Margaret Weis Tracy Hickman Drachenjäger

1 Die Nacht der Drachen

Tika wrang den Putzlappen im Kübel aus und beobachtete teilnahmslos, wie sich das Wasser schwarz färbte. Sie warf den Lappen auf die Theke und wollte gerade den Kübel in die Küche bringen, um frisches Wasser zu holen, aber dann dachte sie: Warum soll ich mir solche Mühe machen? Sie nahm den Lappen und wischte noch einmal die Tische ab. Dann fuhr sie mit ihrer Schürze über die Augen.

Aber Otik hatte sie beobachtet. Er faßte sie bei den Schultern und drehte sie sanft herum. Tika schluchzte auf und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

»Tut mir leid«, schluchzte sie, »aber es wird nicht sauber!«

Otik wußte natürlich, daß das nicht der wahre Grund ihres Weinens war, obwohl es der Wahrheit schon sehr nahe kam. Er streichelte ihren Rücken. »Ich weiß, ich weiß, Kind. Wein nicht. Ich verstehe das ja.«

»Es ist dieser verdammte Ruß!« jammerte Tika. »Alles ist völlig schwarz, und jeden Tag schrubbe ich ihn weg, und am nächsten Tag ist er wieder da!«

»Mach dir keine Sorgen, Tika«, versuchte Otik sie zu trösten. »Sei froh, daß das Wirtshaus noch steht…«

»Froh sein!« Tika stieß ihn weg, sie errötete. »Nein! Ich wünschte, sie hätten es verbrannt wie alles andere in Solace, dann würden sie nicht mehr hierher kommen! Ich wünschte, es wäre verbrannt! Ich wünschte, es wäre verbrannt!« Tika schluchzte nun hemmungslos.

»Ich weiß, meine Liebe, ich weiß«, wiederholte Otik und fuhr über die Puffärmel ihrer Bluse, auf die Tika so stolz gewesen war, weil sie sauber und weiß war. Jetzt war sie schmuddelig und verrußt, wie alles in der verwüsteten Stadt.

Der Angriff auf Solace war ohne Warnung erfolgt. Selbst als die ersten bedauernswerten Flüchtlinge grüppchenweise aus dem Norden in der Stadt eintrafen und entsetzliche Geschichten über riesige beflügelte Ungeheuer erzählten, versicherte Hederick, der Oberste Theokrat, den Bürgern von Solace, daß sie sich in Sicherheit befänden und ihre Stadt verschont bliebe. Und die Menschen glaubten ihm, weil sie ihm glauben wollten.

Und dann kam die Nacht der Drachen.

Das Wirtshaus war an jenem Abend gut besucht, einer der wenigen Plätze, wo die Menschen hingehen konnten, ohne an die im nördlichen Himmel tiefhängenden Gewitterwolken erinnert zu werden. Das Feuer brannte hell, das Ale war kräftig, die Würzkartoffeln rochen köstlich. Aber auch hierher schlich sich das Grauen: Alle redeten laut und furchtsam über Krieg.

Hedericks Worte beruhigten ihre ängstlichen Herzen.

»Wir sind doch nicht wie diese leichtsinnigen Narren im Norden, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich der Macht der Drachenfürsten zu widersetzen«, rief er, auf einem Stuhl stehend, aus. »Lord Verminaard hat persönlich auf einer Versammlung der Suchenden in Haven versichert, daß er nur Frieden will. Er hat um Erlaubnis gebeten, seine Armee durch unsere Stadt ziehen zu lassen, damit er das Elfengebiet im Süden erobern kann. Und ich bin dafür, daß er an Macht gewinnt!«

Hederick legte für vereinzelten Jubel und Applaus eine Kunstpause ein.

»Wir haben die Elfen in Qualinesti zu lange toleriert. Ich meine, soll dieser Verminaard sie nach Silvanesti zurücktreiben oder wo immer sie auch herkommen! In der Tat« – Hederick kam nun zu seinem Lieblingsthema – »sollten einige der jungen Männer von Solace sich überlegen, ob sie sich nicht der Armee des großen Lord anschließen. Er ist ein großer Lord! Ich habe ihn kennengelernt! Er ist ein wahrer Kleriker! Ich habe die Wunder gesehen, die er vollbracht hat! Unter seiner Führerschaft werden wir in ein neues Zeitalter eintreten! Wir werden die Elfen, die Zwerge und die anderen Fremden aus unserem Land vertreiben und…«

Plötzlich hörte man ein leises monotones Tosen, ähnlich wie die Wassermassen eines riesigen Ozeans. Alle verstummten und lauschten und versuchten, die Ursache des Geräusches zu verstehen. Hederick, der bemerkte, daß er seine Zuhörer verloren hatte, sah sich irritiert um. Der tosende Lärm wurde immer lauter und kam näher. Auf einmal wurde das Wirtshaus in eine tiefe erdrückende Dunkelheit getaucht. Einige schrien auf. Die meisten rannten zu den Fenstern, um draußen etwas zu erkennen.

»Laßt uns nach unten gehen und nachsehen, was los ist«, schlug einer vor.

»Es ist so verdammt dunkel, daß man nicht einmal die Sterne sehen kann«, murmelte ein anderer.

Und dann war es nicht mehr dunkel.

Draußen explodierten Flammen. Eine Hitzewelle brandete mit solcher Wucht gegen das Gebäude, daß die Fenster zerbarsten und die Gäste mit Glasscherben überschüttet wurden. Der gewaltige Vallenholzbaum – den kein Sturm auf Krynn je bewegt hatte – begann von der Explosion zu wanken und zu schaukeln. Das Wirtshaus legte sich zur Seite. Tische und Bänke fielen um. Hederick verlor das Gleichgewicht und purzelte von seinem Stuhl. Glühende Kohlen spuckten aus dem Kamin, und die Öllampen an der Decke und die Kerzen auf den Tischen fingen Feuer.

Ein schriller Schrei übertönte den Lärm und die Verwirrung – der Schrei eines Lebewesens – ein Schrei voller Haß und Grausamkeit. Das tosende Geräusch war nun über dem Wirtshaus. Dann kam ein Windstoß, und die Dunkelheit wurde durch eine Flammenwand verdrängt, die sich im Süden erhob.

Tika ließ ein Tablett mit Krügen fallen, als sie verzweifelt Halt an der Theke suchte. Die um sie herumstehenden Leute schrien, teilweise vor Schmerzen, teilweise vor Entsetzen.

Solace brannte.

Ein geisterhaftes orangefarbenes Glimmern erhellte den Raum. Schwarze Rauchwolken zogen durch die zerbrochenen Fenster. Der Geruch verbrannten Holzes zusammen mit einem anderen, entsetzlicheren stieg in Tikas Nase – der Geruch verbrannten Fleisches. Tika würgte, und als sie hochsah, blickte sie auf kleine Flammen, die an den dicken Ästen des Vallenholzes, die die Decke hielten, züngelten. Die Geräusche des von der Hitze zischenden und aufspringenden Holzwachses vermischten sich mit den Schreien der Verletzten.

»Löscht das Feuer!« gellte Otik wild.

»Die Küche!« schrie die Köchin, die mit qualmenden Kleidern aus der Küche schoß. Tika griff einen Krug mit Ale von der Theke und goß ihn über das Kleid der Köchin. Rhea sank in einen Stuhl und weinte hysterisch.

»Alle raus hier! Das ganze Haus geht in Flammen auf!« schrie jemand.

Hederick, der an den Verwundeten vorbeieilte, war der erste an der Tür. Er rannte zum vorderen Treppenabsatz, blieb wie gelähmt stehen und hielt sich am Geländer fest. Denn er sah nicht nur die brennenden Bäume im Norden, sondern durch das gespenstische Licht der Flammen konnte er Hunderte von marschierenden Kreaturen erkennen, in deren ledernen Flügeln sich der unheimliche Feuerschein widerspiegelte. Drakonische Bodentruppen. Er beobachtete entsetzt, wie die vorderen Reihen in Solace einströmten, und ihm war klar, daß ihnen Tausende folgen würden. Und über ihnen flogen Gestalten, wie aus Kindergeschichten entsprungen.

Drachen.

Fünf rote Drachen kreisten oben im flammenerleuchteten Himmel. Zuerst stieß einer herab, dann ein zweiter, und verbrannte mit seinem heißen Atem Teile der kleinen Stadt und löste dichte magische Dunkelheit aus.

An den Rest der Nacht hatte Tika nur noch eine schemenhafte Erinnerung. Sie hatte sich ständig gesagt, daß sie aus dem brennenden Gastraum müßte. Aber das Gasthaus war ihr Zuhause, sie fühlte sich dort sicher. Und so blieb sie trotz der Hitze aus der brennenden Küche, die so stark wurde, daß ihr bei jedem Atemzug die Lungen weh taten. In dem Moment, als die Flammen auf den Schankraum übergriffen, stürzte die Küche krachend ein. Otik und die Kellnerinnen schütteten kübelweise Ale auf die Flammen in der Gaststube, bis das Feuer schließlich gelöscht war.

Dann wandte sich Tika den Verletzten zu. Otik brach zitternd und schluchzend in einer Ecke zusammen. Tika schickte eine Kellnerin zu ihm, während sie die Verletzten versorgte. Sie arbeitete stundenlang und weigerte sich entschieden, aus den Fenstern zu sehen. Sie wollte die furchtbaren Geräusche von Tod und Zerstörung aus ihrem Bewußtsein ausklammern.

Auf einmal wurde ihr klar, daß es mit den Verletzten überhaupt kein Ende nahm und mehr und mehr Menschen auf dem Boden lagen. Verwundert sah sie hoch und bemerkte, daß die Menschen in die Stube taumelten. Frauen halfen ihren Ehemännern. Ehemänner trugen ihre Frauen. Mütter hielten ihre sterbenden Kinder in den Armen.

»Was ist denn los?« fragte Tika eine Wache der Sucher, die hereinstolperte und sich krampfhaft den Arm hielt, der von einem Pfeil getroffen war. Andere schoben sich hinter ihm rein. »Was ist denn los? Warum kommen all diese Leute hierher?«

Der Mann sah sie mit teilnahmslosen, schmerzverzerrten Augen an- »Das ist das einzige Gebäude«, murmelte er. »Alles andere brennt. Alles…«

»Nein!« Tika war gelähmt vor Entsetzen, und ihre Knie zitterten. Im selben Moment fiel der Mann ohnmächtig in ihre Arme, und sie war gezwungen, sich zusammenzureißen. Das letzte, was sie sah, als sie ihn weiter in den Raum zog, war Hederick, der am Eingang stand und mit glasigen Augen auf die brennende Stadt starrte. Tränen liefen über sein rußverschmiertes Gesicht.

»Es ist ein Irrtum«, wimmerte er. »Irgendwie ist da ein Irrtum passiert.«

Das war vor einer Woche gewesen. Zwischenzeitlich hatte sich herausgestellt, daß das Wirtshaus nicht das einzige unzerstörte Gebäude war. Die Drakonier wußten genau, welche Gebäude sie schonen mußten; sie hatten nur jene zerstört, für die sie keine Verwendung hatten. Das Wirtshaus, Theros Eisenfelds Schmiede und der Lebensmittelladen waren unversehrt geblieben. Die Schmiede war wegen der Esse sowieso nicht in einen Baum gebaut worden, und die anderen Gebäude mußten heruntergelassen werden, weil die Drakonier es unbequem fanden, in die Bäume zu steigen.

Lord Verminaard befahl den Drachen, die Gebäude runterzuholen. Nachdem ein Zwischenraum ausgebrannt worden war, ergriff eines der riesigen roten Ungeheuer mit seinen Klauen das Wirtshaus und hob es hoch. Die Drakonier jubelten, als der Drache es nicht gerade sanft auf das versengte Gras setzte. Truppführer Toede, der für die Stadt verantwortlich war, befahl Otik, das Wirtshaus unverzüglich instandzusetzen. Die Drakonier harten eine große Schwäche – den Alkohol. Drei Tage nach der Eroberung von Solace öffnete das Gasthaus wieder.

»Es geht mir schon wieder gut«, sagte Tika zu Otik. Sie trocknete die Augen und putzte sich die Nase. »Seit jener Nacht habe ich nicht mehr geweint«, sagte sie mehr zu sich selbst. Ihre Lippen wurden zu einem dünnen Strich. »Und ich werde nie mehr weinen!« schwor sie sich.

Otik, der nichts verstand, aber erleichtert war, daß Tika sich wieder beruhigt hatte, bevor die Stammkunden kamen, eilte geschäftig hinter die Theke. »Wir öffnen bald«, sagte er und versuchte, fröhlich zu klingen. »Vielleicht haben wir heute gute Gäste.«

»Wie kannst du nur ihr Geld annehmen!« fuhr Tika ihn an.

Otik, der einen weiteren Ausbruch befürchtete, sah sie flehend an. »Ihr Geld ist genauso gut wie jedes andere. In diesen Zeiten sogar besser als das anderer.«

»Pah!« schnaufte Tika. Ihre üppigen roten Locken zitterten, als sie wütend auf ihn zuging. Otik, der ihren Zorn kannte, trat zurück. Aber es half nichts. Er kam nicht davon. Sie bohrte ihren Finger in seinen dicken Bauch. »Wie kannst du über ihre rohen Witze lachen und um sie herumspringen?« fauchte sie. »Ich hasse dieses Pack! Ich hasse ihre lüsternen Blicke und ihre kalten, schuppigen Klauen, die mich berühren! Irgendwann werde ich…«

»Tika, bitte!« bettelte Otik. »Nimm Rücksicht auf mich. Ich bin zu alt, um in den Sklavenminen zu arbeiten! Und du – sie bringen dich morgen weg, wenn du hier nicht arbeitest. Bitte reiß dich zusammen, und sei ein gutes Mädchen!«

Tika biß sich vor Wut und Enttäuschung auf die Lippen. Sie wußte, daß Otik recht hatte. Sie riskierte mehr, als zu den Sklavenkarawanen geschickt zu werden, die fast täglich durch die Stadt zogen – ein zorniger Drakonier tötete schnell und gnadenlos. Gerade als sie darüber nachdachte, wurde die Tür aufgeschlagen, und sechs Drakonierwachen stolzierten herein. Einer von ihnen riß das Schild GESCHLOSSEN von der Tür und warf es in eine Ecke.

»Es ist geöffnet«, sagte die Kreatur und ließ sich in einen Stuhl fallen.

»Ja, natürlich.« Otik grinste schwach. »Tika…«

»Ich gehe schon«, sagte Tika resigniert.

Загрузка...