt«, rief der Halb-Elf.

Sturm blickte den Halb-Elf zornig an, und einen Moment lang dachte Tanis, er könnte sich seiner Aufforderung widersetzen.

»Bitte, Sturm«, sagte Tanis leise. »Vertraue mir. Unsere Zeit zu sterben ist noch nicht gekommen.«

Sturm zögerte, warf einen flüchtigen Blick auf die Goblins. Sie hielten sich zurück, da sie sein Schwert und seine Geschicklichkeit fürchteten, aber er wußte, sie würden ihn bei der kleinsten Bewegung sofort angreifen. »Unsere Zeit zu sterben ist noch nicht gekommen.« Was für merkwürdige Worte. Warum hatte Tanis das gesagt? Hatte man überhaupt »eine Zeit zu sterben?« Wenn dem so war, dann hatte Tanis recht. Es gab kein glorreiches Sterben in einem Wirtshaus, niedergetrampelt von stinkenden, panischen Goblinfüßen.

Als der Ritter seine Waffe wegsteckte, entschied die Gestalt in der Türschwelle, daß es nun sicher sei, umgeben von ungefähr hundert Soldaten, einzutreten. Die Gefährten blickten auf die graue, gefleckte Haut und in die roten, schielenden Schweinsäuglein von Truppführer Toede.

Tolpan bewegte sich schnell zu Tanis. »Er wird uns sicher nicht wiedererkennen«, flüsterte der Kender. »Es war schon dunkel, als sie uns anhielten und nach dem Stab ausfragten.«

Anscheinend erkannte Toede sie wirklich nicht. In der Woche war eine Menge passiert, und der Truppführer hatte wichtige Dinge im Kopf und fühlte sich sowieso schon überfordert. Seine roten Augen fixierten die Rittersymbole an Sturms Umhang. »Noch mehr Flüchtlingsabschaum aus Solamnia«, bemerkte Toede.

»Ja«, log Tanis schnell. Er bezweifelte, ob Toede bereits von der Zerstörung Xak Tsaroths erfahren hatte. Er hielt es auch für sehr unwahrscheinlich, daß dieser Truppführer etwas über die Scheiben von Mishakal wußte. Aber Lord Verminaard wußte von den Scheiben und würde bald vom Tod des Drachen erfahren. Selbst ein Gossenzwerg konnte sich einen Reim darauf machen. Es brauchte niemand zu wissen, daß sie aus dem Osten kamen. »Wir sind viele Tage vom Norden marschiert. Wir wollten keinen Ärger machen. Diese Drakonier haben angefangen…«

»Ja, ja«, sagte Toede ungeduldig. »Das habe ich schon gehört.« Seine schielenden Äuglein verengten sich plötzlich zu Schlitzen. »He, du da!« rief er und zeigte auf Raistlin. »Was treibst du da, drückst dich da hinten herum? Packt ihn, Burschen!« Der Truppführer trat nervös einen Schritt zurück und musterte Raistlin argwöhnisch. Einige Goblins stürzten Bänke und Tische um, um den zerbrechlichen jungen Mann zu erreichen. Ein tiefes Knurren stieg aus Caramons Kehle. Tanis machte dem Krieger Zeichen, ruhig zu bleiben.

»Steh auf!« schnarrte ein Goblin und piekste Raistlin mit einem Speer.

Raistlin erhob sich langsam und suchte sorgfältig seine Beutel zusammen. Als er nach seinem Stab griff, packte der Goblin den Magier an seiner dünnen Schulter.

»Rühr mich nicht an!« zischte Raistlin und entzog sich dem Griff. »Ich bin ein Magier!«

Der Goblin zögerte und blickte zu Toede.

»Pack ihn!« schrie der Truppführer und trat hinter einen sehr großen Goblin. »Bring ihn zu den anderen. Wenn jeder Mann in roter Robe ein Magier wäre, würde das Land ja geradezu überschwemmt davon sein! Wenn er nicht freiwillig kommt, werde ich ihn töten!«

»Vielleicht sollte ich ihn gleich mal abmurksen«, krächzte der Goblin. Die Kreatur hielt die Speerspitze an die Kehle des Magiers und gurgelte vor Vergnügen.

Wieder hielt Tanis Caramon zurück. »Dein Bruder kann selbst auf sich aufpassen«, wisperte er.

Raistlin hob die Hände, spreizte die Finger, als ob er sich ergeben wollte. Plötzlich sprach er jedoch: »Kalith karan, tobaniskar!« und zeigte auf den Goblin. Kleine glühende Pfeile aus purem weißem Licht strahlten aus den Fingerkuppen des Magiers, schossen durch die Luft und gruben sich in die Brust des Goblins. Die Kreatur brach kreischend zusammen und wand sich auf dem Boden.

Als der Geruch von verbranntem Fleisch und verbrannten Haaren den Raum erfüllte, sprangen andere Goblins heulend vor Wut vor.

»Tötet ihn nicht, ihr Dummköpfe!« schrie Toede. Der Truppführer war wieder vor die Tür getreten, sich immer hinter dem großen Goblin haltend. »Lord Verminaard zahlt eine gute Prämie für Magier. Aber« – Toede hatte eine Idee – »der Lord zahlt keine Prämie für lebende Kender – nur für ihre Zungen! Wenn du das noch einmal machst, Magier, wird der Kender sterben.«

»Was geht mich der Kender an?« schnaubte Raistlin.

Totenstille breitete sich aus. Tanis brach der kalte Schweiß aus. Raistlin schaffte es immer! Verdammter Magier!

Das war sicherlich nicht die Antwort, die Toede erwartet hatte, und er war etwas verunsichert – außerdem trugen die Krieger immer noch ihre Waffen. Er sah fast flehend zu Raistlin. Der Magier schien die Achseln zu zucken.

»Ich werde freiwillig kommen«, flüsterte Raistlin. »Nur wagt es nicht, mich zu berühren!«

»Nein, natürlich nicht«, murmelte Toede. »Holt ihn.«

Die Goblins, die unbehagliche Blicke in Richtung des Truppführers warfen, ließen den Magier neben seinem Bruder stehen.

»Sind das alle?« fragte Toede gereizt. »Dann nehmt ihre Waffen und ihr Gepäck.«

Um weiteren Ärger zu vermeiden, nahm Tanis seinen Bogen von der Schulter und legte ihn zusammen mit dem Köcher auf den rußigen Boden der Gaststube. Tolpan legte schnell seinen Hupak dazu, der Zwerg murrend seine Streitaxt. Die anderen folgten Tanis’ Beispiel, außer Sturm, der mit über der Brust gekreuzten Armen dastand und…

»Bitte, darf ich meinen Beutel behalten?« fragte Goldmond. »Ich habe keine Waffen und nichts, was für euch wertvoll ist. Ich schwöre es!«

Die Gefährten wandten sich ihr zu – sie dachten an die wertvollen Scheiben in ihrem Beutel. Alle standen in angespanntem Schweigen. Flußwind trat zu Goldmond. Er hatte seinen Bogen abgelegt, trug aber wie der Ritter sein Schwert.

Plötzlich griff Raistlin ein. Der Magier hatte seinen Stab abgelegt, seine Beutel mit den Zauberzutaten und die wertvolle Tasche mit den Zauberbüchern. Er machte sich keine Sorgen – über den Büchern lagen Sicherungszauber: Jeder, außer dem Besitzer, würde bei dem Versuch, in ihnen zu lesen, wahnsinnig werden. Und der Zauberstab konnte selbst auf sich aufpassen. Raistlin streckte seine Hände Goldmond entgegen.

»Gib ihnen den Beutel«, sagte er sanft. »Sonst werden sie uns töten.«

»Beherzige seinen Rat, meine Liebe«, rief Toede hastig.

»Er ist ein Verräter!« rief Goldmond und umklammerte den Beutel.

»Gib ihnen den Beutel«, wiederholte Raistlin hypnotisierend.

Goldmond wurde schwächer und spürte seine seltsame Macht. »Nein!« Sie würgte. »Das ist unsere Hoffnung…«

»Es wird alles gut werden«, flüsterte Raistlin und sah intensiv in ihre klaren blauen Augen. »Erinnerst du dich an den Stab? Erinnerst du dich daran, als ich ihn berührte?«

Goldmond blinzelte. »Ja«, murmelte sie. »Du hast einen Schock bekommen…«

»Psst«, warnte Raistlin sie schnell. »Gib ihnen den Beutel. Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut. Die Götter beschützen ihr Eigentum.«

Goldmond starrte auf den Magier, dann nickte sie widerstrebend. Raistlin streckte seine mageren Hände aus, um ihr den Beutel abzunehmen. Truppführer Toede blickte ihn gierig an und machte sich über den Inhalt Gedanken. Er würde es schon herausfinden, aber nicht vor allen Goblins.

Schließlich gab es nur noch eine Person, die dem Befehl nicht gehorcht hatte. Sturm stand unbeweglich da, sein Gesicht war blaß, seine Augen glänzten fiebrig. Er hielt das uralte zweihändige Schwert seines Vaters eng an sich gedrückt. Plötzlich drehte Sturm sich um, entsetzt, Raistlins brennende Finger auf seinem Arm zu spüren.

»Ich versichere dir, es wird ihm nichts geschehen«, flüsterte der Magier.

»Wie?« fragte der Ritter und wich vor Raistlin zurück wie vor einer Giftschlange.

»Ich erkläre dir nicht meine Methoden«, zischte Raistlin. »Entweder du vertraust mir oder nicht.«

Sturm zögerte.

»Das ist lächerlich!« kreischte Toede. »Tötet den Ritter! Tötet sie alle, wenn sie noch mehr Ärger machen. Meine Geduld ist zu Ende!«

»Na schön!« sagte Sturm mit erstickter Stimme. Er ging zu dem Waffenhaufen und legte sein Schwert ehrfürchtig dazu.

»Ah, wahrhaftig eine wunderschöne Waffe«, sagte Toede. Er hatte plötzlich eine Vision, wie er zu einer Audienz mit Lord Verminaard schritt, das Schwert des solamnischen Ritters an seiner Seite hängend. »Vielleicht sollte ich es persönlich in Gewahrsam nehmen. Bringt…«

Bevor er den Satz beenden konnte, trat Raistlin schnell nach vorne und kniete neben den Waffen nieder. Ein Licht blitzte aus der Hand des Magiers auf. Raistlin schloß die Augen und begann seltsame Worte zu murmeln, während er seine ausgebreiteten Arme über die Waffen und das Gepäck hielt.

»Haltet ihn auf!« schrie Toede. Aber keiner wagte es.

Schließlich hatte Raistlin aufgehört zu sprechen, sein Kopf fiel auf seine Brust. Sein Bruder eilte herbei, um ihm zu helfen.

Raistlin erhob sich. »Damit ihr es wißt!« sagte der Magier, seine goldenen Augen blickten sich im Schankraum um. »Ich habe auf unsere Sachen einen Zauber gelegt. Sobald jemand sie berührt, wird er langsam vom großen Wurm Catyrpelius verschlungen, der sich aus dem Abgrund erheben und euer Blut aussaugen wird, bis ihr völlig ausgetrocknet seid.«

»Der große Wurm Catyrpelius!« keuchte Tolpan mit glänzenden Augen. »Das ist ja unglaublich. Ich habe niemals von…«

Tanis drückte ihm seine Hand auf den Mund.

Die Goblins wichen vor dem Waffenhaufen zurück, der in einer grünen Aura fast zu glühen schien.

»Holt die Waffen!« befahl Toede wütend.

»Hol du sie doch selber«, murrte ein Goblin.

Niemand bewegte sich. Toede war am Ende. Obwohl er keine besondere Vorstellungskraft besaß, konnte er sich den großen Wurm Catyrpelius lebhaft vorstellen. »Na schön«, maulte er, »schafft die Gefangenen weg! Sperrt sie in die Käfige. Und schafft diese Waffen weg, oder ihr werdet euch noch wünschen, von diesem Wurm ausgesaugt zu werden!« Wütend stampfte er von dannen.

Die Goblins schoben ihre Gefangenen mit den Schwertern zur Tür hinaus, jedoch niemand berührte Raistlin.

»Das ist ein wunderbarer Zauber, Raist«, sagte Caramon leise. »Wie wirkungsvoll ist er? Könnte er…«

»Er ist genauso wirkungsvoll wie dein Verstand!« flüsterte Raistlin und hielt seine rechte Hand hoch. Als Caramon die verräterischen schwarzen Zeichen von Feuerpulver sah, lächelte er grimmig im plötzlichen Verstehen.

Tanis verließ als letzter das Wirtshaus.

Er sah sich ein letztes Mal um. Nur noch eine Lampe hing an der Decke. Tische waren umgestürzt, Stühle zerbrochen. Die Deckenbalken waren vom Feuer geschwärzt, einige waren völlig verkohlt. An den Fenstern schmierte fettiger schwarzer Ruß.

»Fast wünschte ich, ich wäre gestorben, und mir wäre dieser Anblick erspart geblieben.«

Das letzte, was er hörte, war der hitzige Streit zwischen zwei Hobgoblinhauptmännern über den Transport der verzauberten Waffen.

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