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Am folgenden Morgen wachte Jason mit Kopfschmerzen auf und fühlte sich, als hätte er keine Sekunde lang geschlafen. Während er die Tabletten nahm, die Brucco für ihn bereitgelegt hatte, fragte er sich wieder einmal, auf welche Ursachen seine schrecklichen Alpträume zurückzuführen sein mochten.

„Essen Sie so schnell wie möglich“, befahl Brucco ihm, als sie beim Frühstück saßen. „Ich kann Ihnen jetzt keinen Privatunterricht mehr erteilen. Von jetzt ab nehmen Sie am regulären Unterricht teil. Kommen Sie nur noch zu mir, wenn Sie Schwierigkeiten haben, die Ihre Lehrer nicht lösen können.“

Wie Jason halbwegs erwartet hatte, bestand die Klasse aus ernsten Kindern. Ihr Körperbau und ihr gesetztes Benehmen ließen sofort erkennen, daß sie Pyrraner sein mußten. Aber sie waren trotzdem kindlich genug, um ihren Spaß daran zu haben, daß plötzlich ein Erwachsener an ihrem Unterricht teilnehmen sollte. Jason zwängte sich mit rotem Gesicht hinter eines der winzigen Pulte und fand die Angelegenheit keineswegs witzig.

Die Form des Klassenzimmers war allerdings alles, was an eine Schule erinnerte. Zumindest mußte es als ungewöhnlich erscheinen, daß selbst das kleinste Kind eine Pistole trug. Und der Unterrichtsstoff bestand nur aus Überlebensanweisungen. Jeder Schüler mußte den Stoff hundertprozentig beherrschen, bevor er eine Stufe vorrücken durfte. Die sonst üblichen Fächer wurden nicht unterrichtet, denn dafür blieb genügend Zeit, wenn die Kinder aus der Überlebensschule entlassen waren und für sich selbst sorgen konnten. Das war zwar eine kaltblütige Betrachtungsweise, aber auf Pyrrus vermutlich die einzig vernünftige.

Die ersten Unterrichtsstunden dienten der Erklärung des Medikastens, der Erste-Hilfe-Ausrüstung, die jeder Pyrraner am Gürtel trug. Der Kasten enthielt eine ziemlich komplizierte Sonde, die im Falle einer Verletzung auf Infektionen und Vergiftungen reagierte und automatisch ein Gegenmittel einspritzte. Da die Pyrraner ihre Ausrüstungsgegenstände selbst warteten — dann waren sie selbst daran schuld, wenn etwas nicht funktionierte —, mußten sie die Konstruktion und die Reparaturanweisung aller Geräte kennen. Jason schnitt dabei wesentlich besser als die Kinder ab, obwohl die Anstrengung ihn ziemlich erschöpfte.

Am Nachmittag lernte er erstmals eine der Trainingsmaschinen kennen. Sein Lehrer war ein Zwölfjähriger, der sich keine Mühe gab, seine Verachtung für den verweichlichten Fremden zu verbergen.

„Sämtliche Trainingsmaschinen stellen genaue Reproduktionen der tatsächlichen Verhältnisse auf der Planetenoberfläche dar und werden ständig verbessert. Dadurch wird sichergestellt, daß alle auftretenden Veränderungen berücksichtigt sind. Der einzige Unterschied besteht in ihrer verschiedenen Gefährlichkeit. Sie werden zunächst eine Maschine kennenlernen, die für Babys bestimmt ist…“

„Zu freundlich“, murmelte Jason. „Ich bin ganz überwältigt von Ihrer gewinnenden Art.“ Der Lehrer fuhr fort, ohne auf die Unterbrechung zu reagieren.

„… sobald sie krabbeln können. Die Maschine ist wirklichkeitsgetreu, aber völlig außer Betrieb, was den Gefährlichkeitsgrad betrifft.“

Trainingsmaschine war eigentlich nicht ganz das richtige Wort dafür, stellte Jason fest, als sie die riesige Kammer betraten. Er brauchte seine Einbildungskraft kaum zu Hilfe zu nehmen, um sich vorstellen zu können, endlich im Freien zu sein. Die Szenerie wirkte friedlich, obwohl schwere Wolken am Horizont einen heranziehenden Sturm anzukündigen schienen.

„Sie gehen jetzt überall herum und sehen sich alles an“, sagte der Lehrer. „Sowie Sie etwas mit der Hand berühren, erhalten Sie eine Erklärung. Zum Beispiel so…“

Der Junge bückte sich und faßte einen Grashalm an. Sofort erklang eine Stimme aus den verborgen installierten Lautsprechern.

„Giftgras! Unbedingt Stiefel tragen!“

Jason ließ sich auf die Knie nieder und untersuchte den harmlos wirkenden Halm. Er bemerkte erstaunt, daß alle Gräser an der Spitze einen dunkelgrünen Haken trugen, aus dem ein klebriger Saft austrat. Der weiche grüne Rasen stellte also in Wirklichkeit eine tödliche Gefahr für jeden Unwissenden dar. Als er sich wieder aus seiner Kniebeuge aufrichtete, sah er unter einem der Büsche ein seltsames Tier hocken. Es war mit dicken Schuppen bedeckt, unter denen die kurzen Beine fast nicht mehr zu erkennen waren, so daß das Tier eher wie ein Reptil wirkte. Der häßliche Kopf lief in ein langes Horn aus.

„Was ist denn das?“ frage Jason erstaunt. „Die Babys hier haben aber hübsche Spielkameraden.“ Erst in diesem Augenblick drehte er sich um und stellte fest, daß er allein war; sein Lehrer hatte sich wortlos entfernt. Er zuckte mit den Schultern und betastete das schuppige Monstrum.

„Hornteufel“, erklärte die unpersönliche Stimme von der Decke her. „Kleidung und Stiefel bieten keinen ausreichenden Schutz. Töten!“

Ein lauter Knall unterbrach die Stille, als Jasons Pistole in Aktion trat. Das Tier fiel zur Seite, weil sein Mechanismus auf die Platzpatrone ansprach.

„Na, ich scheine wirklich etwas gelernt zu haben“, murmelte Jason zufrieden vor sich hin. Brucco hatte das Wort töten immer wieder gebraucht, während er Jason im Pistolenschießen unterwies, bis es sich schließlich als ein unbewußter Befehl auswirkte. Jason hatte diesmal bereits geschossen, bevor er daran denken konnte. Sein Respekt für die pyrranischen Ausbildungsmethoden erhöhte sich beträchtlich.

Jason verbrachte einen äußerst ungemütlichen Nachmittag in diesem Gruselkabinett für Kinder. Überall drohte der Tod. Und die unpersönliche Stimme warnte ihn jedesmal, damit er lernte, wie er seinen Feinden zuvorkommen mußte. Er hätte nie gedacht, daß es so viele verschiedene Todesarten geben könnte, die noch dazu so abscheulich waren. Alles hier war für Menschen tödlich — vom kleinsten Insekt bis zur größten Pflanze.

Diese Konzentration auf ausschließlich einen Zweck war geradezu unnatürlich. Warum war dieser Planet den Menschen so feindlich gesonnen? Vielleicht konnte Brucco ihm diese Frage beantworten. In der Zwischenzeit versuchte er ein Lebewesen zu entdecken, das nicht tödlich war. Ohne Erfolg, aber als er schon aufgeben wollte, fand er endlich das einzige Ding, da er berühren konnte, ohne eine Warnung aus den Lautsprechern anhören zu müssen. Es war ein Felsbrocken, der über die Giftgrashalme hinausragte.

Jason ließ sich mit einem erleichterten Seufzer darauf nieder und zog die Füße hoch. Eine Oase des Friedens. Einige Minuten verstrichen, während er sich ausruhte.

„SCHIMMELPILZ! NICHT BERÜHREN!“

Die Stimme erklang mit zweifacher Lautstärke, und Jason sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Er hatte bereits die Pistole in der Hand und suchte nach einem Ziel. Erst dann beugte er sich über den Stein, auf dem er gesessen hatte, und sah die grauen Flecken, die vorher noch nicht zu erkennen gewesen waren.

„Ihr gemeinen Kerle!“ schrie er. „Wie viele Kinder habt ihr schon aufgeschreckt, als sie sich gerade ein bißchen ausruhen wollten?“ Dieser Trick gefiel ihm ganz und gar nicht, obwohl er zugeben mußte, daß er gerechtfertigt war. Selbst die Kinder mußten wissen, daß sie sich nirgendwo in Sicherheit befanden — wenn sie nicht selbst dafür sorgten.

Auf diese Weise lernte er nicht nur die Verhältnisse des Planeten kennen, sondern konnte auch das Benehmen seiner Bewohner besser beurteilen.

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