Später konnte Jason sich kaum noch an die nun folgenden Ereignisse erinnern. Er spürte die Gegenwart großer Tiere und glaubte getragen zu werden. Dann nahm er undeutlich Wände, Holzrauch und Stimmengewirr wahr. Aber er war zu erschöpft, um sich darum zu kümmern, sondern dämmerte statt dessen nur willenlos vor sich hin.
„Allmählich höchste Zeit“, stellte Rhes fest. „Noch ein paar Tage auf diese Art und Weise, dann hätten wir dich begraben, selbst wenn du noch geatmet hättest.“
Jason kniff angestrengt die Augen zusammen und versuchte das Gesicht zu erkennen, das über seinem Bett verschwamm. Schließlich sah er Rhes und wollte mit ihm sprechen. Aber schon nach dem ersten Wort erlitt er einen heftigen Hustenanfall. Jemand hielt ihm einen Becher an die Lippen und gab ihm eine süßlich schmeckende Flüssigkeit zu trinken. Jason ruhte sich einen Augenblick lang aus, dann nahm er einen neuen Anlauf.
„Wie lange bin ich schon hier?“ Die Stimme klang dünn und schien aus weiter Entfernung zu kommen. Jason erkannte sie kaum als seine eigene.
„Eine Woche. Und warum hast du nicht zugehört, als wir uns zum erstenmal unterhalten haben?“ wollte Rhes wissen.
Jason sah ihn verwirrt an.
„Du hättest an der Absturzstelle bleiben sollen“, fuhr Rhes fort. „Wußtest du nicht mehr, daß ich von einer Landung irgendwo auf Pyrrus gesprochen habe? Nun, darüber brauchen wir uns keine Gedanken mehr zu machen. Aber beim nächstenmal hörst du lieber besser zu.
Meine Leute erreichten das Wrack vor Anbruch der Dunkelheit. Sie nahmen zunächst an, daß der Pilot mit dem Schiff untergegangen sei. Aber dann nahm einer der Hunde deine Spur auf, verlor sie allerdings nachts in den Sümpfen wieder. Die Männer wollten schon Verstärkung anfordern, als sie endlich deine Schüsse hörten. Offenbar kamen sie gerade noch rechtzeitig. Glücklicherweise war einer der Männer ein Redner und konnte die wilden Hunde fortscheuchen. Sonst hätten meine Leute sie alle umbringen müssen — und das kann sich unangenehm auswirken.“
„Vielen Dank für die Hilfe“, sagte Jason. „Aber was war dann? Ich erinnere mich noch daran, daß ich bereits mit dem Leben abgeschlossen hatte. Schließlich ist mit einer Lungenentzündung nicht zu spaßen — aber anscheinend wirken eure Heilmittel doch besser, als du mir damals erzählt hast.“
Seine Stimme erstarb, als Rhes mit sorgenvollem Gesicht den Kopf schüttelte. Jason wandte die Augen ab und sah erst jetzt Naxa neben einem weiteren Grubber stehen. Beide Männer machten ein ebenso unglückliches Gesicht wie Rhes.
„Was ist denn?“ fragte Jason verwirrt. „Wenn eure Medizin nicht geholfen hat — was dann? Bestimmt nicht mein Medikasten. Er war nämlich leer. Ich erinnere mich deutlich daran, daß ich ihn weggeworfen habe.“
„Du warst todkrank“, sagte Rhes langsam. „Wir konnten dir nicht helfen. Dazu brauchten wir eines dieser Geräte, wie sie die Junkmen haben. Wir haben es von dem Fahrer des Lastwagens bekommen.“
„Aber wie?“ erkundigte Jason sich erstaunt. „Du hast mir selbst gesagt, daß die Stadtbewohner euch keine Heilmittel liefern. Der Fahrer hat euch bestimmt nicht seinen eigenen Medikasten überlassen. Es sei denn, er war…“
Rhes nickte und beendete den Satz. „Tot. Selbstverständlich war er tot. Ich habe ihn selbst getötet.“
Das war ein schwerer Schlag für Jason. Er ließ sich in die Kissen zurücksinken und dachte an die vielen Menschen, die den Tod gefunden hatten, seitdem er auf Pyrrus gelandet war. Die Männer, die gestorben waren, um ihn zu retten, die wegen seiner Ideen das Leben gelassen hatten. Er wagte kaum an diese Schuld zu denken, die auf seinem Gewissen lastete. Würde dies alles mit Krannon ein Ende haben — oder würden die Stadtbewohner seinen Tod rächen wollen?
„Wißt ihr denn gar nicht, was das bedeutet?“ Er stieß die Worte mühsam hervor. „Durch den Mord an Krannon habt ihr euch alle Städter zu Feinden gemacht. Sie werden die Lieferungen einstellen und euch bekämpfen, wo sie euch treffen…“
„Natürlich wissen wir das!“ Rhes sprach eindringlich weiter. „Die Entscheidung ist uns bestimmt nicht leichtgefallen. Wir hatten eine Art Waffenstillstand mit den Junkmen geschlossen. Der Lastwagen durfte nicht angegriffen werden. Schließlich stellte er unsere letzte Verbindung zur Außenwelt dar.“
„Und trotzdem habt ihr diese Verbindung zerstört — weshalb?“
„Diese Frage kannst nur du vollständig beantworten. Die Stadt wurde angegriffen und konnte sich kaum verteidigen. Zur gleichen Zeit befand sich das Raumschiff über dem Meer und warf Bomben ab — unsere Leute haben den Lichtblitz beobachtet. Dann kam es zurück, und du flogst in dem kleineren Schiff fort. Es wurde beschossen, aber nur einmal getroffen. Du kamst mit dem Leben davon, das kleine Schiff war ebenfalls nicht zerstört; wir versuchen es jetzt zu bergen.
Was bedeutete das alles? Wir fanden keine Erklärung. Wir wußten nur, daß sich etwas Wichtiges ereignet hatte. Du lebtest noch, würdest aber offenbar sterben, bevor du wieder sprechen konntest. Das kleine Schiff läßt sich vielleicht wieder reparieren — hattest du es deshalb für uns gestohlen? Wir durften dich nicht sterben lassen, selbst wenn wir einen Krieg mit der Stadt riskieren mußten. Ich habe meinen Leuten die Lage erklärt. Sie alle stimmten dafür, daß wir dich retten sollten. Deshalb habe ich den Junkman wegen seiner Medizin getötet und zwei Doryms zu Tode geritten, um sie rechtzeitig hierher zu bringen.
Jetzt warten wir nur noch auf deine Antwort — was bedeutet das alles? Was hast du vor? Wie willst du uns helfen, Jason?“
Das schlechte Gewissen verschlug Jason einen Augenblick lang die Sprache. Wie konnte er diesen Menschen erzählen, daß er das Rettungsboot nur deshalb gestohlen hatte, weil er sein Leben retten wollte?
Die drei Pyrraner warteten auf seine Erklärung. Jason schloß die Augen, damit er ihre erwartungsvollen Gesichter nicht mehr sehen mußte. Wenn er die Wahrheit zugab, würden sie ihn bestimmt auf der Stelle umbringen und seinen Tod als gerechte Strafe ansehen. Jason fürchtete nicht um sein Leben, aber wenn er starb, waren alle anderen Opfer vergebens gewesen. Dabei glaubte er die Lösung bereits vor Augen zu haben. Er war nur zu müde, um logisch denken zu können…
Vor der Hütte dröhnten schwere Schritte, dann erklang eine laute Stimme. Niemand außer Jason schien sie gehört zu haben. Die Pyrraner warteten gespannt auf seine Antwort. Jason suchte vergeblich nach Worten. Er wußte, daß er jetzt nicht die Wahrheit sagen durfte. Wenn er starb, blieb keine Hoffnung mehr. Er mußte Zeit gewinnen, um die Lösung zu finden, die so nahe vor ihm zu liegen schien. Aber trotzdem war er zu erschöpft, um sich eine plausible Lüge einfallen zu lassen.
Dann wurde die Tür aufgerissen und knallte gegen die Wand. Ein untersetzter Mann mit rotem Gesicht, das sich seltsam von seinem weißen Bart abhob, stand auf der Schwelle.
„Seid ihr alle taub?“ fragte er wütend. „Ich reite die ganze Nacht durch und brülle mir die Lunge aus dem Hals — und ihr sitzt hier gemütlich auf euren Ohren. Los, kommt! Erdbeben! Ein großes Erdbeben ist unterwegs!“
Die Pyrraner sprangen auf und sprachen aufgeregt durcheinander. Rhes brauchte einige Minuten, bis er sich durchsetzen konnte. „Hananas! Wie lange haben wir noch Zeit?“
„Zeit! Wer spricht hier von Zeit!“ antwortete der Mann mit dem Bart. „Verschwindet, sonst habt ihr nicht mehr lange zu leben! Kapiert?“
Niemand hielt sich jetzt noch mit weiteren Fragen auf. Bereits eine Minute später wurde Jason auf dem Rücken eines Doryms festgebunden. „Was ist denn los?“ erkundigte er sich bei dem Mann, der ihm behilflich war.
„Ein Erdbeben kommt“, antwortete der Mann kurz, während er die Knoten festzog. „Hananas ist unser bester Erdbebenmann. Er weiß immer, wann ein Beben kommt. Wenn wir die Warnung rechtzeitig haben, fliehen wir sofort. Die Erdbebenmänner haben sich bisher noch nie geirrt.“ Der Mann überprüfte die Knoten und war verschwunden.
Als sie aufbrachen, glühte nicht nur der Himmel im Westen von dem Sonnenuntergang, sondern auch der im Norden — aber aus einem anderen Grund. Von Zeit zu Zeit ertönte ein dumpfes Grollen, während gleichzeitig der Boden unter ihren Füßen schwankte. Die Doryms brauchten nicht angetrieben zu werden, sie fielen von selbst in Trab. Hananas mahnte immer wieder zur Eile. Kurze Zeit später, als der Himmel hinter ihnen aufglühte, erkannte Jason den Grund dafür. Ein Ascheregen ging nieder und große Felsbrocken stürzten in die Bäume. Sie dampften noch, als sie aufprallten.
Jason sah erschrocken auf, als er das riesige Tier in einiger Entfernung neben sich herlaufen sah. Er machte Rhes darauf aufmerksam, aber der Pyrraner warf nur einen kurzen Blick auf das Ungeheuer mit den mannshohen Hörnern und dem doppelt so langen Körper. Er war weder erschrocken noch besonders interessiert. Jason sah sich um und begann zu verstehen.
Die flüchtenden Tiere gaben keinen Ton von sich, deshalb hatte er sie nicht früher bemerkt. Aber zu beiden Seiten bewegten sich dunkle Gestalten zwischen den Bäumen. Einige davon erkannte er, andere hatte er noch nie gesehen. Kurze Zeit lang traute er seinen Augen nicht, als er sah, daß alle Tiere friedlich nebeneinander herliefen. Aber dann überlegte er sich, daß die Bedrohung durch das Erdbeben und die Vulkanausbrüche stärker als alle Feindschaft sein mußte.
Jason schlief schließlich im Sattel ein, träumte aber ständig von riesigen Tierherden, die lautlos durch die Wälder flüchteten. Als er die Augen wieder öffnete, sah er das gleiche Bild.
Das hatte etwas zu bedeuten. Jason runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Tiere rannten nebeneinander her. Pyrranische Tiere.
Er richtete sich plötzlich im Sattel auf und starrte die Tiere mit großen Augen an.
„Was ist los?“ erkundigte sich Rhes und ritt näher heran.
„Weiter, nur weiter“, drängte Jason. „Wir müssen uns zuerst in Sicherheit bringen. Ich weiß jetzt, wie der Krieg beendet werden kann, wie ihr doch noch zu den Sternen gelangen könnt. Es gibt einen Weg — und ich kenne ihn.“