KAPITEL 4

Der ganze dunkle Frachtraum schien um Ciaire herum zu stöhnen, als die Verzögerung an seiner Konstruktion zerrte. Eine Flatterschwingung vibrierte durch die metallene Haut des Shuttles, begleitet von einem zischenden Pfeifen.

»Was ist los?«, keuchte Ciaire. Sie ließ eine Hand los, mit der sie sich an der Plastikkiste festgehalten hatte, hinter der sie versteckt lagen, und faßte Andy fester und hielt ihn näher an sich. »Haben wir etwas gestreift? Was ist das für ein komisches Geräusch?«

Tony befeuchtete schnell einen Finger und hielt ihn hoch. »Kein nennenswerter Luftzug.« Er schluckte, um seine Ohrtrompeten zu testen. »Wir verlieren keinen Druck.« Das Pfeifen nahm jedoch zu. Es gab ein mechanisches Geklirr wie ka-tschank, zweimal hintereinander. Ein Schrecken durchzuckte Ciaire, denn es klang ganz und gar nicht wie das vertraute bums und klick, wenn ein Lukenverschluß einrastete. Die Abbremsung hielt weiter an, viel zu lange, dazu kam ein seltsamer neuer Schubvektor, der von der Bauchseite des Shuttles auszugehen schien. Die Seitenwand des Frachtraums, an der die Kisten verankert waren, schien gegen Ciaire zu drücken. Sie wandte ihr nervös den Rücken zu und bettete Andy auf ihrem Bauch.

Das Baby machte runde Augen und formte mit dem Mund ein O der Verwirrung. Nein, bitte, fang nicht an zu heulen. Sie wagte es nicht, den Schrei loszulassen, der in ihrer eigenen Kehle steckte, denn dann würde Andy losheulen wie eine Sirene. »Backe backe Kuchen«, würgte Ciaire hervor, »die Mikrowelle hat gerufen…« Sie kitzelte Andys Wange und warf Tony einen Blick zu, der einen stummen Hilferuf enthielt. Tonys Gesicht war käseweiß. »Ciaire — ich glaube, dieses Shuttle ist zum Planeten unterwegs! Dieser Krach — da haben sie bestimmt die Tragflächen ausgefahren.« »O nein! Das kann nicht sein. Silver hat den Flugplan überprüft…«

»Es sieht aus, als wäre Silver ein großer Fehler unterlaufen.«

»Ich habe es auch überprüft. Dieses Shuttle sollte auf der Transferstation eine Ladung aufnehmen und dann erst zum Planeten fliegen.«

»Dann ist euch beiden ein großer Fehler unterlaufen.« Tonys Stimme klang scharf und bebte zugleich, Ärger überdeckte die Furcht.

Oh, bitte, schrei mich nicht an — wenn ich nicht ruhig bleibe, dann bleibt Andy es auch nichtdas Ganze war ja nicht meine Idee…

Tony rollte sich auf den Bauch und stemmte seinen Körper weg von der stoßenden Oberfläche des… des Bodens, wie die Planetarier die Richtung nannten, aus der der Vektor der Gravitationskraft kam, kroch zum nächsten Fenster und zog sich daran hoch. Das Licht, das durch das Fenster drang, wurde seltsam diffus und nahm ab. »Alles ist weiß — Ciaire, ich glaube, wir tauchen in eine Wolke ein!« Ciaire hatte aus dem Orbit stundenlang Wolken von oben beobachtet, wie sie langsam in den Luftmassen von Rodeos Atmosphäre wogten. Immer waren sie ihr so massiv wie Monde erschienen. Sie hätte sie jetzt gern gesehen.

Andy klammerte sich an ihr blaues T-Shirt. Sie rollte sich auf die andere Seite, wie Tony es getan hatte, mit den Handflächen zum Boden, und stieß sich hoch. Andy drehte den Kopf seinem Vater zu, griff nach ihm mit den oberen Händen und versuchte sich mit den unteren von Ciaire abzustoßen. Der Boden sprang hoch und gab ihm einen Klaps.

Einen Augenblick lang war er zu verdutzt, um zu schreien. Dann öffnete er seinen kleinen Mund und stieß ein vibrierendes Kreischen hervor, das nach echtem Schmerz klang. Der Laut drang wie ein Messer in Claires Leib.

Auch Tony zuckte bei dem Geräusch zusammen und kletterte vom Fenster herab, zu ihnen zurück. »Warum hast du ihn fallenlassen? Was hast du dir dabei gedacht? Oh, mach bloß, daß er still ist, schnell!« Ciaire rollte wieder auf den Rücken, zog Andy auf ihren elastischen und weichen Unterleib und tätschelte und küßte ihn verzweifelt. Der Klang seines Geschreis wandelte sich vom erschreckend schrillen Schmerzensschrei zu einem weniger durchdringenden unwilligen Gebrüll, aber die Lautstärke blieb die gleiche.

»Sie werden ihn bis in die Pilotenkabine hören!«, zischte Tony gequält. »Mach etwas!«

»Ich versuche es ja«, zischte Ciaire zurück. Ihre Hände zitterten. Sie versuchte, Andys Kopf zu ihrer Brust zu schieben, zur üblichen Quelle des Trostes, aber er drehte seinen Kopf weg und schrie noch lauter. Glücklicherweise war das Geräusch der Atmosphäre, die an der Außenhaut des Shuttles vorbeistrich, zu einem betäubenden Donnern angeschwollen. Als dann der Lärm seinen Höhepunkt erreicht hatte und wieder nachließ, war aus Andys Schreien ein wimmernder Schluckauf geworden. Er rieb sein Gesicht, das von Tränen und Schleim verschmiert war, traurig an Claires T-Shirt. Sein Gewicht auf ihrem Bauch und Zwerchfell preßte Ciaire halb den Atem ab, aber sie wagte es nicht, Andy niederzulegen.

Eine weitere Folge von Schlägen dröhnte durch das Shuttle. Die Vibrationen der Triebwerke veränderten ihre Tonhöhe, und Ciaire wurde von wechselnden Beschleunigungsvektoren hin- und hergezerrt, doch keiner von ihnen war so stark wie derjenige, der aus dem Boden kam. Sie löste zwei Hände von Andy und klammerte sich an die Plastikkisten.

Tony lag daneben und biß sich in hilfloser Angst auf die Lippen. »Wir kommen offensichtlich herunter und landen auf der Oberfläche des Planeten.«

Ciaire nickte. »Auf einem der Shuttlehäfen. Da werden Leute sein — Planetarier —, vielleicht können wir ihnen sagen, daß wir aus Versehen an Bord dieses Shuttles eingeschlossen wurden. Vielleicht«, fügte sie hoffnungsvoll hinzu, »schicken sie uns direkt zurück nach Hause.«

Tonys rechte obere Hand ballte sich zur Faust. »Nein! Wir können jetzt nicht aufgeben! Wir würden nie eine neue Chance bekommen!«

»Aber was können wir sonst tun?«

»Wir schleichen uns vom Schiff und verstecken uns, bis wir auf ein anderes Shuttle kommen können, das zur Transferstation fliegt.« Seine Stimme wurde ernst und drängend, während Ciaire verzweifelt seufzte. »Wir haben es einmal geschafft, wir können es wieder schaffen.«

Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. Ein weiterer Streit wurde durch eine verwirrende Folge von dumpfen Stößen verhindert, die das ganze Schiff schüttelten und dann in ein leises ständiges Rumpeln übergingen. Der Lichtstrahl, der durch das Fenster fiel, wanderte im Frachtraum umher, während das Shuttle landete, ausrollte und wendete. Dann erlosch er, der Frachtraum wurde dunkel, das Jaulen der Triebwerke erstarb zu einem ebenso verwirrenden Schweigen. Ciaire löste sich vorsichtig von den Kisten. Von allen Beschleunigungsvektoren blieb nur einer übrig. Für sich allein wurde er überwältigend.

Schwerkraft. Stumm, unnachgiebig drückte sie gegen Claires Rücken — Ciaire kämpfte mit der unangenehmen Illusion, die Gravitation könnte plötzlich aufhören und der dadurch ausgelöste Schub würde sie gegen die Decke schleudern, so daß Andy dazwischen zerquetscht würde. In einer gleichzeitigen optischen Illusion schien sich der ganze Frachtraum langsam im Kreis um sie zu drehen. Zu ihrer eigenen Verteidigung schloß sie die Augen. Tonys Hand faßte sie warnend an ihrem linken unteren Handgelenk. Sie blickte auf und erstarrte: die äußere Tür des Frachtraums am anderen Ende des Abteils glitt zur Seite.

Zwei Planetarier in Overalls des Galac-Tech-Wartungsdienstes kamen herein. Die Zugangstür in der Mitte des Shuttlerumpfes öffnete sich, und Ti, der Shuttlepilot, steckte seinen Kopf durch.

»Hallo, Jungs. Warum so schrecklich eilig?«

»Wir sollen diesen Vogel in einer Stunde umdrehen und wieder beladen, darum geht’s«, erwiderte der Wartungstechniker. »Du hast gerade Zeit zum Pinkeln und zum Essen.«

»Was wird geladen? Seit dem letzten medizinischen Notfall habe nicht mehr soviel Herumgehüpfe gesehen.«

»Geräte und Versorgungsmaterial für eine Art Show, die auf eurem Habitat für die Vizepräsidentin des operativen Bereichs stattfinden soll.«

»Das ist doch erst nächste Woche.«

Der Wartungstechniker kicherte. »Das dachten alle. Aber die Vizepräsidentin ist gerade eine Woche früher angekommen, in ihrem persönlichen Kurierschiff, mit einem ganzen Kommando von Buchhaltern und Wirtschaftsprüfern. Anscheinend liebt sie überraschende Inspektionen. Das Management ist natürlich vor Freude ganz aus dem Häuschen.« »Lacht nicht zu früh«, warnte Ti. »Das Management hat Methoden, seine Freuden mit uns übrigen zu teilen.«

»Als ob ich das nicht wüßte«, stöhnte der Wartungstechniker. »Los, los, du blockierst die Tür…« Die drei gingen weiter ins Shuttle hinein.

»Jetzt«, flüsterte Tony, mit einem Nicken in Richtung auf die offene Tür des Frachtraums.

Ciaire rollte zur Seite und legte Andy sanft auf das Deck. Er verzog sein Gesicht und setzte zum Weinen an. Ciaire rollte sich schnell auf ihre Handflächen und testete ihre Balance. Ihren rechten unteren Arm schien sie am leichtesten freimachen zu können. Sie nahm Andy einhändig wieder auf und hielt ihn unter ihrem Rumpf. Von der schrecklichen Schwerkraft an die dem Planeten zugewandte Seite des Frachtraums gepreßt, begann sie auf drei Händen zur Tür zu kriechen. Andys Gewicht hing in ihrem Arm, als zöge ihn eine starke Feder zum Boden, und sein Kopf ruckte in einem beängstigenden Winkel nach hinten. Ciaire schob ihre Hand unter seinen Kopf, um ihn zu stützen, doch für ihren Arm war das sehr beschwerlich.

Neben ihr hatte sich Tony auch auf drei Händen erhoben. Mit seiner freien Hand zog er an der Schnur ihrer Provianttasche. Die Tasche schien am Boden festgesaugt zu sein und tat keinen Ruck.

»Mist«, fluchte Tony leise. Er krabbelte über die Tasche, packte sie und hob sie hoch, aber sie war zu sperrig, als daß er sie hätte unter seinem Bauch tragen können. »Mist! Mist! Mist!«

»Können wir noch aufgeben?«, fragte Ciaire ganz leise, aber sie wußte schon die Antwort.

»Nein!« Er packte die Tasche von hinten über beide Schultern mit seinen oberen Händen und ruckte heftig nach vorne. Sie kam in die Höhe und balancierte unsicher auf seinem Rücken. Er ließ seine linke obere Hand auf der Tasche, um sie zu halten, und hüpfte auf seiner rechten voran, während seine unteren Händen unter seinen Hüften dahinschlurften. »Ich habe sie, los, los!«

Das Shuttle war in einem höhlenartigen Hangar geparkt, einem weiten halbdunklen Raum, der mit Eisenträgern überdacht war. Die Träger hinter der Deckenbeleuchtung hätten ein ausgezeichnetes Versteck abgegeben, wenn man nur zu ihnen hätte hinaufsausen können. Aber alles, was nicht befestigt war, war dazu verurteilt, zu einer einzigen Seite des Raumes zu fliegen und dort zu haften, bis es gewaltsam entfernt wurde. Es herrschte eine einseitige Anziehungskraft…

»Oh…« Ciaire zögerte. Von der Luke zum Boden des Hangars führte eine Art gewellter Rampe. Sie war sichtlich konstruiert, um den gefährlichen Kampf mit der allgegenwärtigen Schwerkraft in kleine, zu bewältigende Schritte zu zerlegen. »Eine Treppe.« Ciaire hielt an, mit dem Kopf nach unten. Ihr Blut schien sich verwirrend in ihrem Gesicht anzusammeln. Sie würgte.

»Bleib nicht stehen«, flehte Tony keuchend hinter ihr, dann würgte er selbst. »Uh… uh…« In einer momentanen Eingebung drehte sich Ciaire herum und begann rückwärts hinabzugehen, ihre freie untere Hand klatschte bei jedem Hüpfer auf die Metallstufen. Es war immer noch unbequem, aber zumindest möglich. Tony folgte ihr. »Wohin jetzt?«, keuchte Ciaire, als sie den Boden erreicht harten.

Tony deutete mit dem Kinn. »Versteck dich einstweilen in dem Durcheinander von Geräten da drüben. Wir dürfen uns nicht zu weit von den Shuttles entfernen.«

Sie hasteten auf der Unterseite des Hangars entlang. Claires Hände wurden schnell mit Öl und Schmutz verschmiert; es irritierte sie so heftig wie eine juckende Stelle, an der man sich nicht kratzen kann. Sie dachte, sie würde sogar ihr Leben dafür riskieren, die Hände waschen zu können. Während sie und Tony jetzt dahinkrochen, erinnerte Ciaire sich daran, wie sie Perlen von Kondensfeuchtigkeit beobachtet hatte, die aus Kapillaröffnungen an Oberflächen im Habitat austraten, bis sie sie mit ihrem Trockenlumpen abgewischt hatte. Als sie den Bereich erreichten, in dem einige schwere Gerätschaften abgestellt waren, rollte ein Lader in den Hangar und ein Dutzend Männer und Frauen in Overalls sprangen herab und begannen in wohlorganisiertem Durcheinander das Shuttle zu umschwärmen. Ciaire war froh über den Lärm, den die Leute machten, denn Andy gab immer noch ein gelegentliches Wimmern von sich. Ängstlich beobachtete sie durch die Metallarme der Geräte hindurch die Wartungsmannschaft. Wann war es zu spät, um aufzugeben?


Leo saß im halben Raumanzug im Geräteraum und blickte besorgt auf, als Pramod durch den Raum auf ihn zugesaust kam und elegant neben ihm anhielt.

»Hast du Tony gefunden?«, fragte Leo. »Als Vorarbeiter soll er bei dieser Vorführung der erste sein. Ich sollte eigentlich nur zuschauen.«

Pramod schüttelte den Kopf. »Er ist an keinem der gewohnten Orte, Sir.« Leo zischte leise; er war nahe daran zu fluchen. »Er hätte inzwischen auf seinen Aufruf antworten sollen…« Er schwebte zum Plexifenster.

Draußen im Vakuum setzte ein kleines Schubschiff gerade den letzten Teil der Außenhülle der neuen Hydrokulturabteilung in der sorgfältig arrangierten Konstellation ab. Sie sollte vor den Augen der Vizepräsidentin von den Quaddies zusammengebaut werden. Leo hatte eine schwache Hoffnung gehegt, daß Pannen und Verzögerungen in anderen Abteilungen die seiner eigenen ausgleichen würden. Aber jetzt war es Zeit für das Debüt seiner Schweißermannschaft.

»In Ordnung, Pramod, zieh dich an. Du übernimmst Tonys Stellung, und Bobbi von Kolonne B übernimmt deine.« Leo machte schnell weiter, bevor die Überraschung in Pramods Augen sich in Lampenfieber verwandeln konnte. »Du hast alles dutzendmal geübt. Und wenn du die geringsten Zweifel über die Qualität oder Sicherheit einer Prozedur hast, dann bin ich sofort da. Die Wirklichkeit spielt die erste Rolle — ihr werdet in der Konstruktion, die ihr heute baut, noch lange zu leben haben, wenn Vizepräsidentin Apmad und ihr Reisezirkus schon längst wieder weg sind. Ich garantiere euch, sie wird mehr Respekt vor einer Arbeit haben, die zwar langsam, aber richtig gemacht wird, als vor einem schlampigen Schwindel.«

Um Himmels willen, machen Sie, daß es reibungslos aussieht, hatte Van Atta Leo zuvor gedrängt. Halten Sie sich an den Zeitplan, egal, was geschieht — wir werden die Probleme später bereinigen, wenn sie wieder weg ist. Wir sollten dafür sorgen, daß diese Schimpansen kosteneffektiv erscheinen.

»Du mußt nicht versuchen, als jemand anderer zu erscheinen als der, der du bist«, sagte Leo zu Pramod. »Du bist effizient — und du bist gut. Euch alle zu unterrichten ist eine der großen, unerwarteten Freuden meiner Laufbahn gewesen. Los jetzt, ich hole euch in Kürze ein.«

Pramod sauste davon, um Bobbi zu suchen. Leo runzelte kurz die Stirn über das, was er gerade gesagt hatte, dann schwebte er zum Komkonsolenterminal am anderen Ende des Umkleideraums.

Er tippte seine Identitätsnummer ein. »Suchruf«, befahl er, »an Dr. Sondra Yei.« Im gleichen Moment begann in einer Ecke des Vids ein Nachrichtenquadrat mit seinem Namen und einer Nummer zu blinken. Er stornierte seine Anweisung, tippte die Nummer ein und hob überrascht die Augenbrauen, als Dr. Yeis Gesicht auf seinem Vid erschien. »Sondra! Ich wollte Sie gerade anrufen. Wissen Sie, wo Ciaire ist?«

»Wie seltsam. Ich wollte anrufen, um Sie zu fragen, wo ich Tony erreichen kann.«

»So?«, sagte Leo, und seine Stimme klang plötzlich ganz neutral. »Warum?«

»Weil ich sie nirgendwo finden kann, und ich dachte, Tony wüßte vielleicht, wo sie ist. Sie soll nach dem Lunch Vizepräsidentin Apmad Techniken der Kinderpflege in der Schwerelosigkeit demonstrieren.«

»Wissen Sie«, Leo schluckte, »ob Andy in der Krippe oder bei Ciaire ist?«

»Natürlich bei Ciaire.«

»Aha.«

»Leo…« Dr. Yeis Blick wurde scharf, und sie schürzte die Lippen. »Wissen Sie etwas, das ich nicht weiß?«

»Ach…« Er blickte sie an. »Ich weiß, daß Tony in der letzten Woche bei der Arbeit ungewöhnlich unaufmerksam war. Ich würde vielleicht sogar sagen — deprimiert, außer, daß das ja eigentlich in Ihre Abteilung gehört, oder? Er war auf jeden Fall nicht so fröhlich wie sonst.« In Leos Unterleib bildete sich ein Klumpen Unbehagen und gab seinen Worten eine ungewohnte Schärfe. »Machen Sie sich irgendwelche Sorgen, gute Frau, die Sie mir verschwiegen haben?«

Sie preßte die Lippen aufeinander, ignorierte jedoch den Köder. »Sie wissen ja, daß in allen Abteilungen die Zeitpläne beschleunigt wurden. Ciaire hat ihren neuen Fortpflanzungsauftrag bekommen. Tony war darin nicht vorgesehen.«

»Fortpflanzungsauftrag? Sie meinen, ein Baby zu bekommen?« Leo spürte, wie sein Gesicht sich rötete. Irgendwo in seinem Innern begann sich ein lang zurückgehaltener Druck aufzubauen. »Verbergen Sie mit diesen doppelsinnigen Worten auch vor sich selbst, was Sie da wirklich machen? Und ich hatte gedacht, die Propaganda wäre nur für uns Fußvolk da.« Yei begann zu sprechen, doch Leo fiel ihr ins Wort und es brach aus ihm hervor: »Du lieber Himmel! Sind Sie schon von Geburt an so inhuman, oder sind Sie erst nach und nach so geworden — durch Ihr Studium und Ihre akademischen Grade…«

Yeis Gesicht verdüsterte sich und sie ging zu einem schneidigen Tonfall über. »Ein Ingenieur mit einem romantischen Gemüt, wie? Jetzt verstehe ich alles. Lassen Sie sich nicht von Ihren Phantasien davontragen, Mr. Graf. Tony und Ciaire wurden einander von Anfang an nach genau demselben System zugewiesen, und wenn gewisse Leute bereit gewesen wären, sich an meinen ursprünglichen Zeitplan zu halten, dann hätte man dieses Problem vermeiden können. Ich kann wirklich nicht begreifen, wieso man eine Expertin bezahlt und dann unbekümmert ihren Rat ignoriert. Ingenieure…!«

Ach, zum Teufel, sie leidet genauso schlimm unter Van Atta wie ich, erkannte Leo. Diese Einsicht dämpfte seine Wucht, verringerte aber seinen inneren Druck nicht.

»… Ich habe das Cay-Projekt nicht erfunden, und wenn ich es leiten würde, dann ganz anders, aber ich muß die mir zugewiesene Rolle spielen, Mr. Graf. Verdammt…« Sie zwang sich zur Beherrschung, und man konnte geradezu sehen, wie sie das Gespräch auf das ursprüngliche Gleis zurückzwang. »Ich muß sie bald finden, oder es bleibt mir nichts anderes übrig, als Van Atta zu veranlassen, die Vorführungen von hinten zu beginnen. Leo, es ist absolut wesentlich, daß Vizepräsidentin Apmad zuerst die Krippe zu sehen bekommt, bevor sie Zeit hat, irgendwelche… — haben Sie eine Ahnung, wo diese Kinder überhaupt sein können?«

Leo schüttelte den Kopf, ein plötzliche Eingebung strafte diese aufrichtige Geste Lügen, bevor er sie noch vollendet hatte. »Aber rufen Sie mich an, falls Sie sie eher finden als ich?«, bat er, und sein demütiger Ton signalisierte dabei die Bereitschaft zu einem Waffenstillstand.

Yeis Strenge lockerte sich ein bißchen. »Ja, gewiß.« Sie zuckte entschuldigend die Achseln und legte auf.

Leo schwang sich in den Umkleideraum zurück, schälte sich aus seinem Arbeitsanzug, zog einen Overall an und eilte davon, um seiner Eingebung zu folgen, bevor Dr. Yei ihrerseits darauf käme. Er war sich sicher, daß sie daraufkommen würde, und zwar bald.

Silver sah auf dem Arbeitsplan auf ihrem Vid-Display nach. Glockenpaprika. Sie schwebte durch den Hydrokulturraum zum Samenschrank, fand die korrekt beschriftete Schublade und holte ein schon vorher abgezähltes Papiertütchen heraus. Sie schüttelte das Tütchen geistesabwesend, und die getrockneten Samen raschelten zufriedenstellend.

Sie nahm eine Keimbox aus Plastik, riß das Tütchen auf und füllte die kleinen bleichen Samen vorsichtig in den Behälter um, wo sie fröhlich herumhüpften. Dann zum Hydrationshahn. Sie schob den Wasserschlauch durch den ringförmigen Gummiverschluß an der Seite der Keimbox, ließ einen abgemessenen Spritzer hinein und schüttelte die Box extra noch einmal, um die schimmernde flüssige Kugel, die sich bildete, zu zerteilen. Sie schob die Keimbox in das entsprechende Fach im Brüter und stellte die optimale Temperatur ein für Paprika, glockenförmig; hybrider, phototroper, nicht-gravitationaler, axial sich differenzierender Klon 297-X-P, und seufzte.

Das Licht aus den mit Filtern versehenen Fenstern zog immer wieder ihre Aufmerksamkeit an. Zum vierten- oder fünftenmal in dieser Schicht unterbrach sie ihre Arbeit, schlängelte sich zwischen den Pflanzrohren hindurch und starrte auf den Teil von Rodeo, den sie aus diesem Blickwinkel sehen konnte. Irgendwo dort unten, auf dem Boden dieses Brunnenschachts aus Luft, krochen Ciaire und Tony jetzt herum — wenn sie nicht schon aufgegeben hatten — oder sich erfolgreich zu einem anderen Shuttle durchgeschlagen hatten — oder sich einer schrecklichen Katastrophe gegenübersahen… Silvers Phantasie gaukelte ihr ungebeten eine Auswahl möglicher Katastrophen vor.

Sie versuchte sie beiseitezuschieben, indem sie sich intensiv vorstellte, wie Tony und Ciaire und Andy erfolgreich an Bord eines Shuttles schlichen, das zur Transferstation unterwegs war, aber dieses Bild wich einer Szene, in der Ciaire versuchte, einen Abstand zum Lukeneingang des Shuttles zu überspringen (was für einen Abstand? von wo aus, um Himmels willen?), dabei vergaß, daß alle geraden Strecken durch die Schwerkraft zu Parabeln gekrümmt wurden, und ihr Ziel verfehlte. Silver dachte an die eigenartige Art und Weise, wie sich Objekte in dichten Gravitationsfeldern bewegten. Der Schrei, der beim Aufklatschen unten auf dem Beton erstickte — nein, sicher würde Ciaire Andy halten — beim doppelten Aufklatschen unten auf dem Beton… Silver massierte die Stirn mit den Ballen ihrer oberen Hände, als könnte sie die grausige Vision körperlich aus ihrem Gehirn wegdrücken. Ciaire hatte dieselben Vids über das Leben auf dem Planeten gesehen wie sie, sicher würde sie sich daran erinnern.

Das Zischen der luftdichten Türen holte Silver in die Realität zurück. Sie sollte lieber beschäftigt aussehen — was hatte sie jetzt als nächstes zu tun? Ach ja, benutzte Pflanzröhren reinigen, als Vorbereitung für die Unterbringung in dem neuen Raum, der eben angebaut wurde, um ihrer aller Fähigkeiten der Vizepräsidentin zu demonstrieren. Zum Teufel mit der Vizepräsidentin! Wenn sie nicht wäre, dann hätte es eine Chance gegeben, daß Tony und Ciaire vielleicht zwei oder sogar drei Schichten nicht vermißt wurden… Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie sah, wer den Hydrokulturraum betreten hatte. Ausgerechnet jetzt.

Für gewöhnlich wäre Silver froh gewesen, Leo zu sehen. Er schien ein großer, anständiger Mann zu sein — nein, nicht groß, aber irgendwie solide, erfüllt von einer prosaischen Ruhe, die sich sogar in seinen Geruch zu mischen schien, der Silver an planetarische Materialien erinnerte, mit denen sie schon zu tun gehabt hatte: Holz und Leder und bestimmte getrocknete Kräuter. Angesichts seines zögernden Lächelns lösten sich gespenstische Szenen wie Nebel auf. Vielleicht wäre sie doch froh, mit Leo zu sprechen…

Aber diesmal lächelte er nicht. »Silver…? Bist du hier?«

Einen Augenblick lang dachte Silver daran, sich zwischen den Pflanzrohren zu verstecken, aber die Blätter raschelten, als sie sich umdrehte, und verrieten, wo sie sich aufhielt. Sie lugte über die Blätter. »Ach… hallo, Leo.«

»Hast du in letzter Zeit Tony oder Ciaire gesehen?« Leo war immer direkt. Nenn mich Leo, hatte er zu ihr gesagt, als sie ihn beim erstenmal mit ›Mr. Graf‹ angeredet hatte, es ist kürzer. Er schwebte zu den Pflanzrohren herüber; sie schauten einander über eine Barriere aus Buschbohnen an.

»Ich habe außer meiner Vorgesetzten niemanden während der ganzen Schicht gesehen«, sagte Silver und war momentan erleichtert, daß sie eine vollkommen ehrliche Antwort geben konnte.

»Wann hast du einen von den beiden zum letztenmal gesehen?« »Oh — in der letzten Schicht, nehme ich an.« Silver warf unbekümmert den Kopf zurück.

»Wo?«

»Ach… irgendwo.« Sie kicherte albern. Mr. Van Atta hätte jetzt angewidert die Hände hochgeworfen und es aufgegeben, aus einem so einfältigen Kopf wie dem ihren noch mehr herauszuholen.

Leo runzelte nachdenklich die Stirn. »Weißt du, ein Teil eures Charmes beruht darauf, mit welcher buchstäblichen Genauigkeit ihr jede Frage beantwortet.« Nach diesem Kommentar schwieg er erwartungsvoll. Mit halluzinatorischer Klarheit blitzte vor Silvers geistigem Auge das Bild auf, wie Tony, Ciaire und Andy über die Ladebucht zum Shuttle huschten. Sie suchte in ihrem Gedächtnis nach dem vorausgegangenen Treffen, wo sie die endgültigen Pläne festgelegt hatten, und wollte es als Halbwahrheit anbieten. »Wir haben in der letzten Schicht das Mittschichtsessen gemeinsam in der Verpflegungsstation Sieben eingenommen.«

Leos Lippen zuckten. »Ich verstehe.« Er legte den Kopf schräg und musterte sie, als wäre sie ein kniffliges Problem, wie zum Beispiel zwei metallurgisch inkompatible Oberflächen, von denen er herausfinden mußte, wie er sie miteinander verbinden konnte. »Weißt du, ich habe gerade von Claires neuem… hm… Fortpflanzungsauftrag erfahren. Ich hatte überlegt, was Tony in den letzten Wochen so beschäftigte. Das hat ihn ziemlich zermürbt, oder? Ziemlich… beunruhigt.«

»Sie hatten Pläne geschmiedet«, begann Silver, fing sich dann und zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich wäre froh, wenn ich einen Fortpflanzungsauftrag bekäme. Manchen Leuten kann man es nicht rechtmachen.«

Leos Gesicht wurde streng. »Silver — wie beunruhigt waren denn die beiden? Kinder halten oft ein Problem irrtümlich für das Ende der Welt, sie haben keinen Sinn für die Fülle der Zeit. Das macht sie nervös. Glaubst du, sie wären aufgeregt genug gewesen, um etwas… Verzweifeltes anzustellen?« »Etwas Verzweifeltes?« Silver lächelte selbst ziemlich verzweifelt.

»Wie einen Selbstmordpakt oder so etwas?«

»O nein!«, sagte Silver geschockt. »Oh, so etwas würden sie nie machen.«

Blitzte einen Moment lang Erleichterung in Leos braunen Augen auf? Nein, mit zunehmender Besorgnis gruben sich Falten in sein Gesicht.

»Ich hatte gerade befürchtet, daß sie so etwas getan hätten. Tony ist nicht zu seiner Schicht erschienen, und das hat es noch nie gegeben; Andy ist auch verschwunden. Man kann sie alle drei nirgends finden. Wenn sie so verzweifelt waren — sich in der Falle sitzend vorkamen —, was könnte leichter sein, als durch eine Luftschleuse hinauszuschlüpfen? Ein Augenblick Kälte, einen Moment Schmerz, und dann — für immer entkommen.« Er verschränkte ernst sein einziges Paar Hände. »Und es ist alles meine Schuld. Ich hätte aufmerksamer sein sollen — etwas sagen sollen…« Er hielt inne und blickte sie hoffnungsvoll an.

»O nein, so etwas war es nicht!«, beeilte sich Silver erschrocken ihm auszureden. »Wie schrecklich, daß Sie an so etwas denken. Hören Sie…« Sie blickte sich im Hydrokulturraum um und dämpfte die Stimme. »Hören Sie, ich sollte Ihnen das eigentlich nicht sagen, aber ich kann nicht zulassen, daß Sie herumgehen und diese — diese fürchterlichen Dinge denken.« Jetzt war seine ganze Aufmerksamkeit auf sie gerichtet, ernst und gespannt. Wieviel konnte sie wagen, ihm zu sagen? Eine passend zurechtfrisierte Geschichte, die ihn beruhigte… »Tony und Ciaire…« »Silver!«, erklang Dr. Yeis Stimme, während sich die luftdichten Türen öffneten. Als Echo brüllte Van Atta: »Silver, was weißt du von all dem?«

»Oh, Mist«, knurrte Leo leise. Er ballte frustriert die Fäuste.

Silver wich zurück. Jetzt verstand sie und war ungehalten. »Sie…!« Und doch mußte sie fast lachen: Leo, so raffiniert und trickreich? Sie hatte ihn unterschätzt. Trugen sie denn beide Masken vor der übrigen Welt? Wenn es sich so verhielt, welche unbekannten Territorien verbarg dann sein höfliches Gesicht?

»Bitte, Silver, bevor die hierherkommen — ich kann dir nicht helfen, wenn…«

Es war zu spät. Van Atta und Yei stolperten in den Raum.

»Silver, weißt du, wohin Tony und Ciaire gegangen sind?«, wollte Dr. Yei atemlos wissen. Leo zog sich in reserviertes Schweigen zurück und schien sich für die feine Struktur der weißen Bohnenblüten zu interessieren. »Natürlich weiß sie es«, versetzte Van Atta, bevor Silver antworten konnte. »Diese Mädchen stecken alle unter einer Decke, das kann ich Ihnen sagen…«

»Oh, ich weiß«, murmelte Yei.

Van Atta wandte sich streng an Silver. »Spuck es aus, Silver, wenn du weißt, was für dich gut ist.«

Silver preßte ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und hob das Kinn. Dr. Yei rollte hinter dem Rücken ihres Vorgesetzten die Augen. »Nun, Silver«, begann sie besänftigend, »das ist nicht die richtige Zeit für Mätzchen. Wenn Tony und Ciaire, wie wir vermuten, versucht haben, das Habitat zu verlassen, dann sind sie jetzt vielleicht in sehr ernsten Schwierigkeiten, vielleicht sogar in Lebensgefahr. Es freut mich, daß du meinst, du solltest gegenüber deinen Freunden loyal sein, aber ich bitte dich, mach daraus eine verantwortliche Loyalität — Freunde lassen nicht zu, daß Freunde verletzt werden.«

In Silvers Augen war Zweifel zu lesen; sie öffnete den Mund und holte Atem, um zu sprechen. »Verdammt«, schrie Van Atta. »Ich habe keine Zeit, hier herumzustehen und mit dieser kleinen Fotze Süßholz zu raspeln. Das schlangenäugige Mistweib von Vizepräsidentin wartet jetzt da oben in diesem Augenblick darauf, daß die Show weitergeht. Sie fängt an, Fragen zu stellen, und wenn sie nicht schleunigst Antworten bekommt, dann wird sie selbst nach ihnen suchen. Die greift hart durch. Von allen möglichen Zeitpunkten für diesen Ausbruch von Idiotie war dies ganz bestimmt der allerunpassendste. Da muß Absicht dahinterstecken. Eine solche Sauerei kann kein Zufall sein.«

Sein wütendes rotes Gesicht wirkte wie üblich auf Silver: ihr Unterleib zitterte, Tränen traten ihr in die Augen. Einst hatte sie gedacht, sie würde ihm alles geben, alles für ihn tun, wenn er sich nur beruhigte und wieder lächelte und scherzte. Aber diesmal nicht. Die ehrfürchtige Schwärmerei, die sie anfangs für ihn empfunden hatte, war von ihr gewichen, Stück um Stück, und mit Staunen stellte sie jetzt fest, wie wenig davon übriggeblieben war. Eine leere Muschelschale konnte fest und stark sein… »Sie«, flüsterte sie, »können mich gar nicht zwingen, etwas zu sagen.«

»Genau wie ich gedacht hatte«, knurrte Van Atta. »Wo ist Ihre totale Sozialisation jetzt, Dr. Yei?«

»Wenn Sie es freundlicherweise unterlassen würden«, stieß Dr. Yei zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »meine Untergebenen antisoziales Verhalten zu lehren, dann brauchten wir uns nicht mit dessen Folgen befassen.«

»Ich weiß nicht, worüber Sie jammern. Ich bin ein leitender Angestellter. Es ist meine Aufgabe, streng zu sein. Deshalb hat Galac-Tech mir die Leitung dieser orbitalen Geldschluckanlage übertragen. Für Verhaltenssteuerung ist Ihre Abteilung verantwortlich, Yei, zumindest haben Sie das behauptet. Also tun Sie Ihren Job.«

»Verhaltensformung«, korrigierte Dr. Yei frostig.

»Was ist, zum Teufel, der Nutzen davon, wenn das Verhalten in dem Augenblick zusammenbricht, wo es ernst wird? Ich möchte etwas haben, was die ganze Zeit funktioniert. Wenn Sie ein Ingenieur wären, dann würden Sie nicht an den Zuverlässigkeitsprüfungen vorbeikommen. Stimmt’s, Leo?«

Leo rupfte den Stengel eines Bohnenblattes ab und lächelte kühl. Seine Augen funkelten. Er mußte an seiner Antwort herumgekaut haben, jedenfalls schluckte er etwas hinunter.

Silver faßte einen einfachen Plan. So einfach, daß sie ihn gewiß ausführen würde. Sie brauchte lediglich nichts zu tun. Nichts tun, nichts sagen; schließlich mußte die Krise vorübergehen. Man konnte ihr körperlich nichts anhaben, letztlich war sie wertvolles Eigentum von Galac-Tech. Alles andere war bloßes Tamtam. Sie ließ sich in die Sicherheit des Dingseins versinken, und in eisernes Schweigen.

Das Schweigen wurde bedrückend. Sie erstickte fast daran.

»Also«, zischte Van Atta sie an, »so möchtest du es gern haben. Sehr schön. Deine Entscheidung.« Er wandte sich an Yei. »Haben Sie auf der Krankenstation etwas wie Schnell-Penta, Doktor?«

Yei kräuselte ihre Lippen. »Schnell-Penta ist nur für die Polizei legal, Mr. Van Atta.« »Braucht man nicht auch einen Gerichtsbeschluß, um es anzuwenden?«, fragte Leo und blickte dabei nicht von dem Bohnenblatt auf, das er zwischen seinen Fingern drehte.

»Bei Staatsbürgern, Leo. Die«, Van Atta zeigte auf Silver, »ist keine Staatsbürgerin. Wie steht’s, Doktor?«

»Um Ihre Frage zu beantworten, Mr. Van Atta, nein, unsere Krankenstation hat keine illegalen Drogen vorrätig!«

»Ich habe nicht von Schnell-Penta gesprochen. Ich habe gesagt, etwas wie Schnell-Penta«, sagte Van Atta gereizt. »Eine Art Anästhetikum oder so etwas, was man in einer Notlage einsetzt.«

»Befinden wir uns denn in einer Notlage?«, fragte Leo in einem sanften Ton und drehte dabei immer noch sein Blatt; es begann schon auszufransen. »Pramod springt für Tony ein, und sicher kann eines der anderen Mädchen mit einem Baby Claires Rolle übernehmen. Woher sollte die Vizepräsidentin den Unterschied wissen?«

»Wenn es damit endet, daß wir zwei unserer Arbeiter unten auf dem Planeten von der Straße wegkratzen müssen…«

Silver zuckte bei diesem Echo ihres eigenen grausigen Szenarios zusammen. »… oder sie hier oben irgendwo draußen entdecken, wie sie trockengefroren dahinschweben, dann wird es verdammt hart sein, das vor ihr zu verbergen. Sie sind der Frau noch nicht begegnet, Leo. Sie hat eine Nase für Probleme wie ein Wiesel.«

»Mm«, sagte Leo.

Van Atta wandte sich wieder Yei zu. »Wie steht’s, Doktor? Oder wollen Sie lieber warten, bis jemand uns anruft und fragt, was mit den Leichen geschehen soll?«

»IV Thalizin-5 ist ein bißchen wie Schnell-Penta«, murmelte Dr. Yei widerstrebend, »in bestimmten Dosierungen. Ihr wird jedoch einen Tag lang davon schlecht sein.«

»Das ist ihre Entscheidung.« Er drehte sich zu Silver um. »Deine letzte Chance, Silver. Ich habe es satt. Ich verabscheue Illoyalität. Wohin sind sie gegangen? Sag es mir, oder du bekommst jetzt gleich die Nadel.« Silver wurde endlich aus dem Dingsein zu einem schmerzhafteren, aktiveren menschlichen Mut angetrieben. »Wenn Sie mir das antun«, flüsterte sie mit verzweifelter Würde, »dann ist es aus zwischen uns.«

Van Atta kochte vor Empörung. »Aus zwischen uns? Du und deine kleinen Freunde verschwören sich, meine Karriere vor den hohen Tieren der Firma zu sabotieren, und du sagst mir, daß es zwischen uns aus ist? Du hast verdammt recht damit, daß es aus ist zwischen uns.«


»Galac-Tech-Sicherheitsdienst, Shuttlehafen Drei, Captain Bannerji am Apparat«, sagte George Bannerji an seiner Komkonsole sein Sprüchlein auf. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Sind Sie dort verantwortlich?«, begann der gutgekleidete Mann im Vid abrupt. Er kämpfte sichtlich mit starken Emotionen und atmete schnell. An seiner verkrampften Kinnbacke zuckte ein Muskel.

Bannerji nahm die Füße von seinem Schreibtisch und lehnte sich vor. »Jawohl, Sir.«

»Ich bin Bruce Van Atta, Chef des Projekts auf dem Habitat. Identifizieren Sie meine Stimme, oder was Sie sonst zur Prüfung machen.«

Bannerji setzte sich aufrecht hin und tippte den Prüfcode ein; einen Moment lang blinkte das Wort ›Freigegeben‹ über Van Attas Gesicht. Bannerji setzte sich noch aufrechter hin. »Jawohl, Sir, fahren Sie fort.«

Van Atta stockte, als suchte er nach Worten, dann sprach er langsam, obwohl sich hinter seinem angespannten Gesicht die Gedanken zu drängeln schienen. »Wir haben hier ein kleines Problem, Captain.« In Bannerjis Kopf leuchteten rote Lichter auf und heulten Sirenen los. Er hatte einen Riecher für eine Untertreibung, mit der jemand einen Schlamassel zu vertuschen suchte. »So?«

»Drei unserer… ah… Versuchsobjekte sind aus dem Habitat entkommen. Wir haben ihre Mitverschwörerin verhört und glauben daher, daß sie mit dem Shuttleflug B119 abgehauen sind und sich jetzt irgendwo im Shuttlehafen Drei verborgen halten. Es ist von äußerster Dringlichkeit, daß sie eingefangen und so schnell wie möglich zu uns zurückgebracht werden.«

Bannerjis Augen weiteten sind. Die Firma hielt Informationen über das Habitat streng geheim, aber niemand konnte längere Zeit auf Rodeo arbeiten, ohne zu erfahren, daß dort oben, sorgfältig isoliert, gewisse genetische Experimente an Menschen vorgenommen wurden. Neue Mitarbeiter brauchten gewöhnlich etwas länger, um zu merken, daß die alten Hasen mit den exotischeren Monstergeschichten, die sie erzählten, ihre Leichtgläubigkeit verulkten. Bannerji war vor etwa einem Monat nach Rodeo versetzt worden.

Die Worte des Projektleiters dröhnten durch Bannerjis Kopf. Entkommen. Eingefangen. Verbrecher entkommen. Gefährliche Zootiere entkommen, wenn ihren Wärtern eine Panne unterläuft, und dann bekommen ein paar arme Trottel von Polypen die Aufgabe, sie wieder einzufangen. Gelegentlich sind auch schon schreckliche biologische Waffen entkommen. Womit hatte er es, verdammt noch mal, zu tun?

»Woran können wir sie erkennen, Sir? Sehen sie«, Bannerji schluckte, »wie menschliche Wesen aus?« »Nein.« Van Atta konnte offensichtlich das Entsetzen in Bannerjis Gesicht erkennen, denn er schnaubte ironisch. »Sie werden sie ohne Schwierigkeiten erkennen, das versichere ich Ihnen, Captain. Und wenn Sie sie finden, dann rufen Sie mich sofort unter meinen Privatcode an. Ich möchte nicht, daß diese Geschichte über öffentliche Kanäle geht. Halten Sie es um Himmels willen unter der Decke, verstanden?« Bannerjis Phantasie malte sich eine öffentliche Panik aus. »Jawohl, Sir. Vollkommen verstanden.«

Seine eigene Panik war eine Privatangelegenheit. Das üppige Gehalt, das er bekam, würde es nicht geben, wenn der Sicherheitsdienst nur in ausgedehnten Kaffeepausen und angenehmen Abendspaziergängen um völlig menschenleere Grundstücke bestünde. Er hatte immer gewußt, daß einmal der Tag kommen würde, an dem er sich sein Geld verdienen müßte. Mit einem grimmigen Kopfnicken beendete Van Atta das Gespräch. Bannerji ließ über die Komkonsole seinen Untergebenen aufrufen, ebenso seine beiden dienstfreien Leute. Bei einer Sache, die führende Leute ins Schwitzen brachte, sollte ein erst kürzlich beförderter Sicherheitsmann besser keine Risiken eingehen.

Er öffnete den Waffenschrank und holte Betäuber und Halfter für sich und sein Team heraus. Nachdenklich wiegte er einen Betäuber in der Hand: ein leichtes, kleines, harmlos scheinendes Ding, fast ein Spielzeug. Bei Waffen wie dieser riskierte Galac-Tech keine Prozesse wegen verirrter Schüsse.

Bannerji blieb einen Moment lang stehen, dann wandte er sich zu seinem Schreibtisch und öffnete die Schublade mit seinem persönlichen Handflächenschloß. In einer eigenen verschlossenen Schachtel ruhte die nichtregistrierte Pistole; das Schulterhalfter war wie eine schlafende Schlange darumgerollt. Als Bannerji das Halfter angelegt und seine Uniformjacke wieder zurechtgerückt hatte, fühlte er sich viel besser. Entschlossen schickte er sich an, seine Wachleute zu begrüßen, die sich zum Dienst meldeten.

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