KAPITEL 5

Vor den Türen der Krankenstation des Habitats hielt Leo an, um seine Nerven zu sammeln. Er war insgeheim erleichtert gewesen, als ein verzweifelter Anruf von Pramod ihn, der innerlich zitterte, von Silvers qualvollem Verhör wegrief, und er schämte sich insgeheim auch über dieses Gefühl der Erleichterung. Pramods Problem — fluktuierende Energiepegel in seinem Elektronenstrahlschweißbrenner, die letztlich auf eine Störung der elektronenemittierenden Kathode infolge von Gaskontamination zurückgingen — hatte Leo einige Zeit in Anspruch genommen, aber als die Schweißvorführung vorüber war, trieb ihn seine Scham wieder hierher.

Was kannst du denn so spät noch für sie tun? verspottete ihn sein Gewissen. Sie deiner beständigen moralischen Unterstützung versichern, solange du damit in keine Unannehmlichkeiten verwickelt wirst? Was für ein Trost! Er schüttelte den Kopf und betätigte die Türsteuerung.

Schweigend schwebte er am Stationszimmer vorbei, ohne sich dort anzumelden. Silver befand sich in einer privaten Kabine ganz am Ende des Krankenstationsmoduls. Die Entfernung hatte dazu beigetragen, ihre Schreie zu dämpfen.

Leo schaute durch das Beobachtungsfenster. Silver war allein und hing schlaff in den Bettgurten an der Wand. Im Licht der Fluoros erschien ihr Gesicht grünlich, bleich und feucht. Ihre Augen schienen ihre funkelnd blaue Farbe verloren zu haben, jetzt wirkten sie wie verschwommene bleigraue Flecken. Eine der oberen Hände umklammerte eine noch unbenutzte Speitüte.

Leo selbst war auch übel. Er warf einen Blick den Korridor entlang, um sicher zu sein, daß er noch unbeobachtet war, schluckte den Klumpen hilfloser Wut hinunter, der sich in seiner Kehle angesammelt hatte, und schlüpfte in die Kabine. »Ach… hallo, Silver«, begann Leo mit einem schwachen Lächeln. »Wie geht es dir?« Er verfluchte sich selbst für seine albernen Worte.

Ihre verschmierten Augen richteten sich verständnislos auf ihn. Dann sagte sie: »O Leo. Ich glaube, ich habe eine Weile… geschlafen. Komische Träume… Mir ist noch übel.«

Die Wirkung der Droge schien schon nachzulassen. Ihre Stimme war nicht mehr undeutlich und träumerisch wie während des Verhörs; jetzt klang sie schwach und gepreßt, aber ihrer selbst bewußt. Leicht ungehalten fügte sie hinzu: »Wegen diesem Zeug habe ich mich erbrochen. Und ich habe noch nie gebrochen, nie. Dieses Zeug hat mich dazu gebracht.«

Wie Leo mitbekommen hatte, gab es in Silvers kleiner Welt stärkste soziale Hemmungen gegen das Erbrechen in der Schwerelosigkeit. Wahrscheinlich wäre Silvers Verlegenheit viel geringer gewesen, wenn man sie in der Öffentlichkeit entkleidet hätte. »Das war nicht dein Fehler«, versuchte Leo sie schnell zu beruhigen.

Sie schüttelte den Kopf; ihr Haar flatterte dabei in glatten Strähnen und bildete nicht mehr die gewohnte helle Aureole. Sie spitzte den Mund. »Ich hätte eigentlich — ich dachte, ich könnte… der Rote Ninja hat seinen Feinden nie seine Geheimnisse verraten, und ihn hatten sie sowohl unter Drogen gesetzt wie auch gefoltert.«

»Wer?«, fragte Leo verdutzt.

»Oh…!« Silver wimmerte. »Sie haben auch unsere Bücher entdeckt. Diesmal werden sie alle finden…« An ihren Wimpern hingen Tränen, die nicht fallen konnten, sondern sich ansammelten, bis sie weggewischt wurden. Als sie ihre Augen aufriß und Leo in entsetzter Erkenntnis anstarrte, lösten sich zwei oder drei Tröpfchen und machten sich als schimmernde Satelliten selbständig. »Und jetzt denkt Mr. Van Atta, daß Ti gewußt haben muß, daß Tony und Ciaire an Bord seines Shuttles waren — eine geheime Absprache —, und er sagt, er wird dafür sorgen, daß Ti gefeuert wird! Und er wird Tony und Ciaire dort unten finden — ich weiß nicht, was er ihnen antun wird. Ich habe Mr. Van Atta noch nie so wütend gesehen.«

Leo biß so fest die Zähne zusammen, daß aus seinem Lächeln eine Grimasse wurde. Trotzdem versuchte er vernünftig zu reden. »Aber du hast ihnen doch sicher — unter Drogen — gesagt, daß Ti es nicht wußte.«

»Er hat es nicht geglaubt. Er sagte, ich würde lügen.«

»Aber das wäre doch unlogisch…«, begann Leo, dann brach er ab. »Nein, du hast recht, das läßt ihn kalt. Gott, was für ein Arschloch!«

Silver öffnete schockiert den Mund. »Sie meinen — Mr. Van Atta?«

»Ich meine Brucie-Baby. Du kannst mir nicht einreden, daß du seit elf Monaten mit dem Mann zu tun hast und das noch nicht gemerkt hast.«

»Ich dachte, daß es an mir liegt — daß etwas mit mir nicht stimmt…« Silvers Stimme war immer noch schwach und verweint, aber in ihren Augen begann es zu dämmern. Sie bezwang ihr eigenes Leid und betrachtete Leo mit erhöhter Aufmerksamkeit.

»… Brucie-Baby?«

»Was?« Die Erinnerung an einen von Dr. Yeis Vorträge über die Aufrechterhaltung einer einheitlichen und konsequenten Autorität ließ Leo innehalten. Damals war ihm dies sehr sinnvoll erschienen… »Schon gut! Aber mit dir ist alles in Ordnung, Silver.«

Ihr scharfer Blick wurde fast wissenschaftlich. »Sie fürchten ihn nicht.« Ihr überraschter Ton verriet, daß sie dies für eine unerwartete und bemerkenswerte Entdeckung hielt.

»Ich? Fürchten? Vor Bruce Van Atta?« Leo prustete. »Wohl kaum.«

»Damals, als er ankam und Dr. Cays Stellung übernahm, dachte ich… dachte ich, er würde wie Dr. Cay sein.« »Schau mal… äh… es gibt eine sehr alte Daumenregel, die besagt, daß Leute bis zur Stufe ihrer Inkompetenz befördert werden. Ich glaube, daß es mir bis jetzt gelungen ist, diese wenig beneidenswerte Ebene zu meiden. Und das gelang offensichtlich auch eurem Dr. Cay.« Zum Teufel mit Yeis Skrupeln, dachte Leo, und fügte schonungslos offen hinzu: »Van Atta ist es nicht gelungen.«

»Tony und Ciaire hätten nie versucht wegzurennen, wenn Dr. Cay noch hier wäre.« In ihren Augen glomm Hoffnung auf. »Wollen Sie damit sagen, daß dieses Durcheinander vielleicht Mr. Van Attas Schuld ist?«

Leo hob unsicher die Schultern. Ihn quälten geheime Gedanken, die er noch nicht einmal sich selber eingestanden hatte. »Eure S… S…« — Sklaverei — »Situation erscheint mir an sich, an sich«, falsch, schlug sein Denken vor, während seine Zunge es milderte, »anfällig zum Mißbrauch, zu allen möglichen Arten von Fehlbehandlung. Weil Dr. Cay sich so leidenschaftlich für euer Wohlergehen einsetzte…«

»Er war zu uns wie ein Vater«, bestätigte Silver traurig.

»… blieb diese… hm… Anfälligkeit verborgen. Aber früher oder später war es unvermeidlich, daß jemand begann, sie auszunutzen, und euch auch. Wenn es nicht Van Atta getan hätte, dann jemand anderer in der Hierarchie. Jemand…« — Schlimmerer? Leo hatte genügend Geschichtsbücher gelesen. Ja — »… viel Schlimmerer.«

Silver sah aus, als bemühte sie sich vergebens, sich jemanden vorzustellen, der schlimmer war als Van Atta. Sie schüttelte traurig den Kopf. Sie hob ihr Gesicht Leo entgegen, ihre Augen waren wie Purpurwindenblüten, die sich auf die Sonne richteten. Leo mußte unwillkürlich lächeln.

»Was geschieht jetzt mit Tony und Ciaire? Ich habe versucht, sie nicht zu verraten, aber dieses Zeug hat mich so wirr im Kopf gemacht — es war schon vorher für sie gefährlich, und jetzt ist es noch schlimmer…« Leo versuchte sie in einem rauhen, aber herzlichen Ton zu beruhigen. »Nichts wird ihnen passieren, Silver. Laß dir von Bruces Wut keinen Schreck einjagen. Es gibt wirklich nicht viel, was er ihnen antun kann, sie sind viel zu wertvoll für Galac-Tech. Er wird sie anschreien, ohne Zweifel, und das kann man ihm nicht übelnehmen; ich bin selbst willens, sie anzuschreien. Der Sicherheitsdienst wird sie unten auf dem Planeten aufgreifen — sie können nicht weit gekommen sein —, sie werden eine Strafpredigt zu hören bekommen, und in ein paar Wochen wird alles vergessen sein. Es wird ihnen eine Lehre sein« Leo zögerte. Welche Lehre würden sie denn aus diesem Fiasko ziehen? — »… alles in allem.«

»Sie tun so, als wäre es gar nichts, wenn man angeschrien wird.«

»Das kommt, wenn man älter wird«, erklärte er. »Eines Tages wirst du genauso empfinden.« Oder kam diese besondere Immunität mit der Macht? Leo war plötzlich unsicher. Aber er hatte keine nennenswerte Macht, außer der Fähigkeit, Dinge zu bauen. Wissen als Macht. Wer hatte jedoch Macht über ihn? Die logische Kette endete in Verwirrung; er zog ungeduldig seine Gedanken von ihr ab. Ein geistiges Spinnrad — so unproduktiv wie der Philosophieunterricht im College.

»Jetzt empfinde ich es nicht so«, sagte Silver praktisch.

»Schau… hm… ich sag dir was. Wenn du dich dadurch besser fühlst, dann fliege ich mit runter, wenn sie die Kinder ausfindig machen. Vielleicht kann ich die Dinge irgendwie unter Kontrolle halten.«

»Oh, würden Sie das tun? Könnten Sie das tun?«, fragte Silver erleichtert. »So wie Sie versucht haben, mir zu helfen?«

Leo hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. »Hm, ja. So in der Art.«

»Sie haben keine Angst vor Mr. Van Atta. Sie können ihm die Stirn bieten.« Sie verzog entschuldigend die Augenbrauen und winkte mit ihren unteren Armen. »Danke, Leo.« Jetzt zeigte ihr Gesicht sogar etwas Farbe.

»Hm, schon gut. Ich werde mich jetzt lieber beeilen, damit ich noch das Shuttle erwische, das zu Hafen Drei hinunterfliegt. Wir werden sie zum Frühstück wieder gesund und sicher hier haben. Sieh es auf diese Weise: wenigstens kann Galac-Tech ihnen nicht die Kosten für den Extrashuttleflug vom Gehalt abziehen.« Damit erntete er bei ihr sogar ein kurzes Lächeln.

»Leo…« Ihre Stimme klang nüchtern, und er hielt auf seinem Weg zur Tür an. »Was tun wir, wenn… wenn eines Tages jemand kommt, der schlimmer ist als Mr. Van Atta?«

Überquere diese Brücke, wenn du vor ihr stehst, wollte er sagen und der Frage ausweichen. Aber wenn er noch eine einzige Platitüde von sich gab, würde er daran ersticken. Er lächelte, schüttelte den Kopf und floh.

Das Lagerhaus erinnerte Ciaire an ein Kristallgitter. Es hatte überall rechte Winkel und erstreckte sich mit neunzig Grad in jede Dimension; riesige genutete Regale reichten bis zur Decke und bildeten endlose Reihen mit Quergängen. Sie blockierten die Sicht, und sie blockierten den Flug.

Aber hier konnte man nicht fliegen. Sie kam sich vor wie ein verirrtes Molekül, das in den Zwischenräumen eines dotierten Kristallmikroplättchens gefangen war, fehl am Platz, aber in der Falle sitzend. Im Rückblick erschienen ihr jetzt die behaglichen Kurven des Habitats wie umschließende Arme.

Sie drängten sich jetzt in einer leeren Zelle eines Lagerregals zusammen, in einer der wenigen, die sie nicht mit Material belegt gefunden hatten. Ihre Seitenlänge war etwa zwei Meter. Tony hatte darauf bestanden, daß sie zur dritten Lage emporkletterten, damit sie sich über der Augenhöhe eines Planetariers befanden, der zufällig den Korridor entlanggehen mochte, aufrecht auf seinen langen Beinen. Wie sich herausstellte, ließen sich die Leitern, die in Abständen an den Regalen befestigt waren, leichter bewältigen als das Kriechen am Boden, aber es war schrecklich anstregend gewesen, die Tasche nach oben zu bringen, da ihre Leine zu kurz war, als daß sie hätten zuerst hochklettern und sie dann nachziehen können.

Ciaire war insgeheim entmutigt. Andy entdeckte bei sich schon die Fähigkeit, mit Schieben, Grunzen und Zappeln gegen die Schwerkraft anzukämpfen, zwar nur ein paar Zentimeter auf einmal, aber sie hatte die Schreckensvorstellung, daß er über den Rand fallen könnte. Ciaire entwickelte eine Abneigung gegen Ränder.

Ein Gabelstaplerroboter surrte vorbei. Ciaire erstarrte, duckte sich in den hinteren Bereich ihres Schlupfwinkels, preßte Andy an sich und packte eine von Tonys Händen. Das Surren entfernte sich. Sie wagte wieder zu atmen.

»Entspann dich«, quiekste Tony. »Entspann dich…« Er holte tief Luft und bemühte sich offenkundig, seinen eigenen Rat zu befolgen.

Ciaire lugte vorsichtig aus dem Abteil auf den Gabelstapler, der weiter unten im Gang angehalten hatte und jetzt damit beschäftigt war, einen Plastikkarton aus dessen codierter Zelle zu holen.

»Können wir jetzt essen?« In den letzten drei Stunden hatte sie Andy in dem Bemühen, ihn zu beruhigen, immer wieder gestillt, und war jetzt in jedem Sinne des Wortes erschöpft. Ihr Magen knurrte, und ihre Kehle war ausgetrocknet.

»Ich glaube schon«, sagte Tony und holte ein paar Nährriegel aus ihrem Vorrat in der Tasche. »Und dann sollten wir lieber versuchen, uns wieder in den Hangar vorzuarbeiten.«

»Können wir hier nicht ein bißchen länger ausruhen?«

Tony schüttelte den Kopf. »Je länger wir warten, desto größer wird das Risiko, daß sie nach uns suchen. Wenn wir nicht bald an Bord eines Shuttles zur Transferstation kommen, dann fangen sie vielleicht an, die nach draußen bestimmten Sprungschiffe zu durchsuchen, und dann ist unsere Chance dahin, unentdeckt zu bleiben, bis sie unumkehrbar beschleunigt haben.« Andy quäkte und gurgelte; aus seiner Richtung kam ein wohlbekannter Geruch.

»Ach, Schatz, würdest du mir bitte eine Windel geben?«, bat Ciaire.

»Schon wieder? Das ist jetzt schon das viertemal, seit wir das Habitat verlassen haben.« »Ich glaube, ich habe nicht annähernd genug Windeln mitgenommen«, sorgte sich Ciaire, während sie das laminierte Stück aus Papier und Plastik glättete, das Tony ihr gereicht hatte.

»Unsere Tasche ist zur Hälfte mit Windeln gefüllt. Kannst du es nicht so einrichten, daß sie etwas länger reichen?«

»Ich befürchte, er bekommt vielleicht Durchfall. Wenn man die Kacke zu lange an seinem Po läßt, dann beißt sie in seine Haut, die wird ganz rot, blutet sogar, wird infiziert — und dann schreit und heult er jedesmal, wenn man den Po anfaßt und sauberzumachen versucht. Dann schreit er wirklich laut«, betonte sie.

Die Finger von Tonys unterer linker Hand trommelten auf den Boden des Regalfaches, und mit einem Seufzen unterdrückte er seine Frustration. Ciaire wickelte die gebrauchte Windel fest zusammen und machte sich daran, sie wieder in die Tasche zu stopfen.

»Müssen wir die mitschleppen?«, fragte Tony plötzlich. »Nach einiger Zeit wird alles in der Tasche zu stinken anfangen. Außerdem ist sie schon schwer genug.« »Ich habe nirgendwo einen Müllentsorger gesehen«, sagte Ciaire. »Was sollen wir sonst damit tun?«

Tonys Gesicht verzerrte sich in einem inneren Ringen. »Laß sie einfach liegen«, stieß er hervor. »Auf dem Boden. Hier wird sie nicht durch den Gang davonfliegen und in die Belüftungsanlage geraten. Laß sie alle hier.«

Ciaire war sprachlos ob dieser entsetzlichen, revolutionären Idee. Tony folgte seinem eigenen Vorschlag, bevor seine Entschlossenheit ihn wieder verließ, holte die vier kleinen Knäuel heraus und stopfte sie in die hinterste Ecke des Lagerfachs. Er lächelte unsicher, in einer Mischung aus Schuldgefühl und Stolz. Ciaire betrachtete ihn besorgt. Ja, die Situation war außergewöhnlich, aber was war, wenn Tony eine Neigung zu kriminellem Verhalten entwickelte? Würde er wieder zur Normalität zurückkehren, wenn sie dort ankamen — wohin auch immer sie unterwegs waren?

Falls sie dort ankamen. Ciaire stellte sich vor, wie ihre Verfolger der Fährte der schmutzigen Windeln folgten, die sich durch die halbe Galaxis zog, wie die Spur aus Blütenblättern, die jene Heldin in einem von Silvers Buch hatte fallenlassen…

»Wenn du ihn fertig hast«, sagte Tony mit einem Kopfnicken in Richtung seines Sohnes, »dann sollten wir uns vielleicht lieber auf den Weg machen, zurück zum Hangar. Die Planetarier sind inzwischen vielleicht schon wieder weg.«

»Wie wählen wir diesmal ein Shuttle aus?«, fragte Ciaire. »Wie wissen wir, daß es nicht einfach direkt zurück zum Habitat fliegt — oder daß es eine Fracht aufnimmt, die im Vakuum entladen wird? Wenn sie im All die Luft aus dem Frachtraum rauslassen, während wir drin sind…«

Tony schüttelte den Kopf und preßte die Lippen aufeinander. »Ich weiß es nicht. Aber Leo sagt — wenn man ein großes Problem lösen oder ein großes Projekt fertigstellen möchte, dann besteht das Geheimnis darin, daß man es in lauter kleine Schritte zerlegt und dann der Reihe nach einen nach dem anderen in Angriff nimmt. Also — gehen wir zuerst einfach zum Hangar zurück. Und schauen, ob dort überhaupt Shuttles sind.«

Ciaire nickte, dann stockte sie. Andy war nicht der einzige von ihnen, den die Biologie plagte, überlegte sie grimmig. »Tony, glaubst du, wir können auf dem Rückweg eine Toilette finden? Ich muß mal.«

»Jaa, ich auch«, gab Tony zu. »Hast du eine auf dem Weg hierher gesehen?«

»Nein.« Diese Örtlichkeiten ausfindig zu machen hatte sie auf dieser alptraumhaften Wanderung nicht sonderlich beschäftigt, als sie über den Boden krochen, vorbeieilenden Planetariern auswichen und sie Andy dicht an sich preßte, aus Angst, er könnte gleich losheulen. Ciaire war sich nicht einmal sicher, daß sie die Strecke rekonstruieren konnte, die sie gekommen waren, als sie aus ihrem ersten Versteck vertrieben worden waren, von jener geschäftigen Arbeitsmannschaft, die ihre Maschinen bestiegen und angelassen hatten.

»Es muß hier was geben«, überlegte Tony optimistisch, »schließlich arbeiten hier ja Menschen.«

»Nicht in diesem Bereich«, bemerkte Ciaire, als sie auf die Mauer aus Lagerzellen jenseits des Gangs schaute. »Hier gibt es nur Roboter.«

»Dann zurück zum Hangar. Sag mal…« Seine Stimme wurde unsicher. »Hm… weißt du zufällig, wie eine Toilette im Schwerkraftfeld aussieht? Wie geht es da vor sich? Luftabsaugung wird ja wohl nicht mit den Gravitationskräften fertig.«

In einem von Silvers eingeschmuggelten historischen Vid-Dramas hatte es eine Szene mit einem Aborthäuschen gegeben, aber Ciaire war sich sicher, daß diese Technik veraltet war. »Ich glaube, man benutzt irgendwie Wasser.«

Tony zog seine Nase kraus und zuckte verblüfft die Achseln. »Wir werden es herausfinden.« Sein Blick fiel sehnsüchtig auf die kleinen Windelknäuel in der Ecke. »Es ist zu schade…«

»Nein!«, sagte Ciaire entsetzt. »Oder zumindest — zumindest versuchen wir zuerst, eine Toilette zu finden.«

»In Ordnung…«

Ein fernes rhythmisches Klopfen wurde immer lauter. Tony, der gerade dabei war, sich auf die Leiter hinauszuschwingen, ließ sich ins Regalfach zurückfallen. Er hielt einen Finger vor den Mund, in seinem Gesicht zeichnete sich Panik ab. Sie zogen sich ganz schnell in den rückwärtigen Teil der Zelle zurück.

»Aaah?«, sagte Andy. Ciaire nahm ihn hoch und stopfte ihm eine Brustwarze in den Mund. Gesättigt und gelangweilt, lehnte er das Stillen ab und drehte seinen Kopf weg. Ciaire ließ ihr T-Shirt wieder herabfallen und versuchte ihn abzulenken, indem sie stumm alle seine geschäftigen Finger zählte. Er war jetzt auch wie sie mit Dreck beschmiert; das war keine große Überraschung, denn Planeten bestanden aus Dreck. Dreck sah aus der Entfernung besser aus. Etwa aus einer Entfernung von ein paar hundert Kilometern…

Das Klopfen wurde lauter, kam unter ihrer Zelle vorbei, wurde leiser.

»Ein Wachmann von der Firma«, flüsterte Tony in Claires Ohr.

Sie nickte und wagte kaum zu atmen. Das Klopfen kam von diesen harten Fußbekleidungen der Planetarier, die auf den Zementboden auftrafen. Einige Minuten vergingen, und das Klopfen kam nicht wieder. Andy gab nur leise gurrende Laute von sich.

Tony steckte den Kopf vorsichtig zur Kammer hinaus, schaute nach links und rechts, oben und unten. »In Ordnung. Mach dich bereit, mir beim Herunterlassen der Tasche zu helfen, sobald dieser nächste Gabelstapler vorbei ist. Wir müssen sie den letzten Meter fallen lassen, aber vielleicht überdeckt der Lärm des Gabelstaplers das Geräusch ein bißchen.«

Zusammen schoben sie die Tasche an den Rand der Zelle und warteten. Der surrende Robostapler kam den Gang heruntergefahren und hatte auf seinem Heber eine riesige Lagerkiste, die fast so groß wie eine Lagerzelle war.

Der Gabelstapler hielt unter ihnen an, piepste vor sich hin und drehte sich um neunzig Grad. Mit einem winselnden Geräusch begann sein Heber nach oben zu fahren.

In diesem Augenblick erinnerte sich Ciaire, daß ihre Zelle als einzige in diesem Regal leer war.

»Er kommt hierher! Wir werden zerquetscht!«

»Hinaus! Hinaus auf die Leiter!«, schrie Tony.

Statt dessen sauste sie zurück, um Andy zu packen, den sie an der Rückseite der Kammer abgelegt hatte, so weit weg vom schreckenerregenden Rand wie möglich, bevor sie Tony geholfen hatte, die Tasche nach vorn zu schieben. Die Kammer wurde dunkel, als die heraufkommende Kiste die Öffnung verdeckte. Tony konnte sich mit Mühe und Not daran vorbei zur Leiter schieben, während der Stapler begann, die Kiste hineinzuschieben.

»Ciaire!«, schrie Tony. Er trommelte sinnlos auf die Seitenwand der großen Plastikkiste. »Ciaire! Nein, Nein! Blöder Roboter! Stop, stop!«

Aber der Gabelstapler war offensichtlich nicht sprachgesteuert. Er machte weiter und schob ihre Tasche vor sich her. An den Seiten der Kiste und oben waren nur wenige Zentimeter Spielraum. Ciaire wich zurück. Sie war so entsetzt, daß ihre Schreie wie Baumwollknäuel in ihrer Kehle steckenblieben und sie nur ein unartikuliertes Quietschen hervorbrachte. Zurück, zurück; die kalte Metallwand hinter ihr hielt sie auf. Sie drückte sich dagegen, so gut sie konnte; dabei stand sie auf ihren unteren Händen und hielt Andy mit den oberen. Er heulte jetzt, angesteckt von ihrer Angst, und gab ein ohrenbetäubendes Gekreisch von sich.

»Ciaire!«, schrie Tony von der Leiter, ein entsetztes Gebrüll unter Tränen. »ANDY!« Die Tasche neben ihnen wurde zusammengepreßt. Leise knirschende Geräusche drangen aus ihr. Im letzten Augenblick nahm Ciaire Andy mit ihren unteren Armen, unter ihrem Rumpf, und stemmte sich mit den oberen gegen die Kiste, gegen die Schwerkraft. Vielleicht würde ihr Körper, wenn er zerquetscht würde, die Kiste gerade weit genug weghalten, um Andy zu retten — die Servomechanismen des Gabelstaplers kreischten unter der Überlast…

Und begannen sich zurückzuziehen. Ciaire entschuldigte sich stumm bei ihrer übergroßen Tasche für all die Flüche, mit denen sie und Tony in den vergangenen Stunden ihr Gepäck bedacht hatten. Nichts darin würde noch so aussehen wie zuvor, aber es hatte sie gerettet.

Der Gabelstapler ruckte, sein Getriebe knirschte verwirrt. Die Kiste verschob sich auf ihrer Palette und stand jetzt nicht mehr normgerecht. Während sich der Hebearm zurückzog, rutschte die Kiste mit, von Reibung und Schwerkraft gezogen, und entfernte sich mehr und mehr aus der richtigen Stellung.

Mit offenem Mund beobachtete Ciaire, wie die Kiste sich neigte und aus der Öffnung fiel, dann stürzte Ciaire nach vorn. Als die Kiste auf dem Beton aufschlug, erschütterte der Aufprall das Lagerhaus, darauf folgte ein dröhnendes Echo, das lauteste Geräusch, das Ciaire je gehört hatte. Die Kiste riß den Gabelstapler mit sich, dessen Räder hilflos in der Luft surrten, während der Roboter auf die Seite fiel.

Die Macht der Schwerkraft war erstaunlich. Die Kiste platzte auf, ihr Inhalt quoll heraus. Hunderte von Radkappen sprangen heraus und klirrten wie eine Horde von Zimbeln. Ungefähr ein Dutzend rollten nach beiden Seiten des Gangs davon, als wollten sie fliehen, eierten gegen die Korridorwände und fielen auf die Seite, wobei sie sich immer noch drehten und allmählich leiser werdende Geräusche von sich gaben. In der erstaunlichen Stille, die darauf folgte, klangen die Echos noch einen Moment lang in Claires Ohren nach.

»O Ciaire!« Tony kroch zurück in die Zelle und umschlang sie mit allen Armen, mit Andy dazwischen, als ob er sie nie wieder loslassen würde. »O Ciaire…« Seine Stimme schnappte über, während er sein Gesicht an ihrem weichen kurzen Haar rieb.

Ciaire schaute über seine Schulter auf das Durcheinander, das sie unten angerichtet hatten. Der umgefallene Robostapler piepste wieder, wie ein verletztes Tier. »Tony, ich glaube, wir sollten lieber hier abhauen«, schlug sie leise vor.

»Ich dachte, du kämst hinter mir, auf die Leiter. Direkt hinter mir.«

»Ich mußte Andy holen.« »Natürlich. Du hast ihn gerettet, während ich — mich selbst rettete. O Ciaire! Ich hatte nicht vor, dich da drin zu lassen…«

»Das hatte ich auch nicht gedacht.«

»Aber ich bin gesprungen…«

»Es wäre einfach dumm gewesen, es nicht zu tun. Hör mal, können wir darüber nicht später reden? Ich glaube wirklich, wir sollten hier wegkommen.«

»Ja, o ja. Ach, die Tasche…?« Tony lugte in die dunkle Zelle.

Ciaire meinte, daß sie auch keine Zeit für die Tasche hätten — aber wie weit konnten sie ohne sie kommen? Sie half Tony, die Tasche mit verzweifelter Hast an den Rand zu ziehen.

»Wenn du dich da zurückstemmst, während ich mich an die Leiter hänge, dann können wir sie herunterlassen…«, begann Tony.

Ciaire schob sie unbarmherzig über den Rand. Sie landete unten auf dem Durcheinander und fiel auf den Beton. »Ich glaube, wir brauchen uns jetzt über die zerbrechlichen Dinge keine Gedanken mehr zu machen. Los, los!«, drängte sie.

Tony schluckte und nickte, bewegte sich schnell auf die Leiter, wobei er einen oberen Arm freihielt, um Andy stützen zu helfen, den Ciaire mit ihren unteren Armen hielt, während ihre oberen Hände an den Sprossen herabpatschten. Dann erreichten sie den Boden und waren wieder auf diese langsame, frustrierende, krebsartige Fortbewegungsart angewiesen. Ciaire begann den kalten, staubigen Geruch des Betons zu hassen.

Sie hatten erst ein paar Meter den Korridor hinabgeschafft, als Ciaire wieder das Stampfen von planetarischer Fußbekleidung hörte. Die Schritte bewegten sich schnell, machten dazwischen aber unsichere Pausen, als suchte jemand die Richtung. Die Schritte waren ein oder zwei Reihen entfernt und mußten bald zu ihnen vordringen. Dann kam ein Echo — nein, eine andere Art von Schritten. Was dann geschah, schien sich alles in einem Moment zu ereignen, zwischen einem Atemzug und dem nächsten. Vor ihnen sprang ein Planetarier in grauer Uniform aus einem Querkorridor in ihren und stieß einen unverständlichen Ruf aus. Seine Beine waren gegrätscht, in einer halb geduckten Haltung, und er umklammerte mit beiden Händen ein seltsames Instrument und hielt es einen halben Meter vor seinem Gesicht, das vor Schreck so bleich war wie Claires eigenes Gesicht.

Vor ihr ließ Tony die Tasche fallen und erhob sich auf seinen unteren Armen, warf seine oberen Hände weit auseinander und schrie: »Nein!«

Der Planetarier zuckte krampfhaft zurück. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Mund stand geschockt offen. Zwei oder drei helle Blitze schossen aus seinem Instrument, begleitet von einem scharfen Knallen, das durch das ganze große Lagerhaus widerhallte. Dann zuckten die Hände des Planetariers nach oben, das Ding flog davon. Hatte es eine Fehlfunktion oder einen Kurzschluß, hatte es den Mann verbrannt oder geschockt? Sein bleiches Gesicht wurde grün.

Dann schrie Tony auf, plumpste auf den Boden und zog alle seine Arme an sich, wurde zu einem dichten Knäuel der Qual.

»Tony? Tony!« Ciaire kroch zu ihm. Andy klammerte sich eng an ihren Rumpf und weinte und schrie vor Angst. Seine Schreie vermischten sich mit denen von Tony zu einer entsetzlichen Kakophonie. »Tony, was ist los?« Sie entdeckte das Blut auf seinem T-Shirt erst, als einige Tropfen auf den Beton spritzten. Tony rollte auf sie zu. Der Bizeps seines linken unteren Arms war übel zugerichtet und pulsierte blutigrot. »Tony!«

Der Wachmann war auf sie zugestürzt. In seinem Gesicht stand Schrecken, seine Hände fummelten jetzt an einem tragbaren Kommunikator herum, den er an seinem Gürtel trug. Erst beim dritten Versuch gelang es ihm, ihn abzunehmen. »Nelson! Nelson!«, rief er hinein. »Nelson, ruf die Sanitäter, um Himmels willen, schnell! Es sind bloß Kinder! Ich habe gerade ein Kind niedergeschossen!« Seine Stimme zitterte. »Es sind ein paar verkrüppelte Kinder!«


Als Leo die rhythmisch blinkenden gelben Lichter sah, die sich an der Wand des Lagerhauses spiegelten, wurde ihm flau im Magen. Das Sanitätskommando von Galac-Tech — ja, da war ihr Elektrolaster, mit aufleuchtenden Blinkern, geparkt im breiten Mittelgang. Die atemlosen Worte des Angestellten, der sie am Shuttle abgeholt hatte, gingen ihm durch den Kopf… im Lagerhaus gefunden… es hat einen Unfall gegeben… verletzt… Leo beschleunigte seine Schritte.

»Langsamer, Leo, mir wird schwindlig«, beschwerte sich hinter ihm Van Atta gereizt. »Nicht jeder kann so wie Sie ohne Folgen zwischen 0 Ge und 1 Ge hin- und herhüpfen, wissen Sie.«

»Man hat gesagt, daß eines der Kinder verletzt ist…«

»Was wollen Sie denn tun, was die Sanitäter nicht tun können? Ich persönlich werde diesem idiotischen Sicherheitsteam dafür die Hölle heißmachen…«

»Ich sehe Sie dann dort«, knurrte Leo über die Schulter und rannte los.

Gang 29 sah aus wie eine Kampfzone. Zertrümmerte Geräte, überall verstreutes Material — Leo stolperte über ein paar runde metallene Radkappen und stieß sie ungeduldig beiseite. Zwei Sanitäter und ein Sicherheitsmann waren über eine Trage am Boden gebeugt, ein Infusionsbeutel hing über ihnen an einer Stange wie eine Fahne.

Ein blutdurchtränktes T-Shirt; Tony, es war Tony, der verletzt worden war. Ciaire kauerte etwas weiter unten im Gang stumm auf dem Boden und hielt Andy umklammert; Tränen strömten über ihr bleiches Gesicht, das einer Maske glich. Auf der Trage wand sich Tony und schrie in heiseren Schluchzern auf.

»Können Sie ihm nicht wenigstens etwas gegen die Schmerzen geben?«, drängte der Wachmann den Sanitäter.

»Ich weiß nicht.« Der Sanitäter war sichtlich verwirrt. »Ich weiß nicht, was man alles mit ihrem Stoffwechsel angestellt hat. Schock ist Schock. Bei der Infusion bin ich mir sicher, und bei den Wärmern und dem Synergin, aber bei dem Übrigen…«

»Stellen Sie eine Notverbindung zu Dr. Warren Minchenko her«, riet Leo und kniete neben ihnen nieder. »Er ist der leitende Arzt des Cay-Habitats nimmt gerade hier unten seinen Monat planetarischen Urlaub. Bitten Sie ihn, daß er zu Ihrer Krankenstation kommt; dort wird er dann den Fall übernehmen.«

Der Sicherheitsmann nahm eifrig seinen Kommunikator hoch und begann den Code einzutippen.

»Oh, Gott sei Dank«, sagte der Sanitäter und wandte sich Leo zu. »Endlich jemand, der weiß, was, zum Teufel, die dort oben machen. Wissen Sie, was ich ihm gegen die Schmerzen geben kann, Sir?«

»Hm…« Leo erinnerte sich kurz an sein Erste-Hilfe-Wissen. »Syntha-Morph dürfte in Ordnung sein, bis Sie Kontakt mit Dr. Minchenko haben. Aber passen Sie die Dosis an — diese Kinder wiegen weniger, als man nach ihrem Aussehen meinen möchte — ich denke, Tony wiegt etwa 42 Kilo.«

Endlich dämmerte es Leo, von welcher Art Tonys Verletzungen waren. Er hatte sich einen Sturz vorgestellt, gebrochene Knochen, vielleicht eine Beschädigung des Rückenmarks oder des Schädels… »Was ist hier passiert?«

»Schußwunde«, berichtete der Sanitäter knapp. »Linkes unteres Abdomen und… und, hm, nicht Oberschenkel — linkes unteres Körperglied. Das ist bloß eine Fleischwunde, aber die Unterleibsverletzung ist ernst.«

»Schußwunde!« Leo starrte den Wachmann entgeistert an. Der errötete. »Haben Sie… — ich dachte, ihr würdet Betäuber tragen — warum, um Himmels willen…«

»Als dieser verdammte Hysteriker vom Habitat anrief und über seine entlaufenen Monster jammerte, da dachte ich — dachte ich — ich weiß nicht, was ich dachte.« Der Wachmann blickte finster auf seine Stiefel.

»Haben Sie nicht geschaut, bevor Sie feuerten?«

»Ich habe verdammt noch mal beinahe auf das Mädchen mit dem Baby geschossen.« Der Wachmann schauderte. »Ich habe diesen Jungen aus Versehen getroffen, als ich mein Ziel verriß.« Van Atta traf keuchend ein. »Heiliger Mist, was für ein Schlamassel!« Sein Blick fiel auf den Sicherheitsmann. »Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, Sie sollten diese Sache ruhig erledigen, Bannerji. Was haben Sie gemacht? Ein Bombe hochgehen lassen?«

»Er hat Tony niedergeschossen«, zischte Leo.

»Sie Idiot, ich hatte Ihnen gesagt, Sie sollten sie einfangen, nicht umbringen! Wie, zum Teufel, soll ich das…«, er winkte mit seinem Arm Gang 29 hinab, »unter den Teppich kehren? Und wozu, zum Teufel, hatten Sie überhaupt eine Pistole?«

»Sie haben gesagt — ich dachte…«, begann der Wachmann. »Ich schwöre Ihnen, ich werde dafür sorgen, daß Sie dafür gefeuert werden. Bei aller Unfähigkeit — haben Sie etwa geglaubt, das hier sei eine Art Feelie-Traumdrama? Ich weiß nicht, wessen Urteilsvermögen geringer ist, Ihres oder das des Blödmannes, der Sie eingestellt hat…«

Das Gesicht des Wachmannes hatte die Farbe gewechselt, statt rot war es jetzt weiß. »Warum, Sie blöder Scheißkerl, Sie haben mich doch dazu aufgehetzt…«

Irgendjemand sollte lieber einen kühlen Kopf bewahren, dachte Leo deprimiert. Bannerji hatte seine nicht zugelassene Waffe wiedergefunden und in sein Halfter gesteckt, was Van Atta nicht wahrzunehmen schien; die Versuchung, den Projektleiter über den Haufen zu schießen, durfte nicht zu verlockend werden, deshalb intervenierte Leo. »Meine Herren, darf ich vorschlagen, daß Sie Ihre Beschuldigungen und Ihre Verteidigung besser für eine förmliche Untersuchung aufheben, wo jedermann kühler und vernünftiger sein wird. In der Zwischenzeit haben wir uns um ein paar verletzte und verschreckte Kinder zu kümmern.«

Bannerji verstummte, obwohl er innerlich kochte ob der ihm angetanen Ungerechtigkeit. Van Atta knurrte zustimmend und begnügte sich mit einem düsteren Blick auf Bannerji, der nichts Gutes für die zukünftige Karriere des Wachmannes verhieß. Die beiden Sanitäter klappten die Räder von Tonys Trage herunter und begannen ihn den Korridor hinab zu ihrem wartenden Wagen zu rollen. Ciaire streckte eine ihrer Hände nach ihm aus und ließ sie dann ohne Hoffnung fallen.

Die Geste lenkte Van Attas Aufmerksamkeit auf sie. Voll von unterdrückter Wut entdeckte er ein Opfer, auf das er sie endlich entladen konnte. Er wandte sich Ciaire zu. »Du…!«

Sie zuckte zusammen und machte sich noch kleiner.

»Hast du eine Ahnung, was diese eure Eskapade das Cay-Projekt kosten wird, alles in allem? Von all den unverantwortlichen… — hast du Tony auf diese Idee gebracht?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen weiteten sich.

»Natürlich warst du es, ist es nicht immer so? Der Mann streckt seinen Kopf hinaus, das Weib sorgt dafür, daß er abgeschlagen wird…«

»O nein…« »Und das Timing — hast du absichtlich versucht, mich fertigzumachen? Wie hast du das mit dem Besuch der Vizepräsidentin herausbekommen — hast du gedacht, ich würde euer Abhauen vertuschen, bloß weil sie hier ist? Schlau, schlau — aber nicht schlau genug…«

In Leos Kopf, Augen und Ohren pulste das Blut. »Machen Sie mal Pause, Bruce. Sie hat schon genug abbekommen.«

»Das kleine Miststück ist schuld, daß Ihr bester Schüler beinahe umgebracht wurde, und Sie wollen sich für sie einsetzen? Können Sie zurück auf den Teppich, Leo.«

»Sie ist schon völlig durcheinander vor Angst. Hören Sie endlich auf!« »Sie hat auch allen Grund dazu. Wenn ich sie zum Habitat zurückgebracht habe…« Van Atta schritt an Leo vorbei, packte Ciaire an einem der oberen Arme und riß sie brutal hoch. Sie schrie auf und ließ Andy beinahe fallen. Van Atta nahm keine Rücksicht darauf. »Du wolltest nach unten auf den Planeten kommen, jetzt kannst du mal versuchen zu laufen, verdammt noch mal — los, zurück zum Shuttle!«

Später konnte sich Leo nicht mehr daran erinnern, ob er vor Van Atta gerannt war oder ihn herumgerissen hatte, um ihm ins Gesicht zu schauen; er hatte nur noch Van Attas überraschten Gesichtsausdruck und den offenstehenden Mund in Erinnerung. »Bruce«, schrie er durch einen roten Nebel hindurch, »Sie ekelhafter Schleimscheißer, hören Sie endlich auf!«

Der Aufwärtshaken gegen Van Attas Kinn, der diesen Befehl unterstrich, war überraschend wirkungsvoll, wenn man in Betracht zog, daß Leo jetzt zum erstenmal in seinem Leben einen Mann im Zorn geschlagen hatte. Van Atta fiel nach hinten auf den Beton.

Leo stürzte sich in einer Art verrückten Freude auf ihn. Jetzt würde er Van Attas Anatomie in einer Weise verdrehen, von der nicht einmal Dr. Cay je geträumt hatte… »He, Mr. Graf«, begann der Wachmann und berührte ihn unsicher an der Schulter. »Ist schon in Ordnung, ich habe schon seit Wochen darauf gewartet«, beruhigte ihn Leo und griff nach Van Attas Kragen.

»Darum geht es nicht, Sir…«

Eine kalte, unbekannte Stimme unterbrach ihn. »Faszinierende Managementtechnik. Ich muß mir Notizen machen.«

Vizepräsidentin Apmad, flankiert von ihrem fliegenden Gefolge an Wirtschaftsprüfern und Assistenten, stand hinter Leo in Gang 29.

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