12 Das Gleichnis vom Edelstein. Verräter entlarvt. Tolpans Dilemma

»Hör auf damit, du Frechdachs!« Caramon lächelte geziert und schlug Eben auf die Finger, als dieser seine Hand verstohlen über Caramons Hemd gleiten ließ.

Die Frauen im Raum lachten so herzlich über die Possen der beiden Krieger, daß Tanis nervös zur Zellentür blickte, ängstlich, daß die Wachen Verdacht schöpfen könnten.

Maritta sah seinen beunruhigten Blick. »Mach dir wegen der Wachen keine Sorgen!« sagte sie mit einem Schulterzucken. »Hier unten sind nur zwei, und die Hälfte der Zeit sind sie betrunken, besonders jetzt, da die Armee ausgerückt ist.« Sie blickte von ihrer Näharbeit auf die Frauen und schüttelte den Kopf: »Es tut mir gut, sie lachen zu hören, die Armen«, sagte sie leise. »In diesen Zeiten haben sie wahrlich wenig Gelegenheit dazu.«

Vierunddreißig Frauen waren in einer Zelle zusammengepfercht – Maritta berichtete, daß in der Nachbarzelle sechzig Frauen leben würden – unter derart schockierenden Bedingungen, daß sogar die abgehärteten Gefährten entsetzt waren. Grobe Strohmatten bedeckten den Boden. Die Frauen besaßen nichts, außer einigen wenigen Kleidungsstücken. Jeden Morgen durften sie für eine kurze Zeit auf dem Hof Gymnastikübungen machen. Den Rest des Tages waren sie gezwungen, Drakonieruniformen zu nähen. Obwohl erst seit einigen Wochen eingesperrt, waren ihre Gesichter bleich und blaß, ihre Körper dünn und abgemergelt vom schlechten Essen.

Tanis entspannte sich. Obwohl er Maritta erst seit wenigen Stunden kannte, verließ er sich auf ihr Urteil. Sie war es gewesen, die die verängstigten Frauen beruhigt hatte, als die Gefährten in ihre Zelle eingedrungen waren. Sie war es gewesen, die ihrem Plan zugehört und gemeint hatte, daß er erfolgreich sein könnte.

»Unsere Männer werden sich euch anschließen«, sagte sie zu Tanis. »Aber die Sucherfürsten werden euch Schwierigkeiten bereiten.«

»Die Sucherfürsten?« fragte Tanis erstaunt. »Sind sie hier? Gefangen?«

Maritta nickte stirnrunzelnd. »Das war der Preis dafür, daß sie dem schwarzen Kleriker glaubten. Aber sie werden nicht gehen wollen, und warum auch? Sie müssen nicht in den Minen arbeiten – der Drachenfürst persönlich kümmert sich darum! Aber wir sind mit euch.« Sie blickte zu den anderen, die entschlossen nickten. »Unter einer Bedingung – daß ihr die Kinder keinen Gefahren aussetzt.«

»Dafür kann ich nicht garantieren«, sagte Tanis. »Ich möchte jetzt nicht grob klingen, aber wir müssen wohl gegen einen Drachen kämpfen, um zu ihnen zu gelangen und…«

»Gegen einen Drachen kämpfen? Flammenschlag?« Maritta sah ihn verblüfft an. »Pah! Es besteht keine Notwendigkeit, gegen diese erbarmungswürdige Kreatur zu kämpfen. Ganz im Gegenteil, wenn ihr sie verletzt, werdet ihr die Hälfte der Kinder gegen euch haben. Sie lieben ihn.«

»Einen Drachen?« fragte Goldmond. »Was hat er angestellt, einen Zauber auf sie geworfen?«

»Nein. Ich glaube nicht, daß Flammenschlag überhaupt noch einen Zauber auf irgend jemand werfen kann.« Maritta lächelte traurig. »Diese arme Kreatur ist mehr als halbverrückt. Ihre eigenen Kinder wurden in einem großen Krieg getötet, und nun hat sich in ihrem Kopf festgesetzt, daß unsere Kinder ihre Kinder wären. Ich weiß nicht, wo Ihre Lordschaft sie ausgegraben hat, aber er hat sich selbst damit keinen guten Dienst erwiesen, und ich hoffe, daß er irgendwann dafür bezahlen wird!« Sie durchbiß boshaft einen Faden.

»Es ist nicht schwierig, die Kinder zu befreien«, fügte sie hinzu, als sie Tanis’ besorgten Blick bemerkte. »Flammenschlag schläft immer sehr lange. Wir geben den Kindern Frühstück, nehmen sie zur Gymnastik mit nach draußen, und sie rührt sich nie. Sie wird erst merken, daß sie weg sind, wenn sie erwacht, das arme Ding.«

Die Frauen, zum ersten Mal voller Hoffnung, begannen alte Kleidungsstücke für die Gefährten abzuändern. Alles lief glatt, bis es zur Anprobe kam.

»Rasieren?« brüllte Sturm in solcher Wut, daß die Frauen zurückschreckten. Sturm hatte von der Verkleidungsidee nur eine undeutliche Vorstellung gehabt, sich aber dazu bereit erklärt. Es schien die beste Methode zu sein, den freien, offenen Hof zwischen der Festung und den Minen zu überqueren. Aber er hatte angekündigt, daß er lieber hundert Tode sterben würde, als sich seinen Schnurrbart abzurasieren. Er beruhigte sich erst, als Tanis vorschlug, sein Gesicht mit einem Schal zu bedecken.

Als dieses Problem gelöst war, tauchte ein weiteres auf. Flußwind erklärte kategorisch, daß er keine Frauenkleider anziehen würde, und nichts könnte ihn überzeugen, es doch zu tun. Goldmond nahm Tanis schließlich beiseite und erklärte, daß in ihrem Stamm jeder Krieger, der sich in einer Schlacht feige verhalten hatte, gezwungen wurde, Frauenkleider zu tragen, bis er seine Ehre wiederhergestellt hatte. Tanis war verblüfft über diese Sitte. Aber Maritta hatte sich sowieso gefragt, was für Kleider sie dem großen Mann überhaupt geben sollten.

Nach langer Diskussion wurde entschieden, daß Flußwind einen langen Umhang überziehen und wie eine alte Frau an einem Stock gebückt gehen sollte. Alles lief danach glatt – zumindest eine Zeitlang.

Laurana ging zu Tanis hinüber, der einen Schal um sein Gesicht schlang.

»Warum rasierst du dich nicht?« fragte Laurana und starrte auf Tanis’ Bart. »Oder genießt du es wirklich, mit deiner menschlichen Seite zu prahlen, wie Gilthanas sagt?«

»Ich prahle nicht damit«, erwiderte Tanis ruhig. »Ich bin nur zu müde, zu versuchen, sie zu leugnen, das ist alles.« Er holte tief Atem. »Laurana, es tut mir leid, wie ich im Sla-Mori mit dir gesprochen habe. Ich hatte nicht das Recht…«

»Du hattest das Recht«, unterbrach Laurana. »Ich habe mich verhalten wie ein liebeskrankes Mädchen. Ich habe auf törichte Weise euer Leben gefährdet.« Ihre Stimme versagte, dann faßte sie sich wieder. »Es wird nicht noch einmal passieren. Ich werde beweisen, daß ich für die Gruppe von Wert sein kann.«

Laurana war sich nicht sicher, wie sie das genau meinte. Obwohl sie schlagfertig über ihre Fähigkeiten als Kriegerin geredet hatte, hatte sie bis dahin nicht mehr als einen Hasen getötet. Sie war inzwischen so verängstigt, daß sie ihre Hände hinter ihrem Rücken verbarg, damit Tanis ihr Zittern nicht bemerkte. Sie hatte Angst, ihre Schwäche zuzugeben und Trost in seinen Armen zu suchen. Angst sich gehenzulassen. Also ging sie zu Gilthanas und half ihm bei seiner Verkleidung.

Tanis sagte sich, daß er auf Laurana stolz war, die endlich Zeichen von Reife zeigte. Er weigerte sich strikt zuzugeben, daß es ihm fast den Atem verschlug, wenn er in ihre großen strahlenden Augen sah.

Der Nachmittag verging schnell, und bald war es Abend und Zeit für die Frauen, das Essen in die Minen zu bringen. Die Gefährten warteten angespannt auf die Wachen. Es hatte nach allem noch ein Problem gegeben. Raistlin, der bis zur Erschöpfung gehustet hatte, erklärte, er wäre zu schwach, um sie zu begleiten. Als sein Bruder anbot, bei ihm zu bleiben, sah Raistlin ihn ärgerlich an und sagte, er wäre ein Dummkopf.

»In dieser Nacht brauchst du mich nicht«, flüsterte der Magier. »Laß mich allein. Ich muß schlafen.«

»Mir gefällt es nicht, ihn hierzulassen…«, begann Gilthanas, aber bevor er den Satz beenden konnte, hörten sie das Geräusch von Klauenfüßen und dann das Klappern von Töpfen. Die Zellentür sprang auf, und zwei Drakonierwachen, die stark nach Alkohol rochen, traten ein. Einer von ihnen taumelte ein wenig, als er mit trüben Augen die Frauen anstarrte.

»Bewegt euch«, sagte er grob.

Als die›Frauen‹in einer Reihe hintereinander nach draußen gingen, sahen sie sechs Gossenzwerge im Korridor stehen, die riesige Töpfe mit abscheulichem Eintopf hinter sich herzerrten. Caramon schnupperte hungrig, rümpfte dann aber angeekelt die Nase. Die Drakonier schlugen die Zellentür zu und verschlossen sie. Caramon blickte zurück und sah seinen Zwillingsbruder, von Decken verhüllt, in einer dunklen Ecke liegen.


Fizban klatschte in die Hände. »Gut gemacht, mein Junge!« sagte der alte Magier aufgeregt, als ein Teil der Wand im Mechanismuszimmer aufschwang.

»Danke«, antwortete Tolpan bescheiden. »Eigentlich war es schwieriger, die Geheimtür zu finden, als sie zu öffnen. Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast. Ich habe gedacht, ich hätte überall nachgesehen.«

Er wollte gerade durch die Tür kriechen, als ihm plötzlich etwas einfiel. »Fizban, gibt es eine Möglichkeit, daß dein Licht zurückbleibt? Zumindest solange, bis wir wissen, ob jemand hier ist? Sonst gebe ich ein hervorragendes Ziel ab, denn wir sind nicht weit von Verminaards Gemächern entfernt.«

»Ich fürchte nicht.« Fizban schüttelte den Kopf. »Es mag nicht allein an dunklen Plätzen zurückbleiben.«

Tolpan nickte – er hatte diese Antwort erwartet. Nun, es hatte wenig Sinn, sich zu sorgen. Glücklicherweise schien der enge Flur, in den er kroch, leer zu sein. Die Flamme tanzte an seiner Schulter. Nachdem er Fizban hineingeholfen hatte, sah er sich um. Sie befanden sich in einem kleinen Flur, der zwanzig Meter weiter abrupt an einer nach unten in die Dunkelheit führenden Treppe endete. Bronzene Doppeltüren an der Ostwand waren der einzige andere Ausgang.

»Nun«, murmelte Tolpan, »wir befinden uns jetzt über dem Thronsaal. Diese Treppe führt sicherlich zu ihm nach unten. Höchstwahrscheinlich wird er von einer Million Drakonier bewacht! Das geht also nicht.« Er legte sein Ohr an die Tür. »Kein Geräusch. Laß uns hier reingehen.« Er öffnete ohne Schwierigkeiten die Doppeltür. Der Kender lauschte noch einen Moment, dann betrat er vorsichtig den Raum, dicht von Fizban und dem Wölkchenlicht gefolgt.

»Eine Art Kunstgalerie«, sagte er, während er sich in einem großen Zimmer umblickte, an dessen Wänden mit Staub und Ruß bedeckte Gemälde hingen. Durch die hohen Fenster gelang es Tolpan, einen Blick auf die Sterne zu werfen.

»Wenn meine Berechnungen stimmen, dann liegt der Thronsaal im Westen und die Drachenhöhle wieder westlich davon. Zumindest ging er in die Richtung, als Verminaard am Nachmittag den Thronsaal verließ. Der Drache muß eine Möglichkeit haben, aus dem Gebäude zu fliegen, also müßte die Höhle oben offen sein, was einen Schacht oder etwas Ähnliches bedeutet, und vielleicht noch eine Spalte, wo wir sehen können, was los ist.«

Tolpan war so mit seinen Plänen beschäftigt, daß er Fizban keine Aufmerksamkeit schenkte. Der alte Magier bewegte sich zielbewußt im Raum umher, studierte jedes Gemälde, als ob er ein bestimmtes suchen würde.

»Ah, hier ist es«, murmelte Fizban, dann drehte er sich um und flüsterte: »Tolpan!«

Der Kender hob den Kopf und sah plötzlich das Gemälde in einem weichen Licht erstrahlen. »Sieh dir das an!« sagte Tolpan hingerissen. »Es ist ein Gemälde mit Drachen – rote Drachen wie Ember – die Pax Tarkas angreifen und…«

Die Stimme des Kenders erstarb. Männer – Ritter von Solamnia – auf anderen Drachen reitend, kämpfend gegen die roten! Die Drachen der Ritter waren wunderschön – silbergoldene Drachen – , und die Männer trugen strahlende Waffen. Plötzlich verstand Tolpan! Es gab also auch gute Drachen, die – wenn man sie finden könnte – beim Kampf gegen die bösen Drachen helfen könnten, und da war…

»Die Drachenlanze!« murmelte er.

Der alte Magier nickte. »Ja, Kleiner«, flüsterte er. »Du verstehst. Du siehst die Antwort. Und du wirst dich erinnern. Aber nicht jetzt. Jetzt noch nicht.« Er strich mit seiner Hand über das Haar des Kenders.

»Drachen. Was habe ich gesagt?« Tolpan konnte sich nicht erinnern. Und was machte er überhaupt hier; auf ein völlig verstaubtes Bild starren, auf dem man nichts erkennen konnte. Der Kender schüttelte den Kopf. Das war wohl Fizbans Einfluß. »O ja. Die Drachenhöhle. Wenn meine Berechnungen stimmen, dann ist sie hier drüben.« Er ging weiter.

Der alte Magier schlurfte lächelnd hinterher.

Der Weg zu den Minen verlief für die Gefährten ohne besondere Ereignisse. Sie sahen nur wenige Drakonierwachen, die vor Langeweile halb am Schlafen waren. Niemand beachtete die vorübergehenden Frauen. Sie erreichten das glühende Schmiedefeuer, das von erschöpften Gossenzwergen ständig am Brennen gehalten wurde.

Dann betraten die Gefährten die Minen, in denen Drakonierwachen die Männer nachts in riesige Zellen einsperrten und dann wieder die Gossenzwerge bewachten. Verminaard dachte wohl, daß eine Bewachung der Männer überflüssig sei – die Menschen würden nirgendwo hingehen.

Und eine Zeitlang sah es für Tanis so aus, als ob sich das auf schreckliche Weise bewahrheiten würde. Die Männer würden nirgendwo hingehen. Sie starrten Goldmond nicht gerade überzeugt an, als sie sprach. Trotz allem war sie eine Barbarin – ihr Akzent war nicht zu überhören, ihre Kleidung äußerst seltsam. Was sie erzählte, mutete wie eine Kindergeschichte über einen Drachen an, der in einer blauen Flamme gestorben war, während sie überlebt hatte. Und alles, war sie vorzuzeigen hatte, war eine Sammlung von glänzenden Metallscheiben.

Hederick, der Theokrat von Solace, bezichtigte die Que-Shu-Frau lauthals der Hexerei, Scharlatanerie und Gotteslästerung. Er erinnerte die anderen an die Szene im Wirtshaus und zeigte als Beweis seine vernarbte Hand vor. Die Männer jedoch schenkten Hederick wenig Beachtung. Die Götter der Sucher hatten jedenfalls nicht die Drachen von Solace ferngehalten.

Viele von ihnen waren in der Tat an Flucht interessiert. Fast alle trugen Male der Mißhandlung – Peitschenstriemen, Prellungen in den Gesichtern. Sie waren unterernährt, gezwungen, unter dreckigen und erbärmlichen Bedingungen zu leben, und allen war bewußt, daß sie für Lord Verminaard wertlos werden würden, wenn das Eisenerz unter den Bergen abgebaut war. Aber die Sucherfürsten – die selbst im Gefängnis das Sagen hatten – lehnten solch einen Plan als leichtsinnig ab.

Streitereien gingen los. Die Männer schrien sich an. Tanis stellte hastig Caramon, Flint, Eben, Sturm und Gilthanas an den Türen auf, da er befürchtete, die Wachen könnten die Unruhe hören und zurückkehren. Damit hatte der Halb-Elf nicht gerechnet – dieser Streit konnte Tage anhalten! Goldmond saß verzweifelt vor den Männern und sah aus, als ob sie gleich weinen würde. Sie war von ihrer neugefundenen Überzeugung so erfüllt und eifrig bedacht gewesen, der Welt ihr Wissen mitzuteilen, daß sie jetzt, da ihre Überzeugung angezweifelt wurde, fast die Hoffnung verlor.

»Diese Menschen sind Dummköpfe!« sagte Laurana leise, als sie sich zu Tanis stellte.

»Nein«, erwiderte Tanis seufzend. »Wenn sie Dummköpfe wären, wäre es einfacher. Wir versprechen ihnen nichts Greifbares und bitten sie, das einzige zu riskieren, was ihnen noch geblieben ist – ihr Leben. Und wofür? In die Berge zu fliehen, die ganze Zeit zu kämpfen. Hier zumindest leben sie – zur Zeit jedenfalls.«

»Aber was für einen Wert kann denn solch ein Leben haben?« fragte Laurana.

»Das ist eine gute Frage, junge Frau«, entgegnete eine schwache Stimme. Sie drehten sich um und sahen Maritta, die neben einem liegenden Mann kniete. Von Krankheit und Entbehrung verzehrt, war sein Alter nicht bestimmbar. Er versuchte aufzusitzen und streckte seine magere Hand Tanis und Laurana entgegen. Sein Atem kam rasselnd. Maritta wollte ihn beruhigen, aber er sah sie nur gereizt an. »Ich weiß, daß ich im Sterben liege, Frau! Bring diese Barbarin zu mir.«

Tanis sah Maritta fragend an. Sie erhob sich und ging zu ihm und schob ihn beiseite. »Das ist Elistan«, sagte sie, als ob Tanis den Namen kennen müßte. Als Tanis nicht reagierte, erklärte sie. »Elistan, einer der Sucherfürsten aus Haven. Er wurde von den Leuten sehr geliebt und respektiert, und er war der einzige, der gegen diesen Lord Verminaard gesprochen hat. Aber niemand hörte zu – niemand wollte zuhören.«

»Du sprichst von ihm, als wäre er schon tot«, sagte Tanis. »Aber er lebt noch.«

»Ja, aber nicht mehr lange.« Maritta wischte eine Träne weg. »Ich kenne diese Krankheit. Mein Vater ist daran gestorben. Irgend etwas in ihm verzehrt ihn. In den letzten Tagen wurde er vor Schmerzen fast wahnsinnig, aber das ist vorbei. Das Ende steht nahe bevor.«

»Vielleicht nicht.« Tanis lächelte. »Goldmond ist Klerikerin. Sie kann ihn heilen.«

»Vielleicht, vielleicht nicht«, antwortete Maritta skeptisch. »Ich würde diese Möglichkeit nicht in Betracht ziehen. Wir sollten Elistan nicht mit falschen Hoffnungen aufregen. Laßt ihn in Frieden sterben.«

»Goldmond«, sagte Tanis, als die Tochter des Stammeshäuptlings näher trat. »Dieser Mann möchte dich kennenlernen.« Er ignorierte Maritta und führte Goldmond zu Elistan. Goldmonds Gesicht, vor Enttäuschung und Niedergeschlagenheit hart und kalt, wurde weicher, als sie den erbärmlichen Zustand des Mannes sah.

Elistan sah zu ihr hoch. »Junge Frau«, sagte er streng, obwohl seine Stimme schwach war. »Du behauptest, Nachricht von den uralten Göttern zu bringen. Wenn es stimmt, daß wir Menschen uns von ihnen abgewandt haben, und nicht sie sich von uns, wie wir immer dachten, warum haben sie dann so lange gewartet, um ihre Anwesenheit zu erkennen zu geben?«

Goldmond kniete sich schweigend zu dem sterbenden Mann, überlegte, wie sie ihre Antwort am besten formulieren konnte. Schließlich sagte sie: »Stell dir vor, du gehst durch einen Wald und trägst deinen wertvollsten Besitz mit dir – einen seltenen und wunderschönen Edelstein. Plötzlich wirst du von einem bösartigen Wesen angegriffen. Du läßt den Edelstein fallen und läufst davon. Als du den Verlust des Edelsteins bemerkst, bist du zu ängstlich, um noch einmal in den Wald zu gehen und nach ihm zu suchen. Dann kommt jemand mit einem anderen Edelstein vorbei. Tief in deinem Herzen weißt du, daß dieser nicht so wertvoll ist wie der verlorene, aber du bist immer noch zu verängstigt, um ihn im Wald zu suchen. Bedeutet das nun, daß der Edelstein den Wald verlassen hat, oder liegt er immer noch da, hell unter den Blättern glänzend und auf deine Wiederkehr wartend?«

Elistan schloß die Augen, seufzte, sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Natürlich, der Edelstein wartet auf unsere Wiederkehr. Was sind wir doch für Dummköpfe! Ich wünschte, ich hätte noch Zeit, von deinen Göttern zu lernen«, sagte er und streckte seine Hand aus.

Goldmond hielt den Atem an, ihr Gesicht wurde blutleer, bis sie fast so blaß war wie der sterbende Mann. »Du wirst die Zeit haben«, sagte sie leise und legte seine Hand in ihre.

Tanis, der in die Begegnung der beiden völlig versunken war, schreckte beunruhigt auf, als er eine Berührung am Arm spürte. Er drehte sich um; es waren Sturm und Caramon.

»Was ist los?« fragte er schnell. »Die Wachen?«

»Noch nicht«, antwortete Sturm barsch. »Aber wir können sie jeden Moment erwarten. Eben und Gilthanas sind verschwunden.«

Die Nacht senkte sich über Pax Tarkas.

Zurück in seiner Höhle hatte der rote Drache Pyros keinen Platz zum Auf- und Ablaufen, eine Eigenart, die er sich angewöhnt hatte, wenn er sich in einen Mensch verwandelte. Er konnte nur seinen riesigen Körper herumdrehen, aber nicht seine Flügel ausbreiten, obwohl er das größte Zimmer in der Festung hatte und es seinetwegen sogar noch vergrößert worden war.

Er zwang sich zu entspannen und legte sich auf den Boden und wartete, seine Augen auf die Tür gerichtet. Er bemerkte nicht die zwei Köpfe, die über das Geländer eines Balkons auf der dritten Ebene spähten.

Es kratzte an der Tür. Pyros hob seinen Kopf in freudiger Erwartung hoch, dann ließ er ihn mit einem Knurren wieder fallen, als zwei Goblins mit einer erbärmlichen Gestalt in ihrer Mitte erschienen.

»Ein Gossenzwerg!« schnarrte Pyros in der Umgangssprache. »Verminaard muß seinen Verstand verloren haben, zu denken, ich fresse Gossenzwerge. Werft ihn in eine Ecke und verschwindet!« knurrte er die Goblins an, die hastig seinen Befehlen nachkamen. Sestun kauerte wimmernd in der Ecke.

»Halt den Mund!« befahl Pyros gereizt. »Vielleicht sollte ich dich einfach nur flambieren, damit dieses Gejammer aufhört…«

Jetzt klopfte es leise an der Tür, ein Geräusch, das der Drache erkannte. Seine Augen leuchteten rot auf. »Herein!«

Eine Gestalt betrat die Höhle des Drachen. Sie war in einen langen Umhang gekleidet, eine Kapuze bedeckte das Gesicht.

»Ich bin gekommen, wie du es befohlen hast, Ember«, sagte die Gestalt leise.

»Ja«, antwortete Pyros, seine Klauen kratzten den Boden.

»Zieh die Kapuze weg. Ich will die Gesichter der Personen sehen, mit denen ich verhandle.«

Der Mann zog seine Kapuze zurück. Von der dritten Ebene kam ein gedämpftes, abgewürgtes Keuchen. Pyros starrte zum dunklen Balkon hoch. Er erwog kurz hochzufliegen, um nachzusehen, aber die Gestalt unterbrach seine Gedanken.

»Ich habe nur wenig Zeit, Majestät. Ich muß zurückkehren, bevor sie Verdacht schöpfen. Und ich sollte Lord Verminaard Bericht erstatten…«

»Zu gegebener Zeit«, schnappte Pyros ärgerlich. »Was für einen Plan schmieden diese Dummköpfe, mit denen du zusammen bist?«

»Sie planen, die Sklaven zu befreien und mit ihnen einen Aufstand anzuzetteln, so daß Verminaard gezwungen ist, seine Armee zurückzurufen, die auf dem Weg nach Qualinost ist.«

»Das ist alles?«

»Ja, Majestät. Jetzt muß ich den Drachenfürsten warnen.«

»Pah! Was bringt das schon! Ich werde schon mit den Sklaven fertig, wenn sie revoltieren. Falls sie gegen mich keine Pläne aushecken.«

»Nein, Majestät. Sie fürchten dich, so wie alle«, fügte die Gestalt hinzu. »Sie warten, bis du und Lord Verminaard nach Qualinost geflogen seid. Dann werden sie die Kinder befreien und in das Gebirge fliehen, bevor ihr zurückkehrt.«

»Dieser Plan scheint ihrer Intelligenz angemessen. Mach dir keine Sorgen um Verminaard. Viel größere Dinge brauen sich zusammen. Viel größere. Jetzt hör genau zu. Heute wurde von diesem schwachsinnigen Toede ein Gefangener vorgeführt…« Pyros hielt inne, seine Augen glühten. Seine Stimme wurde zu einem zischenden Flüstern. »Er ist es! Er ist derjenige, den wir suchen!«

Die Gestalt erstarrte. »Bist du sicher?«

»Natürlich!« schnarrte Pyros böse. »Ich sehe diesen Mann in meinen Träumen! Er ist hier – in meiner Reichweite! Ganz Krynn sucht nach ihm – und ich habe ihn gefunden!«

»Du wirst Ihre Finstere Majestät informieren?«

»Nein. Ich wage nicht, mich einem Boten anzuvertrauen. Ich muß diesen Mann persönlich hinbringen, aber im Moment komme ich nicht weg. Verminaard wird allein nicht fertig mit Qualinost. Auch wenn der Krieg nur eine List ist, müssen wir in Erscheinung treten, und der Welt wird es besser gehen, wenn die Elfen erst einmal ausgerottet sind. Ich werde diesen Ewigan zur Königin bringen, sobald es meine Zeit erlaubt.«

»Warum erzählst du es mir dann?« fragte die Gestalt.

»Weil du auf ihn aufpassen mußt!« Pyros schob seinen Körper in eine bequemere Lage. »Das beweist die Größe der Macht Ihrer Finsteren Majestät, daß die Klerikerin von Mishakal und der Hüter des grünen Juwels zusammen in meiner Reichweite auftauchen! Ich werde Verminaard das Vergnügen erlauben, sich morgen mit der Klerikerin und ihren Freunden zu befassen. In der Tat« – Pyros’ Augen strahlten – »das könnte ganz gut funktionieren! Wir können den Hüter des grünen Edelsteins in der Verwirrung entfernen, und Verminaard wird nichts merken! Wenn die Sklaven angreifen, mußt du diesen Mann finden. Bring ihn hierher, und verstecke ihn in den unteren Gemächern. Wenn alle Menschen vernichtet sind und die Armee Qualinost ausgelöscht hat, werde ich ihn zu meiner Finsteren Königin bringen.«

»Ich verstehe.« Die Gestalt verbeugte sich wieder. »Und meine Belohnung?«

»Alles, was du verdienst. Geh jetzt.«

Der Mann zog wieder seine Kapuze über den Kopf und entfernte sich. Pyros faltete seine Flügel und rollte seinen riesigen Körper samt Schwanz über das Maul und lag, in die Dunkelheit starrend, da. Nur noch Sestuns erbärmliches Wimmern war zu hören.

»Ist alles in Ordnung?« fragte Fizban Tolpan leise oben auf dem Balkon. Es herrschte pechschwarze Dunkelheit. Fizban hatte über das verräterische Wölkchen eine Vase gestülpt.

»Ja«, sagte Tolpan benommen. »Tut mir leid, daß ich vorhin so laut war. Ich konnte mich nicht zusammenreißen. Obwohl ich es erwartet hatte, etwas Ähnliches jedenfalls, ist es doch hart, jemanden zu kennen, der ein Verräter ist. Glaubst du, der Drache hat mich gehört?«

»Weiß ich nicht.« Fizban seufzte. »Die Frage ist, was wir jetzt machen?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Tolpan jämmerlich. »Für solche Pläne bin ich nicht zuständig. Ich bin nur zum Vergnügen mitgekommen. Wir können Tanis und die anderen nicht warnen, weil wir nicht wissen, wo sie sind. Und wenn wir anfangen, sie zu suchen, werden wir womöglich erwischt und machen alles nur noch schlimmer!« Er schob sein Kinn in seine Hand. »Weißt du«, sagte er mit ungewöhnlicher Melancholie. »Ich habe einmal meinen Vater gefragt, warum Kender so klein sind, warum wir nicht so groß wie die Menschen oder Elfen sind. Ich wollte wirklich immer groß sein«, sagte er leise, und einen Moment war er ruhig.

»Und was hat dein Vater geantwortet?« fragte Fizban sanft.

»Er sagte, Kender wären klein, weil wir kleine Dinge tun sollten.›Wenn du die großen Dinge in der Welt näher betrachtest‹sagte er,›dann wirst du erkennen, daß sie in Wirklichkeit aus kleinen Dingen bestehen, die alle zusammengefaßt sind.‹Dieser große Drache da unten setzt sich vielleicht nur aus winzigen Blutstropfen zusammen. Es sind die kleinen Dinge, die den Unterschied machen.«

»Sehr klug, dein Vater.«

»Ja.« Tolpan strich sich mit der Hand über die Augen. »Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen.« Das spitz zulaufende Kinn des Kenders schob sich nach vorn, seine Lippen zogen sich zusammen. Sein Vater würde diese kleine resolute Person nicht als seinen Sohn erkennen, wenn er ihn jetzt sehen würde.

»Wir überlassen die großen Dinge den anderen«, verkündete Tolpan schließlich. »Dafür sind Tanis und Sturm und Goldmond verantwortlich. Sie schaffen das schon. Wir machen die kleinen Dinge, selbst wenn sie nicht so wichtig erscheinen. Wir werden Sestun befreien!«

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