KAPITEL 7

»Leo!« Silver hielt sich mit einer Hand fest und pochte mit den anderen drei sanft und verzweifelt zugleich an die Tür des Schlafraums des Ingenieurs. »Leo, schnell! Wachen Sie auf, helfen Sie uns!« Sie legte ihre Wange an das kalte Plastik und dämpfte die aus ihr hervorbrechenden Schreie zu einem leisen »Leo?« Sie wagte nicht lauter zu rufen, um nicht andere aufmerksam zu machen.

Endlich öffnete sich seine Tür. Er trug ein rotes T-Shirt und rote Shorts und war barfuß. Sein Schlafsack an der gegenüberliegenden Wand hing offen wie ein leerer Kokon, und sein dünnes sandblondes Haar war zerzaust. »Was, zum Teufel … Silver?« Sein Gesicht war runzelig vom Schlaf, dunkle Ringe umgaben die Augen, aber sein Blick erfaßte sie sofort.

»Kommen Sie schnell, kommen Sie schnell!«, zischte Silver und packte seine Hand. »Es geht um Ciaire. Sie hat versucht, sich durch eine Luftschleuse hinauszustürzen. Ich habe die Steuerung blockiert. Sie kann die äußere Tür nicht aufmachen, aber ich kann auch die innere Tür nicht öffnen, und sie ist da drinnen eingesperrt. Unsere Vorgesetzte kommt bald zurück, und dann weiß ich nicht, was man mit uns anstellen wird …«

»Mistkerl …« Er ließ sich von ihr in den Korridor ziehen, dann taumelte er zurück in seine Kabine und holte einen Werkzeuggürtel. »Schon gut, geh, geh, geh voran.« Sie eilten durch das Labyrinth des Habitats und lächelten gezwungen und höflich den Quaddies und Planetariern zu, an denen sie in den Korridoren vorbeischwebten. Endlich schloß sich die vertraute Tür mit der Aufschrift ›Hydrokultur D‹ hinter ihnen.

»Was ist geschehen? Wie ist das passiert?«, fragte Leo sie, während sie zwischen den Pflanzrohren hindurch auf das andere Ende des Moduls zustrebten.

»Vorgestern erlaubte man mir nicht, Ciaire zu besuchen, als ihr sie mit dem Shuttle zurückgebracht hattet, obwohl wir beide auf der Krankenstation waren. Gestern waren wir in verschiedenen Teams. Ich denke, das war Absicht. Heute ließ ich Teddie mit mir tauschen.« In Silvers Stimme war ihre Qual zu spüren. »Ciaire sagte, man lasse sie in ihrer schichtfreien Zeit nicht einmal in die Krippe, um Andy zu besuchen. Ich ging in das Lager, um Dünger für die Pflanzrohre zu holen, an denen wir arbeiteten, und als ich zurückkam, begann sich die Schleuse gerade zu aktivieren …« Wenn sie doch Ciaire bloß nicht allein gelassen hätte — wenn sie vor allem nicht zugelassen hätte, daß die beiden mit dem Shuttle nach unten flogen — wenn sie sie nur nicht wegen Dr. Yeis Drogen verraten hätte — wenn sie bloß als Planetarier zur Welt gekommen wären — oder überhaupt nicht geboren …

Die Luftschleuse am Ende des Hydrokultur-Moduls wurde fast nie benutzt und wartete nur darauf, die luftdichte Tür zum nächsten Modul zu werden, die durch zukünftiges Wachstum notwendig werden würde. Silver preßte ihr Gesicht an das Beobachtungsfenster. Zu ihrer ungeheuren Erleichterung war Ciaire noch in der Schleuse.

Aber sie rammte sich hin und her zwischen den beiden Türen. Ihr Gesicht war mit Tränen und Blut beschmiert, ihre Finger gerötet. Ob sie nach Luft japste oder nur schrie, konnte Silver nicht sagen, denn die Tür schluckte alle Geräusche von drinnen, es war wie ein Holovid mit abgeschaltetem Ton. Silver empfand ihre eigene Brust so zusammengepreßt, daß sie kaum zu atmen vermochte.

Leo blickte hinein. Er verzog die Lippen, sein bleiches Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. Dann wandte er sich zischend dem Schleusenmechanismus zu und tastete suchend an seinem Werkzeuggürtel herum. »Du hast das aber gut hingekriegt, Silver …« »Ich mußte schnell etwas tun. Diese Art Kurzschluß hat verhindert, daß in der Systemzentrale der Alarm losgeht.«

»Oh …« Leos Hand zögerte kurz. »Dann war der Versuch nicht so willkürlich, wie es aussieht?«

»Willkürlich? Im Steuerkasten einer Luftschleuse?« Sie starrte ihn überrascht und etwas ungehalten an. »Ich bin doch keine Fünfjährige mehr!« »Wirklich nicht.« Ein schiefes Grinsen huschte für einen Augenblick über sein angespanntes Gesicht. »Jeder sechsjährige Quaddie kennt sich schon aus. Ich entschuldige mich, Silver. Das Problem ist also nicht, wie wir die Tür aufbekommen, sondern wie wir das schaffen, ohne den Alarm auszulösen.«

»Ja, richtig.« Sie schaute ihm ängstlich über die Schulter.

Er überprüfte den Mechanismus und blickte dann zögernd auf die Tür der Luftschleuse, die unter den Schlägen von innen vibrierte. »Bist du sicher, daß Ciaire nicht irgendwie — mehr Hilfe braucht?«

»Sie braucht vielleicht Hilfe«, versetzte Silver, »aber was sie bekommt, ist Dr. Yei.«

»Ach ja … du hast recht.« Sein Grinsen verschwand völlig. Er schnitt ein paar winzige Drähte durch und verband sie erneut. Mit einem letzten mißtrauischen Blick auf die Schleusentür tippte er auf eine Druckplatte innerhalb des Steuermechanismus.

Die innere Tür glitt zur Seite und Ciaire taumelte heraus. Sie keuchte heiser: »… laßt mich gehen, laßt mich gehen, oh, warum habt ihr mich nicht gehen lassen — ich halte das nicht aus …« Sie rollte sich mitten in der Luft zu einer Kugel zusammen und verbarg ihr Gesicht.

Silver eilte zu ihr und umschlang sie mit den Armen. »O Ciaire! Tu das nicht. Denk daran — denk daran, wie Tony sich fühlen würde, wenn man es ihm im Krankenhaus, wo er jetzt steckt, erzählen würde …«

»Was spielt das noch für eine Rolle?«, fragte Ciaire. Silvers blaues T-Shirt dämpfte ihre Stimme. »Ihn wird man mich nie wiedersehen lassen. Ich könnte genauso gut tot sein. Man wird mich Andy nie wiedersehen lassen …«

»Ja«, schaltete sich Leo ein, »denk an Andy. Wer wird ihn schützen, wenn du nicht mehr da bist? Nicht nur heute, sondern auch nächste Woche, nächstes Jahr …«

Ciaire streckte sich und schrie ihn geradezu an: »Man wird mich ihn nicht einmal sehen lassen! Man hat mich aus der Krippe hinausgeworfen …« Leo ergriff ihre oberen Hände. »Wer? Wer hat dich hinausgeworfen?«

»Mr. Van Atta …«

»Stimmt, das hätte ich mir denken können. Ciaire, hör mir mal zu. Die richtige Reaktion auf Bruce ist nicht Selbstmord, sondern Mord.«

»Wirklich?«, sagte Silver, deren Interesse geweckt war. Selbst Ciaire wurde so weit aus ihrem Elend gerissen, daß sie zum erstenmal Leo direkt in die Augen schaute.

»Na ja … vielleicht nicht buchstäblich. Aber du darfst nicht zulassen, daß der Mistkerl dich fertigmacht. Schau her, wir alle hier sind intelligent, nicht wahr? Ihr Kinder seid intelligent — von mir weiß man, daß ich zu meiner Zeit ein oder zwei Probleme gelöst habe — wir sollten doch fähig sein, einen Ausweg aus diesem Schlamassel zu finden, wenn wir es nur versuchen. Du bist nicht allein, Ciaire. Wir werden dir helfen. Ich werde dir helfen.«

»Aber Sie sind ein Mann von der Firma — ein Planetarier — warum sollten Sie …«

»Galac-Tech ist nicht Gott, Ciaire. Du solltest der Firma nicht deinen Erstgeborenen opfern müssen. Galac-Tech — und jede Firma — ist nur eine Art, eine bestimmte Art, wie Menschen sich organisieren, um eine Aufgabe zu erfüllen, die zu groß für eine Person allein ist. Galac-Tech ist nicht Gott, es ist nicht einmal ein Lebewesen, um Himmels willen! Es hat keinen freien Willen, für den es verantwortlich ist. Es ist nur eine Ansammlung von Leuten, die arbeiten. Bruce ist nur Bruce; es muß eine Methode geben, ihn zu umgehen.«

»Meinen Sie, über seinen Kopf hinweggehen?«, fragte Silver nachdenklich. »Vielleicht zu der Vizepräsidentin, die letzte Woche hier war?«

Leo zögerte. »Na ja … vielleicht nicht zu Apmad. Aber ich habe darüber nachgedacht — drei Tage lang habe ich über nichts anderes nachgedacht als darüber, wie wir diesen ganzen miserablen Laden hochgehenlassen können. Aber du mußt durchhalten, damit ich Zeit habe, daran zu arbeiten — Ciaire, kannst du durchhalten? Kannst du das?« Seine Hände umfaßten die ihren beschwörend.

Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Es tut so weh …«

»Du mußt! Schau, hör zu! Es gibt nichts, was ich hier auf Rodeo tun könnte, denn es befindet sich in dieser seltsamen juristischen Luftblase. Wenn es da eine reguläre planetarische Regierung gäbe, dann würde ich mich bis über den Hals verschulden, das schwöre ich dir, und jedem einzelnen von euch ein Ticket weg von hier kaufen, aber wenn Rodeo ein regulärer Planet wäre, dann brauchte ich das nicht. Auf jeden Fall hat hier Galac-Tech ein Monopol auf die Plätze in den Sprungschiffen; man reist mit einem Firmenschiff oder überhaupt nicht. Also müssen wir warten und den rechten Zeitpunkt abpassen. Aber bald — in nur ein paar Monaten — werden die ersten Quaddies Rodeo zu den ersten echten Arbeitseinsätzen verlassen. Dort, wo sie arbeiten und durchreisen, werden wirkliche planetarische Jurisdiktionen gelten. Regierungen, die selbst für Galac-Tech zu groß und zu mächtig sind, als daß die Firma sich mit ihnen anlegen könnte. Ich bin mir sicher — ziemlich sicher, wenn ich mir den richtigen Gerichtsort aussuche — natürlich nicht Apmads Planet, aber zum Beispiel die Erde — die Erde ist bei weitem am besten geeignet, ich bin Bürger dort —, dann kann ich einen Gruppenprozeß anstrengen und euch zu rechtsfähigen Personen erklären lassen. Ich werde wahrscheinlich meinen Job verlieren, und die Kosten werden mich auffressen, aber es ist möglich. Nicht gerade die Lebensarbeit, die ich vorhatte … aber am Ende könnt ihr von Galac-Tech losgelöst werden.«

»Das dauert so lang«, seufzte Ciaire.

»Nein, nein, Aufschub ist unser Freund. Die Kleinen werden mit jedem Tag größer. Zu dem Zeitpunkt, wenn der Prozeß durch ist, dann werdet ihr alle bereit sein. Geht als Gruppe — nehmt einen Auftrag an — findet Arbeit — selbst Galac-Tech wäre nicht so schlecht als Arbeitgeber, wenn ihr Staatsbürger und Angestellte mit allem gesetzlichen Schutz wäret. Vielleicht würde euch sogar die Raumfahrergewerkschaft aufnehmen, obwohl euch das vielleicht einengen würde — nun, da bin ich mir nicht sicher. Falls sie euch nicht als Bedrohung sehen … auf jeden Fall kann etwas zuwege gebracht werden. Aber du mußt durchhalten! Versprichst du es mir?«

Silver atmete auf, als Ciaire langsam nickte. Sie zog Ciaire mit sich zu dem Erste-Hilfe-Schränkchen an der Wand, um ihr das Blut von ihrem verletzten Gesicht abzuwischen und auf ihre zerbrochenen Fingernägel Antiseptika und Plastikverband aufzutragen. »Ja. Ja. So ist es besser …«

Leo stellte inzwischen die Steuerung der Luftschleuse wieder auf ihre ursprüngliche Funktionsweise ein, dann schwebte er zu ihnen hinüber. »Ist jetzt alles in Ordnung?« Er wandte sein Gesicht Silver zu. »Wird es gehen mit ihr?«

Silver konnte einen finsteren Blick nicht unterdrücken. »So gut wie mit uns allen … es ist nicht fair!«, brach es aus ihr heraus. »Das ist meine Heimat, aber ich beginne mich darin zu fühlen wie in einer Sauerstoffflasche mit Überdruck. Alle sind besorgt, alle Quaddies, über Tony und Ciaire. So etwas hat es nicht mehr gegeben seit damals, als Jamie bei dem schrecklichen Schubschiffunfall getötet wurde. Aber das jetzt — das war Absicht. Wenn sie das Tony antun, der doch so gut ist, was ist dann … ist dann mit mir? Mit uns allen? Was wird als nächstes geschehen?«

»Ich weiß es nicht.« Leo schüttelte grimmig den Kopf. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, daß die Idylle vorbei ist. Das ist erst der Anfang.«

»Aber was werden wir machen? Was können wir machen?«

»Nun — geratet nicht in Panik. Und verzweifelt nicht. Vor allem — verzweifelt nicht …«

Die luftdichten Türen am anderen Ende des Moduls öffneten sich, und die Stimme der Leiterin der Hydrokulturabteilung, einer Planetarierin, war zu hören: »Mädels? Wir haben endlich die Samenlieferung mit dem Shuttle bekommen — ist dieses Pflanzrohr schon fertig?«

Leo zuckte zusammen, aber bevor er davoneilte, drehte er sich ein letztesmal um und ergriff je eine Hand der beiden Quaddies und drückte sie entschlossen. »Es ist nur eine alte Redensart, aber aus eigener Erfahrung weiß ich, daß sie wahr ist: Das Glück begünstigt den, der vorbereitet ist. Also bleibt stark — ich werde zu euch zurückkommen …« Mit einem kunstvoll beiläufigen Gähnen drückte er sich an der Leiterin der Hydrokultur vorbei, so als hätte er nur mal einen Moment hereingeschaut, um zu sehen, wie die Arbeit vonstatten ginge.

Silvers Magen krampfte sich zusammen, als sie Ciaire ängstlich beobachtete. Ciaire schniefte und wandte sich eilends ab, um sich an dem Pflanzrohr zu schaffen zu machen, wobei sie ihr Gesicht vor der Leiterin verbarg. Silver zitterte vor Erleichterung. Im Augenblick war alles in Ordnung. Der Krampf in Silvers Magen wurde langsam durch etwas anderes ersetzt, etwas Heißes und Unbekanntes, das sie erfüllte und die Angst verdrängte. Wieso wagen sie es, ihr das anzutun — mir — uns? Sie haben kein Recht, kein Recht, kein Recht …

Die Empörung ließ ihr Herz pochen, aber das war besser als die Angst. Und sie empfand fast ein Hochgefühl. Als Silver den Kopf beugte, um ihr Gesicht vor der Leiterin zu verbergen, war ihr Blick grimmig und finster.


Die Ernährungsassistentin, ein Quaddie-Mädchen von vielleicht dreizehn Jahren, reichte Leo sein Essenstablett durch die Durchreiche ohne ihr gewohntes strahlendes Lächeln. Als Leo lächelte und ›Danke‹ sagte, verzog sie nur kurz den Mund mechanisch nach oben. Leo fragte sich, in welcher verzerrten Form die Geschichte von Claires und Tonys Katastrophe vergangene Woche auf dem Planeten ihr zu Ohren gekommen war. Nicht, daß die korrekten Fakten nicht schon deprimierend genug waren. Das ganze Habitat schien in eine Atmosphäre von Argwohn und Bestürzung getaucht zu sein.

Leo war plötzlich der Quaddies und ihrer Probleme schrecklich überdrüssig. Einer Gruppe seiner Schüler, die in der Nähe der Durchreiche ihr Mittagessen einnahmen, wich er aus, obwohl sie ihm mit verschiedenen Händen zuwinkten; statt dessen schwebte er durch das Modul, bis er einen freien Platz fand, wo er sein Tablett neben einer Person mit Beinen an einen Tisch kletten konnte. Als Leo erkannte, daß es sich bei der Person mit Beinen um den Kapitän des Nachschubshuttles, Durrance, handelte, war es zum Rückzug schon zu spät. Aber Durrances gebrummter Gruß war ohne Animosität. Offensichtlich hielt er, im Gegensatz zu einigen anderen, die Leo benennen konnte, den Ingenieur nicht auf undurchsichtige Weise verantwortlich für das spektakuläre Fiasko seines Schülers Tony. Leo schlüpfte mit seinen Beinen in die Haltegurte, um seine Hände für das Essen freizubekommen, erwiderte das Brummeln des Kapitäns und saugte heißen Kaffee aus seiner Spritztasse. Es gab im ganzen Universum nicht genug Kaffee, um seine Dilemmas aufzulösen.

Durrance, so schien es, war sogar in der Stimmung für höfliche Konversation. »Nehmen Sie bald Ihren Planetenurlaub?«

»Bald …« In etwa einer Woche, wurde Leo mit Überraschung bewußt. Die Zeit entfernte sich von ihm, wie alles andere hier oben. »Wie ist Rodeo?« »Langweilig.« Durrance schob sich mit dem Löffel etwas Gemüseauflauf in den Mund.

»Aha.« Leo blickte sich um. »Ist Ti bei Ihnen?«

Durrance schnaubte. »Wohl kaum! Er ist unten auf dem Planeten, auf Eis gelegt. Er hat Einspruch erhoben.« Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Dabei stößt er bei mir nicht auf Mitgefühl. Wegen dieser verdammten Kaulquappe habe ich einen Verweis in meiner Personalakte. Wenn das sein erster Schnitzer gewesen wäre, dann hätte er vielleicht einer Kündigung entgehen können, aber jetzt glaube ich, daß er keine Chance mehr hat. Ihr Van Atta möchte sein Fell an eine Luftschleusentür genagelt sehen.«

»Er ist nicht mein Van Atta«, wehrte Leo energisch ab. »Wenn er es wäre, dann würde ich ihn gegen einen Hund eintauschen …«

»… und den Hund erschießen«, beendete Durrance. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. »Van Atta. Ganz recht. Wenn das Gerücht wahr ist, das ich gehört habe, dann wird er sich hier auch nicht mehr lang aufspielen können.«

»So?« Leos Ohren stellten sich hoffnungsvoll auf. »Ich habe gestern mit dem Sprungpiloten von dem wöchentlichen Personalschiff von Orient IV geredet — er hatte gerade seinen Monat Gravitationsurlaub dort verbracht —, und jetzt hören Sie sich das mal an. Er schwört, daß die betanische Botschaft dort ein künstliches Schwerkraftgerät vorführt.«

»Was! Wie …?«

»Soweit ich weiß, schleusen sie es über den Wurmlochraum ein. Gewiß sitzt Kolonie Beta auf den entsprechenden mathematischen Formeln, bis sie auf dem Markt gehörig abgesahnt und ihre Entwicklungskosten wieder reingeholt haben. Anscheinend haben ihre Militärs es schon ein paar Jahre lang geheimgehalten, bis sie ihren Vorsprung bekommen haben, der Teufel soll sie holen. Galac-Tech und alle anderen werden sich auf die Aufholjagd machen. Alle anderen Entwicklungsprojekte in der Firma werden für ein paar Jahre ihr Budget in den Kamin schreiben müssen, Sie werden sehen.«

»Mein Gott.« Leo warf einen Blick auf die vielen Quaddies im Cafeteria-Modul. Mein Gott …

Durrance kratzte nachdenklich sein Kinn. »Wenn das wahr ist, haben Sie dann eine Vorstellung, wie sich das auf die Raumtransportindustrie auswirkt? Der Sprungpilot behauptet, die Betaner hätten das verdammte Ding in zwei Monaten dorthin gebracht — von Kolonie Beta aus! —, indem sie auf 15 Ge verstärkten und die Mannschaft durch seinen Einsatz von der Beschleunigung isolierten. Jetzt wird es für die Beschleunigung keine anderen Beschränkungen mehr geben als die Treibstoffkosten. Aus genau diesem Grund wird es sich nicht viel auf die Massenfrachttransporte auswirken, aber der Passagierverkehr wird eine Revolution erleben. Die Geschwindigkeit, mit der Nachrichten übertragen werden, wird sich auf die Wechselkurse zwischen den Planetenwährungen auswirken — die militärischen Transporte, wo man sich um Ausgaben für Treibstoff überhaupt keine Gedanken macht —, und das wird sich ganz gewiß auf die interplanetarische Politik auswirken — die Karten werden überall neu gemischt.«

Durrance kratzte die letzten Reste seines Essens von seinem Tablett. »Zum Teufel mit den Kolonisten. Die gute alte konservative Firma Galac-Tech von der Erde ist wieder einmal hintendran. Wissen Sie, ich bin wirklich versucht, eines Tages ans andere Ende des Wurmlochsystems auszuwandern. Andererseits hat meine Frau ihre Verwandten auf der Erde, und so werden wir es vermutlich doch nie tun …« Leo hing verdutzt in seinen Gurten, während Durrance weiterlaberte. Nach einer Weile schluckte er das Stück Kürbis, das er noch im Mund hatte, weil er keine andere praktische Methode wußte, es loszuwerden. »Sind Sie sich dessen bewußt«, würgte er hervor, »was das für die Quaddies bedeutet?«

Durrance blinzelte. »Sicherlich nicht viel. Es wird immer noch jede Menge Arbeit geben, die in der Schwerelosigkeit ausgeführt werden muß.«

»Das wird ihren Vorsprung in der Rentabilität gegenüber den gewöhnlichen Arbeitern vernichten. Die medizinisch notwendigen Urlaube auf den Planeten hatten die Personalkosten hochgetrieben. Wenn man sie abschafft, dann gibt es keine Alternative mehr — kann dieses Ding auf einer Raumstation künstliche Schwerkraft herstellen?«

»Wenn man es auf ein Schiff montieren kann, dann kann man es auch auf einer Station installieren«, meinte Durrance. »Es ist jedoch keine Art Perpetuum mobile«, warnte er. »Es verbraucht Energie wie verrückt, sagte der Sprungpilot. Das wird etwas kosten.«

»Nicht soviel — und sicher wird man es im Laufe der Zeit noch effizienter machen — o Gott.«

Diese Aussicht würde die Quaddies nicht begünstigen. Diese Aussicht begünstigte niemanden. Verdämmt, verdammt, zum Teufel mit dem Timing! In zehn Jahren, selbst in einem Jahr schon, hätte es ihre Rettung sein können. Hier und jetzt war es vielleicht — ein Todesurteil? Leo zog seine Füße aus den Gurten und setzte zum Start in Richtung auf die Türen des Moduls an. »Lassen Sie dieses Tablett hier einfach zurück?«, fragte Durrance. »Kann ich Ihren Nachtisch haben …?«

Leo zeigte mit einer ungeduldigen Geste sein Einverständnis an und sprang davon. Als Leo in Bruce Van Attas Büro im Habitat schwebte, bestätigte dessen deprimiertes und feindliches Gesicht Durrances Geschichte. »Haben Sie dieses Gerücht über künstliche Schwerkraft gehört?«, fragte Leo trotzdem mit einem letzten Rest von Hoffnung — soll Van Atta es doch dementieren, einen Schwindel nennen …

Van Atta starrte ihn wütend und zutiefst gereizt an. »Wie, zum Teufel, haben Sie das herausgefunden?«

»Es geht Sie nichts an, wo ich davon erfahren habe. Stimmt es denn?«

»O doch, es geht mich was an. Ich möchte das so lange wie möglich geheimhalten.«

Also stimmte es. Leos Herz krampfte sich zusammen. »Warum? Wie lange haben Sie es schon gewußt?« Van Attas Hand schnippte am Rand eines Stapels von Plastikfolien — Computerausdrucken und Mitteilungen —, die ein Magnethalter an seinen Schreibtisch drückte. »Drei Tage.«

»Dann ist es also offiziell.«

»O ja, ganz offiziell.« Van Atta verzog widerwillig den Mund. »Ich habe es von der Galac-Tech-Bezirksleitung auf Orient IV erfahren. Apmad hat die Nachricht offensichtlich auf ihrem Heimweg bekommen und eine ihrer berühmten Front-Entscheidungen getroffen.«

Van Atta raschelte wieder mit seinen Folien und runzelte die Stirn. »Wir können es nicht umgehen. Wissen Sie, welche Nachricht gestern auf den Fersen dieser Geschichte eintraf? Station Kline hat den Galac-Tech erteilten Bauauftrag storniert, den ersten Auftrag, zu dem wir die Quaddies ausschicken wollten. Ohne Murren haben sie die Vertragsstrafe gezahlt. Station Kline liegt in der Richtung von Kolonie Beta; sie müssen schon Wochen — oder Monate — vorher davon erfahren haben. Sie sind zu einem betanischen Auftragnehmer übergewechselt, der uns vermutlich unterbietet. Das Cay-Projekt ist erledigt. Es bleibt nichts übrig, als es abzuschließen und verdammt schnell hier abzuhauen, je eher, desto besser. Verdammt! Jetzt bin ich also in ein Verlustprojekt verwickelt. Wenn ich hier fertig bin, wird mir der Geruch eines Verlierers anhaften.« »Abschließen, wie abschließen? Was meinen Sie mit ›abschließen‹?«

»Das Lieblingsszenario dieses Mistweibs Apmad. Ich wette, sie hat vor Vergnügen geschnurrt, als sie diese Anweisungen herausgab — die Quaddies haben ihr nervöses Herzklopfen verursacht, wissen Sie. Sie sollen sterilisiert und auf dem Planeten versteckt werden. Alle derzeitigen Schwangerschaften sollen abgebrochen werden — Mist, und wir haben gerade mit fünfzehn davon angefangen! Was für ein Fiasko. Ein Jahr meiner Karriere ist im Arsch.« »Mein Gott, Bruce, Sie werden doch nicht etwa diese Anweisungen ausführen, oder?«

»So, nein? Dann schauen Sie mir einfach bloß zu.« Van Atta starrte ihn an und kaute an seiner Lippe. Leo spürte, wie er selbst in Spannung geriet, bleich vor unterdrückter Wut. Van Atta schnaubte. »Was wollen Sie, Leo? Apmad hätte die Anweisung geben können, daß sie euthanasiert würden. Sie kommen glimpflich davon. Es hätte schlimmer kommen können.«

»Und wenn es so gekommen wäre — wenn sie befohlen hätte, die Quaddies zu töten —, hätten Sie das ausgeführt?«, fragte Leo mit vorgetäuschter Ruhe.

»Sie hat es nicht befohlen. Kommen Sie schon, Leo. Ich bin nicht unmenschlich. Sicher, die kleinen Dummerchen tun mir leid. Ich habe, verdammt noch mal, mein Bestes getan, um sie profitabel zu machen. Aber es gibt keine Möglichkeit, wie ich mich dagegen sträuben kann. Alles, was ich tun kann, ist die Abwicklung so schnell und sauber und schmerzlos wie möglich zu machen und die Verluste so gering wie möglich zu halten. Vielleicht wird irgend jemand in der Firmenhierarchie das zu schätzen wissen.«

»Schmerzlos für wen?«

»Für alle.« Van Atta wurde entschlossener und beugte sich mit einem finsteren Blick Leo entgegen. »Das bedeutet, daß ich keine Panik gebrauchen kann und keine wilden Gerüchte, hören Sie? Ich möchte, daß alles seinen gewohnten Gang geht, bis zur allerletzten Minute. Sie und alle anderen Lehrer werden weiter ihren Unterricht halten, so als ob die Quaddies wirklich zu einem Arbeitsprojekt hinausgeschickt würden, bis die Einrichtungen unten auf dem Planeten fertig sind und wir anfangen können, sie mit dem Shuttle hinabzufliegen. Vielleicht nehmen wir die Kleinen zuerst — die wiederverwertbaren Teile des Habitats sollen im Orbit zur Transferstation gebracht werden, wir können vielleicht einige Kosten senken, wenn wir für diese Arbeit Quaddies verwenden.«

»Sie auf dem Planeten einzusperren …«

»Ach, werden Sie doch nicht melodramatisch. Die Quaddies werden in einem völlig gewöhnlichen Wohnheim für Bohrarbeiter untergebracht, das erst vor sechs Monaten verlassen wurde, als das Ölfeld erschöpft war.« Van Attas Gesicht hellte sich etwas auf, weil er sich selber auf die Schulter klopfen konnte. »Ich habe es selbst gefunden, als ich die möglichen Standorte durchschaute, wohin man sie bringen könnte. Dieses Wohnheim zu renovieren wird fast nichts kosten, wenn man es mit einem Neubau vergleicht.«

Leo konnte es sich genau vorstellen. Er schauderte. »Und was geschieht in vierzehn Jahren, wenn und falls Orient IV Rodeo enteignet?«


Van Atta fuhr sich ungehalten mit beiden Händen durch das Haar. »Wie, zum Teufel, soll ich das wissen? Zu dem Zeitpunkt wird es das Problem von Orient IV werden. Ein Mensch kann nicht alles tun, Leo.«

Leo lächelte, grimmig betroffen. »Ich bin mir nicht sicher … was ein Mensch tun kann. Ich habe mich nie bis zu meiner Grenze vorgewagt. Ich dachte einmal, ich hätte es schon getan, aber jetzt erkenne ich, daß ich es nicht getan habe. Meine Selbstversuche waren immer vorsichtigerweise nichtzerstörerisch.«

Dieser Test war insgesamt von einer höheren Größenordnung. Dieser TESTER verschmähte vielleicht das lediglich Menschenmögliche. Leo versuchte sich zu erinnern, wie lange es her war, seit er zum letztenmal gebetet oder überhaupt geglaubt hatte. Auf jeden Fall niemals so sehr wie jetzt. Und nie zuvor hatte er dessen so sehr bedurft wie jetzt …

Van Atta blickte ihn mißtrauisch an. »Sie sind seltsam, Leo.« Er richtete sich auf, als wollte er eine Befehlspose einnehmen. »Nur für den Fall, daß Sie mich nicht richtig verstanden haben, lassen Sie es mich laut und deutlich wiederholen. Sie dürfen diese Sache mit der künstlichen Schwerkraft niemandem gegenüber erwähnen, das bedeutet besonders: nicht den Quaddies gegenüber. Gleicherweise halten Sie geheim, daß die Quaddies auf den Planeten kommen werden. Ich werde Dr. Yei veranlassen, daß sie sich etwas ausdenkt, wie man es den Quaddies beibringen kann, ohne daß die störrisch werden. Es wird Zeit, daß sie sich ihr überhöhtes Gehalt verdient. Keine Gerüchte, keine Panik, keine gottverdammten Arbeiterunruhen — und wenn es welche gibt, dann werde ich genau wissen, wessen Haut ich an die Wand zu nageln habe. Kapiert?«

Leo zeigte ein hündisches Lächeln, das alles verbarg. »Kapiert.« Er zog sich zurück, ohne sich umzuwenden und ohne ein weiteres Wort von sich zu geben.


Dr. Yei war für gewöhnlich nicht leicht ausfindig zu machen, da es ihre Gewohnheit war, oft unter den Quaddies herumzugehen und dabei ihr Benehmen zu beobachten, sich Notizen zu machen und Anregungen zu geben. Aber diesmal fand Leo sie sofort, in ihrem Büro, wo an jeder verfügbaren Fläche Plastikfolien hingen und ihre Schreibtischkonsole wie ein Weihnachtsbaum leuchtete. Gab es im Cay-Habitat Weihnachten? fragte sich Leo. Eigentlich nicht, dachte er.

»Haben Sie gehört …«

Ihre niedergedrückte Haltung beantwortete seine Frage, obwohl sein heftiger Atem verhinderte, daß er sie vollendete.

»Ja, ich habe es gehört«, sagte sie müde und blickte zu ihm auf. »Bruce hat mir gerade die Logistik zur Evakuierung des Personals des ganzen Habitats auf meinen Schreibtisch geknallt, damit ich es organisiere. Da er Ingenieur ist, wird er die Flußdiagramme für die Zerlegung der Anlagen und die Wiederverwertung der Ausrüstung erstellen, sagt er. Sobald ich ihm die ›Körper‹ aus dem Weg schaffe. Verzeihen Sie, die ›verdammten Körper‹.«

Leo schüttelte hilflos den Kopf. »Werden Sie das tun?«

Sie zuckte die Achseln und preßte die Lippen aufeinander. »Wie könnte ich es nicht tun? Soll ich empört kündigen? Das würde überhaupt nichts ändern. Diese Geschichte würde um kein Iota weniger brutal ablaufen, wenn ich wegginge, und es könnte noch viel schlimmer werden.«

»Ich sehe nicht, wie«, brachte Leo mühsam hervor.

»Das sehen Sie nicht?« sagte sie mit einem Stirnrunzeln. »Nein, vermutlich nicht. Ihnen ist nie bewußt gewesen, auf welcher gefährlichen juristischen Grenzlinie die Quaddies hier angesiedelt sind. Aber mir war es bewußt. Eine falsche Bewegung und … — oh, zum Teufel mit allem. Ich wußte, daß man Apmad vorsichtig behandeln mußte. Alles ist mir entglitten. Obwohl ich vermute, daß diese Geschichte mit der künstlichen Schwerkraft das Projekt zu Fall gebracht hätte, egal, wer die Verantwortung trug, haben wir sehr viel Glück, daß sie nicht die Anweisung zur Beseitigung der Quaddies gab. Sie müssen wissen, als sie eine junge Frau war, auf ihrem Heimatplaneten, da wurden bei ihr vier oder fünf Schwangerschaften wegen genetischer Defekte abgebrochen. Das verlangte das Gesetz. Schließlich gab sie auf, ließ sich scheiden, nahm eine Stelle außerhalb ihres Planeten bei Galac-Tech an — und arbeitete sich in der Hierarchie nach oben. Sie hat ein tiefes, emotional begründetes Interesse an ihren Vorurteilen gegen genetische Manipulationen, und das wußte ich. Und habe es vermasselt … Sie könnte immer noch befehlen, daß die Quaddies getötet werden. Abspritzen. Vergasen. Vergiften — verstehen Sie? Jeder Bericht über Schwierigkeiten, Unruhen, verstärkt durch ihre genetische Paranoia, und sie …« Sie kniff die Augen zusammen und massierte ihre Stirn mit den Fingerspitzen.

»Sie könnte es befehlen — wer sagt aber, daß Sie es ausführen müssen? Sie haben gesagt, Ihnen sei an den Quaddies gelegen. Wir müssen etwas tun!«, sagte Leo.

»Was?« Yei ballte die Hände zu Fäusten, dann öffnete sie sie wieder weit. »Was, was, WAS? — Einen oder zwei — selbst wenn ich einen oder zwei adoptieren, mit mir mitnehmen könnte — sie irgendwie hinausschmuggeln, wer weiß —, was dann? Mit mir auf einem Planeten leben? Sozial isoliert als Krüppel, Mißgeburten, Mutanten — Früher oder später würden sie erwachsen werden, und was dann? Und was ist mit den anderen? Ein ganzes Tausend, Leo!«

»Und wenn Apmad die Ausrottung der Quaddies befehlen würde, welche Entschuldigung würden Sie dann dafür finden, nichts dagegen zu unternehmen?«

»Ach, gehen Sie weg«, stöhnte sie. »Sie haben kein Verständnis für die Kompliziertheit der Situation, überhaupt keins. Was glauben Sie denn, was eine einzelne Person tun kann? Ich hatte einmal ein eigenes Leben, bevor dieser Job es auffraß. Ich habe sechs Jahre hingegeben — fünf und dreiviertel mehr als Sie —, ich habe alles gegeben, wozu ich fähig bin. Ich bin ausgebrannt. Wenn ich aus diesem Loch wegkomme, dann möchte ich nie wieder von Quaddies hören. Sie sind nicht meine Kinder. Ich habe keine Zeit gehabt, Kinder zu bekommen.« Sie rieb sich verärgert die Augen und zog die Nase hoch, unterdrückte Tränen — oder bloß ihre Gereiztheit? Leo wußte es nicht. Und es war ihm gleich.

»Sie sind niemandes Kinder«, knurrte er. »Das ist das Problem. Sie sind eine Art … genetischer Waisen oder so etwas.«

»Wenn Sie nichts Brauchbares zu sagen haben, dann hauen Sie bitte endlich ab!«, schrie sie. Mit einer Handbewegung zeigte sie auf die vielen Folien. »Ich habe zu arbeiten.«

Seit seinem fünften Lebensjahr hatte Leo kein weibliches Wesen mehr geschlagen. Er entfernte sich, am ganzen Leibe zitternd. Er schwebte langsam durch die Korridore, zurück zu seiner eigenen Unterkunft, und beruhigte sich. Was hatte er sich denn überhaupt von Yei erwartet? Befreiung von seiner Verantwortung? Hätte er ihr sein Gewissen auf den Schreibtisch knallen sollen, a la Bruce, und sagen: »Kümmern Sie sich darum …«

Und doch, und doch, und doch … es mußte hier irgendwo eine Lösung geben. Er konnte sie fühlen, eine greifbare dunkle Gestalt, wie etwas Festes im Bauch, eine hochsteigende, schrille Frustration. Das Problem, das sich weigerte, in die richtigen Einzelteile zu zerfallen, die Lösung, die sich einem entzog — er hatte technische Probleme gelöst, die sich zuerst als solche massive unübersteigbare Mauern präsentiert hatten. Er wußte nicht, woher die Sprünge jenseits der Logik kamen, mit denen man letztlich diese Mauern überwand, außer, daß es sich nicht um einen bewußten Prozeß handelte, wie elegant er das Ganze auch post factum aufzeichnen mochte. Er konnte es nicht lösen, und er konnte es nicht in Ruhe lassen, kratzte nutzlos in einer zunehmenden zwanghaften Besessenheit daran herum, aber das war kontraproduktiv, wie das Herumkratzen an einem Schorf. Die Räder drehten sich, übertrugen aber keine Bewegung.

»Sie ist hier drinnen«, flüsterte er und berührte seinen Kopf. »Ich spüre sie. Ich kann … sie einfach … nicht sehen …« Sie mußten irgendwie aus dem Lokalraum von Rodeo herausgebracht werden, soviel war sicher. Alle Quaddies. Hier gab es für sie keine Zukunft. Schuld daran war die verdammt eigenartige juristische Lage. Was sollte er tun — ein Sprungschiff entführen? Aber die Personalsprungschiffe konnten nicht mehr als dreihundert Passagiere befördern. Er konnte sich mit Mühe und Not vorstellen, wie er etwas in Händen hielt — ja, was? Welche Waffe? Er hatte keine Schußwaffe, sein Taschenmesser enthielt hauptsächlich Schraubenzieher — richtig, dem Piloten einen Schraubenzieher an den Kopf halten und rufen: »Bringen Sie uns per Sprung zu Orient IV!« — wo er auf der Stelle verhaftet werden und wegen Piraterie für die nächsten zwanzig Jahre ins Gefängnis wandern würde und die Quaddies zurückließe, damit sie … was täten? Auf jeden Fall konnte er nicht drei Schiffe auf einmal entführen, und das war die Mindestanzahl, die er benötigte.

Leo schüttelte den Kopf. »Das Glück begünstigt«, murmelte er, »das Glück begünstigt, das Glück begünstigt …«

Orient IV würde die Quaddies nicht wollen. Niemand würde die Quaddies wollen. Worin könnte eigentlich ihre Zukunft bestehen, selbst wenn es gelänge, sie von Galac-Tech zu befreien? Zigeunerwaisen, abwechselnd ignoriert, ausgebeutet oder mißbraucht, aufgrund ihrer Abhängigkeit von der begrenzten Umwelt des Systems der Weltrauminstallationen der Menschheit. Ein treffendes Beispiel für eine Technologiefalle. Er stellte sich Silver vor — er hatte wenig Zweifel, welche Art von Ausbeutung ihr Los wäre, mit diesem eleganten Gesicht und diesem eleganten Körper. Für sie gab es dort draußen keinen Ort …

Nein! sagte Leo stumm. Das Universum war so verdammt groß. Es mußte einen Ort geben. Einen eigenen Ort, weit, weit weg von den Fesseln und Fallen der sogenannten menschlichen Zivilisation. Die Geschichte früherer utopischer sozialer Experimente in Abgeschiedenheit waren nicht gerade ermutigend, aber die Quaddies waren in jeder Hinsicht ein Ausnahmefall.

Zwischen zwei Atemzügen ergriff die Vision von ihm Besitz. Sie kam nicht als eine Kette vernünftiger Überlegungen, als mehr Worte, Worte, Worte, sondern als blendendes Bild, vom ersten Augenblick an ganz vollständig, eigenständig, ganzheitlich, organisch, inspiriert. Von jetzt an würde er jede weitere Stunde seines Lebens nur der linearen Erforschung der Fülle dieser Vision widmen.

Ein Sonnensystem mit einem Stern von Typ M oder G oder K, der sanft und beständig war und Energie ausstrahlte für diejenigen, die sie auffingen. Umkreisen müßte ihn ein Gasgigant von der Art des Jupiter mit einem Ring aus Methan- und Wassereis, der Wasser, Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff lieferte. Am wichtigsten von allem war ein Asteroidengürtel.

Und ebenso wichtig war das Fehlen bestimmter Dinge: diesen Stern durfte kein erdähnlicher Planet umkreisen, der Konkurrenz anlocken könnte; er durfte sich nicht auf einer Wurmlochsprungroute befinden, die für potentielle Konquistadoren von strategischer Bedeutung war. Die Menschheit hatte auf ihrer zwanghaften Suche nach neuen Erden Hunderte solcher Systeme links liegengelassen. Die Sternenkarten waren voll von ihnen.

Eine Quaddiekultur, die sich von ihrer ursprünglichen Basis aus entlang des Asteroidengürtels ausbreitete, eine Gesellschaft von Quaddies, von den Quaddies geschaffen, für die Quaddies bestimmt. Sie konnten Stollen und Gänge in die Felsen graben, um sich gegen die Strahlung zu schützen, und darin ihre kostbare Luft einschließen, sie konnten sich ausdehnen, indem sie von Felsen zu Felsen hüpften, um sich neue Heimstätten zu bohren und zu bauen. Überall gab es dort Mineralien, mehr als sie je verbrauchen konnten. Ganze Hydrokulturfarmen für Silver. Eine neue Welt war zu bauen. Eine Raumwelt, die Station Morita wie ein Spielzeug erscheinen lassen würde.

»Natürlich«, Leos Augen weiteten sich vor Freude, »das ist letztlich nur ein Ingenieurproblem!« Er hing schlaff in der Luft, wie in einem Trancezustand; glücklicherweise kam in diesem Augenblick niemand durch den Korridor, sonst hätte man ihn sicher für verrückt oder unter Drogen stehend gehalten.

Diese Lösung war die ganze Zeit in Einzelstücken um ihn herum dagewesen, unsichtbar, bis er sich geändert hatte. Er grinste verrückt, wie besessen. Er gab sich dieser Vision vorbehaltlos hin. Ganz. Ganz. Es gab keine Grenze für das, was ein einzelner Mensch tun konnte, wenn er alles gab und nichts zurückhielt.

Er hielt nichts zurück, er blickte nicht zurück — denn einen Weg zurück gab es nicht, es war nicht mehr möglich zurückzugehen. Das war buchstäblich, medizinisch, der Kern der Sache. Menschen, die an die Schwerelosigkeit angepaßt waren — ein Zurück zum Gehen machte Krüppel aus ihnen.

»Ich bin ein Quaddie«, flüsterte Leo verwundert. Er betrachtete seine Hände, ballte sie zu Fäusten und streckte wieder die Finger aus. »Einfach ein Quaddie mit Beinen.« Er würde nicht zurückgehen. Was diese ursprüngliche Basis anging — er schwebte im Augenblick in ihr herum. Sie mußte nur verlegt werden. Seine kaskadenartig dahineilenden Gedanken klickten über die Verbindungen zu schnell hinweg, als daß er sie hätte analysieren können. Er brauchte kein Raumschiff zu entführen: er befand sich schon in einem. Alles, was er brauchte, war ein bißchen Energie.

Und die Energie lag griffbreit im Orbit von Rodeo; sie wurde sogar gerade in diesem Augenblick unentgeltlich verschwendet, um bloße Massen von Petrochemikalien aus der Umlaufbahn zu schieben. Welche Masse mochte ein Bündel von petrochemischen Behältern haben, verglichen mit einem Teilstück des Cay-Habitats? Leo wußte es nicht, aber er wußte, daß er es herausfinden konnte. Die Zahlen würden jedenfalls auf seiner Seite sein, egal, wie groß sie auch waren.

Die Frachtbeschleuniger konnten das Habitat manövrieren, wenn es passend rekonfiguriert wurde, und mit allem, das die Beschleuniger manövrieren konnten, konnte auch einer der riesigen Frachtsuperjumper fertigwerden. Alles war vorhanden, alles — man mußte es nur nehmen.

Nur nehmen …

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