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Die Tage wurden zu Wochen, aber Jason ging noch immer zur Schule. Allmählich wurde er fast stolz auf seine neuerworbene Fähigkeit, dem Tod in allen seinen Formen furchtlos entgegenzutreten. Er kannte alle Tiere und Pflanzen in der ersten Trainingsmaschine und übte jetzt schon in der zweiten, in der die Tiere sich schwerfällig bewegten. Seine Pistole knallte jedesmal rechtzeitig. Der tägliche Unterricht langweilte ihn bereits.

Sein Körper hatte sich den veränderten Lebensbedingungen ziemlich gut angepaßt, aber die nächtlichen Alpträume wurden immer schlimmer. Jason sprach schließlich mit Brucco darüber, der ihm ein Mittel zusammenbraute, das recht gut wirkte. Die Alpträume blieben zwar so schrecklich wie zuvor, aber Jason konnte sich nach dem Aufwachen wenigstens nicht mehr an sie erinnern.

Als Jason schließlich alles beherrschte, was ein Pyrraner wissen mußte, um auf diesem Planeten überleben zu können, durfte er in dem wirklichkeitsgetreuen Trainer üben, der sich kaum von den tatsächlichen Verhältnissen unterschied. Nur die Qualität des Gebotenen war verschieden. Ein Insektenstich bedeutete hier eine schmerzhafte Schwellung, aber nicht den sofortigen Tod. Die Tiere verursachten Fleischwunden, rissen aber keine ganzen Gliedmaßen ab. In dieser Trainingsmaschine fand man zwar nicht den Tod, kam ihm aber doch gefährlich nahe.

Jason hatte seit einiger Zeit beobachtet, daß die Kinder, mit denen er ursprünglich ein Klassenzimmer geteilt hatte, bereits in die Außenwelt entlassen worden waren. Als ihm endlich auffiel, was diese Tatsache zu bedeuten hatte, suchte er sofort den Leiter des Trainingszentrums auf.

„Brucco“, fragte Jason, „wie lange soll ich eigentlich noch in dieser Kinderschießbude zubringen? Behalten Sie mich absichtlich länger hier?“

„Kein Mensch will Sie hierbehalten“, antwortete Brucco in seiner üblichen mürrischen Art. „Sie bleiben hier, bis wir uns davon überzeugt haben, daß wir Sie mit gutem Gewissen entlassen können.“

„Irgendwie habe ich das unbestimmte Gefühl, daß dieses Ereignis nie eintreten wird. Ich kann jetzt jedes Ihrer komischen Geräte in völliger Dunkelheit zerlegen und wieder zusammenbauen. Ich schieße erstklassig mit meiner Pistole. Wenn ich müßte, könnte ich in diesem Augenblick ein Buch mit dem Titel Die komplette Flora und Fauna von Pyrrus und wie man sie umbringt schreiben. Vielleicht bin ich nicht so gut wie meine sechsjährigen Klassenkameraden. Aber ich habe den Verdacht, daß ich mich nicht mehr wesentlich verbessern werde. Habe ich damit recht?“

Brucco zuckte unbehaglich mit den Schultern und versuchte ausweichend zu antworten, ohne allzu viel Erfolg damit zu haben. „Ich glaube… wissen Sie, schließlich sind Sie nicht hier geboren und…“

„Na, na“, sagte Jason freundlich. „Ein ehrlicher alter Pyrraner wie Sie sollte nicht versuchen, einen Angehörigen der schwächeren Rassen zu belügen, die sich darauf spezialisiert haben. Selbstverständlich komme ich mit der Schwerkraft wahrscheinlich nie ganz zurecht und habe noch andere Geburtsfehler. Das gebe ich ohne weiteres zu. Aber darüber sprechen wir ja gar nicht. Ich möchte nur wissen, ob ich mich noch verbessern kann, wenn ich mehr trainiere, oder ob ich das Maximum meiner eigenen Entwicklung bereits erreicht habe?“

Auf Bruccos Stirn standen Schweißperlen. „Im Laufe der Zeit sind selbstverständlich gewisse Verbesserungen möglich…“

„Keine Ausreden!“ Jason drohte ihm mit dem Zeigefinger. „Ja oder nein? Werde ich jetzt besser, wenn ich jetzt mehr trainiere?“

„Nein“, gab Brucco zu und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Jason sah ihm abschätzend ins Gesicht.

„Schön, befassen wir uns einmal damit. Ich kann mich nicht mehr verbessern, bin aber noch immer hier. Das ist bestimmt kein Zufall. Jemand muß Ihnen also die Anweisung gegeben haben, mich unbedingt hierzubehalten. Soweit ich die hiesigen Verhältnisse beurteilen kann, vermute ich, daß dieser Befehl nur von Kerk stammen kann. Habe ich recht?“

„Er wollte nur Ihr Bestes“, versuchte Brucco zu erklären. „Sie sollen unbedingt am Leben bleiben.“

„Die Wahrheit ist ans Tageslicht gekommen“, sagte Jason. „Sprechen wir also nicht mehr darüber. Ich bin nicht nach Pyrrus gekommen, um mit den versammelten Kinderchen Roboter abzuknallen. Zeigen Sie mir bitte den nächsten Ausgang. Oder findet erst noch eine großartige Schulentlassungsfeier statt? Mit Ansprachen, Streichquintetten, Zeugnissen und…“

„Reden Sie keinen Unsinn“, wies Brucco ihn scharf zurecht. „Ich verstehe einfach nicht, wie ein erwachsener Mann ständig dumme Witze machen kann. Selbstverständlich findet keine derartige Feier statt, sondern nur ein abschließender Test in der Überlebenskammer. Das ist ein Teil unserer Anlage, der mit der Außenwelt verbunden ist — eigentlich ist er ein Stück Außenwelt —, aber die gefährlichsten Lebensformen erscheinen nicht darin. Andererseits kommt es manchmal vor, daß sie doch auftauchen.“

„Wann findet der Test statt?“ fragte Jason sofort.

„Morgen früh. Schlafen Sie sich gut aus, Sie werden den Schlaf nötig haben.“

Der Abschluß fand doch nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit statt. Als Jason am folgenden Morgen Bruccos Büro betrat, schob der andere ihm ein schweres Pistolenmagazin über den Tisch.

„Das sind keine Platzpatronen mehr“, sagte er dazu. „Ich bin überzeugt davon, daß Sie sie brauchen werden. Von heute ab ist Ihre Pistole immer scharf geladen.“

Sie gingen auf die massive Luftschleuse zu, die einzige Tür, die Jason innerhalb des Gebäudes jemals verschlossen gesehen hatte.

Als Brucco den Mechanismus betätigte, kam ein Achtjähriger mit einem bandagierten Bein herangehumpelt.

„Das ist Grif“, erklärte Brucco Jason. „Von jetzt ab begleitet er Sie auf Schritt und Tritt.“

„Sozusagen als Leibwächter?“ erkundigte sich Jason und warf einen erstaunten Blick auf den untersetzten Jungen, der ihm kaum bis an die Brust reichte.

„So könnte man ihn nennen.“ Brucco schob den letzten Riegel beiseite. „Grif hat einen kleinen Zusammenstoß mit einem Sägevogel gehabt, deshalb kann er in der nächsten Zeit nicht richtig arbeiten. Sie haben selbst zugegeben, daß Sie es wahrscheinlich nie mit einem geborenen Pyrraner aufnehmen können werden. Seien Sie also lieber froh, daß wir so um Ihre persönliche Sicherheit besorgt sind.“

„Stets ein freundliches Wort für jedermann — ganz der gute alte Brucco“, sagte Jason. Er beugte sich vor und schüttelte dem Jungen die Hand. Selbst der Achtjährige hatte bereits einen durchaus männlichen Händedruck.

Die beiden betraten die Schleuse, während Brucco zurückblieb, um die innere Tür hinter ihnen zu verriegeln. Dann öffnete sich automatisch die Außentür. Sie war erst einen Spalt offen, als Grifs Pistole zweimal knallte. Um auf die Oberfläche des Planeten zu gelangen, mußten sie über einen Tierkadaver hinwegsteigen. Äußerst symbolisch, dachte Jason. Gleichzeitig ärgerte er sich jedoch darüber, daß er nicht daran gedacht hatte, daß ein Tier in die Schleuse eindringen könnte. Er sah sich um und hoffte, daß er beim nächstenmal zuerst zum Schuß kommen würde.

Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Die wenigen Tiere, die ihren Weg kreuzten, wurden regelmäßig von dem Jungen erlegt. Nach einiger Zeit war Jason so wütend über diese Tatsache, daß er auf eine gefährlich wirkende Dornenpflanze schoß. Er nahm an, daß Grif die Überreste der Pflanze nicht zu genau untersuchen würde. Aber natürlich tat er es doch.

„Die Pflanze war noch nicht gefährlich nahe. Man vergeudet die wertvolle Munition nicht aus Spaß.“

Der Tag verlief ziemlich ereignislos. Jason langweilte sich schließlich fast und verwünschte die zahlreichen Gewitter, von denen er völlig durchnäßt war. Falls Grif zu einer vernünftigen Unterhaltung fähig war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Jasons Versuche in dieser Richtung schlugen völlig fehl. Der nächste Tag verlief ganz ähnlich. Am dritten Tag erschien Brucco und betrachtete Jason von Kopf bis Fuß.

„Ich gebe es nicht gern zu, aber Sie haben Ihren letzten Test einigermaßen gut bestanden. Wechseln Sie jeden Tag die Virusfilter für die Nase. Überprüfen Sie öfters Ihre Stiefel und den Schutzanzug, damit Sie keine Risse übersehen. Der Medikasten wird jede Woche frisch aufgefüllt.“

„Ich verspreche Ihnen, daß ich mir immer die Nase putzen und jeden Tag einen Apfel essen werde. Sonst noch etwas?“ erkundigte sich Jason.

Brucco schien noch einige Ermahnungen hinzufügen zu wollen, hielt aber dann doch lieber den Mund. „Sie müssen selbst wissen, was Sie zu tun haben. Lassen Sie sich durch nichts überraschen. Und… viel Glück.“ Er ließ diesen Worten einen völlig unerwarteten Händedruck folgen. Sobald Jason seine Hand wieder einigermaßen bewegen konnte, verließ er gemeinsam mit Grif das Gebäude durch die Hauptluftschleuse.

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