KAPITEL 13

Seine Mitflüchtlinge traten vor ihm beiseite, als Bruce Van Atta aus dem Andockrohr in die Ankunftshalle für Passagiere auf dem Shuttlehafen Drei von Rodeo stürmte. Er mußte einen Moment innehalten und die Hände auf die Knie stützen, um einen Schwindelanfall zu überstehen, der von seiner abrupten Rückkehr zur Gravitation des Planeten ausgelöst wurde. Schwindel und Wut.

Einige Stunden lang, während des Fluges in dem abgetrennten Vortragsmodul durch den Orbit von Rodeo, war sich Van Atta entsetzlich sicher gewesen, daß Graf vorhatte, sie alle umzubringen, trotz des Gegenbeweises der Atemmasken. Falls dies ein Krieg war, dann würde aus Graf nie ein guter Soldat werden. Selbst ich bin nicht so dumm, einen Mann so zu demütigen und ihn dann am Leben zu lassen. Es wird dir leidtun, Graf, daß du mich hinters Licht geführt hast; noch mehr wird es dir leidtun, daß du mich nicht umgebracht hast, als sich dir die Gelegenheit dazu bot. Mühsam zügelte er seine Wut. Van Atta hatte sich selbst an Bord des ersten verfügbaren Shuttles beordert, das von der mit der überraschenden Ankunft von fast dreihundert unerwarteten Gästen überlasteten Transferstation hinab zum Planeten flog. In den zwanzig Stunden, seit die Luftschleuse des abgetrennten Vortragsmoduls nach nervenaufreibenden Pannen und Verzögerungen endlich mit der eines Personaltransporters der Station verbunden worden war, hatte er nicht geschlafen. Er und die anderen Angestellten vom Cay-Habitat hatten ihr überfülltes mobiles Gefängnis verlassen und waren zur Transferstation übergesetzt worden, wo noch mehr Zeit verschwendet wurde.

Informationen! Seit sie aus dem Cay-Habitat vertrieben wurden, war fast ein ganzer Tag vergangen. Er brauchte Informationen. Er bestieg ein Gleitrohr und machte sich auf den Weg zum Verwaltungsgebäude von Shuttlehafen Drei, wo sich auch das Kommunikationszentrum befand. Hinter ihm plapperte weinerlich Dr. Yei, er schenkte ihr nur wenig Aufmerksamkeit.

Er erblickte an der Plexiplastikwand des Rohres sein eigenes schwankendes Spiegelbild, während er über das Rollfeld des Shuttlehafens transportiert wurde. Abgespannt. Er richtete sich auf und zog seinen Bauch ein. Es wäre nicht gut, wenn er vor anderen Administratoren geschlagen oder schwach wirkte. Die Schwachen waren dem Untergang geweiht.

Er blickte durch sein bleiches Ebenbild hindurch über den Shuttlehafen, der unter ihm lag. Am anderen Ende der Rollbahn, neben dem Terminal der Einschienenbahn, wurden schon Frachtbehälter gestapelt. Ach ja: die verdammten Quaddies waren auch ein Glied in dieser Kette. Ein schwaches Glied, ein zerbrochenes Glied, das bald ersetzt werden würde.

Er kam im Kommunikationszentrum zur gleichen Zeit an wie die Chefadministratorin des Shuttlehafens Drei, Chalopin. Ihr folgte ihr Sicherheitsoffizier, wie hieß er noch? Ach ja, dieser Idiot Bannerji. »Was, zum Teufel, ist hier los?«, versetzte Chalopin ohne Vorrede. »Ein Unfall? Warum haben Sie nicht um Unterstützung gebeten? Man hat uns angewiesen, alle Flüge zurückzuhalten — jetzt haben wir einen beträchtlichen Rückstau des Produktionsausstoßes, die halbe Strecke bis zur Raffinerie.«

»Halten Sie sie weiter zurück. Oder setzen Sie sich mit der Transferstation in Verbindung. Die Beförderung Ihrer Fracht gehört nicht zu meinem Ressort.«

»O doch! Seit einem Jahr untersteht das Rangieren der Fracht im Orbit der Leitung des Cay-Projekts.«

»Verswchsweise.« Er runzelte gereizt die Stirn. »Das mag zu meinem Ressort gehören, aber im Augenblick ist das nicht meine größte Sorge. Hören Sie, Gnädigste, ich habe es hier mit einer umfassenden Krise zu tun.« Er wandte sich an einen der Kommunikatortechniker: »Können Sie mich überhaupt zum Cay-Habitat durchstellen?« »Sie beantworten unsere Anrufe nicht«, sagte Kommunikatortechniker unschlüssig. »Fast die gesamte reguläre Telemetrie ist abgeschaltet.«

»Versuchen Sie irgendetwas. Wegen mir auch eine Sichtung durch ein Teleskop.«

»Ich kann vielleicht eine Bildaufzeichnung von einem der Comsats abrufen«, sagte der Techniker. Er kehrte murmelnd zu seiner Steuertafel zurück. Nach ein paar Minuten präsentierte sein Bildschirm eine zweidimensionale Fernsicht des Cay-Habitats, aus einer synchronen Umlaufbahn gesehen. Er verstärkte die Vergrößerung.

»Was machen die denn dort?«, fragte Chalopin, während sie auf den Bildschirm schaute.

Van Atta starrte ebenfalls darauf. Was für ein wahnsinniger Vandalismus war da am Werk? Das Habitat ähnelte einem komplexen dreidimensionalen Puzzle, das von einem gelangweilten Kind zerlegt worden war. Abgetrennte Module schienen achtlos verstreut zu sein und schwebten in allen möglichen Winkeln im Raum. Winzige silbrige Figuren düsten zwischen ihnen hin und her. Die Solarkollektoren waren mysteriöserweise auf ein Viertel ihrer normalen Größe zusammengeschrumpft. War Graf vielleicht auf irgendeinen irren Plan verfallen, das Habitat gegen Gegenangriffe zu befestigen? Nun, das würde ihm nichts nützen, schwor sich Van Atta schweigend.

»Bereiten die sich … auf eine Belagerung oder sowas vor?«, fragte Dr. Yei laut. Sie hatte offensichtlich ähnliche Überlegungen angestellt. »Gewiß müssen sie doch erkennen, wie nutzlos das ist …«

»Wer weiß, was dieser verdammte Idiot Graf denkt?«, knurrte Van Atta. »Der Mann ist verrückt geworden. Es gibt ein Dutzend Methoden, wie wir diese Installation aus einer Entfernung in Stücke sprengen können, und das auch ohne militärische Unterstützung. Oder wir warten einfach und hungern sie aus. Sie sind in ihre eigene Falle getappt. Der Mann ist nicht nur verrückt, er ist auch dumm.«

»Vielleicht«, sagte Yei unsicher, »wollen sie einfach dort oben im Orbit ruhig weiterleben. Warum nicht?«

»Den Teufel werden sie! Ich hole sie dort raus, und zwar ganz schnell. Irgendwie … Kein Haufen jämmerlicher Mutanten wird mit einer Sabotage dieses Ausmaßes ungeschoren davonkommen. Sabotage — Diebstahl — Terrorismus …«

»Sie sind keine Mutanten«, begann Yei, »sie sind genetisch produzierte Kind…« »Mr. Van Atta, Sir?«, meldete sich ein anderer Kommunikatortechniker. »Ich habe eine dringende Nachricht für Sie auf meinem allgemeinen Verteiler. Können Sie sie hier übernehmen?« Yei, die dadurch unterbrochen worden war, hob frustriert die Hände.

»Was jetzt?«, murmelte Van Atta und setzte sich vor die Kommunikatoreinheit.

»Es ist eine aufgezeichnete Botschaft vom Manager der Frachtrangierstation draußen am Sprungpunkt. Ich werde sie aufrufen«, sagte der Techniker. Das ihm beiläufig bekannte Gesicht des Managers der Sprungpunktstation erschien vor Van Atta auf dem Schirm.

Er hatte ihn vielleicht einmal getroffen, am Anfang seines Aufenthaltes hier. Die kleine Sprungpunktstation wurde von Orient IV aus bemannt und unterstand dem Unternehmensbereich auf Orient IV, nicht Rodeo. Ihre Angestellten waren reguläre Planetarier von der Raumfahrergewerkschaft und hatten normal keinen Kontakt mit Rodeo oder mit den Quaddies, die einmal dafür bestimmt gewesen waren, sie zu ersetzen. Der Stationsmanager machte einen gequälten Eindruck. Er rasselte die einführenden Identifikationskennungen herunter und kam dann abrupt zum Kern der Sache: »Was, zum Teufel, ist denn überhaupt mit euch los? Eine Mannschaft von Mutantenmonstern ist eben von Nirgendwo aufgetaucht, hat einen Sprungpiloten gekidnappt, einen anderen niedergeschossen und einen Frachtsuperjumper von Galac-Tech entführt. Aber anstatt damit hinauszuspringen, sind sie damit nach Rodeo unterwegs. Als wir den Sicherheitsdienst von Rodeo unterrichteten, hat man uns mitgeteilt, daß die Mutanten wahrscheinlich Ihnen unterstehen. Gibt es dort noch mehr davon? Sind die verrückt geworden oder was? Ich möchte eine Antwort haben, verdammt noch mal. Ich habe hier einen Piloten auf der Krankenstation, einen eingeschüchterten Ingenieur und eine Crew am Rande der Panik.« Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen befand sich der Manager selbst am Rande der Panik. »Sprungpunktstation Ende!« »Wie alt ist diese Nachricht?«, fragte Van Atta ziemlich verdutzt.

»Etwa zwölf Stunden, Sir«, sagte der Techniker nach einem Blick auf seinen Monitor.

»Glaubt er, daß die Entführer Quaddies sind? Warum wurde ich nicht informiert …« Van Attas Blick fiel auf Bannerji, der ausdruckslos neben Chalopin stand, »warum wurde ich von der Sicherheitsabteilung hierüber nicht sofort informiert?«

»Zu dem Zeitpunkt, als der Vorfall gemeldet wurde, waren Sie nicht erreichbar«, sagte der Sicherheitsoffizier ohne jede Gemütsregung. »Wir haben seitdem die Bahn der D-620 verfolgt, und sie hat ihre Beschleunigung geradewegs auf Rodeo zu fortgesetzt. Sie antwortet auf unsere Signale nicht.«

»Und was tun Sie deswegen?« »Wir beobachten die Lage. Ich habe noch keine Befehle bekommen, irgend etwas deswegen zu unternehmen.« »Warum nicht? Wo ist Norris?« Norris war der leitende Manager für alle Operationen im gesamten Lokalraum von Rodeo, er sollte eigentlich eingeschaltet sein. Allerdings unterstand das Cay-Projekt nicht seiner Befehlskette, da Van Atta direkt dem Geschäftsbereich Operativer Betrieb der Gesellschaft verantwortlich war. »Dr. Norris«, sagte Chalopin, »ist bei einer Konferenz für Materialentwicklung auf der Erde. In seiner Abwesenheit vertrete ich ihn. Captain Bannerji und ich haben die Möglichkeit erörtert, daß er seine Leute und das Sicherheits- und Rettungsshuttle von Shuttlehafen Drei nimmt und versucht, das entführte Schiff zu entern. Wir sind uns immer noch nicht sicher, wer diese Leute sind oder was sie wollen, aber sie scheinen eine Geisel genommen zu haben, was uns zur Vorsicht zwingt. Also haben wir sie ihre Entfernung verringern lassen, während wir versuchen, mehr Informationen über sie zu bekommen. Damit«, sie musterte ihn mit ihren kleinen, runden, glänzenden Augen, »kommen wir zu Ihnen, Mr. Van Atta. Hat dieser Vorfall irgendeine Verbindung mit Ihrer Krise auf dem Habitat?«

»Ich sehe nicht, wie …«, begann Van Atta und brach ab, denn plötzlich verstand er. »Dieser Mistkerl …«, flüsterte er.

»Lord Krishna«, sagte Dr. Yei und wandte sich wieder dem Live-Vid des Habitats zu, das halbzerlegt hoch über ihnen im Orbit hing. »Das kann nicht sein …« »Graf ist verrückt. Er ist verrückt, der Mann ist ein Größenwahnsinniger. Er kann das nicht machen …« Die technischen Parameter zogen unerbittlich vor Van Attas geistigem Auge vorüber. Masse — Energie — Entfernung — ja, eine abgemagerte Version des Habitats, um einen Teil seiner weniger wesentlichen Komponenten reduziert, konnte vielleicht gerade noch von einem Supersprungschiff in den Wurmlochraum gezogen werden, falls es an dem fernen Sprungpunkt in die richtige Position gebracht werden konnte. Aber das ganze verdammte Ding … »Sie entführen das ganze verdammte Ding!«, schrie Van Atta auf.

Yei rang ihre Hände vor dem Vid. »Das schaffen sie nie. Sie sind doch kaum mehr als Kinder! Er wird sie in den Tod führen! Das ist kriminell!«

Captain Bannerji und die Administratorin des Shuttlehafens blickten einander an. Bannerji schürzte die Lippen und hielt ihr die offenen Hände hin, als wollte er sagen: Ladies first. »Glauben Sie also, daß die beiden Vorfälle miteinander in Zusammenhang stehen?«, bedrängte Chalopin Van Atta. Van Atta ging hin und her, als könnte er so die flache Darstellung des Habitats aus einem anderen Winkel sehen, »… das ganze verdammte Ding!«

Yei antwortete an seiner Stelle: »Ja, das glauben wir.«

Van Atta lief weiter auf und ab. »Verdammt, und sie haben es schon zerlegt! Wir haben keine Zeit mehr, um sie auszuhungern. Wir müssen sie auf irgendeine andere Weise aufhalten.«

»Die Mitarbeiter des Cay-Projekts waren sehr beunruhigt über den abrupten Abbruch des Projekts«, erklärte Yei. »Sie haben es vorzeitig herausgefunden. Sie befürchteten, daß sie hier unten zurückgelassen würden, wo sie doch nicht an die Schwerkraft gewöhnt sind. Ich hatte keine Chance, ihnen diese Idee schrittweise beizubringen. Ich glaube, sie versuchen vielleicht tatsächlich irgendwie — davonzulaufen.«

Captain Bannerjis Augen weiteten sich. Er stützte sich mit einer Hand auf die Konsole und starrte auf das Vid. »Denken Sie an die bescheidene Schnecke«, murmelte er, »die ihr Haus auf dem Rücken trägt. Wenn sie an kalten regnerischen Tagen spazierengeht, muß sie nie umkehren …«

Van Atta brachte einen zusätzlichen halben Meter Abstand zwischen sich und den plötzlich poetisch gewordenen Sicherheitsoffizier. »Waffen«, sagte Van Atta. »Welche Waffen hat die Sicherheitsabteilung auf Lager?« »Betäuber«, antwortete Bannerji, richtete sich auf und untersuchte seinen rechten Daumennagel. War da ein spöttisches Funkeln in seinen Augen? Nein, das würde er nicht wagen.

»Ich meine, auf Ihrem Shuttle«, sagte Van Atta gereizt. »Waffen, die auf dem Schiff montiert sind. Zähne. Ohne Zähne kann man nicht drohen.«

»Es gibt zwei mittelstarke Lasereinheiten auf dem Schiff. Das letztemal haben wir sie benutzt — warten Sie mal —, um einen Baumstumpf durchzubrennen, der Flurwasser aufgestaut hatte und ein Forschungslager bedrohte.«

»Ja, gut, das ist jedenfalls mehr als sie haben«, sagte Van Atta aufgeregt. »Wir können das Habitat angreifen — oder den Superjumper — eins von beiden. Die Hauptsache ist, sie davon abzuhalten, daß sie sich miteinander verbinden. Ja, nehmen wir uns zuerst das Sprungschiff vor. Ohne es ist das Habitat ein unbewegliches Ziel, das wir bequem wegputzen können. Ist Ihr Sicherheitsshuttle mit Treibstoff ausgestattet und startbereit, Bannerji?« Dr. Yei erbleichte. »Halten Sie ein! Wer redet davon, irgendetwas anzugreifen? Wir haben noch nicht einmal Sprechkontakt hergestellt. Wenn die Entführer tatsächlich Quaddies sind, dann bin ich sicher, ich könnte sie überreden, vernünftig zu sein …«

»Es ist zu spät für Vernunft. Diese Situation verlangt Taten.«

Die Demütigung brannte heiß in Van Attas Eingeweiden, und sie wurde von der Angst genährt. Wenn die hohen Tiere in der Firma herausbekamen, wie komplett er die Kontrolle verloren hatte — na ja, dann sollte er lieber wieder die Kontrolle fest in Händen haben.

»Ja, aber …« Yei leckte ihre Lippen. »Es ist ganz schön und gut zu drohen, aber der tatsächliche Einsatz von Gewalt ist gefährlich — vielleicht zerstörerisch. Sollten Sie nicht lieber zuerst eine Genehmigung dafür einholen? Wenn irgend etwas schrecklich danebengeht, dann würden Sie gewiß nicht gerne die Sache ausbaden mögen.«

Van Atta zögerte. »Das würde zu lange dauern«, widersprach er schließlich. »Es dauert vielleicht einen Tag, um die Distriktszentrale auf Orient IV zu erreichen und eine Antwort zu bekommen. Und wenn man dort entscheidet, die Sache sei zu heiß und sie den ganzen Weg zu Apmad auf der Erde weiterreicht, dann könnte es einige Tage dauern, bis wir eine Antwort bekommen.«

»Aber es wird doch sowieso einige Tage dauern, oder?«, sagte Yei und blickte ihn gespannt an. »Selbst wenn es ihnen gelingt, das Habitat an den Superjumper anzufügen, dann können sie es nicht herumschwingen und wie einen Schnellkurier beschleunigen. Es würde nie die Belastung aushalten, es würde zuviel Treibstoff verbrauchen — es ist noch jede Menge Zeit. Wäre es nicht besser, eine Genehmigung einzuholen, um sicherzugehen? Wenn dann etwas schiefginge — dann wäre es nicht Ihre Schuld.«

»Nun …« Van Atta wurde noch langsamer. Wie typisch für Yeis windelweiche, schwächliche Unentschlossenheit. In seiner Vorstellung konnte er sie fast hören: Jetzt setzen wir uns mal alle hin und diskutieren die Sache wie vernünftige Leute … Es war ihm zuwider, sich von ihr beeinflussen zu lassen; jedoch war an dem, was sie sagte, durchaus etwas dran: Sich nach jeder Seite abzusichern war eine elementare Regeln für das Überleben sogar des Tüchtigsten.

»Nun … nein, verflucht! Was ich verdammt sicher garantieren kann, ist, daß Galac-Tech dieses ganze Fiasko geheimhalten möchte. Das Allerletzte, was die wollen, sind eine Menge Gerüchte darüber, daß ihre netten Mutanten durchgehen. Es ist besser für uns alle, daß diese Geschichte ausschließlich im Lokalraum von Rodeo erledigt wird.« Er wandte sich an Bannerji. »Das hat die höchste Priorität, dann — Sie und Ihre Leute müssen dieses Sprungschiff zurückholen, oder es zumindest betriebsunfähig machen.«

»Das«, bemerkte Bannerji, ohne ihn auch nur anzublicken, »wäre Vandalismus. Außerdem, wie schon zuvor ausgeführt wurde — der Sicherheitsdienst von Shuttlehafen Drei untersteht nicht Ihrem Befehl, Mr. Van Atta.« Er warf seiner Chefin einen bedeutsamen Blick zu. Chalopin stand da, hörte zu und zog nervös an einer Haarsträhne, die sich aus ihrer eleganten Frisur gelöst hatte.

»Das ist wahr«, pflichtete sie ihm bei. »Das Habitat mag Ihr Problem sein, Mr. Van Atta, aber diese Entführung des Sprungschiffes unterliegt ohne Zweifel meiner Jurisdiktion, ohne Rücksicht auf etwaige Verbindungen. Und dort oben ist auch immer noch ein Frachtshuttle angedockt, das mir gehört, obwohl die Transferstation gemeldet hat, daß man seine Crew aus einem Rettungspod geholt hat.«

Van Atta stand da, wütend und blockiert. Blockiert von den verdammten Frauen. Plötzlich erkannte er, daß es Yeis Absicht gewesen war, Chalopin zu beeinflussen, und das war ihr auch gelungen. »Das ist es dann also«, zischte er schließlich. »Wir reichen die Sache weiter an die Zentrale. Und dann werden wir ja sehen, wer hier das Sagen hat.«

Dr. Yei schloß für einen Moment erleichtert die Augen. Auf Anweisung von Chalopin begann ein Nachrichtentechniker, sein System für die Übertragung einer verschlüsselten Notfallnachricht an die Distriktszentrale vorzubereiten; diese Nachricht würde mit Lichtgeschwindigkeit zur Wurmlochstation gefunkt werden, dort würde man sie aufzeichnen und mit dem nächsten verfügbaren Sprungschiff durch das Wurmloch transportieren, und dann wieder über Funk an ihren Bestimmungsort übertragen.

»Was machen Sie inzwischen«, fragte Van Atta Chalopin, »mit Ihrer«, er dehnte das Wort sarkastisch, »Entführung?«

»Wir werden vorsichtig vorgehen«, erwiderte sie gleichmütig. »Wir glauben, daß schließlich eine Geisel dabei ist.« »Wir sind auch nicht sicher, ob das gesamte Galac-Tech-Personal schon vom Habitat herunter ist«, warf Dr. Yei ein.

Van Atta knurrte, aber er konnte ihr nicht widersprechen. Aber wenn da noch Planetarier an Bord festgehalten wurden, dann mußte das höhere Management doch sicher die Notwendigkeit einer schnellen und energischen Reaktion erkennen. Er mußte als nächstes die Transferstation anrufen und sich die endgültige Zahl durchgeben lassen. Wenn all diese unentschlossenen Idioten ihn zwingen sollten, die nächsten paar Tage untätig herumzuhocken, dann konnte er wenigstens seine Aktionspläne für die Zeit festlegen, wo er wieder freie Hand hatte.

Und er war sich sicher, daß er früher oder später wieder freie Hand haben würde. Apmads unterschwelliger Horror vor den Quaddiemutanten war ihm nicht entgangen. Wenn die Nachricht von diesem Schlamassel schließlich auf ihrem Schreibtisch landete, dann würde sie drei Meter hoch in die Luft springen, Geiseln hin oder her — Van Atta kniff die Augen zusammen. »He«, sagte er plötzlich, »wir sind nicht so hilflos, wie Sie meinen. Dieses Spiel können zwei spielen — ich habe auch eine Geisel!«

»Sie?«, sagte Dr. Yei verdutzt. Dann griff sie sich an den Hals. »Ganz recht. Und wenn ich daran denke, daß ich das fast vergessen hätte. Dieser vierarmige Kriecher Tony ist hier unten!«

Tony war Grafs Lieblingsschüler — und das Herzblatt dieses kleinen Weibstücks Ciaire, und die war bestimmt eine Rädelsführerin — wenn sie das Ganze nicht zu seinen Gunsten umdrehen konnte, dann war er total blöd. Er drehte sich auf dem Absatz um. »Kommen Sie, Yei! Die kleinen Affen werden jetzt unsere Anrufe beantworten!«


Sprungpiloten mochten ja schwören, daß ihre Schiffe schön waren, dachte Leo, als die D-620 lautlos in Sicht kam, aber in Wirklichkeit ähnelte der Superjumper nichts so sehr wie einem mutierten mechanischen Tintenfisch. Ein schotenähnlicher Abschnitt an der Vorderseite enthielt den Steuerraum und die Mannschaftsquartiere, die vor den Materialrisiken während der Beschleunigung durch einen sphäroiden laminierten Schild und vor den Gefahren der Strahlung durch einen unsichtbaren Magnetkegel geschützt wurden. Hinter sich her zog das Schubschiff vier enorm lange, ineinander geklammerte Arme. Zwei enthielten normale Raumtriebwerke, die zwei anderen das Hauptstück der Zweckbestimmung des Schiffes, die Necklinfeldgeneratorstäbe, die das Schiff während eines Sprungs durch den Wurmlochraum wirbelten. Zwischen den vier Armen gab es einen riesigen leeren Raum, der normalerweise von den Frachtbehältern besetzt war. Das bizarre Schiff würde vernünftiger aussehen, sobald dieser Raum mit Habitatmodulen angefüllt wäre, dachte Leo. Dann würde sogar er nachgeben und es schön nennen.

Mit einem Rucken seines Kinns rief Leo ein Vid der Energie- und Versorgungsebenen seines Arbeitsanzuges auf, das auf der Innenseite seiner Gesichtsscheibe projiziert wurde. Er würde gerade noch Zeit haben, um zu sehen, wie das erste Modulbündel an seinen Platz geschoben und befestigt wurde, bevor er gezwungen sein würde, eine Pause zu machen und seinen Anzug nachzuladen. Eigentlich war er schon vor Stunden reif für eine Pause gewesen. Er blinzelte sich Augenflüssigkeit und Wasser aus den juckenden, ohne Zweifel blutunterlaufenen Augen und wünschte sich, er könnte sie reiben, und dann saugte er einen weiteren Mundvoll heißen Kaffee aus seinem Trinkrohr. Er hätte auch gern frischen Kaffee gehabt. Das Zeug, das er jetzt trank, war schon genau so lange hier draußen wie er selbst, schmeckte schon abscheulich chemisch und wurde trübe und grünlich. Die D-620 kam nahe an das Habitat heran, hatte ihre Geschwindigkeit präzise dem Habitat angepaßt, und schaltete ihre Antriebsaggregate ab. Die Fluglichter gingen aus, die Parklichter, die anzeigten, daß man sich dem Schubschiff sicher nähern konnte, leuchteten auf. Flutlichtaggregate erleuchteten plötzlich den weiten Frachtraum, als wollten sie sagen: Willkommen an Bord.

Leos Blick wanderte zum Mannschaftsbereich, der im Vergleich zu den gebogenen Armen zwergenhaft wirkte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich ein Personalpod von der Steuerbordseite des Superjumpers löste und zu den Modulen des Habitats herüberkam. Jemand auf dem Heimweg — Silver? Ti? Er mußte so bald wie möglich mit Ti reden. In seinem Bauch löste sich ein Knoten, den er zuvor nicht wahrgenommen hatte. Silver ist sicher zurück. Er raffte sich auf; alle waren zurück. Aber noch nicht sicher. Er aktivierte die Düsen seines Anzugs und holte seine Quaddiemannschaft ein. Dreißig Minuten später entspannte sich Leo, als das erste Modulbündel reibungslos an seinen Platz in der Umarmung der D-620 glitt. In einer Angstvision, die auch durch mehrfache Überprüfung seiner Zahlen nicht vertrieben werden konnte, hatte er befürchtet, daß irgend etwas nicht paßte und dann endloser Aufschub wegen Korrekturen folgte. Die Tatsache, daß sie außer wiederholten Aufforderungen zur Kommunikation noch nichts vom Planeten gehört hatten, beruhigte ihn nicht sonderlich. Das Galac-Tech-Management auf Rodeo mußte schließlich irgendwann reagieren, und es gab nichts, was er gegen diese Reaktion unternehmen konnte, solange sie sich nicht manifestierte. Rodeos offensichtliche Lähmung konnte nicht mehr viel länger dauern.

Inzwischen war die Pausenzeit schon halb vorbei. Vielleicht konnte er Dr. Minchenko überreden, etwas für seinen Kopf, in dem es hämmerte, herauszurücken, um die acht Stunden Schlaf zu ersetzen, die er nicht bekommen würde. Leo wählte auf dem Kommunikator seines Anzugs die Frequenz seiner Vorarbeiterin.

»Bobbi, übernimm die Leitung. Ich gehe nach drinnen. Pramod, bring dein Team rein, sobald die letzte Strebe verbolzt ist. Bobbi, stell’ sicher, daß das zweite Modulbündel solide verbunden ist, bevor du alle äußeren Luftschleusen anlegst und anschließt, kapiert?« »Ja, Leo. Bin schon dran.« Vom anderen Ende des Modulbündels winkte Bobbi bestätigend mit einem unteren Arm. Als sich Leo abwandte, löste sich einer der Einmann-Minischieber, der geholfen hatte, das Modulbündel an seinen Platz zu ziehen, und bereitete sich mit einer Drehung darauf vor, sich abzusetzen und bei dem nächsten Bündel zu helfen, das schon auf der anderen Seite des Superjumpers in Stellung gebracht wurde. Eine seiner Steuerdüsen pustete und spie dann, während Leo noch zuschaute, plötzlich einen tiefblauen Strahl aus. Seine Rotation beschleunigte sich.

Das ist unkontrolliert! dachte Leo. Seine Augen weiteten sich. In dem bloßen Augenblick, den er brauchte, um den richtigen Kanal auf dem Kommunikator seines Anzugs aufzurufen, wurde aus der Rotation ein Drall.

Das Minischubschiff düste wild davon und verfehlte um einen knappen Meter eine Kollision mit einem Quaddie in Arbeitsanzug. Während Leo entsetzt zuschaute, prallte es von der Verkleidung einer der Necklinstabarme des Superjumpers ab und taumelte in den Raum hinaus.

Der Kommunikationskanal des Minischiebers gab nur ein wortloses Kreischen wieder. Leo wechselte die Kanäle. »Vatel!«, rief er den Quaddie, der in dem nächsten anderen kleinen Schubschiff saß. »Hinterher!«

Das zweite Schubschiff rotierte und flitzte an ihm vorüber; Leo sah, wie eine von Vatels behandschuhten Händen durch das Weitwinkelfrontfenster des Schubschiffes den Befehl visuell bestätigte. Leo zügelte einen herzzerreißenden Impuls, selbst hinter ihnen herzudüsen. In einem Arbeitsanzug, dessen Energievorrat erschöpft war, konnte er verdammt wenig tun. Jetzt hing es von Vatel ab.

War ein menschlicher Fehler — oder der eines Quaddie — oder ein mechanischer Defekt die Ursache des Unfalls gewesen? Nun, das würde er schnell genug feststellen können, sobald das Schubschiff wieder hergeschafft war. Falls es hergeschafft wurde … Er unterdrückte diesen Gedanken. Stattdessen düste er zu der Verkleidung des Necklinstabes hinüber. Dort, wo das Schubschiff mit ihr kollidiert war, war die Verkleidung tief eingedellt. Leo versuchte sich selbst zu beruhigen. Das ist nur ein Gehäuse. Es ist genau dazu da, daß es das Innere vor Unfällen wie diesem schützt, nicht wahr? Er zischte bestürzt und zog sich auf die andere Seite, um mit der Lampe seines Arbeitsanzuges in die mannshohe, dunkle Öffnung am einen Ende des Gehäuses zu leuchten.

O Gott!

Der Vortex-Spiegel war angeknackst. Über drei Meter breit an seinem elliptischen Rand, der mathematisch geformt und bis zur Präzision von Ängström-Einheiten poliert war, stellte der Spiegel eine integrale Steuerfläche des Sprungsystems dar, denn er reflektierte, dämpfte oder verstärkte nach dem Belieben des Piloten das Necklinfeld, das von den Hauptstäben erzeugt wurde. Und jetzt war er nicht bloß angeknackst — zersprungen in einem sternförmigen Bruch, kaltes Titan, das über seine Grenzwerte hinaus deformiert war. Leo stöhnte.

Eine zweite Lampe leuchtete an ihm vorbei hinein. Leo schaute sich um und erblickte Pramod neben sich.

»Ist das so schlimm, wie es ausschaut?«, würgte Pramods Stimme über den Kommunikator hervor.

»Ja«, seufzte Leo.

»Können Sie das nicht — mit Schweißen reparieren?« Pramod hob die Stimme. »Was machen wir?«

Müdigkeit und Panik — die schlimmstmögliche Kombination. Leo zwang sich zu einem gleichmütigen Tonfall. »Die Versorgungsanzeige meines Anzugs sagt, daß wir jetzt sofort nach drinnen gehen und eine Pause einlegen werden. Danach werden wir sehen.«

Als Leo seinen Anzug abgelegt hatte, hatte zu seiner ungeheuren Erleichterung Vatel das durchgegangene Schubschiff aufgelesen und ins Dock an seinem Habitatmodul zurückgebracht. Sie holten eine erschrockene Quaddiepilotin heraus, die blaue Flecken davongetragen hatte.

»Es hat blockiert. Ich konnte es nicht losbekommen«, weinte sie. »Wogegen bin ich gestoßen? Habe ich jemanden getroffen? Ich wollte den Treibstoff nicht ablassen, es war die einzige Art und Weise, die mir einfiel, um die Düse abzuwürgen. Es tut mir leid, daß ich den Treibstoff vergeudet habe. Ich konnte sie nicht abstellen …«

Sie war ganze vierzehn Jahre alt, vermutete Leo. »Wie lange warst du auf Schicht?«, wollte er wissen.

»Seit wir angefangen haben«, schniefte sie. Sie zitterte und alle ihre vier Hände bebten, während sie neben ihm in der Luft hing. Er unterdrückte den Impuls, sie ›aufzurichten‹.

»Du lieber Himmel, Kind, das ist ja über 26 Stunden. Mach jetzt mal Pause. Iß was und geh schlafen.«

Sie schaute ihn verwirrt an. »Aber die Schlafraumeinheiten sind alle abgetrennt und mit den Krippen zusammengebündelt. Von hier aus komme ich nicht dahin.«

»Ist das der Grund …? Schau mal, drei Viertel des Habitats sind im Augenblick unzugänglich. Such dir einen Winkel im Rüstraum oder sonstwo.« Er betrachtete einen Moment lang verblüfft ihre Tränen, dann fügte er hinzu: »Es ist erlaubt.« Sie hatte sichtlich Verlangen nach ihrem eigenen vertrauten Schlafsack, den ihr Leo jetzt aber nicht verschaffen konnte.

»Ganz allein?«, sagte sie sehr leise. Sie hatte wahrscheinlich in ihrem bisherigen Leben nie mit weniger als sieben anderen Kindern im gleichen Raum geschlafen, überlegte Leo. Er holte tief Luft, um seine Beherrschung nicht zu verlieren — er würde jetzt nicht anfangen, sie anzuschreien, ganz egal, wie wunderbar das seine eigenen Gefühle entlasten würde —, wie war er überhaupt in diesen Kinderkreuzzug geraten? Im Augenblick konnte er sich nicht daran erinnern.

»Komm mit!« Er nahm sie bei der Hand zum Rüstraum, fand einen Wäschesack, den er an der Wand aufhängte, und half ihr, zusammen mit einem eingewickelten Sandwich in den Sack zu schlüpfen. Ihr Gesicht lugte aus der Öffnung heraus, und einen seltsamen Moment lang kam er sich wie ein Mann vor, der gerade damit beschäftigt war, einen Sack mit kleinen Katzen zu ersäufen.

»Na dann.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Jetzt ist alles besser, was?«

»Danke, Leo«, schniefte sie. »Es tut mir leid wegen dem Schubschiff. Und dem Treibstoff.«

»Wir werden uns darum kümmern.« Er zwinkerte heldenhaft. »Schlaf jetzt ein bißchen, ja? Es wird noch genug Arbeit da sein, wenn du aufwachst, du versäumst gar nichts. Also … gute Nacht.«

»Nacht …«

Im Korridor rieb er sich mit den Händen über das Gesicht. »Nng…«

Drei Viertel des Habitats unzugänglich? Jetzt waren es eher neun Zehntel. Und alle Modulbündel liefen auf Notstrom und warteten darauf, wieder an die Hauptstromversorgung angeschlossen zu werden, während sie in den Superjumper geladen wurden. Für die Sicherheit und das Wohlergehen derjenigen, die an Bord der verschiedenen Untereinheiten eingeschlossen waren, war es lebenswichtig, daß das Habitat so schnell wie möglich voll rekonfiguriert und einsatzbereit gemacht würde.

Ganz zu schweigen davon, daß alle beginnen mußten, sich in dem neuen Labyrinth zurechtzufinden. Mehrfache Kompromisse hatten die Gestaltung beeinflußt — die Krippeneinheiten zum Beispiel konnten in ein inneres Bündel kommen; Docks und Luftschleusen mußten nach außen, dem Raum zugewandt, positioniert werden; Entsorgungsöffnungen waren unvermeidlicherweise abgeschnitten worden, Energiemodule mußten in einer ganz bestimmten Weise montiert werden, die Ernährungseinheiten, die jetzt etwa dreitausend Essen pro Tag ausgaben, brauchten einen bestimmten Zugang zu den Lagerräumen … Bis jeder seine tägliche Routine angepaßt haben würde, gab es eine Weile ein ziemliches Durcheinander, selbst wenn man davon ausging, daß alle Modulbündel mit der richtigen Seite nach oben eingeladen und mit dem richtigen Ende nach vorn verbunden wurden, wenn Leo nicht persönlich die Aufsicht führte — oder selbst wenn er zuschaute, gestand sich Leo ein. Er blickte starr vor sich hin.

Und jetzt die knifflige Frage — sollten sie überhaupt mit dem Beladen weitermachen, auf einen Superjumper, der möglicherweise irreparabel beschädigt war? Der Vortex-Spiegel, du lieber Himmel! Warum hatte sie nicht einen der normalen Triebswerksarme gerammt? Warum nicht einfach Leo selbst umgehauen?

»Leo!«, rief eine vertraute männliche Stimme.

Ti Gulik, der Sprungpilot, kam den Korridor herabgeschwebt. Er war verärgert und hatte die Arme gekreuzt. Wie ein Seestern kam Silver von Handgriff zu Handgriff hinter ihm her, gefolgt von Framod. Gulik packte einen Griff und hielt neben Leo an. Leos Augen trafen Silvers Blick in einem frustrierend kurzen und stummen Gruß, bevor der Sprungpilot ihn bedrängte. »Was haben Ihre verdammten Quaddies mit meinen Necklinstäben angestellt?«, sprudelte Ti hervor. »Wir machen uns diese ganze Mühe, dieses Schiff zu schnappen, bringen es hierher, und ihr fangt praktisch sofort damit an, es in Trümmer zu schlagen — ich hatte es noch kaum geparkt!« Er dämpfte seine Stimme. »Bitte, sagen Sie mir, hat der kleine Mutant«, er wies auf Pramod, »das angestellt …?«

Leo räusperte sich. »Eine von den Steuerdüsen des Schubschiffs blieb offensichtlich in der Stellung ›Ein‹ hängen und versetzte das Schubschiff in einen unkontrollierbaren Drall. Der Begriff ›unvermeidlicher Fehler‹ kommt in meinem Wortschatz nicht vor, aber es war bestimmt nicht der Fehler des Quaddies.«

»Was?«, sagte Ti. »Na ja, Sie versuchen wenigstens nicht, es dem Piloten anzuhängen … aber was für einen Schaden hat es wirklich gegeben?«

»Der Stab selbst wurde nicht getroffen …«

Ti stieß erleichtert den Atem aus.

»… aber der Vortex-Spiegel aus Titan an der Backbordseite wurde zertrümmert.«

Ti gab ein gedämpftes Aufheulen von sich. »Das ist genauso schlimm!«

»Beruhigen Sie sich! Vielleicht nicht ganz so schlimm. Ich habe noch ein oder zwei Ideen. Ich wollte sowieso mit Ihnen reden. Als wir das Habitat übernahmen, war ein Frachtshuttle am Dock.«

Ti beäugte ihn mißtrauisch. »Da hatten Sie Glück. Also?«

»Das war Planung, nicht Glück. Etwas weiß Silver noch nicht …« Leo fing ihren Blick auf, sie machte sich sichtlich auf etwas gefaßt und folgte nüchtern seinen Worten. »Wir konnten Tony nicht zurückholen, bevor wir das Habitat übernahmen. Er ist immer noch im Hospital unten auf Rodeo.«

»O nein«, flüsterte Silver. »Gibt es einen Weg …?« Leo rieb seine schmerzende Stirn. »Vielleicht. Ich bin nicht sicher, ob es gutes militärisches Denken ist — der Präzedenzfall hatte etwas mit Schafen zu tun, glaube ich —, aber ich glaube, ich könnte mir selber nicht mehr in die Augen schauen, wenn wir nicht wenigstens versuchten, ihn zurückzuholen. Dr. Minchenko hat auch versprochen, mit uns zu gehen, wenn wir irgendwie Madame Minchenko aufnehmen können. Sie ist auch unten auf dem Planeten.«

»Dr. Minchenko ist bei uns geblieben?« Silver klatschte in die Hände, sichtlich erfreut. »Oh, das ist gut.« »Nur, wenn wir Madame heraufholen«, mahnte Leo zur Vorsicht. »Das sind also zwei Gründe, einen Ausflug auf den Planeten zu riskieren. Wir haben ein Shuttle, wir haben einen Piloten …«

»O nein«, begann Ti, »warten Sie mal einen Augenblick …«

»… und wir brauchen unbedingt ein Ersatzteil. Wenn wir einen Vortex-Spiegel in einem Lagerhaus auf Rodeo ausfindig machen können …«

»Das werden Sie nicht«, unterbrach ihn Ti nachdrücklich. »Die Reparaturen von Sprungschiffen werden ausschließlich in den Orbitdocks des Distrikts auf Orient IV durchgeführt. Dort wird alles gelagert. Ich weiß das, weil wir einmal ein Problem hatten und vier Tage warten mußten, bis eine Reparaturmannschaft von dort kam. Rodeo hat nichts mit Superjumpern zu tun, nichts.« Er verschränkte die Arme.

»Das habe ich befürchtet«, sagte Leo leise. »Nun, es gibt noch eine weitere Möglichkeit. Wir könnten versuchen, einen neuen Spiegel herzustellen, hier an Ort und Stelle.«

Ti blickte drein, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Graf, diese Sachen schweißt man nicht aus Alteisen zusammen. Ich weiß verdammt gut, daß man sie in einem Stück herstellt — es heißt, daß eine Naht den Fluß des Feldes behindert — und dieses Baby ist an seinem oberen Ende drei Meter breit! Das Ding, mit dem man solche Spiegel preßt, wiegt ‘zig Tonnen. Und die erforderliche Präzision — Sie würden sechs Monate brauchen, um ein solches Projekt zum Laufen zu bringen!«

Leo schluckte und hielt beide Hände mit gespreizten Fingern hoch. Wäre er ein Quaddie gewesen, dann hätte er vielleicht die Versuchung empfunden, die Schätzung zu verdoppeln, aber er sagte: »Zehn Stunden. Sicher, ich hätte gerne sechs Monate. Unten auf dem Planeten. In einer Gießerei. Mit einem Monstrum von Druckgußform aus legiertem Stahl, die bis aufs Millimikron ausgerichtet ist. Und mit jeder Menge Wasserkühlung und einem Team von Assistenten und unbegrenzten Geldmitteln — dann wäre ich in der Lage, zehntausend Einheiten zu produzieren. Aber wir brauchen keine zehntausend Einheiten. Es gibt eine andere Methode. Ein schnelles und schmutziges Einmalverfahren, aber wir werden auch nur für einmal Zeit haben. Doch ich kann nicht hier oben sein und einen Vortex-Spiegel herstellen, und gleichzeitig dort unten und Tony retten. Die Quaddies können nicht hinunterfliegen. Ich brauche Sie, Ti. Ich hätte Sie sowieso in jedem Fall als Pilot für das Shuttle gebraucht. Nun müssen Sie nur ein bißchen mehr für mich tun.«

»Hören Sie mal«, begann Ti, »die ursprüngliche Idee war, daß ich aus der ganzen Sache mit heiler Haut davonkommen würde, weil Galac-Tech glauben würde, daß ich gekidnappt wurde und euch durch das Wurmloch hinausgebracht habe, weil man mir eine Waffe an den Schädel hielt. Ein hübsches, einfaches, glaubhaftes Szenario. Jetzt wird es aber verdammt zu kompliziert. Selbst wenn ich eine solche Nummer abziehen könnte, dann würde man mir nicht glauben, daß ich unter Zwang gehandelt hätte. Was würde mich davon abhalten, daß ich hinunterfliege — und mich einfach stelle? Das ist die Art von Fragen, die man stellen wird, und da können Sie Ihren Arsch drauf verwerten. Nein, verdammt noch mal. Nicht für Liebe, und nicht für Geld.«

»Ich weiß«, knurrte Leo, »wir haben beides angeboten.« Ti blickte ihn wütend an, zog jedoch seinen Kopf ein, um Silvers Blick auszuweichen.

Eine dünne junge Stimme erklang im Korridor. »Leo? Leo …!«

»Hier!«, antwortete Leo. Was war jetzt schon wieder los …?

Einer der jüngeren Quaddies kam in Sicht und stürzte sich auf sie. »Leo! Wir haben überall nach Ihnen gesucht. Kommen Sie schnell!«

»Was gibt’s?« »Eine dringende Botschaft. Auf dem Kommunikator. Von unten.«

»Wir antworten nicht auf deren Botschaften. Totale Funkstille, erinnerst du dich? Je weniger Informationen wir ihnen geben, um so länger brauchen sie, um herauszufinden, was sie mit uns tun sollen.«

»Aber es ist Tony!«

Leos Magen krampfte sich zusammen, und er taumelte hinter dem Boten her. Silver, ganz bleich im Gesicht, und die anderen folgten aufgeregt.

Das Holovid stabilisierte sich und zeigte ein Krankenbett. Tony lehnte an der angehobenen Rückenstütze und blickte direkt ins Vid. Er trug T-Shirt und Shorts und einen weißen Verband um seinen linken unteren Bizeps. Sein Rumpf wirkte dick und steif, was auf Verbände unter der Kleidung schließen ließ. Sein Gesicht war von Falten durchzogen und gerötet. Seine blauen Augen wanderten immer wieder nervös zur Rechten des Bettes, wo Bruce Van Atta stand.

»Sie haben lang genug gebraucht, auf unseren Ruf zu antworten, Graf«, sagte Van Atta und grinste unangenehm.

Leo schluckte schwer. »Hallo, Tony. Wir hier oben haben dich nicht vergessen. Ciaire und Andy geht es gut, sie sind wieder zusammen …«

»Sie sind zum Zuhören hier, Graf, nicht zum Reden«, unterbrach ihn Van Atta. Er betätigte einen Schaltknopf. »Jetzt habe ich Ihre Audioleitung abgeschaltet, da können Sie sich Ihre Worte sparen. Also los, Tony«, Van Atta stupste den Quaddie mit einem silbrigen Stab — was war das? fragte sich Leo besorgt —, »sag dein Sprüchlein auf.«

Tonys Blick wanderte wieder zurück, zu dem stummen Vid-Bild, wie Leo vermutete, und seine Augen weiteten sich. Er holte tief Luft und begann herunterzurasseln: »Was auch immer Sie tun, Leo, machen Sie weiter. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über mich. Bringen Sie Ciaire fort — bringen Sie Andy fort …«

Das Holovid wurde sofort abgeschaltet, obwohl der Audiokanal noch einen Moment länger offen blieb. Er übertrug ein seltsames klatschendes Geräusch, einen Schrei und Van Attas Fluch: »Halt still, du kleiner Scheißkerl!«, dann wurde der Ton auch abgeschaltet.

Leo entdeckte, daß er eine von Silvers Händen hielt.

»Ciaire war hierher unterwegs«, sagte Silver leise, »um diese Übertragung mitzubekommen.«

Leos Augen trafen ihren Blick. »Ich glaube, du solltest sie lieber ablenken.«

Silver nickte grimmig; sie hatte verstanden. »Ganz recht.« Sie schwang sich hinweg. Das Vid meldete sich wieder. Tony saß stumm zusammengekauert am anderen Ende des Bettes, hatte den Kopf gesenkt und hielt sich die Hände vors Gesicht. Neben ihm stand Van Atta mit wütendem Blick und wippte heftig auf seinen Absätzen.

»Der Bursche lernt anscheinend nur langsam«, knurrte Van Atta. »Ich werde es kurz und deutlich machen, Graf. Sie mögen zwar Geiseln haben, aber wenn Sie sie auch nur anrühren, dann können Sie vor jedes Gericht in der Galaxis gebracht werden. Ich habe eine Geisel, mit der ich legal alles tun kann, was ich will. Und wenn Sie nicht glauben, daß ich’s tun werde, dann probieren Sie’s einfach aus. Nun, wir werden Ihnen in einer kleinen Weile ein Sicherheitshuttle hochschicken, um die Ordnung wieder herzustellen. Und Sie werden kooperieren.« Er hielt den silbrigen Stab hoch und drückte auf etwas; Leo sah, wie ein elektrischer Funke von der Spitze sprang. »Das ist ein einfaches Gerät, aber ich kann damit wirklich kreativ werden, wenn Sie mich dazu zwingen. Zwingen Sie mich nicht, Leo.«

»Niemand zwingt Sie …«, begann Leo.

»Ah«, unterbrach Van Atta, »einen Augenblick …« — er berührte die Steuerung seines Holovids — »reden Sie jetzt, damit ich Sie hören kann. Und es sollte lieber etwas sein, daß ich hören will.«

»Niemand hier kann Sie zwingen, irgend etwas zu tun«, knirschte Leo. »Was immer Sie tun, Sie tun es aus Ihrem eigenen freien Willen. Wir haben keine Geiseln. Was wir haben, sind drei Freiwillige, die sich entschieden haben zu bleiben, aus … aus Gewissensgründen, nehme ich an.«

»Wenn Minchenko einer von ihnen ist, dann sollten Sie lieber achtgeben, Leo. Zum Teufel mit dem Gewissen, er möchte sein kleines Reich behalten. Sie sind ein Narr, Graf. Hier …«, er machte eine Bewegung vom Vid fort, »kommen Sie und reden Sie mit ihm in seiner eigenen Sprache, Yei.«

Dr. Yei trat steif ins Sichtfeld, traf Leos Blick und befeuchtete die Lippen. »Mr. Graf, bitte, beenden Sie diese Verrücktheit. Was Sie zu tun versuchen, ist unglaublich gefährlich, für alle Betroffenen …« Van Atta illustrierte diese Worte, indem er den Elektrostab mit einem säuerlichen Grinsen über ihrem Kopf schwenkte, sie blickte ihn irritiert an, sagte aber nichts und machte grimmig weiter: »Ergeben Sie sich jetzt, und der Schaden kann wenigstens begrenzt werden. Bitte. Um aller Beteiligten willen. Sie haben die Macht, das Ganze zu stoppen.«

Leo schwieg für einen Augenblick, dann lehnte er sich vor. »Dr. Yei, ich bin vierundvierzigtausend Kilometer hoch über Ihnen. Sie sind dort mit ihm im gleichen Raum … stoppen Sie ihn.« Er schaltete das Holovid aus und verharrte in starrem Schweigen.

»Ist das klug?«, würgte Ti unsicher hervor.

Leo schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber ohne Zuhörer gibt es gewiß keinen Grund, weiter eine Schau abzuziehen.«

»War das nur Theater? Wie weit wird der Kerl wirklich gehen?« »In der Vergangenheit habe ich erlebt, daß er ein ziemlich unbeherrschtes Temperament hat, wenn er erregt ist. Ein Appell an sein Eigeninteresse hat ihn für gewöhnlich wieder abgeregt. Aber wie Sie bestimmt selbst erkannt haben, sind die Karrieregewinne bei diesem Schlamassel minimal. Ich weiß nicht, wie weit er gehen wird. Ich glaube, das weiß nicht einmal er selbst.«

Nach einer langen Pause sagte Ti: »Brauchen Sie immer noch — einen Shuttlepiloten, Leo?«

Загрузка...