KAPITEL 6

»Nun, es war nicht meine Schuld«, fauchte Chalopin, die Administratorin des Raumhafens. »Man hat mir nicht einmal gesagt, was los war.« Sie warf Van Atta einen finsteren Blick zu. »Wie soll ich meine Jurisdiktion ausüben, wenn andere Administratoren meine wohlüberlegt eingerichteten Befehlskanäle überspringen, unbekümmert meinen Leuten Befehle erteilen, ohne mich überhaupt zu informieren, die Regeln verletzen …« »Die Situation war außergewöhnlich. Der Zeitfaktor war wesentlich«, murmelte Van Atta trotzig.

Leo hatte insgeheim Verständnis für Chalopins Gereiztheit. Ihre glatte Routine war unterbrochen worden, ihr Büro hatte man abrupt für die Untersuchungen der Vizepräsidentin in Beschlag genommen — Apmad hielt nichts davon, Zeit zu verschwenden. Die offizielle Untersuchung des Vorfalls durch Galac-Tech hatte auf ihre Anweisung hin vor einer knappen Stunde in Gang 29 begonnen; es würde ihn überraschen, wenn sie noch mehr als eine weitere Stunde brauchte, um den Fall abzuschließen.

Die Fenster der Verwaltungsbüros von Shuttlehafen Drei, die gegen den inneren Druck des Gebäudes abgedichtet waren, rahmten ein Panorama des ganzen Raumhafenkomplexes ein — die Startbahnen, Ladezonen, Lagerhäuser, Büros, Hangars, Wohnheime der Arbeiter, und die Einschienenbahn, die von hier zu der Raffinerie, die am Horizont glitzerte, und zu den unheimlich zerklüfteten Bergen dahinter führte. Und das lebenswichtige Kraftwerk. Die Atmosphäre von Rodeo bestand aus Sauerstoff, Stickstoff und Kohlendioxid, aber in falschem Verhältnis und mit einem Druck, der für den menschlichen Stoffwechsel zu niedrig war. Die Belüftungsanlage arbeitete ständig daran, die Gasmischung ins richtige Verhältnis zu bringen und die Kontaminanten auszufiltern. Fünfzehn Minuten konnte draußen ein Mensch ohne Atemmaske überleben; Leo war sich nicht sicher, ob das als Sicherheitsspanne gemeint war oder einfach als langsamer Tod. Ganz gewiß war Rodeo keine Gartenlandschaft.

Bannerji hatte sich hinter die Administratorin des Shuttlehafens geschlichen. Er versteckt sich hinter ihr, dachte Leo. Vielleicht war das die beste Strategie für den Sicherheitsmann. Von ihren eleganten Schuhen über ihre makellose Galac-Tech-Uniform bis zu ihrer streng zurückgekämmten Frisur, wo kein einziges Haar am falschen Platz war, und zu ihrer entschlossenen, scharf gezeichneten Kinnpartie strahlte Chalopin Willen und Entschlossenheit aus, ihr Revier zu verteidigen.

Apmad, die bei dem Kampf die Schiedsrichterin spielte, war ein völlig anderer Typ. Untersetzt, schon hoch im mittleren Alter, das krause Haar kurz geschnitten — sie hätte irgend jemandes Großmutter sein können, wenn da nicht ihre Augen gewesen wären. Sie versuchte nicht, mit ihrer Kleidung auf Erfolg zu machen. Als hätte sie schon soviel Macht, daß sie über dieses Spiel hinaus war. Sie bemühte sich nicht, die Emotionen zu dämpfen; ihre lakonischen Kommentare hatten dazu gedient, Öl ins Feuer zu gießen, als wäre sie neugierig, was hier wohl an den Tag befördert würde. Ganz gewiß waren das nicht die Augen einer Großmutter …

Leo war immer noch nahe daran, selber überzukochen. »Das Projekt ist fünfundzwanzig Jahre alt. Der Zeitfaktor kann nicht so wesentlich sein.«

»Allmächtiger Gott«, schrie Van Atta, »bin ich der einzige Mensch hier, der sich bewußt ist, daß hier unter dem Strich etwas herauskommen muß?«

»Herauskommen?«, versetzte Leo. »Galac-Tech ist näher am Gewinn aus dem Cay-Projekt als je zuvor.

Die Sache zu vermasseln, indem man jetzt ungeduldig und vorzeitig versucht, Profit herauszuschinden, ist praktisch kriminell. Sie stehen auf der Schwelle zu den ersten echten Ergebnissen.«

»Nicht wirklich«, bemerkte Apmad kühl. »Ihre erste Gruppe von fünfzig Arbeitern ist nur ein Symbol. Es wird weitere zehn Jahre brauchen, um die ganzen Tausend in Aktion zu setzen.« Kühl, ja, aber Leo spürte, daß in ihr eine heftige, verborgene Spannung am Werk war, deren Ursache er noch nicht erkennen konnte.

»Also, dann nennen Sie es halt einen steuermindernden Verlust. Sie können mir nicht einreden, daß das hier«, Leo deutete mit der Hand zum Fenster und zeigte auf Rodeo, »nicht einen steuermindernden Verlust oder auch deren zwei gebrauchen kann.«

Apmad blickte auf den Mann, der stumm neben ihr stand. »Klären Sie diesen jungen Mann auf, Gavin.«

Gavin war ein großer, zerknitterter Schlägertyp mit Boxernase, den Leo zuerst für eine Art Leibwächter gehalten hatte. Er war tatsächlich der Hauptbuchhalter der Vizepräsidentin, und er sprach mit erstaunlich präziser und eleganter Diktion in beeindruckend vollendeten Absätzen.

»Galac-Tech hat von Anfang an die sehr beträchtlichen Verluste des Cay-Projekts mit den rechnerischen Gewinnen von Rodeo ausgeglichen. Es ist wohl besser, wenn ich für Sie ein bißchen Geschichte rekapituliere, Mr. Graf.« Gavin kratzte sich nachdenklich an der Nase. »Galac-Tech hat Rodeo für neunundneunzig Jahre von der Regierung von Orient IV gepachtet. Die ursprünglichen Bedingungen dieser Pacht waren für uns extrem günstig, da damals Rodeos einzigartige Mineral- und Ölvorräte noch unentdeckt waren. Und das blieben sie auch während der ersten dreißig Jahre der Pacht.

Die nächsten dreißig Jahre erlebten eine enorme Investition an Material und Arbeit auf Seiten von Galac-Tech, um Rodeos Ressourcen zu entwickeln. Natürlich«, er hob schulmeisterhaft den Finger, »sobald Orient IV mitbekam, wie unser Profit durch ihr Wurmlochsystem geschleust wurde, da begann man dort die Bedingungen der Pacht zu bereuen und suchte einen größeren Anteil an dem Kuchen zu bekommen. Als Schauplatz des Cay-Projekts war Rodeo, wenn man von gewissen einzigartigen juristischen Vorteilen absieht, an erster Stelle genau deshalb gewählt worden, weil man die erwarteten Ausgaben allgemein mit Rodeos Profiten verrechnen und die ungesunde Aufregung dämpfen konnte, die diese Profite auf Orient IV hervorriefen.

Galac-Techs Pacht von Rodeo läuft jetzt noch etwa vierzehn Jahre, und die Regierung von Orient IV wird allmählich … ah … — wie soll ich es ausdrücken? — von erwartungsvoller Gier gepackt. Dort hat man gerade die Steuergesetze geändert, und vom Ende dieses Steuerjahres an haben sie vor, Galac-Techs Rodeo-Unternehmen nicht nach Netto-, sondern nach Bruttogewinn zu besteuern. Wir haben unsere Lobby dagegen eingesetzt, aber ohne Erfolg. Verdammte Provinzler«, fügte er nachdenklich hinzu.

»Also, ab dem Ende dieses Steuerjahrs können die Verluste des Cay-Projektes nicht mehr mit den Steuerersparnissen von Orient IV kompensiert werden; sie werden echt sein und direkt an uns weitergereicht werden. Man kann nicht erwarten, daß die Bedingungen der neuen Pacht nach Ablauf der nächsten vierzehn Jahre günstig sein werden. Tatsächlich gehen wir davon aus, daß Orient IV sich darauf vorbereitet, Galac-Tech hinauszudrängen und unsere Rodeo-Unternehmungen zu einem Bruchteil ihres realen Wertes zu übernehmen. Enteignung wäre ein anderes Wort dafür. Die wirtschaftliche Blockade beginnt schon. Jetzt ist der Zeitpunkt, wo wir beginnen müssen, weitere Investitionen zu begrenzen und den Profit zu maximieren.«

»Mit anderen Worten«, sagte Apmad mit einem harten zornigen Funkeln in den Augen, »ihnen eine leere Schale zurücklassen.«

Das könnte hart werden für die letzten Leute, die dann noch draußen sind, dachte Leo fröstelnd. Erkannten diese Trottel auf Orient IV denn nicht, daß Kooperation und Kompromiß am Ende den Profit aller Beteiligten erhöhen würden? Wahrscheinlich traf auch die Unterhändler von Galac-Tech ein Teil der Schuld, dachte er grimmig. Er hatte zuvor schon andere Szenarios der feindlichen Übernahme gesehen. Er blickte durch das Fenster auf die großen, von Aktivität strotzenden, funktionierenden Anlagen, die schwer errungenen Resultate von zwei Generationen ehrlicher Arbeit, und er stöhnte innerlich bei dem Gedanken, welche Verwüstung hier stattfinden würde. Nach dem entsetzten Ausdruck auf Chalopins Gesicht zu schließen, hatte sie gerade eine ähnliche Vision, und Leo konnte ihre Gefühle verstehen. Wieviel Herzblut hatte sie in den Aufbau dieses Ortes investiert? Wievieler Leute Schweiß und Hingabe, die jetzt mit einem Federstrich abgetan wurden?

»Das war immer unser Problem, Leo«, sagte Van Atta ziemlich gehässig. »Sie verbeißen sich immer in die kleinen Details und verlieren den großen Überblick.«

Leo schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu klären und suchte nach dem verlorenen Faden seiner ursprünglichen Argumentation. »Trotzdem, die Wirtschaftlichkeit des Cay-Projekts …« Er verstummte abrupt, als eine atemberaubende Eingebung, so zart wie eine Seifenblase, von ihm Besitz ergriff. Mit einem Federstrich. Konnte Freiheit mit einem Federstrich gewonnen werden? So einfach? Er betrachtete Apmad mit einer neuen, mindestens zwei Größenordnungen stärkeren Intensität. »Sagen Sie, Frau Vizepräsidentin«, formulierte er vorsichtig, »was geschieht, wenn die Wirtschaftlichkeit des Cay-Projekts widerlegt wird?«

»Dann machen wir es zu«, sagte sie einfach. Oh, was er hier aus der Schule plaudern könnte — und als zusätzlichen Bonus würde er Brucie-Baby für immer ruinieren… — Leo war elektrisiert. Er öffnete den Mund, um Zerstörung auszuspucken … Und klappte ihn sofort wieder zu, saugte an seiner Zunge, betrachtete seine Fingernägel und fragte statt dessen beiläufig: »Und was geschieht dann mit den Quaddies?«

Die Vizepräsidentin runzelte die Stirn, als hätte sie in einen sauren Apfel gebissen: wieder diese verborgene Spannung, der stärkste Ausdruck, den Leo bis jetzt auf ihrem Gesicht gesehen hatte. »Das ist das schwierigste Problem von allen.«

»Schwierig? Warum schwierig? Lassen Sie sie einfach gehen. Tatsächlich«, Leo bemühte sich, seine zunehmende Erregung hinter einem ausdruckslosen Gesicht zu verbergen, »wenn Galac-Tech sie auf der Stelle gehen ließe, vor dem Ende dieses Steuerjahres, dann könnte die Firma immer noch das, was sie als Investition in die Quaddies ansehen möchte, als steuerlich wirksamen Verlust mit den Gewinnen von Rodeo verrechnen. Ein letzter Hieb gegen Orient IV sozusagen, ein letzter Happen, den man ihnen wegschnappt.« Leo lächelte gewinnend.

»Sie wohin gehen lassen? Sie scheinen zu vergessen, Mr. Graf, daß die meisten von ihnen noch bloße Kinder sind.« Leo zögerte. »Die älteren könnten bei der Betreuung der jüngeren helfen, das tun sie ja schon, einige … Vielleicht könnte man sie für ein paar Jahre in einen anderen Sektor verlegen, der den Verlust aus ihrem Unterhalt schlucken könnte — es dürfte Galac-Tech nicht so viel mehr kosten, wie die gleiche Anzahl von Arbeitern in Rente, und das nur für ein paar Jahre …«

»Der Betriebsrentenfonds ist autark«, bemerkte Gavin der Buchhalter. »Im Rollover-Verfahren.«

»Eine moralische Verpflichtung«, brachte Leo verzweifelt vor. »Sicherlich muß Galac-Tech eine gewisse moralische Verpflichtung ihnen gegenüber eingestehen — wir haben sie ja schließlich geschaffen.« Jetzt betrat er schwankenden Boden, wie er an ihrem Gesicht ablesen konnte, in dem sich kein Mitgefühl zeigte, aber er konnte noch nicht erkennen, in welche Richtung der Boden sich neigen würde.

»Moralische Verpflichtung allerdings«, stimmte Apmad zu und ballte die Fäuste. »Haben Sie die Tatsache übersehen, daß Dr. Cay diese Kreaturen fortpflanzungsfähig geschaffen hat? Sie sind eine neue Spezies, wissen Sie; er hat sie Homo quadrimanus genannt, nicht Homo sapiens Unterart quadrimanus. Er war der Genetiker; wir dürfen annehmen, daß er wußte, worüber er sprach. Wie steht es mit Galac-Techs moralischer Verpflichtung gegenüber der menschlichen Gesellschaft als Ganzem? Was meinen Sie, wie sie reagieren wird, wenn diese Kreaturen und all ihre Probleme einfach ihr aufgehalst werden? Falls Sie meinen, daß die Öffentlichkeit auf chemische Umweltverschmutzung überreagiert, dann stellen Sie sich einmal die Aufregung über genetische Verunreinigung vor!«

»Genetische Verunreinigung?«, murmelte Leo und versuchte, diesem Begriff eine rationale Bedeutung abzugewinnen. Zumindest klang er beeindruckend.

»Nein. Wenn das Cay-Projekt sich als Galac-Techs teuerster Flop entpuppt, dann werden wir es entsprechend ad acta legen. Die Cay-Arbeiter werden sterilisiert und in eine geeignete Anstalt gesteckt, wo sie dann ihr Leben ansonsten ungestört zu Ende führen können. Keine ideale Lösung, aber der bestmögliche Kompromiß.« »St-st…«, stotterte Leo. »Welches Verbrechen haben sie begangen, daß sie zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt werden? Und wenn Rodeo geschlossen werden soll, wo werden Sie ein anderes passendes Habitat in einer Umlaufbahn finden oder bauen? Wenn Sie sich über die Kosten Sorgen machen, Madame, so wird das teuer werden.«

»Sie werden natürlich auf einen Planeten gebracht, zu einem Bruchteil der Kosten.«

Vor Leos geistigem Auge entstand eine Vision von Silver, wie sie ungeschickt über den Boden krabbelte, wie ein Vogel, dessen Schwingen beide gebrochen sind. »Das ist obszön! Sie werden nicht mehr als bloße Krüppel sein.«

»Obszönität«, versetzte Apmad, »bestand von Anfang an darin, daß sie überhaupt geschaffen wurden. Bis nach Dr. Cays Tod seine Abteilung mir unterstellt wurde, hatte ich keine Ahnung, daß sich hinter seiner Bezeichnung ›Biologische Forschung und Entwicklung‹ solche enormen invasiven Manipulationen an menschlichen Genen verbargen. Meine Heimatwelt hat die strengsten drakonischen Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, daß unser Genpool nicht von zufälligen Mutationen überwuchert wird — loszugehen und absichtlich Mutationen einzuführen, erscheint als das scheußlichste Verbrechen…« Sie hielt den Atem an und drängte wieder ihre Emotionen zurück. Nur ihre Finger verrieten mit ihrem nervösen Trommeln, was sie fühlte. »Die richtige Methode ist Euthanasie. So schrecklich sie auf den ersten Blick erscheinen mag, ist sie vielleicht auf lange Sicht gesehen in Wirklichkeit weniger grausam.«

Gavin, der Buchhalter, wand sich und lächelte seiner Chefin unsicher zu. Er hatte seine Augenbrauen zuerst überrascht gehoben, dann bestürzt gesenkt, und schließlich wieder gehoben — vielleicht nahm er sie nicht ernst. Leo dachte nicht, daß sie einen Scherz gemacht hatte, aber Gavin fügte in einem spaßhaft professionellen Ton an: »Sie wäre kosteneffektiver. Wenn man es vor dem Ende dieses Steuerjahrs erledigen würde, dann könnten wir die Quaddies als Verlust — und zwar als totalen — bei den Orient-Steuern verbuchen.«

Leo kam sich vor, als hinge er in einem Glaskäfig. »Das können Sie nicht tun«, flüsterte er. »Sie sind Menschen — Kinder —, das wäre Mord …«

»Nein, wäre es nicht«, leugnete Apmad. »Widerwärtig, gewiß, aber kein Mord. Das war der andere Grund, warum das Cay-Projekt in der Umlaufbahn um Rodeo stationiert wurde. Rodeo ist nicht nur physikalisch, sondern auch juristisch isoliert. Das gehört zu der Neunundneunzigjahre-Pacht. Das einzige Gesetz, das im Lokalraum von Rodeo gilt, sind die Vorschriften von Galac-Tech. Ich fürchte, das hat weniger mit Voraussicht zu tun als mit Dr. Cays erfolgreicher Blockade jeglicher Einmischung in seine Pläne. Aber wenn sich Galac-Tech dafür entscheidet, die Arbeiter vom Cay-Habitat nicht als Menschen zu definieren, dann gelten die Firmenvorschriften über Verbrechen diesbezüglich nicht.«

»Oh, wirklich?« Bannerjis Gesicht hellte sich etwas auf.

»Wie definiert Galac-Tech sie dann?«, fragte Leo neugierig. »Juristisch.«

»Postfötale experimentelle Gewebekulturen«, sagte Apmad. »Und wie bezeichnen Sie es dann, wenn man sie ermordet? Retroaktive Abtreibung?«

»Entsorgung«, sagte Apmad, und es klang, als wäre ihre Nase plötzlich verstopft.

»Oder«, Gavin warf Bannerji einen sarkastischen Blick zu, »vielleicht Vandalismus. Unsere einzige gesetzliche Bedingung ist, daß experimentelles Gewebe bei der Entsorgung verbrannt wird. Nach den IGS-Standardregeln für Biolabors.«

»Schießt sie mit einer Rakete in die Sonne«, schlug Leo gereizt vor. »Das wäre billig.«

Van Atta strich sich sanft übers Kinn und blickte Leo unsicher an. »Beruhigen Sie sich, Leo. Wir reden hier nur über mögliche Szenarios. Militärische Stäbe tun das die ganze Zeit.«

»Ganz recht«, stimmte die Vizepräsidentin zu. Sie hielt inne und warf Gavin, dessen Schnoddrigkeit ihr nicht gefiel, einen mißbilligenden Blick zu. »Hier müssen ein paar harte Entscheidungen getroffen werden, auf die ich nicht scharf bin, aber es scheint, daß sie mir zugeschoben wurden. Besser mir als jemandem, der für die langfristigen Konsequenzen für die gesamte Gesellschaft blind ist wie Dr. Cay. Aber vielleicht, Mr. Graf, werden Sie den Wunsch haben, sich Mr. Van Atta anzuschließen und zu zeigen, wie Dr. Cays ursprüngliche Vision immer noch mit einem Gewinn realisiert werden kann, sodaß wir alle es vermeiden können, die härtesten Entscheidungen treffen zu müssen.«

Van Atta lächelte Leo ölig triumphierend zu. Gerechtfertigt, rachsüchtig, berechnend … »Um zum vorliegenden Fall zurückzukehren«, sagte Van Atta, »ich habe gefordert, daß Captain Bannerji fristlos gekündigt wird, wegen seiner Fehlentscheidung und« — er blickte auf Gavin — »wegen Vandalismus. Ich möchte auch vorschlagen, daß seine Abteilung mit den Kosten der Krankenhausbehandlung von TY-776-424-X-G belastet wird.« Bannerji sank zusammen, Administratorin Chalopin erstarrte.

»Aber es wird für mich zunehmend offensichtlich«, fuhr Van Atta fort und richtete dabei sein unangenehmstes Lächeln an Leo, »daß hier noch einer anderen Angelegenheit nachgegangen werden muß …«

Ach du große Scheiße, dachte Leo, jetzt wird er mich mit dem tätlichen Angriff belasten — eine achtzehnjährige Karriere löst sich in Rauch auf — und ich habe es mir selbst eingebrockt — und ich bin nicht einmal dazu gekommen, die Sache zu Ende zu bringen …

»Subversion.«

»Was?«, sagte Leo.

»Die Quaddies sind in den letzten paar Monaten zunehmend widerspenstig geworden. Gleichzeitig mit Ihrer Ankunft, Leo.« Van Atta kniff die Augen zusammen. »Nach dem Ereignis des heutigen Tages frage ich mich, ob das ein Zufall war. Ich denke eher nicht. Ist es nicht so«, er wirbelte herum und zeigte dramatisch auf Leo, »daß Sie Tony und Ciaire zu dieser Eskapade angestachelt haben?«

»Ich!« sprudelte Leo empört heraus, dann hielt er inne. »Es stimmt, Tony kam einmal zu mir mit einigen sehr seltsamen Fragen, aber ich dachte, er sei bloß neugierig über seinen zukünftigen Arbeitsauftrag. Jetzt wünschte ich, ich hätte …«

»Sie geben es also zu!«, triumphierte Van Atta. »Sie haben unter den Arbeiterinnen der Hydrokulturabteilung und unter Ihren eigenen Schülern, die Ihnen anvertraut sind, eine trotzige Haltung gegenüber der Autorität von Galac-Tech gefördert — die sorgfältig entwickelten Richtlinien der Psychologischen Abteilung für Sprache und Benehmen an Bord des Habitats ignoriert — die Arbeiter mit Ihrer eigenen schlechten Einstellung angesteckt …«

Leo erkannte plötzlich, daß Van Atta, wenn irgend möglich, ihn nicht mit seiner eigenen Verteidigung zu Wort kommen lassen würde. Van Atta hatte es auf etwas viel, viel Wertvolleres als nur auf Rache für einen Schlag gegen sein Kinn abgesehen — auf einen Sündenbock. Einen perfekten Sündenbock, auf den er alle Projektpannen der letzten zwei Monate — oder länger, abhängig von seiner eigenen Findigkeit — abladen und den er ohne Skrupel den Galac-Tech-Göttern opfern konnte, wobei er selbst dann sauber und sündenlos aus der ganzen Sache davonkommen würde. »Nein, bei Gott!«, brüllte Leo. »Wenn ich eine Revolution organisieren würde, dann würde ich es verdammt zehnmal besser machen als das da …« Er winkte in Richtung des Lagerhauses. Seine Muskeln spannten sich für einen erneuten Angriff auf Van Atta. Wenn er sowieso gefeuert werden sollte, dann wollte er wenigstens etwas Genugtuung bekommen …

»Meine Herren.« Apmads Worte klangen eisig. »Mr. Van Atta, ich darf Sie daran erinnern, daß Kündigungen auf abgelegenen Einrichtungen wie Rodeo nicht befürwortet werden. Galac-Tech ist nicht nur vertraglich verpflichtet, den Gekündigten die Heimreise zu ermöglichen, es geht auch um die Kosten und die beträchtliche Zeitverzögerung für die Herbeiholung ihrer Nachfolger. Nein, wir beenden die Sache auf folgende Weise: Captain Bannerji wird für zwei Wochen ohne Gehalt suspendiert, und in seine Personalakte wird ein offizieller Verweis für das Tragen einer nichtzugelassenen Waffe im offiziellen Dienst von Galac-Tech eingefügt. Die Waffe wird konfisziert. Mr. Graf wird auch einen offiziellen Verweis bekommen, aber sofort zu seinem Dienst zurückkehren, da es niemanden gibt, der ihn darin ersetzen kann.«

»Aber man hat mich reingelegt«, beschwerte sich Bannerji.

»Aber ich bin völlig unschuldig!«, schrie Leo. »Das ist eine Lüge — ein paranoides Hirngespinst …«

»Sie können Graf nicht jetzt zum Habitat zurückschicken«, kreischte Van Atta. »Als nächstes wird er versuchen, sie in einer Gewerkschaft zu organisieren …«

»In Anbetracht der Konsequenzen eines Mißerfolgs des Cay-Projekts«, sagte die Vizepräsidentin kühl, »glaube ich das nicht. Oder, Mr. Graf?«

Leo zitterte. »Wie?«

Sie seufzte unbefriedigt. »Danke. Diese Untersuchung ist damit abgeschlossen. Weitere Beschwerden oder Einsprüche können an die Zentrale von Galac-Tech auf der Erde gerichtet werden.« Falls Sie es wagen, fügten ihre hochgezogenen Augenbrauen hinzu. Selbst Van Atta war vernünftig genug, den Mund zu halten.


Auf dem Rückflug war die Stimmung im Shuttle gespannt, um es milde auszudrücken. Begleitet von einer Krankenschwester aus dem Habitat, die drei Tage früher aus ihrem Planetenurlaub zum Dienst zurückbeordert worden war, saß Ciaire zusammengekauert hinten und hielt Andy umklammert. Leo und Van Atta saßen so weit von einander entfernt, wie es der begrenzte Raum erlaubte.

Van Atta sprach einmal Leo an. »Ich habe es Ihnen gesagt.«

»Sie hatten recht«, erwiderte Leo hölzern. Van Atta fühlte sich wie gestreichelt und begann vor Selbstgefälligkeit fast zu schnurren. Leo hätte ihn lieber mit der Rohrzange gestreichelt.

Könnte Van Atta nicht auch Recht haben? War sein brisantes Drängen auf sofortige Ergebnisse ein Zeichen seiner Besorgnis für das Wohlergehen der Quaddies, oder gar für ihr Überleben? Nein, entschied Leo mit einem Seufzen. Das einzige Wohlergehen, das Bruce beschäftigte, war sein eigenes.

Leo ließ den Kopf auf der gepolsterten Kopfstütze ruhen und starrte zum Fenster hinaus, während die Beschleunigung des Starts ihn in seinen Sitz drückte. Für irgendetwas tief in seinem Innern war ein Flug mit dem Shuttle immer noch ein bißchen Nervenkitzel, selbst nach den zahllosen Reisen, die er schon hinter sich gebracht hatte. Es gab Leute — Milliarden, die große Mehrheit —, die nie in ihrem Leben ihren Heimatplaneten verlassen hatten. Er war einer der wenigen Glücklichen.

Ein Glück, daß er diesen Job hatte. Glück in den Ergebnissen, die er im Laufe der Jahre erreicht hatte. Die ausgedehnte Morita-Deep-Space-Transferstation war vermutlich die Krönung seiner Karriere gewesen, wahrscheinlich das größte Projekt, an dem er je gearbeitet hatte. Er hatte ihren Standort zuerst gesehen, als da noch ein leeres, eisiges Vakuum gewesen war, so leer, wie nur das Nichts sein konnte. Erst im letzten Jahr war er wieder dort durchgekommen, als er von einem Schiff von Ylla auf ein Schiff zur Erde umstieg. Morita hatte gut ausgesehen, wirklich gut, voller Leben, und seine Einrichtungen wurden sogar schon erweitert, einige Jahre früher als alle erwartet hatten. Eine reibungslose Erweiterung; die Pläne dafür waren schon im Originalentwurf vorgesehen gewesen. Übertrieben ehrgeizig hatte man es damals genannt. Jetzt nannte man es weitsichtig.

Und es hatte auch andere Projekte gegeben. Vom einen Ende des Wurmlochsystems bis zum anderen fanden tagtäglich zahllose Unfälle wegen Versagens der Konstruktion nicht statt, weil er und die Leute, die er ausgebildet hatte, ihre Arbeit gut gemacht hatten. Die Arbeit einer sorgenvollen Woche, die frühe Entdeckung der sich ausbreitenden Haarrisse in der Reaktorkühlanlage der großen orbitalen Fabrik von Beni Ra hatte vielleicht dreitausend Menschenleben gerettet. Wie viele Chirurgen konnten für sich in Anspruch nehmen, dreitausend Menschenleben in zehn Jahren ihrer Berufsausübung gerettet zu haben? Während jener denkwürdigen Inspektionsreise hatte er das ein Jahr lang jeden Monat getan. Unsichtbar, unbesungen; Katastrophen, die nie geschehen, erzeugen normalerweise keine Schlagzeilen. Aber er wußte es, und die Männer und Frauen, die Seite an Seite mit ihm arbeiteten, wußten es, und das war genug.

Er bedauerte, daß er Bruce geschlagen hatte. Der Augenblick heißer Freude war es sicher nicht wert gewesen, seinen Job dafür zu riskieren. Die in achtzehn Jahren angesammelten Pensionszuwendungen, die Aktienoptionen, ja vielleicht das Dienstalter — da er keine Familie zu unterhalten harte, gehörten sie ihm ganz allein und er konnte sie in den Wind schießen, wenn er wollte. Aber wer würde sich um das nächste Beni Ra kümmern? Wenn sie zum Habitat zurückgekehrt waren, würde er kooperieren. Sich artig bei Bruce entschuldigen. Seine Schulungsbemühungen verdoppeln, seine Sorgfalt erhöhen. Sich auf die Zunge beißen, nur dann reden, wenn er angesprochen wurde. Höflich zu Dr. Yei sein. Zum Teufel, sogar tun, was sie ihm sagte. Alles andere war inakzeptabel riskant. Da oben im Habitat befanden sich tausend Kinder. So viele, so verschiedene — so junge. Allein hundert Fünfjährige und hundertundzwanzig Sechsjährige, die in den Krippenmodulen wimmelten und in ihrem gravitationslosen Turnraum spielten. Ein einzelner Mensch konnte auf keinen Fall die Verantwortung übernehmen, das Leben all dieser Kinder wegen einer unsicheren Sache aufs Spiel zu setzen. Das würde alles zerstören. Es wäre unmöglich. Kriminell. Wahnsinnig. Eine Revolte — wohin konnte sie führen? Niemand war imstande, alle Konsequenzen vorherzusehen. Leo konnte nicht einmal um die nächste Ecke herumsehen. Niemand konnte es. Niemand.

Sie dockten am Habitat an. Van Atta scheuchte Ciaire und Andy und die Krankenschwester vor sich durch die Luke, während Leo langsam seine Sitzgurte löste.

»O nein«, hörte Leo Van Atta sagen. »Die Schwester wird Andy zur Krippe nehmen. Du wirst wieder in deinen alten Schlafsaal zurückkehren. Das Baby mit nach unten zu nehmen war kriminell unverantwortlich. Es ist klar, daß du völlig ungeeignet bist, für es zu sorgen. Du siehst es nie wieder. Und ich kann dir garantieren, du wirst auch von der Fortpflanzungsliste gestrichen.«

Claires Weinen war so gedämpft, daß es kaum zu hören war.

Leo schloß gequält die Augen. »Gott«, fragte er, »warum ich?«

Er löste seinen letzten Gurt und ließ sich blindlings in seine Zukunft fallen.

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