13

„Wie in der guten alten Zeit“, sagte Jason, als Brucco mit einem Tablett hereinkam. Brucco stellte ihm und den Verwundeten in den anderen Betten wortlos das Essen vor die Nase und ging wieder hinaus. „Danke schön“, rief Jason hinter ihm her.

Immer noch der alte Jason, der bei jeder Gelegenheit — passend oder unpassend — seine Witze anbringen mußte. Natürlich. Aber plötzlich fiel ihm ein, wie wenig Anlaß er zu einem Grinsen hatte. Er dachte an den sich windenden Bogen, der den verwundeten Mann unter sich begraben hatte.

Er stellte sich vor, wie die unzähligen Fangarme nach ihm gegriffen hätten. Hatte denn der Verwundete nicht seinen Platz eingenommen? Er beendete seine Mahlzeit, ohne überhaupt zu merken, daß er aß.

Seit dem Morgen, an dem er aus seiner Ohnmacht erwacht war, hatte ihn dieses Gefühl nicht mehr losgelassen. Er wußte, daß er auf dem Schlachtfeld zwischen den zertrümmerten Häusern hätte sterben sollen. Sein Leben hätte dort mit einem Schlag zu Ende sein sollen, weil er sich eingebildet hatte, den Pyrranern während ihres Kampfes beistehen zu können. Statt dessen hatte er sie nur behindert. Wäre Jason nicht gewesen, läge der Mann mit dem verletzten Arm jetzt in diesem Bett in dem Adaptionszentrum und wäre außer Gefahr. Jason wußte, daß er in dem Bett lag, das eigentlich diesem Mann gehörte.

Dem Mann, der sein Leben für Jason geopfert hatte.

Dem Mann, dessen Namen er nicht einmal kannte.

Das Essen hatte ein Beruhigungsmittel enthalten, das ihn schläfrig machte. Der dicke Verband um den Kopf und den Oberkörper linderte die Schmerzen an den zahlreichen Stellen, an denen er mit den Fangarmen in Berührung gekommen war. Als er ein zweitesmal aufwachte, betrachtete er die Realität wieder mit anderen Augen.

Ein Mann hatte sein Leben gelassen, damit er sich in Sicherheit bringen konnte. Jason beschäftigte sich mit dieser Tatsache. Selbst wenn er wollte, konnte er den Mann nicht wieder lebendig machen. Aber er konnte wenigstens dafür sorgen, daß der Pyrraner nicht vergebens gestorben war. Aber gab es denn überhaupt etwas, das den Tod eines Menschen aufwog? Hätte er statt dessen nicht lieber…

Jason wußte jetzt, was er zu tun hatte. Seine Arbeit war nun noch wichtiger als zuvor. Wenn er das Kernproblem der menschlichen Existenz auf diesem Planeten zu lösen vermochte, konnte er damit seine Schuld wenigstens teilweise begleichen.

Als er sich aufsetzte wurde ihm schwindlig, so daß er sich einige Sekunden lang am Bettrand festhalten mußte. Die übrigen Männer achteten nicht auf ihn, während er sich langsam anzog. Aber Brucco kam zufällig herein, sah ihm einen Augenblick lang zu und ging wieder hinaus.

Er brauchte lange, bis er endlich vollständig angezogen war. Als er den Raum verließ, sah er sich Kerk gegenüber.

„Kerk, ich wollte Ihnen noch sagen…“

„Sagen Sie mir nichts!“ Das Echo von Kerks gewaltiger Stimme hallte von den Wänden und der Decke wider. „Ich sage Ihnen etwas. Ich sage es nur einmal, aber das muß genügen. Jason dinAlt, Sie sind hier auf Pyrrus unerwünscht. Weder Sie noch Ihre verrückten Pläne haben irgendwelchen Nutzen für uns. Ich habe mich leider einmal von Ihnen überreden lassen. Ich habe Ihnen geholfen, anstatt mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Dabei hätte ich wissen müssen, was aus Ihrem ›logischen‹ Vorschlag werden würde. Jetzt habe ich es gesehen. Welf ist gestorben, damit Sie am Leben bleiben konnten. Er war ein besserer Mensch, als Sie es jemals sein werden.“

„Welf? War das sein Name?“ fragte Jason unsicher. „Ich wußte nicht…“

„Sie wußten nicht…“, äffte Kerk ihn nach und lachte verächtlich. „Sie kannten nicht einmal seinen Namen und doch hat er sich geopfert, um Ihr kümmerliches Leben zu retten.“ Kerk spuckte vor Jason aus und stampfte auf die Luftschleuse zu. Dann drehte er sich noch einmal zu Jason um.

„Sie bleiben hier in diesem abgeschlossenen Gebäude, bis das Schiff in vierzehn Tagen zurückkommt. Dann verlassen Sie diesen Planeten und lassen sich nie wieder auf Pyrrus blicken. Sonst bringe ich Sie auf der Stelle um.“ Er betrat die Luftschleuse.

„Warten Sie doch!“ rief Jason hinter ihm her. „Sie können mich nicht einfach fortschicken. Sie haben ja noch gar nicht gesehen, was ich entdeckt habe. Fragen Sie Meta…“ Die Luftschleuse knallte zu, als Kerk darin verschwand.

Jason fluchte leise vor sich hin. Seine Verzweiflung machte heftigem Ärger Platz. Mußte er sich denn wirklich wie ein unmündiges Kind behandeln lassen? Wie konnte Kerk so dumm sein, sich nicht für die Entdeckung des Logbuchs zu interessieren?

Er drehte sich um und sah erst jetzt, daß Brucco hinter ihm stand. „Haben Sie das gehört?“ fragte er ihn.

„Ja. Ich bin übrigens der gleichen Meinung wie Kerk. Sie haben noch Glück gehabt.“

„Glück!“ Jason wurde erst richtig wütend. „Ich habe Glück gehabt, wenn ich mich wie ein Baby gängeln lassen muß! Wenn meine Arbeit nicht einmal anerkannt wird…“

„Sie haben Glück gehabt“, wiederholte Brucco ungerührt. „Welf war Kerks einziger überlebender Sohn. Kerk setzte große Hoffnungen auf ihn und wollte ihn zu seinem Nachfolger ausbilden.“ Er wandte sich ab, aber Jason hielt ihn auf.

„Warten Sie doch. Die Sache mit Welf tut mir wirklich leid. Daß er Kerks Sohn war, erklärt wenigstens die Tatsache, daß Kerk mich so schnell wie möglich loswerden will — und meine Beweise ebenfalls. Das Logbuch…“

„Ich weiß, ich habe es gesehen“, unterbrach Brucco ihn. „Meta hat es mir gezeigt. Ein äußerst interessantes historisches Dokument.“

„Sie sehen es also nur als historisches Dokument an? Ist Ihnen denn die Bedeutung der seither auf Pyrrus vorgegangenen Veränderungen nicht aufgefallen?“

„Natürlich ist sie mir aufgefallen“, antwortete Brucco kurz. „Aber ich sehe nicht ein, was das alles mit der Gegenwart zu tun haben soll. Die Vergangenheit ist nicht mehr zu ändern, und wir kämpfen mit den gegenwärtigen Verhältnissen. Das reicht aus, um uns völlig in Anspruch zu nehmen.“

Jason hatte das Gefühl, überall nur gegen Mauern anzurennen. Er hätte am liebsten losgebrüllt, beherrschte sich aber mühsam.

„Sie sind ein intelligenter Mann, Brucco — aber trotzdem können Sie nicht weiter als bis zu Ihrer Nasenspitze sehen. Vielleicht ist das einfach unvermeidbar. Sie und alle anderen Pyrraner sind die reinsten Supermenschen, wenn man zum Beispiel die durchschnittlichen Terraner ansieht. Zäh, rücksichtslos, unbesiegbar und erstklassige Schützen. Wie sie auch fallen, sie landen auf den Füßen. Pyrraner wären ideale Texas Ranger, kanadische Mounties oder Venus Patrolmen gewesen — ideal für den Dienst in den gefährlichsten Gebieten der Vergangenheit.

Und da gehören sie meiner Meinung nach auch hin. In die Vergangenheit. Auf Pyrrus hat die Menschheit die Grenze der Muskel- und Reflexentwicklung erreicht. Das ist aber eine Sackgasse. Das Gehirn war daran schuld, daß die Menschen einmal aus ihren Höhlen krochen und sich auf den Weg zu den Sternen machten. Wenn man sich wieder ausschließlich auf seine Muskeln verläßt, ist es zu den Höhlen nicht mehr weit. Was sind die Pyrraner denn eigentlich? Nichts als Höhlenmenschen, die Tieren mit Steinäxten den Schädel einschlagen. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, weshalb Sie hier sind? Was Sie wirklich tun? Wohin das alles führen soll?“

Jason konnte nicht weitersprechen; er rang erschöpft nach Atem. Brucco rieb sich nachdenklich das Kinn. „Höhlen?“ erkundigte er sich. „Natürlich leben wir nicht in Höhlen oder gebrauchen Steinbeile. Ich verstehe gar nicht, was Sie damit sagen wollen.“

Jason wollte empört auffahren, lachte dann aber. Allerdings ohne jeden Humor. Er hatte die fruchtlosen Überzeugungsversuche gründlich satt. Die Pyrraner konnten eben nur an den Augenblick denken. Die Vergangenheit und die Zukunft waren unbekannt, unveränderlich — und uninteressant. „Wie steht die Schlacht an der Mauer?“ fragte er schließlich, um das Thema zu wechseln.

„Beendet. Oder zumindest im letzten Stadium.“ Brucco berichtete nähere Einzelheiten, während er Jason Stereoaufnahmen der Angreifer zeigte. Er schien nicht zu merken, daß Jason zusammenfuhr.

„Das war der größte Einbruch seit Jahren, aber wir haben ihn rechtzeitig festgestellt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn wir den Angriff erst einige Wochen später gemerkt hätten.“

„Was sind das eigentlich für Lebewesen?“ erkundigte sich Jason. „Riesige Schlangen oder was?“

„Reden Sie doch keinen Unsinn“, wies Brucco ihn zurecht. Er zeigte auf die Stereoaufnahme. „Wurzeln. Sonst nichts. Stark verändert, aber trotzdem immer noch Wurzeln. Diesmal sind sie in wesentlich größerer Tiefe unter der Mauer hindurchgewachsen, als wir es jemals für möglich gehalten hätten.

Die Wurzeln allein stellen allerdings keine große Gefahr da, weil sie verhältnismäßig unbeweglich sind. Außerdem sterben sie bald ab, wenn sie durchschnitten werden. Die Gefahr liegt darin, daß einige Tierarten sich durch sie hindurchfressen und auf diese Weise innerhalb der Mauer auftauchen.

Aber jetzt wissen wir, worauf wir zu achten haben. Wenn wir den Angriff nicht rechtzeitig entdeckt hätten, wären die Wurzeln wahrscheinlich von allen Seiten gleichzeitig unter der Mauer hindurchgewachsen. Dann hätten wir allerdings auf verlorenem Posten gestanden.“

Die ständig vorhandene Bedrohung. Das Leben am Rande des Vulkans. Die Pyrraner waren mit jedem Tag zufrieden, der vorüberging, ohne die völlige Vernichtung gebracht zu haben. Jason zuckte mit den Schultern und sprach nicht mehr davon. Er ließ sich das Logbuch der Pollux Victory aus Bruccos Zimmer geben und kehrte damit in sein Bett zurück. Die anderen Verwundeten sahen kaum auf, als er sich auf das Bett fallen ließ und das schwere Buch aufschlug.

An den nun folgenden beiden Tagen beschäftigte er sich ausschließlich mit seiner Lektüre. Die verletzten Pyrraner, mit denen er das Zimmer teilte, wurden als gesund entlassen. Er las das Logbuch sorgfältig durch, bis er die Geschichte der Besiedlung genauestens kannte. Aus den vorliegenden Angaben zeichnete er eine Karte der ursprünglichen Siedlung und legte sie auf den neuesten Stadtplan. Die beiden Karten stimmten nicht miteinander überein.

Seine Forschungen waren in einer Sackgasse steckengeblieben. Durch den Vergleich der Karten wurde Jason endgültig klar, was er schon lange vermutet hatte. Die Beschreibung der Siedlung und ihrer Umgebung, die sich in dem Logbuch fand, war ausreichend genug abgefaßt. Die Stadt war offensichtlich seit der Zeit der ersten Landung verlegt worden. Weitere Berichte darüber wären in der Bibliothek zu finden gewesen — aber diese Quelle war bereits versiegt, denn der Kellerraum enthielt kein einziges vollständiges Buch mehr.

Draußen prasselte ein Hagelschauer gegen die dicken Fensterscheiben, während gleichzeitig Blitze über den dunklen Himmel zuckten. Die unsichtbaren Vulkane waren wieder aktiv und erschütterten die Erde mit ihrem tiefen Grollen.

Jason hatte seine Niederlage deutlich vor Augen. Sie lastete schwer auf seinen Schultern und machte den trüben Tag noch düsterer.

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