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Die weitere Lektüre des Logbuchs förderte keine weiteren Beweise zutage. Es enthielt allerdings noch mehr Informationen über die damals beobachtete Flora und Fauna, die von ihr ausgehenden Gefahren und eine Beschreibung der getroffenen Gegenmaßnahmen. Historisch hochinteressant, aber unter den gegenwärtigen Verhältnissen nutzlos. Der Kapitän war offenbar nie auf den Gedanken gekommen, daß die Lebensformen sich verändern könnten, sondern hatte immer geglaubt, daß es sich dabei um neu entdeckte Tiere handelte. Er lebte nicht lange genug, um seine Auffassung vielleicht doch noch zu korrigieren. Die letzte Eintragung in dem Logbuch weniger als zwei Monate nach der Landung — war sehr kurz. Und in einer anderen Handschrift.

Captain Kurkowski ist heute an den Folgen eines Insektenstiches verstorben. Sein vorzeitiger Tod wird allgemein sehr bedauert.

Die Ursache der plötzlichen Veränderungen auf Pyrrus mußte erst noch entdeckt werden.

„Kerk muß das Logbuch lesen“, sagte Jason. „Vielleicht ist es besser, wenn wir ihn über unsere Fortschritte unterrichten. Können wir fahren — oder gehen wir zu Fuß zum Rathaus?“

„Natürlich gehen wir“, antwortete Meta.

„Dann trägst du das Buch. Angesichts der hier herrschenden Schwerkraft kann ich nicht den Gentleman spielen und es dir abnehmen.“

Sie hatten eben erst Kerks Vorzimmer betreten, als ein schrilles Alarmsignal aus dem Visiphon drang. Jason brauchte einen Augenblick, bis er begriff, daß dieses Geräusch nicht eine menschliche Stimme, sondern ein mechanisch erzeugter Laut war.

„Was bedeutet das?“ fragte er.

Kerk stürzte aus seinem Büro, ließ die Tür hinter sich offen und raste die Treppen hinunter. Die anderen Männer aus dem Büro folgten ihm. Meta schwankte offenbar, ob sie bei Jason bleiben oder hinter den anderen herrennen sollte.

„Was bedeutet das Signal?“ Er schüttelte sie am Arm. „Warum antwortest du nicht endlich?“

„Sektorenalarm. An irgendeiner Stelle ist der Schutzwall durchbrochen worden. Bis auf die Mauerposten muß jeder sich an der Sammelstelle melden.“

„Du kannst ruhig gehen“, sagte Jason zu ihr. „Keine Angst, ich sorge schon für mich selbst.“

Seine Worte wirkten wie ein Startzeichen. Meta hielt sofort die Pistole in der Hand und stürmte hinaus, bevor er hatte aussprechen können. Jason zog sich einen Stuhl heran und ließ sich erschöpft darauf nieder.

Die geradezu unnatürliche Stille in dem Gebäude ging ihm allmählich auf die Nerven. Er rückte seinen Stuhl vor den Bildschirm und schaltete das Visiphon ein. Der Schirm explodierte in Farben und Geräuschen. Jason begriff zunächst überhaupt nicht, was sich darauf abspielte. Erst als er die Ereignisse längere Zeit beobachtet hatte, erkannte er das System, das hinter dem Gewirr von Menschen und Stimmen steckte.

Die einzelnen Stationen standen über eine Mehrkanalanlage miteinander in ständiger Verbindung. Die Identifizierung zwischen Bild und Ton geschah automatisch. Wenn eine der zahlreichen Gestalten auf dem Bildschirm sprach, glühte sie rot auf. Nach einigen vergeblichen Versuchen hatte Jason endlich die Stationen ausgeschaltet, die im Augenblick unwichtig waren, und konnte den Verlauf des Angriffs beobachten.

Ihm fiel sehr bald auf, daß es sich dabei um ein außergewöhnliches Ereignis handeln mußte. Irgendwo schienen die Angreifer den Schutzwall durchbrochen zu haben, so daß alle Kräfte zusammengezogen werden mußten, um den Einbruch abzuriegeln. Kerk leitete offenbar die Verteidigung, wenigstens hatte nur er einen tragbaren Ausschluß-Sender zur Verfügung, über den er seine Befehle erteilte. Die vielen winzigen Gestalten verblaßten, als sein Gesicht den Bildschirm ausfüllte.

„Sämtliche Stationen schicken sofort fünfundzwanzig Prozent ihrer Besatzung zu Sektor zwölf.“

Die kleinen Gestalten erschienen wieder und der Lärm nahm zu, während ein Gesicht nach dem anderen rot aufglühte.

„… Erdgeschoß evakuieren, die Säurebomben wirken nicht.“

„Wenn wir noch länger bleiben, werden wir abgeschnitten. Wir brauchen Unterstützung.“

„Bleib hier, Mervy — ES HAT KEINEN SINN!“

„… und die Napalmbomben gehen zu Ende. Befehle?“

„Der Lastwagen steht noch dort, fahrt damit zum Lager und holt Nachschub…“

Jason konnte nur mit den beiden letzten Satzbruchstücken etwas anfangen. Er hatte auf die Beschilderung der Türen geachtet, als er das Gebäude zum erstenmal betreten hatte. Die beiden unteren Stockwerke stellten ein einziges Waffenarsenal dar. Vielleicht konnte er sich dort als nützlich erweisen.

Er wollte den Kampf nicht nur als Zuschauer vor dem Bildschirm miterleben. Außerdem handelte es sich hier ganz offenbar um einen Notfall. Er machte sich keine Illusionen über seinen Kampfwert, aber in dieser Lage konnte jede Pistole entscheidend sein.

Als er endlich das Erdgeschoß erreicht hatte, stand dort bereits ein riesiger Turbolastwagen an der Ladeplattform und wurde von zwei Männern mit Napalmfässern beladen. Jason stand erst etwas hilflos daneben, bis ihm einfiel, daß er sich nützlich machen konnte, indem er die Fässer auf der Ladefläche in Reih und Glied aufstellte. Die beiden Männer nahmen seine Hilfe ohne ein dankendes Kopfnicken an.

Die Arbeit war wesentlich schwerer, als er sich zuerst vorgestellt hatte. Die Fässer schienen aus Blei zu bestehen. Jason spürte das Blut in seinen Ohren klopfen und hatte rote Schleier vor den Augen. Schon nach der ersten Minute sah er so schlecht, daß er nach Gefühl arbeiten mußte. Erst als der Lastwagen plötzlich anfuhr, wurde ihm klar, daß die Arbeit getan war. Er wurde zu Boden geschleudert und lag hilflos auf der Ladefläche, während der Wagen mit höchster Geschwindigkeit durch die leeren Straßen rollte. Als das Fahrzeug endlich hielt, rang Jason noch immer nach Atem.

Er starrte das Chaos verständnislos an. Überall knallten Schüsse, zuckten Flammen auf, rannten Männer und Frauen durcheinander. Die Napalmfässer wurden ohne seine Hilfe abgeladen, bevor der Lastwagen eine neue Ladung holte. Jason lehnte sich mit dem Rücken an eine Hauswand und versuchte zu erkennen, was sich vor ihm abspielte. Unmöglich. Die Angreifer bestanden zum größten Teil aus kleinen Tieren; er erlegte zwei, die ihn anfielen. Ansonsten blieb ihm das Wesen des Kampfes verborgen.

Ein Pyrraner stolperte an ihm vorüber. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Der rechte Arm hing schlaff herunter. Er war mit einem Plastikverband bedeckt. Der Mann hielt seine Pistole in der linken Hand. Jason vermutete, daß er nach einem Sanitäter suchte. Er hätte sich nicht mehr irren können.

Der andere nahm die Pistole zwischen die Zähne, stürzte ein Napalmfaß um und rückte es zurecht. Dann nahm er seine Waffe wieder in die linke Hand und rollte das Faß mit den Füßen weiter. Er kam zwar nicht schnell voran aber er kämpfte wenigstens noch.

Jason lief ihm nach und beugte sich über das Faß. „Lassen Sie mich weiterrollen“, sagte er. „Sie brauchen nur zu schießen, wenn es nötig ist.“

Der Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte Jason an. Er schien ihn zu erkennen, denn er verzog sein Gesicht zu einem schmerzlichen Grinsen. „In Ordnung. Ich kann noch schießen. Zwei halbe Kerle vielleicht so gut wie ein ganzer.“ Jason arbeitete so angestrengt, daß er den Satz gar nicht hörte.

Eine Explosion hatte in der Straße vor ihnen einen riesigen Krater ausgehoben. Zwei Menschen standen darin und schaufelten ihn noch tiefer. Das Ganze schien keinen Sinn zu haben. Als Jason und der Verwundete das Napalmfaß heranrollten, kletterten die Arbeiter aus dem Krater. Eine der beiden Gestalten war ein junges Mädchen, das sich aufgeregt an Jason wandte.

„Endlich!“ rief sie aus. „Wir warten schon seit einer halben Stunde auf das Napalm.“ Während sie sprach, wälzte sie ein Faß an den Rand des Kraters, öffnete den Schnellverschluß und schüttete den gallertartigen Inhalt in das Loch. Als das Faß zur Hälfte ausgelaufen war, ließ sie es hinterherrollen. Der andere Arbeiter riß eine Magnesiumfackel aus dem Gürtel, setzte sie in Brand und schleuderte sie in den Krater.

„Schnell zurück! Sie mögen die Hitze nicht“, warnte er dann.

Das war allerdings nicht übertrieben. Das Napalm geriet in Brand, so daß sich schon Sekunden später dicke Rauchwolken aus dem Krater wälzten, aus denen lange Flammen züngelten. Der Boden unter Jasons Füßen schwankte heftig. Etwas, das wie eine lange schwarze Schlange aussah, bewegte sich inmitten dieses feurigen Infernos und reckte sich dann hoch in den Himmel über den Köpfen der Menschen auf. Das Ding war mindestens zwei Meter dick und anscheinend endlos lang. Die Flammen schadeten ihm nicht, sondern schienen es nur zu belästigen.

Jason konnte sich vorstellen, wie lang das Ding sein mußte, als die Straße an beiden Seiten des Kraters sich plötzlich auf eine Entfernung von fünfzig Metern aufwölbte und auseinanderbrach. Er schoß wie wild auf das schlangenförmige Wesen, obwohl seine Schüsse und die der anderen wirkungslos blieben. Jetzt tauchten immer mehr Menschen auf, die mit Flammenwerfern und Handgranaten ausgerüstet waren.

Zone B räumen. Wir setzen Granatwerfer ein. Alles sofort zurück.

Die Stimme klang so laut, daß Jasons Ohren schmerzten. Er drehte sich um und erkannte Kerk, der auf einem schwer beladenen Lastwagen stand. Er hielt einen tragbaren Lautsprecher in der Hand, durch den er seine Befehle erteilte. Die Menge reagierte sofort darauf. Die Menschen setzten sich in Bewegung.

Jason wußte nicht recht, was er tun sollte. Zone B räumen? Wo war denn überhaupt eine Zone? Er lief auf Kerk zu, bevor ihm auffiel, daß alle anderen in die entgegengesetzte Richtung rannten. Trotz der hohen Schwerkraft rannten sie wirklich.

Jason fühlte sich wie ein Schauspieler, der allein auf einer riesigen Bühne zurückgeblieben ist. Die anderen waren spurlos verschwunden — bis auf den Verwundeten, dem er vorher geholfen hatte. Der Mann taumelte auf Jason zu und wies mit seinem gesunden Arm nach rückwärts. Jason begriff nicht, was der andere ihm zurief. Kerk erteilte weitere Befehle. Nun setzten sich auch die Lastwagen in Bewegung. Jason spürte, daß er keine Sekunde mehr verlieren durfte, und begann zu laufen.

Zu spät. Auf allen Seiten hob sich die Straßendecke, als das unterirdische Wesen sich den Weg ans Tageslicht bahnte. Vor ihm lag die Sicherheit. Aber dort erhob sich auch ein Teil des unheimlichen Schlangenwesens hoch in die Luft.

Manchmal werden Sekunden zu einer Ewigkeit. Ein Augenblick subjektiver Zeit wird gedehnt, bis er unendlich lang erscheint. Dieser Augenblick gehörte dazu. Jason stand wie erstarrt. Selbst die Rauchschwaden schienen unbeweglich. Das unbekannte Wesen wölbte sich vor ihm auf. Er nahm jede Einzelheit wahr.

Mannsdick, rissig und rauh wie verwitterte Baumrinde. Überall lange Fangarme, die sich langsam und schlangengleich bewegten. Die Gestalt einer Pflanze, aber die Bewegungen eines Tieres. Überall taten sich Öffnungen und Risse auf. Das war schlimmer als alles andere.

Aus den Öffnungen strömten ganze Horden weißlicher Tiere hervor. Jason hörte die schrillen Laute, die sie ausstießen, und war wie gelähmt davon. Er sah die nadelspitzen Reißzähne in ihren Rachen.

Jason war zu keiner Bewegung mehr fähig, als diese Schrecken vor ihm auftauchten. Eigentlich hätte er längst tot sein müssen. Kerk brüllte ihm durch den Lautsprecher Befehle zu. Die anderen Männer schossen auf die angreifenden Tiere. Jason nahm nichts davon wahr.

Dann stolperte er plötzlich nach vorn, als er einen heftigen Stoß erhielt. Der Verwundete stand hinter ihm und versuchte ihn zu retten, anstatt sich selbst in Sicherheit zu bringen. Er stieß ihn vor sich her. Auf das Schlangenwesen zu. Die anderen schossen nicht mehr, als sie sahen, was er vorhatte.

Der Körper des Wesens ragte in die Luft, so daß zwischen ihm und dem Boden ein etwa mannshoher Bogen entstand. Der verwundete Pyrraner stellte sich mit gespreizten Beinen hinter Jason auf und spannte die Muskeln an. Dann versetzte er ihm plötzlich einen gewaltigen Stoß, so daß Jason halbwegs durch die Luft flog. Aber jetzt war er unter dem lebenden Bogen hindurch, dessen Fangarme ihn nur gestreift hatten. Der Pyrraner versuchte ihm zu folgen.

Jetzt war es bereits zu spät dazu. Nur einer von ihnen hatte die Chance ausnützen können. Der Verwundete hätte sich retten können — aber statt dessen hatte er Jason hindurchgestoßen. Das Ding hatte eine Bewegung wahrgenommen, als Jason seine Fangarme berührte. Nun ließ es sich zu Boden sinken und begrub den Pyrraner unter sich. Er verschwand in dem Gewirr von Fangarmen, dann fielen die Tiere über ihn her. Er mußte seine Pistole auf Dauerfeuer eingestellt haben, denn die letzten Schüsse erklangen, als er schon längst tot sein mußte.

Jason kroch weiter. Einige Tiere wollten sich auf ihn stürzen, wurden aber rechtzeitig erlegt. Er merkte nichts davon. Dann griffen harte Hände nach ihm und rissen ihn hoch. Er sah Kerks wütendes Gesicht, als der Riese ihn mit einer Hand wie ein Bündel Lumpen hochhob und heftig schüttelte. Er wehrte sich nicht dagegen.

Als Kerk endlich von ihm abließ, schob einer der anderen Männer ihn auf die Ladefläche des nächsten Lastwagens. Jason war noch bei Bewußtsein, aber zu keiner Bewegung mehr fähig. Er wollte sich nur ein wenig ausruhen. Ihm fehlte nichts, er war nur sehr müde. Während er noch daran dachte, wurde er ohnmächtig.

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