KAPITEL 15

Zwielicht lag über dem ausgetrockneten See. Die leuchtende Kuppel des Himmels dunkelte allmählich über ein tiefes Türkis zu einem mit Sternen übersäten Indigo. Silvers Aufmerksamkeit wurde immer wieder durch die überwältigenden Farbveränderungen der Planetenatmosphäre, die sie durch die Fenster sah, von der Beobachtung des Horizontes abgelenkt. Welcher subtilen Vielfalt sich die Planetarier erfreuten: Streifen von Purpur, Orange, Zitronengelb, Grün, Blau, dazu die kobaltfarbenen Federn des Wasserdampfes, der am westlichen Himmel dahinschmolz. Mit einem gewissen Bedauern schaltete Silver den Scanner auf Infrarot. Die vom Computer verstärkten Farben gewährten ihr eine deutliche Sicht, aber nach den natürlichen Farben erschienen sie ihr grob und grell.

Endlich kam in Sicht, wonach sie sich von Herzen sehnte: ein Landrover, der über den fernen Paß zwischen den Hügeln rumpelte, die letzten felsigen Abhänge herabrutschte und dann mit maximaler Beschleunigung über den Seegrund dahinfegte. Madame Minchenko lief hastig aus dem Pilotenabteil, um die Lukentreppe herabzulassen, während der Landrover dröhnend neben dem Shuttle zum Stehen kam.

Silver klatschte vor Freude mit allen Händen, als sie sah, wie Ti die Rampe heraufstapfte, mit Tony huckepack auf dem Rücken, genau wie Leo sie auf der Transferstation getragen hatte. Sie haben ihn! Sie haben ihn! Dr. Minchenko folgte dicht hinterdrein.

An der Luftschleuse gab es einen kurzen Disput zwischen den gedämpften Stimmen von Doktor und Madame Minchenko, dann galoppierte Dr. Minchenko wieder die Treppe hinab, entzündete ein kaltes Signallicht und stellte es auf das Dach des Landrovers. Es leuchtete in hellem Grün. Gut, die gestrandeten Sicherheitsleute dürften keine Schwierigkeiten haben, dieses Leuchtfeuer zu sehen, dachte Silver mit einer gewissen Erleichterung.

Silver krabbelte wieder hinüber auf den Sitz des Copiloten, als Ti in das Pilotenabteil taumelte, Tony auf dem Technikersitz absetzte und sich in den Pilotensessel schwang. Mit einer Hand riß er seine Atemmaske herunter, mit der anderen schaltete er die Steuerung ein. »He, wer hat an meinem Schiff herumgepfuscht …?«

Silver wandte sich um und zog sich hoch, um über die Lehne ihres Sitzes einen Blick auf Tony zu werfen, der sich von seiner Atemmaske befreit hatte und jetzt versuchte, seine Sitzgurte in Ordnung zu bekommen. »Du hast es geschafft!«, sagte sie grinsend.

Er grinste zurück. »Gera’e noch. Sie sin’ ‘irekt hin’er uns her.« Seine blauen Augen waren, wie Silver erkannte, von Schmerz wie von Erregung geweitet, seine Lippen geschwollen.

»Was ist mit dir passiert …?« Silver wandte sich an Ti. »Was ist mit Tony passiert?«

»Dieses Arschloch Van Atta hat ihn im Mund gebrannt, mit seinem verdammten Rinderstachel oder was sonst das Ding war, das er in Händen hielt«, sagte Ti grimmig, während seine Hände über seinen Steuerinstrumenten tanzten. Die Triebwerke wurden aktiv, Lichter flackerten, und das Shuttle begann zu rollen. Ti schalte seine Bordsprechanlage ein. »Dr. Minchenko? Sind Sie dahinten schon angeschnallt?«

»Einen Moment noch …«, erwiderte Dr. Minchenko. »Jetzt. Ja, los!«

»Hattet ihr irgendwelche Schwierigkeiten?«, fragte Silver, ließ sich wieder auf ihren Sitz gleiten und griff nach ihren Gurten, während das Shuttle in Startposition rollte.

»Zuerst nicht. Wir kamen ohne weiteres zum Hospital und marschierten direkt hinein, ohne Probleme. Ich hatte gedacht, die Krankenschwestern würden gewiß Fragen stellen, wenn wir Tony holten, aber offensichtlich halten sie alle dort Dr. Minchenko für einen Gott. Wir fegten da einfach durch und waren auf unserem Weg nach draußen, wobei ich den Tragesel spielte — das ist alles, was ich bin, einfach ein Transporteur, weißt du —, als wir in der Tür niemand anderen trafen als diesen Scheißkerl Van Atta, der gerade hereinkam.«

Silver hielt den Atem an.

»Wir stellten ihm ein Bein — Dr. Minchenko wollte anhalten und ihm die Knochen aus dem Leib prügeln, wegen Tonys Mund, aber das hätte er zum größten Teil mir überlassen müssen — er ist ein alter Mann, auch wenn er es kaum zugeben möchte —, ich schleifte ihn hinaus zu dem Landrover. Als letztes hörte ich, wie Van Atta wegrannte und nach einem Jetcopter der Sicherheitsleute rief. Inzwischen hat er sicher einen gefunden …« Ti blickte nervös auf die Monitore. »Ja. Verdammt. Da«, er zeigte. Ein buntes Licht fegte über die Berge und markierte auf dem Monitor die Position des Jetcopters. »Tja, jetzt erwischen sie uns nicht.«

Das Shuttle zog rüttelnd einen weiten Kreis und blieb dann stehen; das Geräusch der Triebwerke stieg von einem Surren über ein Winseln zu einem Jaulen an. Die weißen Landungslichter durchbohrten die Dunkelheit vor ihnen. Ti löste die Bremsen, und das Shuttle sprang vorwärts, als wollte es das Licht verschlingen, mit einem schrecklich lauten Dröhnen, das abrupt aufhörte, als sie sich in die Luft erhoben. Die Beschleunigung drückte sie alle zurück auf ihre Sitze.

»Was glaubt denn der Idiot da, was er macht?«, murmelte Ti, als der Jetcopter auf dem Überwachungsmonitor schnell größer wurde. »Will der mit mir hier Mutprobe spielen …?«

Es wurde schnell offensichtlich, daß genau das die Absicht des Jetcopters war. Er flog in einem Bogen auf sie zu und kam herab, während sie abhoben, anscheinend mit der Absicht, sie wieder zu Boden zu zwingen. Ti preßte seine Lippen fest aufeinander, seine Augen funkelten, und er beschleunigte sein Schiff noch mehr. Silver knirschte mit den Zähnen, behielt jedoch die Augen offen.

Sie kamen nahe genug, um den Jetcopter mit bloßem Auge durch die Cockpitfenster zu sehen, wie er wie ein stroboskopischer Blitz durch ihre Lichter hindurchsauste. In dem Lichtschimmer konnte Silver durch das blasenförmige Verdeck des Jetcopters Gesichter sehen, starre weiße Flecken mit schwarzen runden Löchern, nur einer, möglicherweise der Pilot, hielt die Hände vor die Augen.

Dann war nichts mehr zwischen ihnen und den Sternen.


Feuer und Eis. Leo überprüfte noch einmal die Festigkeit jeder C-Klampe, dann düste er ein paar Meter in seinem Arbeitsanzug zurück, um seine Vorbereitungen noch ein letztesmal in Augenschein zu nehmen. Sie schwebten im Raum einen sicheren Kilometer entfernt von der D620-Habitat-Konfiguration, die jetzt riesig und vollendet über der Krümmung von Rodeo hing. Von außen sah sie jedenfalls vollendet aus, solange man nichts von den hysterischen Verbindungsarbeiten wußte, die in letzter Minute innen drin noch vonstatten gingen. Als die Gußform aus Eis fertig gewesen war, hatte sich herausgestellt, daß sie über drei Meter breit und nahezu zwei Meter dick war. Ihre Außenfläche war unregelmäßig; es hätte sich dabei um ein dahertorkelndes Stück Raumschutt aus dem Eisring eines Gasgiganten handeln können. Ihre verborgene Innenseite gab präzise die sanfte Kurve des Vortex-Spiegels wieder, der sie geformt hatte.

Die evakuierte Innenkammer war mit verschiedenen Schichten bedeckt. Zuerst der Titanrohling, als nächstes eine Schicht reinen Benzins als — eine nützliche zweite Einsatzmöglichkeit, die Leo dafür gefunden hatte: anders als andere mögliche Flüssigkeiten würde es bei der gegenwärtigen Temperatur des Eises nicht gefrieren —, dann die dünne kreisförmige Trennwand aus Plastik, dann sein kostbarer Sprengstoff aus TNM und Benzin, dann eine Abdeckung aus Schrott von der Außenwand des Habitats, dann die Riegel und Klampen — alles in allem war es ein hübscher Geburtstagskuchen. Es war Zeit, die Kerze anzuzünden und seine Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen, bevor die Eisform im Sonnenlicht zu sublimieren begann.

Leo wollte sich gerade umwenden und seinen Quaddiehelfern winken, sie sollten sich hinter die Schutzbarriere eines der aufgegebenen Habitatmodule zurückziehen, das in der Nähe schwebte, da sah er, wie ein Quaddie von der D-620-Habitat-Konfiguration herübergedüst kam. Leo wartete einen Moment lang, um ihm oder ihr Zeit zu geben, herzukommen und in Deckung zu gehen. Es handelte sich nicht um einen Boten, denn dafür hatte er ja seinen Kommunikator …

»Hallo, Leo«, kam Tonys Stimme etwas dumpf über den Kommunikator. »Lei’er komm ich su spä’ sur Arbei’ — is’ noch was übrig für mich?«

»Tony!« Es war nicht leicht, jemanden in einem Arbeitsanzug zu umarmen, aber Leo versuchte sein Bestes. »He, he, du kommst gerade rechtzeitig zum besten Teil, mein Junge!«, sagte Leo aufgeregt. »Ich habe vorhin gesehen, wie das Shuttle angedockt hat.« Ja, und einen Moment lang hatte es ihm einen entsetzlichen Schock versetzt, weil er dachte, es handelte sich dabei um Van Attas angedrohte Sicherheitskräfte, bis er es korrekt als ihr Shuttle identifiziert hatte. »Ich hätte nicht gedacht, daß Dr. Minchenko dich woanders hingehen ließe als auf die Krankenstation. Geht es Silver gut? Solltest du dich nicht ausruhen?«

»Silver geh’s gu’. Dr. Minchenko ha’ eine Menge zu ‘un, un’ Ciaire un’ An’y schlafen — hab sie gesehn — woll’e’s Baby nich’ wecken.«

»Bist du sicher, daß es dir gut geht, Junge? Deine Stimme klingt komisch.«

»Hab mein’ Mun’ verless’. Is’ schon gu’.«

»Aha.« Leo erklärte kurz die vor ihnen liegende Aufgabe. »Du bist zum großen Finale gekommen.«

Leo manövrierte sich in seinem Anzug herum, bis er gerade noch über das aufgegebene Modul blicken konnte. »Was wir dort drüben haben, in der Schachtel oben — die Kirschbombe auf dem Zuckerguß sozusagen — ist ein Ladekondensator mit ein paar tausend Volt darinnen. Führt hinunter zu einem Glühdraht im flüssigen Sprengstoff — ich habe den Draht einer Glühbirne genommen, von der ich die Polyglashülle abgeschlagen hatte —, das Ding, das da so hervorsteht, ist ein elektrisches Auge, das ich von einer Türsteuerung geklaut habe. Wenn wir es mit einem Strahl dieses optischen Lasers hier treffen, dann schließt es den Schalter …«

»Un’ ‘er S’rom sün’e’ne Sprengs’off?«

»Nicht ganz. Die Hochspannung, die durch den Glühdraht fließt, läßt buchstäblich den Draht explodieren, und die Druckwelle des explodierenden Drahtes zündet das TNM und das Benzin. Das sprengt den Titanrohling hinaus, bis er auf die Eisform trifft und seine Wucht abgibt, woraufhin das Titan anhält und das Eis den Stoß fortträgt. Ziemlich spektakulär, und deshalb verstecken wir uns auch hinter diesem Modul …« Er schaute sich prüfend nach seiner Quaddiemannschaft um. »Alle Mann bereit?«

»Wenn Sie Ihren Kopf hochrecken und zuschauen dürfen, warum wir nicht?«, beschwerte sich Pramod.

»Ich brauche eine Sicht für den Laser«, sagte Leo spröde. Er zielte sorgfältig mit dem optischen Laser und zögerte in einem plötzlichen Anfall von Angst. Es konnte soviel schiefgehen — er hatte geprüft und nochmals geprüft —, aber es kommt ein Zeitpunkt, wo man alle Zweifel fallenlassen und zur Tat schreiten muß. Er vertraute sich Gott an und drückte den Knopf.

Ein heller, lautloser Blitz, eine Wolke aus kochendem Dampf, und die Eisform zerbarst, Bruchstücke flogen in alle Richtungen. Die Wirkung war überwältigend. Mit Mühe zog Leo seinen Blick ab und duckte sich hastig hinter das Modul. Das Nachbild tanzte über seine Netzhaut, dunkelgrün und magentarot. Seine Hand in dem Druckhandschuh, die auf der Hülle des Moduls ruhte, spürte heftige Erschütterungen, als ein paar Eiswürfel mit hoher Geschwindigkeit gegen die andere Seite schlugen und abprallten.

Leo blieb noch einen Moment lang zusammengekauert und starrte ziemlich ausdruckslos auf Rodeo hinab. »Jetzt habe ich Angst zu schauen.«

Pramod düste um das Modul herum. »Es ist jedenfalls noch alles beisammen. Er torkelt — es ist schwer, die genaue Form zu sehen.«

Leo holte Luft. »Los, holen wir das gute Stück, Kinder. Und schauen wir mal, was wir da bekommen haben.« Es war die Arbeit von ein paar Minuten, das Werkstück einzufangen. Leo weigerte sich noch, es schon den ›Vortex-Spiegel‹ zu nennen — es könnte sich immer noch herausstellen, daß es bloß Schrottmetall war. Die Quaddies tasteten die gekrümmte graue Fläche mit ihren verschiedenen Scannern ab.

»Ich kann keine Sprünge finden, Leo«, sagte Pramod atemlos. »An manchen Stellen ist es ein paar Millimeter zu dick, aber nirgends zu dünn.«

»Zu dick, damit können wir uns während dem abschließenden Glätten mit dem Laser befassen. Zu dünn, das könnten wir nicht beheben. Deshalb nehme ich lieber zu dick«, sagte Leo.

Bobbi schwenkte ihren optischen Laser und fuhr damit immer wieder über die gekrümmte Fläche, Zahlen liefen auf ihrer Digitalanzeige vorüber. »Es entspricht den Spezifikationen! Leo, es entspricht den Spezifikationen! Wir haben es geschafft!« Leos Eingeweide waren wie schmelzendes Wachs. Er stieß einen langen und sehr erschöpften, aber sehr glücklichen Seufzer aus. »In Ordnung, Kinder, bringen wir es hinein. Zurück zur … zur … verdammt, wir können es nicht immerzu die ›D-620-Habitat-Konfiguration‹ nennen.«

»Ah, können wir sicher nich’«, stimmte Tony zu.

»Wie sollen wir es also nennen?« Eine Menge Möglichkeiten gingen Leo durch den Kopf: Die Arche — der Stern der Freiheit — Grafs Narretei …

»Unser Heim«, sagte Tony einfach einen Augenblick später. »Gehen wir heim, Leo.«

»Heim.« Leo ließ den Namen in seinem Mund rollen. Er schmeckte gut. Er schmeckte sehr gut. Pramod nickte, und eine von Bobbis oberen Händen berührte ihren Helm als Geste des Saluts für diese Wahl.

Leo blinzelte. Ein irritierender Dunst in der Luft seines Anzugs war zweifellos schuld daran, daß Wasser in seine Augen trat und daß seine Brust sich zusammenschnürte. »Ja, bringen wir unseren Vortex-Spiegel heim, Leute.«


Bruce Van Atta hielt auf dem Korridor vor Chalopins Büro im Shuttlehafen Drei an, um Atem zu holen und sein Zittern unter Kontrolle zu bringen. Er hatte auch Seitenstechen. Es würde ihn überhaupt nicht überraschen, wenn er von dieser ganzen Sache ein Magengeschwür bekäme. Das Fiasko draußen auf dem ausgetrockneten See hatte ihn in Rage versetzt. Daß er den Weg bahnte und ihn dann pfuschende Untergebene völlig im Stich ließen — das war über alle Maßen ärgerlich.

Es war ein purer Zufall gewesen, daß er, nachdem er in sein Quartier auf Rodeo zurückgekehrt war, um eine sehr notwendige Dusche zu nehmen und etwas zu schlafen, daß er also aufgewacht war, um zu pinkeln, und dann im Shuttlehafen Drei anrief, um sich über den Fortschritt der Dinge zu informieren. Man hätte ihm möglicherweise sonst überhaupt nicht erzählt, daß dieses Shuttle gelandet war! In Erwartung von Grafs nächstem Schachzug hatte er seine Kleider übergezogen und war zum Hospital geeilt — wenn er nur Augenblicke eher angekommen wäre, hätte er vielleicht Minchenko drinnen in der Falle gehabt.

Er hatte den Jetcopter-Piloten schon zur Schnecke und ihm die Hölle heiß gemacht für seine Feigheit, weil er es nicht geschafft harte, das startende Shuttle wieder auf den Boden zu zwingen, und für sein Versagen, weil er nicht eher auf dem See angekommen war. Der Pilot hatte mit rotem Gesicht die Zähne aufeinandergebissen und die Fäuste geballt und nichts gesagt, zweifellos, weil er sich entsprechend schämte. Aber das wirkliche Versagen lag weiter oben — auf der anderen Seite genau dieser Bürotür. Er drückte auf den Knopf, und die Tür glitt zur Seite.

Chalopin, ihr Sicherheitsoffizier Bannerji und Dr. Yei hatten über dem Vid-Display von Chalopins Computer ihre Köpfe zusammengesteckt. Captain Bannerji deutete mit dem Finger darauf und sagte gerade zu Yei: »… können hier hereinkommen. Aber wieviel Widerstand, was meinen Sie?«

»Sie werden sie sicher sehr erschrecken«, sagte Yei. »Hm. Ich bin scharf darauf, meine Männer zu bitten, hinaufzufliegen und mit Betäubern gegen verzweifelte Leute vorzugehen, die viel gefährlichere Waffen haben. Was ist der wirkliche Status dieser sogenannten Geiseln?«

»Dank Ihres Verhaltens«, knurrte Van Atta, »ist das Verhältnis der Geiseln jetzt fünf zu null. Sie sind mit Tony abgehauen, verdammt noch mal. Warum haben Sie nicht eine 27-Stunden-Wache vor diesem Quaddie aufgebaut, wie ich es Ihnen gesagt hatte? Wir hätten auch Madame Minchenko bewachen sollen.«

Chalopin hob den Kopf und starrte ihn ausdruckslos an. »Mr. Van Atta, Sie scheinen an einigen falschen Vorstellungen über die Größe meiner Sicherheitskräfte hier zu leiden. Ich habe nur zehn Männer, um drei Schichten zu besetzen, und das sieben Tage in der Woche.«

»Plus zehn von jedem der anderen beiden Shuttlehäfen. Das sind dreißig. Angemessen bewaffnet wären sie ein beträchtliches Einsatzkommando.«

»Ich habe schon sechs Leute von den anderen beiden Häfen ausgeliehen, um unsere Routineaufgaben zu erfüllen, während meine gesamte Mannschaft sich diesem Notfall widmet.«

»Warum haben Sie nicht alle abgezogen.«

»Mr. Van Atta, die Niederlassung Rodeo ist ein großes Werk — aber eine sehr kleine Stadt. Hier gibt es zusammen keine zehntausend Angestellten, dazu die gleiche Anzahl von Angehörigen, die nicht auch bei Galac-Tech beschäftigt sind. Mein Sicherheitsdienst ist eine Polizeitruppe, kein Militär. Sie haben ihre eigenen Pflichten zu erfüllen, müssen Vertretungen übernehmen für den Notdienst und den Such- und Rettungsdienst und müssen bereit sein, der Feuerwehr zu helfen.«

»Verdammt — ich habe Ihnen mit Tony eine Trumpfkarte in die Hand gegeben. Warum haben Sie nicht sofort das Beste daraus gemacht und das Habitat geentert?« »Ich hatte eine Truppe von acht Mann bereit, in den Orbit hinaufzugehen«, sagte Chalopin scharf, »aufgrund Ihrer Zusicherung, daß Ihre Quaddies kooperieren würden. Wir konnten jedoch vom Habitat selbst keine Bestätigung dieser Kooperation bekommen. Dort hielt man weiterhin die Funkstille aufrecht. Dann entdeckten wir, daß unser Frachtshuttle zurückkehrte, also dirigierten wir die Truppe um, um es in Besitz zu nehmen — zuerst mit einem Bodenwagen, und dann, wie Sie selbst es vor nicht ganz zwei Stunden verlangten, als Sie brüllend hier hereinkamen, mit einem Jetcopter.«

»Nun, dann holen Sie sie wieder zusammen und schicken Sie sie in den Orbit, verdammt noch mal!«

»Erstens einmal haben Sie drei von ihnen draußen auf dem Seebett zurückgelassen«, bemerkte Captain Bannerji. »Sergeant Fors hat sich gerade gemeldet — sagt, ihr Bodenwagen sei manövrierunfähig gemacht worden. Sie kommen in Dr. Minchenkos zurückgelassenem Landrover zurück. Es wird mindestens noch eine weitere Stunde dauern, bis sie wieder da sind. Zweitens, wie Dr. Yei mehrfach ausgeführt hat, haben wir noch keine Vollmacht bekommen, irgendeine Art tödlicher Gewalt anzuwenden.« »Sicherlich gibt es irgendeine Klausel über Verfolgung bei einem Notstand«, argumentierte Van Atta. »Das da«, er zeigte nach oben und meinte offensichtlich die aktuellen Vorgänge im Orbit von Rodeo, »ist zumindest schwerer Diebstahl, der gerade im Gange ist. Und vergessen Sie nicht, ein Galac-Tech-Angestellter ist von denen schon angeschossen worden.«

»Diese Tatsache habe ich nicht übersehen«, murmelte Bannerji.

»Aber«, warf Dr. Yei ein, »da wir die Zentrale um die Vollmacht zum Einsatz von Gewalt gebeten haben, sind wir jetzt verpflichtet, auf die Antwort zu warten. Was ist schließlich, wenn man die Bitte ablehnt?«

Van Atta blickte sie finster an und kniff die Augen zusammen. »Ich wußte, daß wir nie hätten fragen sollen. Sie haben uns da reinmanövriert, verdammt noch mal. Man hätte jedes Fait accompli geschluckt, das wir präsentiert hätten, und wäre froh darüber gewesen. Jetzt …« Er schüttelte frustriert den Kopf. »Jedenfalls übersehen Sie andere Personalreserven. Das Habitatpersonal selbst kann dazu eingesetzt werden, durch die Öffnung, die die Sicherheitsleute aufsprengen, ins Innere des Habitats einzudringen.«

»Die Leute vom Habitat sind jetzt über ganz Rodeo verstreut«, bemerkte Dr. Yei, »die meisten von ihnen in ihren Quartieren für den Urlaub auf dem Planeten.« Bannerji krümmte sich sichtlich. »Und haben Sie eine Vorstellung von der juristischen Verantwortung, die eine solche Situation dem Sicherheitsdienst auferlegen würde?«

»Dann ernennen Sie sie doch zu Hilfskräften der Sicherheit …«

Ein Piepsen von Chalopins Schreibtischkonsole unterbrach Van Atta; auf dem Vid erschien das Gesicht eines Kommunikationstechnikers.

»Administratorin Chalopin? Hier spricht das Kommunikationszentrum. Sie haben uns angewiesen, Sie über jede Veränderung im Status des Habitats oder der D-620 zu unterrichten. Sie … hm … scheinen sich darauf vorzubereiten, den Orbit zu verlassen.«

»Legen Sie das Bild hierher«, befahl Chalopin.

Der Kommunikationstechniker brachte wieder das flache Bild von dem Satelliten. Er vergrößerte es, und die Habitat-D-620-Konfiguration füllte das halbe Vid. Die beiden Triebwerksarme der D-620 für Normalraum waren um die vier großen Beschleunigereinheiten verstärkt worden, die die Quaddies benutzten, um Frachtbündel aus dem Orbit hinauszubringen. Während Van Atta noch entsetzt auf das Vid schaute, trat das Aggregat von Triebwerken mit Stichflammen in Aktion. Das monströse Raumfahrzeug wirbelte eine glitzernde Wolke von Raumschrott auf und setzte sich in Bewegung.

Dr. Yei stand da und starrte mit offenem Mund auf das Vid, sie hatte die Hände auf die Brust gepreßt, und in ihren Augen glitzerte es seltsam. Van Atta kam es vor, als müßte er selbst aus hilfloser Wut weinen.

»Sehen Sie …«, er zeigte auf das Vid, und seine Stimme schnappte fast über, »sehen Sie, was bei all dem endlosen Hin und Her herausgekommen ist? Sie hauen ab!«

»Ach, noch nicht«, sagte Dr. Yei. »Es wird mindestens ein paar Tage dauern, bis sie am Wurmloch ankommen. Es gibt keinen Grund zur Panik.« Sie zwinkerte Van Atta zu und fuhr mit einer fast hypnotisch besänftigenden Stimme fort: »Sie sind natürlich extrem erschöpft, wie wir alle. Erschöpfung verleitet zu Fehlern in der Beurteilung. Sie sollten sich ausruhen — schlafen Sie etwas …«

Seine Hände zuckten; er hatte das brennende Verlangen, sie auf der Stelle zu erwürgen. Die Administratorin des Shuttlehafens und dieser Idiot Bannerji nickten zum Zeichen, daß sie ihr zustimmten. Ein ersticktes Knurren brach aus Van Attas Kehle. »Jede Minute, die Sie warten, macht unsere logistische Lage komplizierter — vergrößert den Abstand — vergrößert das Risiko …«

Sie blickten ihn alle mit dem gleichen ausdruckslosen Gesicht an. Van Atta brauchte nicht mit der Nase daraufgestoßen werden — er konnte eine konzertierte Nicht-Kooperation erkennen, wenn er sie witterte. Verdammt, verdammt, verdammt! Er blickte finster und mißtrauisch auf Yei. Aber seine Hände waren gebunden, seine Autorität von ihren bequemen Argumenten unterminiert. Wenn es nach Yei und ihresgleichen ginge, dann würde nie jemand auf einen anderen schießen, und Chaos würde das Universum beherrschen.

Er knurrte unartikuliert, drehte sich auf den Absätzen um und stolzierte hinaus. Ciaire erwachte, öffnete jedoch die Augen noch nicht und kuschelte sich in ihren Schlafsack. Die Erschöpfung, die sie am Ende der letzten Schicht überschwemmt hatte, wich nur langsam aus ihren Gliedern. Andy rührte sich noch nicht; das war gut, eine kurze Atempause vor dem Wechseln der Windeln. In zehn Minuten würde sie ihn wecken, und sie würden sich gegenseitig helfen: er würde ihre Brüste, die kribbelten, von ihrer Milch erlösen, die Milch würde seinen hungrigen Bauch erlösen — Mamas brauchen Babies ebenso sehr, dachte sie schläfrig, wie Babies Mamas brauchen, sie waren aufeinander angewiesen, zwei Individuen, die ein biologisches System gemeinsam hatten … so hatten die Quaddies das technologische System des Habitats gemeinsam, jeder hing von allen anderen ab …

Sie hingen auch von ihrer Arbeit ab. Was stand als nächstes an? Keimboxen, Pflanzrohre — nein, heute konnte sie keine Pflanzrohre herumschleifen, heute war ja der Tag der Beschleunigung — sie riß die Augen auf. Und sie weiteten sich vor Freude.

»Tony!«, flüsterte sie. »Wie lange bist du schon hier?«

»Hab dich etwa fünfzehn Minuten beobachtet. Du schläfst so hübsch. Darf ich hereinkommen?« Er schwebte in der Luft, wieder in seiner vertrauten, bequemen roten Kleidung, T-Shirt und Shorts, und beobachtete sie im Zwielicht ihrer Kammer. »Muß mich sowieso anbinden, denn die Beschleunigung wird gleich beginnen.«

»Schon …?« Sie schlängelte sich zur Seite und machte Platz für ihn, umschlang ihn mit all ihren Armen, berührte sein Gesicht und den beunruhigenden Verband, der noch um seinen Rumpf gewickelt war. »Geht es dir gut?«

»Jetzt schon«, er seufzte glücklich. »Als ich dort lag, in diesem Hospital — na ja, da habe ich nicht erwartet, daß jemand mir zu Hilfe kommen würde. Es war ein entsetzliches Risiko für dich — es war es nicht wert!« Er schnupperte an ihrem Haar.

»Wir haben darüber gesprochen, über das Risiko. Aber wir konnten dich nicht zurücklassen. Wir Quaddies — wir müssen zusammenhalten.« Sie war jetzt völlig wach und genoß seine körperliche Wirklichkeit, seine muskulösen Hände, seine leuchtenden Augen, seine struppigen blonden Augenbrauen. »Dich zu verlieren hätte uns geschwächt, sagte Leo, und nicht bloß genetisch. Wir müssen jetzt ein Volk sein, nicht bloß Ciaire und Tony und Silver und Siggy — und Andy —, das ist vermutlich, was Leo ›Synergie‹ nennt. Wir sind jetzt ein Synergismus.«

Durch die Wände der Kammer summte eine seltsame Vibration. Ciaire rutschte herum und hob Andy aus seinen Schlafgurten neben ihr und drückte ihn mit ihren oberen Händen an sich, während sie noch unter dem Schutz des Schlafsacks mit den unteren Tonys untere Hände hielt. Andy quäkte, schmatzte mit den Lippen und schlief wieder ein. Langsam und sanft wurden ihre Schulterblätter gegen die Wand gedrückt.

»Wir sind auf dem Weg«, flüsterte sie. »Es geht los …«

»Es hält zusammen«, bemerkte Tony staunend. Sie klammerten sich aneinander. »Ich wollte bei dir sein, in diesem Augenblick …«

Sie überließ sich der Beschleunigung, legte den Kopf an die Wand und bettete Andy auf ihre Brust. In ihrem Schrank machte etwas klonk; sie würde später nachschauen, was das war.

»Das ist die richtige Art zu reisen«, seufzte Tony, »viel besser als im Frachtraum …« »Es wird seltsam sein, ohne Galac-Tech«, sagte Ciaire nach einer Weile. »Nur wir Quaddies … Wie wird wohl Andys Welt aussehen?«

»Das liegt vermutlich an uns«, sagte Tony nüchtern. »Das ist fast noch fürchterlicher als Planetarier mit Schußwaffen, weißt du? Freiheit. — Uff!« Er schüttelte den Kopf. »So hatte ich sie mir nicht vorgestellt.«


An Schlaf, den Yei vorgeschlagen hatte, war nicht zu denken. Mürrisch kehrte Van Atta nicht in seine Unterkunft, sondern in sein eigenes Büro auf Rodeo zurück. Er hatte sich dort ein paar Wochen nicht sehen lassen. Nach der Ortszeit von Shuttlehafen Drei war es jetzt ungefähr Mitternacht; seine Sekretärin auf Rodeo hatte dienstfrei. Es entsprach seiner scheußlichen Laune, jetzt allein zu schmollen.

Nachdem er etwa zwanzig Minuten damit zugebracht hatte, vor sich hinzumurmeln, beschloß er, seine angesammelte elektronische Post durchzuschauen. Seine übliche Büroroutine war in diesen letzten paar Wochen sowieso auf den Hund gekommen, und die Ereignisse der letzten zwei Tage hatten ihr völlig den Rest gegeben. Vielleicht würde ihn eine gehörige Dosis langweiliger Routinearbeit genügend beruhigen, so daß er schließlich an Schlaf denken konnte. Veraltete Mitteilungen, nicht mehr aktuelle Bitten um Instruktionen, irrelevante Fortschrittsberichte — die Quaddiekaserne auf dem Planeten, nahm er mit einem grimmigen Schnauben zur Kenntnis, wurde als bereit zum Bezug gemeldet, und das mit fünfzehn Prozent über dem Budget. Falls er irgendwelche Quaddies schnappen konnte, um sie in die Kaserne zu stecken. Instruktionen von der Zentrale, die Abwicklung des Cay-Projekts betreffend, unerbetene Ratschläge über die Verschrottung und Entsorgung der verschiedenen Teile des Habitats …

Van Atta hielt plötzlich inne und blätterte auf seinem Vid zwei Schirme zurück. Um was war es da noch mal gegangen?

Betreff: Postfötale experimentelle Gewebekulturen. Menge: 1000. Entsorgung: Verbrennung nach den IGS-Standardvorschriften für Biolabors.

Er schaute nach dem Ursprung dieser Anweisung. Nein, sie war nicht aus Apmads Büro gekommen, wie er zuerst vermutet hatte. Sie kam von der Abteilung Allgemeine Buchhaltung und Inventurkontrolle und war Teil einer langen, von einem Computer erstellten Liste, die auch eine Reihe von Laborvorräten aufführte. Die Anweisung war jedoch von einem Menschen unterzeichnet, von einem unbekannten mittleren Manager in der AB IK daheim auf der Erde.

»Verdammt«, fluchte Van Atta sanft, »ich glaube, dieser Trottel weiß nicht einmal, was Quaddies sind.« Die Anweisung war schon vor einigen Wochen unterzeichnet worden.

Er las noch einmal die Einleitung: Der Projektleiter wird dafür Sorge tragen, daß dieses Projekt mit aller gebührenden Eile beendet wird. Die schnelle Freisetzung von Mitarbeitern für andere Einsätze ist besonders wünschenswert. Sie sind ermächtigt, alles Material oder Personal, das Sie vorübergehend brauchen, um diese Abwicklung bis zum 1. 6. zu beenden, von benachbarten Unternehmensbereichen anzufordern.

Nach einer weiteren Minute verzog er die Lippen zu einem wilden Grinsen. Vorsichtig nahm er die kostbare Mitteilungsdiskette aus der Maschine, steckte sie ein und machte sich auf den Weg zu Chalopin. Er hoffte, daß er sie aus dem Bett jagen würde.

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