KAPITEL 11

Ti seinen Willen zu lassen, daß er an das Supersprungschiff andockte, war ein Fehler gewesen, erkannte Silver, als das Knirschen und Beben ihres Aufpralls auf die Andockklampen durch das Schubschiff widerhallten. Zara, die ängstlich neben ihr schwebte, stöhnte leise. Ti fauchte sie wortlos über die Schulter hinweg an, dann richtete er seine nachlassende Aufmerksamkeit wieder auf die Steuerung.

Nein — ihr Fehler, daß sie seiner Autorität als männlicher, zweibeiniger Planetarier erlaubt hatte, sich über ihre vernünftigen Überlegungen hinwegzusetzen — sie wußte, daß er nicht für diese Schubschiffe zugelassen war, er hatte es ihr selbst gesagt. Er war erst dann eine Autorität, wenn sie in das Supersprungschiff hineingelangt waren.

Nein, sagte sie sich nachdrücklich, nicht einmal dann.

»Zara«, rief sie, »übernimm die Steuerung.«

»Verdammt«, begann Ti, »wenn du bloß …«

»Wir brauchen Ti viel zu sehr auf den Kommunikationskanälen, um ihn für die Steuerung frei zu haben«, warf Silver ein und hoffte verzweifelt, Ti würde diesen Köder nicht verschmähen, den sie seinem Stolz anbot.

»Mm.« Widerwillig ließ sich Ti von Zara beiseite schieben.

Der Andockring des Anschlußrohrs setzte nicht richtig auf. Ein zweites Andockmanöver, doch alles hoffnungsvolle Geschüttel der automatischen Fernsteuerung konnte den Andockring nicht dazu bringen, richtig abzuschließen. Silver fürchtete, sie würde sterben, oder wünschte, sie könnte es, sie war sich selbst nicht sicher. Alle ihre Hände schwitzten, und als sie die Laserlötpistole aus der einen in die andere Hand wechselte, wurde der Griff nur noch feuchter.

»Siehst du«, sagte Ti zu Zara, »du kannst es auch nicht besser.«

Zara funkelte ihn an. »Du hast einen von den Ringen verbogen, du Unglücksrappe. Hoffentlich ist es der ihre und nicht unserer.«

»Das heißt ›Unglücksrabe‹«, korrigiert Jon hilfsbereit, während er sich hinten an der Luke bemühte, sie richtig einrasten zu lassen. »Wenn du schon Planetarierausdrücke benutzt, dann wenigstens richtig.«

»Schubschiff R-26 ruft Galac-Tech-Supersprungschiff D620«, sprach Ti zitternd in den Kommunikator. »Jon, wir müssen uns noch einmal lösen und kommen dann auf die andere Seite hinüber. Das funktioniert hier nicht.«

»Nur zu, Ti«, antwortete die Stimme des Sprungpiloten. »Bist du krank? Du klingst nicht sonderlich gut. Das war miserabel angedockt. Worin besteht denn euer Notfall?«

»Das erkläre ich, wenn wir an Bord sind.« Ti blickte auf. Zara nickte bestätigend. »Wir lösen uns jetzt.«

An der Steuerbordluke hatten sie mehr Glück. Nein, erinnerte sich Silver erneut, wir schmieden unser eigenes Glück. Und ich bin dafür verantwortlich.

Ti schob sich als erster durch das Anschlußrohr. Auf der anderen Seite erwartete ihn der Ingenieur des Sprungschiffes. Silver hörte seine verärgerte Stimme: »Gulik, du hast unseren Andockring an Backbord verbogen. Ihr Drahtschädel haltet euch alle für die Größten, wenn ihr an euren Aggregaten hängt, aber bei der Handsteuerung seid ihr ohne Ausnahme die Tolpatschigsten …« Seine Worte gingen in ein leises Zischen über, als Silver durch die Luke gehuscht kam und ihre Laserlötpistole entschlossen auf seinen Bauch richtete. Er brauchte einen Moment, bis er die Waffe bemerkte. Er riß Augen und Mund weit auf, als Siggy und Jon sich Silver anschlossen.

»Nimm uns zum Piloten, Ti«, sagte Silver. Sie hoffte, daß die Angst ihre Stimme wütend und wild klingen lassen würde, nicht schüchtern und schwach. All ihre Kraft schien sie verlassen zu haben; nur ein flaues Gefühl im Magen war zurückgeblieben. Sie schluckte und packte die Lötpistole fester.

»Was, zum Teufel, ist hier los?«, begann der Ingenieur. Seine Stimme klang jetzt eine Oktave höher als zuvor. Er räusperte sich und sagte in seiner normalen Tonlage: »Wer seid ihr … überhaupt? Gulik, gehören die zu dir …?«

Ti zuckte die Achseln und setzte ein mattes Lächeln auf, das entweder gut gespielt oder echt war. »Nicht direkt. Ich gehöre eher zu ihnen.«

Siggy erinnerte sich und richtete seine Lötpistole auf Ti. Als Silver diesen Trick befürwortet hatte, hatte sie ihre eigenen Gedanken darüber völlig geheimgehalten. Daß Ti unbewaffnet und offensichtlich von den Waffen der Quaddies gezwungen daherkam, deckte ihn für den Fall einer späteren Gefangennahme und juristischen Verfolgung. Gleichzeitig wurde dadurch die Möglichkeit verschleiert, daß seine Scheinentführung echt werden könnte, falls er sich im letzten Augenblick entschließen sollte, wieder auf die Seite seiner zweibeinigen Gefährten überzuwechseln. Ein kompliziertes Räderwerk, mußten alle Führer so mehrschichtig denken? Es bereitete ihr Kopfschmerzen.

Sie durchquerten schnell den kompakten Mannschaftsbereich in Richtung auf den Steuerraum. Der Sprungpilot thronte in seinem gepolsterten Sessel und war an die massive Krone seines Steueraggregats angeschlossen: ein zeitweiliger königlicher Cyborg. Sein purpurner Firmenoverall war mit grellbunten Aufnähern versehen, die stolz seinen Rang und seine Spezialfunktionen verkündeten. Er hielt die Augen geschlossen und summte lautlos im Rhythmus des pulsierenden Biofeedbacks seines Schiffes.

Er schrie überrascht auf, als sein Aggregat sich löste und in die Höhe ging und damit seine Kommunikation mit dem Schiff unterbrach. Ti hatte den Trennschalter gedrückt. »Himmel, Ti, mach sowas nicht — du weißt doch …« Beim Anblick der Quaddies schluckte er einen zweiten Schrei hinunter. Er lächelte Silver völlig verwirrt zu. Sein Blick hatte geschockt ihre Anatomie wahrgenommen und richtete sich jetzt höflich auf ihr Gesicht. Sie wackelte mit der Lötpistole, um ihn darauf aufmerksam zu machen.

»Raus aus dem Sessel«, befahl sie.

Er duckte sich. »Hören Sie mal, Lady … hm … was ist das?«

»Eine Laserpistole. Raus aus dem Sessel.«

Er taxierte sie mit den Augen, taxierte Ti, warf seinem Ingenieur einen Blick zu. Seine Hand stahl sich zu der Schnalle seines Sitzgurtes, zögerte dann. Seine Muskeln spannten sich.

»Raus, aber langsam«, fügte Silver hinzu.

»Warum?«, fragte er.

Er spielt auf Zeit, dachte Silver.

»Diese Leute wollen dein Schiff ausleihen«, erklärte Ti.

»Entführer!«, keuchte der Ingenieur, der neben der luftdichten Tür schwebte. Jons und Siggys Lötpistolen drehten sich ihm zu. »Mutanten …«

»Raus!«, wiederholte Silver, ihr Stimme war unwillkürlich schärfer geworden.

Das Gesicht des Piloten war gespannt und nachdenklich. Seine Hände wanderten vom Gürtel zu seinen Knien und ruhten dort in geheuchelter Entspannung. »Was ist, wenn ich es nicht tue?«, forderte er sie sanft heraus.

Silver glaubte zu spüren, wie die Kontrolle über die Situation allmählich von ihr auf den Piloten überging, angezogen von seiner überlegenen Imitation von Gelassenheit. Sie warf Ti einen Blick zu, aber der hielt sich sicher und fest an seine Rolle des hilflosen — und nicht hilfreichen — Opfers.

Ein Herzschlag verging, ein zweiter, ein dritter. Der Pilot begann sich zu entspannen und atmete langsam aus. In seinen Augen erschien ein selbstgefällig triumphierendes Funkeln. Er hatte sie durchschaut; er wußte, daß sie nicht feuern konnte. Seine Hände kehrten zu der Gürtelschnalle zurück und er zog die Füße an, um sich gleich von seinem Sitz abzustoßen.

Sie hatte es so oft in ihrer Vorstellung geübt, daß das tatsächliche Geschehen fast nichts besonderes mehr war. Sie empfand eine gläserne Klarheit, als ob sie sich aus einer Distanz oder aus einer anderen Zeit, Vergangenheit oder Zukunft, beobachtete. Der Augenblick schrieb die Wahl des Zieles vor, und das war sie zuvor schon immer wieder ohne Überlegung durchgegangen; sie zielte mit der Lötpistole auf einen Punkt direkt unter seinen Knien, weil sich dahinter keine wertvollen Steuerinstrumente befanden.

Es war überraschend leicht, den Knopf zu drücken, die Arbeit eines einzigen kleinen Muskels in ihrem oberen rechten Daumen. Der Strahl war von einem stumpfen Blau und ließ sie nicht einmal blinzeln; allerdings flackerte kurz eine helle gelbe Flamme am Rande des geschmolzenen Stoffs seines angeblich unbrennbaren Overalls auf und erlosch dann. Ihre Nasenflügel zuckten bei dem Gestank des verbrannten Stoffes, der durchdringender war als der Geruch verbrannten Fleisches. Dann krümmte sich der Pilot zusammen und schrie.

Ti stammelte: »Warum machst du das? Er war noch an seinen Sessel gegurtet, Silver!« Er blickte sie verdutzt an. Der Ingenieur war zuerst krampfhaft zusammengezuckt und erstarrte dann unterwürfig. Seine Augen huschten von einem Quaddie zum anderen. Siggys Mund stand offen; Jon preßte seine Lippen zusammen.

Die Schreie des Piloten machten ihr Angst und drangen ihr wie Stiche in den Kopf. Sie richtete die Lötpistole wieder auf ihn. »Schluß mit dem Lärm!«, herrschte sie ihn an. Erstaunlicherweise hörte er auf. Sein Atem pfiff durch die zusammengebissenen Zähne, als er den Kopf drehte und sie mit vor Schmerz zusammengekniffenen Augen anstarrte. Die Verbrennungen an seinen Beinen schienen in der Mitte kauterisiert zu sein, schwarze, undeutliche Schatten — Silver war hin- und hergerissen zwischen Abscheu und dem neugierigen Verlangen, sich näher anzuschauen, was sie da angerichtet hatte. Die Ränder der Verbrennungen schwollen rot an, gelbes Plasma sickerte schon durch, klebte aber an seiner Haut; eine Absaugung war nicht notwendig. Die Verletzung schien nicht unmittelbar lebensbedrohlich zu sein.

»Siggy, gurte ihn los und hol ihn aus dem Steuersitz heraus!«, befahl Silver. Diesmal gehorchte Siggy sofort, ohne weitere Argumente und ohne jede Anregung aus seinen Holodramen, wie man es besser machen könnte.

Genaugenommen hatte ihre Aktion auf alle Anwesenden, nicht nur die Gefangenen, eine höchst erfreuliche Wirkung. Alle bewegten sich schneller. Man könnte süchtig danach werden, dachte Silver. Kein Streit, keine Beschwerden …

Doch eine Beschwerde. »War das notwendig?«, fragte Ti, als sie die Gefangenen vor sich her durch den Korridor schoben. »Er war dabei, für dich seinen Sitz zu räumen …«

»Er war drauf und dran, auf mich loszugehen.«

»Das weißt du aber nicht sicher.« »Ich hätte ihn nicht mehr treffen können, sobald er sich bewegte.«

»Aber das mußte doch nicht sein …«

Sie wandte sich ihm mit einer heftigen Bewegung zu; er zuckte zurück. »Wenn wir dieses Schiff nicht in die Hand bekommen, dann werden tausend meiner Freunde sterben. Es mußte sein, und ich habe mich dafür entschieden. Ich würde mich wieder so entscheiden. Kapiert?« Und du triffst deine Entscheidung für alle, Silver, hörte sie das Echo von Leos Stimme in ihrer Erinnerung.

Ti gab sofort nach. »Jawohl, Chefin.«

Jawohl, Chefin? Silver blinzelte und drängte sich an ihm vorbei nach vorn, um ihre Verwirrung zu verbergen. Als Reaktion auf das Geschehene zitterten jetzt ihre Hände. Sie betrat als erste das Rettungspod, scheinbar, um die gesamten Kommunikationsgeräte außer dem Notfallsignalgeber herauszureißen und den Erste-Hilfe-Kasten zu überprüfen — er war vorhanden und komplett —, aber auch, um einen Moment lang allein zu sein, außerhalb des Blickfeldes der staunenden Augen ihrer Gefährten.

War das die Lust an der Macht, die Van Atta empfand, wenn alle ihm gegenüber nachgaben? Es war offensichtlich, was das Abfeuern der Waffe bei dem widerspenstigen Piloten bewirkt hatte, aber was hatte es bei ihr bewirkt? Für jede Aktion gab es eine gleichartige, gegensätzliche Reaktion. Das war eine körperliche Intuition, ein instinktives Wissen, das von der Geburt an tief in jedem Quaddie vorhanden war und an jeder Bewegung deutlich demonstriert werden konnte.

Sie verließ das Pod wieder. Ein heiseres Stöhnen kam über die Lippen des Piloten, als seine Beine aus Versehen gegen die Luke stießen, während sie ihn und den Ingenieur in das Rettungspod steckten. Dann verschlossen sie es und sprengten es vom Sprungschiff ab. Silvers Erregung wich innerlich einem kühlen Gefühl der Entschlossenheit, obwohl ihre Hände noch zitterten, aus Mitleid mit den Schmerzen des Piloten. So war es also. Die Quaddies waren letztlich nicht anders als die Planetarier. Alle schlimmen Dinge, die Planetarier tun konnten, konnten auch Quaddies tun. Wenn sie sich dafür entschieden.


Na also! Indem man die Pflanzrohre in diesem Winkel positionierte, mit einer Rotationszeit von sechs Stunden, konnte man im Hydrokulturmodul mit vier Spektrallampen weniger auskommen, und es fiel noch genug Licht auf die Blätter, um binnen vierzehn Tagen die Blüte auszulösen. Ciaire gab den Befehl in ihrem Laptop-Computer ein und ließ das Analogmodell einmal den ganzen Zyklus schnell vorwärts durchlaufen, einfach um sicher zu gehen. Die neue Wachstumskonfiguration würde nach ihrer ersten Schätzung den Energieverbrauch des Moduls um etwa zwölf Prozent reduzieren. Das war gut, denn bis das Habitat seinen Bestimmungsort erreichte und die empfindlichen Solarkollektoren wieder ausrollte, würde Energie sehr kostbar sein.

Sie schaltete den Laptop ab und seufzte. Das war die letzte Planungsaufgabe, die sie noch erledigen konnte, solange sie sich noch hier oben im Clubhaus einschloß. Es war ein gutes Versteck, aber zu ruhig. Es war schrecklich schwer gewesen, sich zu konzentrieren, aber nichts zu tun zu haben, war schlimmer, wie sie jetzt entdeckte, während die Sekunden vorüberkrochen. Sie schwebte zum Schrank, holte einen Beutel Rosinen heraus und aß sie einzeln. Als sie damit fertig war, umschloß sie wieder das klebrige Schweigen.

Sie stellte sich vor, wie sie Andy wieder in den Armen hatte, wie seine warmen kleinen Finger die ihrigen in gegenseitiger Geborgenheit festhielten, und sie wünschte sich, Silver möge sich beeilen und ihr Signal senden. Sie stellte sich Tony vor, wie er unten auf dem Planeten im Krankenhaus gefangen war, und hoffte schmerzlich, daß Silver sich verspätete, damit Tony durch irgendein Wunder im letzten Augenblick zurückgeholt werden konnte. Sie wußte nicht, ob sie die vorübergehenden Minuten beschleunigen oder anhalten sollte, aber jede einzelne schien sie körperlich zu treffen.

Die Türen zischten und ließen sie ängstlich zusammenfahren. War sie entdeckt …? Nein, es waren drei Quaddiemädchen, Emma, Patty und Kara, die Helferin auf der Krankenstation.

»Ist es Zeit?«, fragte Ciaire heiser.

Kara schüttelte den Kopf. »Warum geht es nicht los, was hält Silver auf …« Ciaire verstummte. Sie konnte sich allzu viele verhängnisvolle Gründe für Silvers Verspätung vorstellen.

»Sie sollte lieber ihr Signal bald geben«, sagte Kara. »Im ganzen Habitat wird nach dir gejagt. Mr. Wyzak, der Leiter der Abteilung Wartung Luftsysteme ist schließlich auf den Gedanken gekommen, hinter die Wände zu schauen. Jetzt sind sie im Abschnitt Andockbucht. In seiner Mannschaft ist bei allen plötzlich die fürchterlichste Ungeschicklichkeit ausgebrochen«, ihr Mund verzog sich zu einem Grinsen, »aber sie werden sich am Ende bis hierher durcharbeiten.«

Emma packte einen von Karas unteren Armen. »Ist das hier in diesem Fall wirklich das beste Versteck für uns?«

»Für jetzt muß es ausreichen. Ich hoffe, die Dinge entwickeln sich, bevor Dr. Curry sich bis zum Ende seiner Liste vorgearbeitet hat, sonst wird es hier drinnen schrecklich eng«, sagte Kara.

»Hat sich Dr. Curry denn erholt?«, fragte Ciaire und war sich dabei nicht sicher, ob sie ein Ja oder ein Nein hören wollte. »Genug erholt, um operieren zu können? Ich hatte gehofft, er würde länger außer Gefecht sein.« Kara kicherte. »Nicht ganz. Er hängt dort schielend und keuchend herum und führt die Aufsicht, während die Krankenschwester die Injektionen gibt. Oder er würde die Aufsicht führen, wenn sie welche von den Mädchen finden könnten, denen sie Injektionen geben wollen.«

»Injektionen?«

»Zur Abtreibung«, sagte Kara mit einer Grimasse.

»Oh. Das war dann eine andere Liste als die, auf der ich stand.« Deshalb also sahen Emma und Patty so bleich aus, als wären sie nur knapp davongekommen.

Kara seufzte. »Na ja, wir hier sind wahrscheinlich alle auf der einen oder anderen Liste.« Sie schlüpfte wieder hinaus.

Die Gesellschaft der beiden anderen Quaddies heiterte Ciaire auf, obwohl deren Verschwinden eine größere Gefahr der Entdeckung nicht nur ihrer selbst, sondern auch ihrer Pläne bedeutete. Wieviel mehr konnte noch falschlaufen, bevor das planetarische Personal des Habitats anfing, die richtigen Fragen zu stellen? Mal angenommen, der ganze Plan wurde vorzeitig aufgedeckt, indem man der Spur folgte, die sie gelegt hatte? Hätte sie sich widerstandslos Dr. Currys Prozedur fügen sollen, bloß um das Geheimnis noch ein bißchen länger zu bewahren? Angenommen, ›ein bißchen länger‹ war genau der Unterschied zwischen Erfolg und Desaster?

»Was sollen wir jetzt bloß tun?«, sagte Emma mit dünner Stimme.

»Einfach warten. Es sei denn, du hast etwas zu tun mitgebracht«, sagte Ciaire. Emma schüttelte den Kopf. »Kara hat mich vor etwa zehn Minuten einfach aus meiner Arbeitsschicht in der Abteilung Kleinreparaturen rausgeholt. Ich habe nicht daran gedacht, irgend etwas mitzubringen.«

»Mich hat sie aus meinem Schlafsack geholt«, sagte Patty. Trotz der Spannung entfuhr ihr ein Gähnen. »Ich bin so müde, in letzter Zeit …« Geistesabwesend strich sich Emma mit ihren unteren Handflächen über den Unterleib, in einer kreisförmigen Bewegung, die Ciaire vertraut war; also hatten die Mädchen schon mit den geburtsvorbereitenden Übungen begonnen.

»Ich frage mich, wie das alles gehen wird«, seufzte Emma. »Wie es ausgehen wird. Wo wir alle in sieben Monaten sein werden …«

Diese Zahl hatte sie kaum zufällig gewählt, erkannte Ciaire. »Auf jeden Fall fort von Rodeo. Oder tot.«

»Wenn wir tot sind, werden wir keine Probleme haben«, sagte Patty. »Wenn nicht … Ciaire, wie sind die Wehen? Wie sind sie wirklich?« Ihr eindringlicher Blick bat Ciaire um Beruhigung. Von ihnen dreien war Ciaire die einzige mit Erfahrung, eingeweiht in die mütterlichen Mysterien des Leibes. Verständnisvoll antwortete Ciaire: »Sie waren nicht gerade angenehm, aber man kann damit fertigwerden. Dr. Minchenko sagt, wir haben es viel besser als die Planetarierfrauen. Wir haben ein elastischeres Becken mit einem breiteren Beckenausgang, da wir nicht mit der Schwerkraft zu kämpfen haben. Er sagt, das sei seine eigene Gestaltungsidee gewesen, wie die Abschaffung des Hymens — was immer das gewesen sein mag. Etwas Schmerzliches, nehme ich an.«

»Uff, die armen Dinger«, sagte Emma. »Ich frage mich, ob ihre Babies ihnen nicht von der Schwerkraft aus dem Leib gesaugt werden?«

»Davon habe ich noch nie gehört«, sagte Ciaire unsicher. »Er sagte, daß sie gegen Ende der Schwangerschaft Schwierigkeiten hätten, weil das Gewicht des Babys ihren Kreislauf abschneidet und auf ihre Nerven und Organe und so weiter drückt.«

»Ich bin froh, daß ich nicht als Planetarier geboren wurde«, sagte Emma. »Zumindest nicht als Planetarierfrau. Denk bloß an die armen Planetariermütter, die sich Sorgen machen müssen, ob ihre Helferinnen nicht ihre Neugeborenen fallen lassen.« Sie schauderte. »Dort unten ist es schrecklich«, bestätigte Ciaire leidenschaftlich, in Erinnerung an ihren Aufenthalt auf Rodeo. »Es ist jedes Risiko wert, nicht nach dort unten gehen zu müssen. Wirklich.«

»Aber in sieben Monaten werden wir auf uns allein gestellt sein«, sagte Patty. »Du hattest Hilfe. Du hattest Dr. Minchenko. Emma und ich — wir werden ganz allein sein.« »Nein, werdet ihr nicht«, sagte Ciaire. »Was für ein schrecklicher Gedanke. Kara wird da sein — ich werde kommen — wir alle werden helfen.«

»Leo wird mit uns mitkommen«, warf Emma ein und versuchte dabei, optimistisch zu klingen. »Er ist ein Planetarier.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob er auf diesem Gebiet Erfahrungen hat«, sagte Ciaire aufrichtig und versuchte sich Leo als Medizintechniker vorzustellen. Er kümmerte sich nicht um hydraulische Systeme, hatte er gesagt. Sie fuhr entschlossener fort: »Auf jeden Fall ging das ganze komplizierte Zeug bei Andys Geburt vor allem um die Sammlung von Daten, denn ich war eine der ersten, und man arbeitete damals die Prozeduren aus, sagte Dr. Minchenko. Das Baby zur Welt zu bringen war nicht so schlimm. Dr. Minchenko hat es nicht getan — in Wirklichkeit habe auch ich es nicht getan, mein Körper hat es getan. So gut wie alles, was Dr. Minchenko tat, war, den Handsauger zu halten. Es ist unsauber, aber unkompliziert.« Wenn biologisch nichts schiefgeht, dachte sie, und war im letzten Moment klug genug, diesen Gedanken nicht laut auszusprechen.

Patty sah immer noch unglücklich drein. »Ja, aber die Geburt ist bloß der Anfang. Die Arbeit für Galac-Tech hat uns in Trab gehalten, aber seit diese Geschichte mit der Flucht aufkam, haben wir dreimal so hart gearbeitet. Und man muß schon eine trübe Birne sein, um nicht zu sehen, daß es später noch schlimmer wird. Da ist kein Ende in Sicht. Wie werden wir mit allem fertig, und dann obendrein noch mit den Babies? Ich bin mir nicht sicher, ob ich von dieser Geschichte mit der Freiheit viel halte. Leo rühmt die Freiheit, aber für wen ist sie? Nicht für mich. Ich hatte mehr freie Zeit, als ich für die Firma arbeitete.«

»Willst du dich bei Dr. Curry melden?«, fragte Emma.

Patty zuckte verlegen die Achseln. »Nein …«

»Ich glaube nicht, daß er mit Freiheit freie Zeit meint«, sagte Ciaire nachdenklich. »Mehr so etwas wie Überleben. Wie … wie zum Beispiel nicht für Leute arbeiten müssen, die ein Recht haben, auf uns zu schießen, wenn sie wollen.« Mit einem stechenden Schmerz durchzuckte sie eine herbe Erinnerung und ließ ihre Stimme schärfer klingen. Verlegen bemühte sie sich um einen weicheren Ton. »Wir werden immer noch arbeiten müssen, aber dann für uns selbst. Und unsere Kinder.«

»Vor allem für unsere Kinder«, sagte Patty düster.

»Das ist nicht so schlimm«, bemerkte Emma.

Ciaire glaubte, den Grund für Pattys Pessimismus erahnt zu haben. »Und nächstesmal — wenn du ein nächstesmal haben möchtest — kannst du wählen, wer der Vater deines Babys sein soll. Dann wird niemand mehr da sein, der dir da dreinredet.«

Pattys Gesicht hellte sich sichtbar auf. »Das ist wahr …«

Claires Versicherungen schienen zu wirken; das Gespräch wandte sich für eine Weile weniger bedrohlichen Themen zu.

Viel später öffneten sich die Türen, und Pramod steckte den Kopf herein.

»Wir haben Silvers Signal bekommen«, sagte er einfach.

Ciaire stieß einen Freudenschrei aus; Patty und Emma umarmten sich und wirbelten in der Luft umher.

Pramod hob warnend die Hand. »Es geht noch nicht los. Ihr müßt noch etwas länger hier drinnen bleiben.«

»Nein, warum denn?«, rief Emma.

»Wir warten auf ein besonderes Nachschubshuttle von unten. Wenn es andockt, das ist dann das neue Signal, daß es losgeht.«

Claires Herz pochte. »Tony — haben sie Tony an Bord?«

Pramod schüttelte den Kopf. Seine dunklen Augen teilten ihren Schmerz. »Nein, Brennstäbe. Leo hat sich Sorgen deswegen gemacht. Er befürchtet, daß wir ohne sie vielleicht nicht genügend Energie haben, um das Habitat für den ganzen Weg bis zum Wurmloch zu beschleunigen.«

»Oh — ja, natürlich.« Ciaire sank zusammen.

»Bleibt hier drinnen, haltet aus, und ignoriert alle Notfallsirenen, die ihr vielleicht hört«, sagte Pramod. In einer Geste der Ermutigung ballte er seine unteren Hände zu Fäusten und zog sich zurück.

Ciaire richtete sich wieder aufs Warten ein. Sie stand so unter Spannung, daß sie hätte weinen können, aber sie wollte Patty und Emma kein schlechtes Beispiel geben.


Bruce Van Atta drückte einen Finger auf einen seiner Nasenflügel, so daß das eine Nasenloch verschlossen wurde, und schnaufte mächtig durch das andere, dann wechselte er die Seiten und wiederholte die Prozedur. Zum Teufel mit der Schwerelosigkeit und ihrem Mangel an richtigem Abfluß aus den Nasennebenhöhlen, der zu ihren anderen Unbequemlichkeiten noch dazukam. Er konnte es kaum erwarten, wieder auf die Erde zurückzukehren. Selbst das trostlose Rodeo würde eine Verbesserung darstellen. Er überlegte müßig, ob er sich eine Ausrede ausdenken konnte — vielleicht die, daß er inspizieren wollte, ob die Kaserne für die Quaddies schon hergerichtet wurde. Das konnte auf bis zu fünf Tage ausgedehnt werden, wenn er es richtig anstellte.

Er schwebte hinüber und landete in einer Ecke von Dr. Yeis Büro, das einen keilförmigen Grundriß hatte, blickte über ihren Schreibtisch, den Rücken einer flachen Innenwand zugekehrt, die Füße dort aufgestützt, wo ihre dicht mit Papieren und Plastikfolien besetzte Magnettafel eine Biegung machte. Yei preßte verärgert die Lippen aufeinander, als sie sich zu ihm umdrehte. Er brachte seine Beine in eine bequeme überkreuzte Stellung, wobei er absichtlich ihre Papiere durcheinanderbrachte — damit konnte er die Psychologin irritieren. Sie nahm jedoch den Köder nicht an und blickte wieder auf ihr Holovid-Display, und er zerknitterte noch ein paar Papiere. Schwaches Weib, dachte er. Es war eine Erleichterung für ihn, daß sie nur noch wenige Wochen zusammenarbeiten mußten und daß er sie nicht mehr bei Laune zu halten brauchte.

»Also«, stichelte er, »wie weit sind wir?«

»Nun, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht — tatsächlich«, fügte sie ziemlich gehässig hinzu, »weiß ich nicht einmal, was Sie tun …«

Van Atta grinste anerkennend. Also konnte der Wurm doch noch zappeln. Einige Administratoren wären vielleicht von der angedeuteten Insubordination beleidigt gewesen; er gratulierte sich selber zu seinem Sinn für Humor.

»… aber bis jetzt habe ich etwa die Hälfte des Personals über ihren jeweiligen neuen Auftrag informiert.«

»Hat Ihnen jemand Schwierigkeiten gemacht? Ich spiele gern den Schurken, wenn nötig«, bot er nobel an, »und setze die unter Druck, die sich nicht kooperativ zeigen.«

»Alle sind natürlich ziemlich geschockt«, erwiderte sie, »jedoch glaube ich, Ihre … direkte Intervention wird nicht erforderlich sein.«

»Gut«, sagte er vergnügt.

»Ich glaube, es wäre besser gewesen, es ihnen allen auf einmal zu sagen. Diese Methode, die Information Stückchen- und tröpfchenweise herauszugeben, provoziert gerade die Art von Gerüchtemacherei, die am wenigsten wünschenswert ist.«

»Ja nun, jetzt ist es zu spät …«

Seine Worte wurden von dem überraschenden Geheul einer Alarmsirene unterbrochen, die über die Bordsprechanlage ertönte. Yeis Holovid wurde abrupt vom Notfallkanal der Abteilung Zentrale Systeme überlagert.

Eine heisere männliche Stimme, ein angespanntes Gesicht — guter Gott, es war Leo Graf — meldeten sich auf dem Display.

»Notfall, Notfall«, rief Graf — von wo aus rief er? —, »wir haben einen Notfall wegen Druckabfall. Das ist keine Übung. Alle Planetarier im Personal des Habitats sollen sich sofort in die gekennzeichnete Sicherheitszone begeben und dort bleiben, bis Entwarnung gegeben wird …«

Auf dem Holovid erschien ein vom Computer generierter Plan, der den kürzesten Weg von diesem Terminal zu den gekennzeichneten Sicherheitsmodulen zeigte — zu einem Modul, wie Van Atta sah. Scheiße, der Druckabfall mußte sich auf das gesamte Habitat erstrecken. Was, zum Teufel, war da los?

»Notfall, Notfall, das ist keine Übung«, wiederholte Graf.

Yei starrte ebenfalls mit großen Augen auf den Plan; jetzt sah sie mehr denn je wie ein Frosch aus. »Wie kann das sein? Das Abdichtungssystem soll doch den Problembereich vom Rest isolieren …«

»Ich wette, ich weiß es«, sprudelte Van Atta hervor. »Graf hat an der Struktur des Habitats herumgepfuscht, als Vorbereitung für die Demontage — ich gehe jede Wette ein, er oder seine Quaddies haben gerade etwas ganz prächtig verpfuscht. Wenn nicht dieser Idiot Wyzak etwas angestellt an … an — los, kommen Sie!«

»Notfall, Notfall«, leierte Grafs Stimme weiter, »das ist keine Übung. Alle Planetarier im Personal des Habitats sollten sofort zu … — Scheißkerl!« Sein Kopf schoß herum, verschwand und hinterließ nur den drängend pulsierenden Plan auf dem Display.

Van Atta schob Yei, deren Blick immer noch an dem Plan auf dem Terminal hing, zu ihrer Bürotür hinaus, dann durch die luftdichten Türen am Ende des Moduls, die eigentlich hätten geschlossen sein sollen, aber noch offen waren. Die Türen schienen halboffen stehengeblieben zu sein, die Steuerung funktionierte nicht und war nutzlos, während Van Atta und Yei sich einem plappernden Strom von Planetariern anschlossen, die sich eilends in Sicherheit begaben. Van Atta schluckte und verfluchte seine Nasennebenhöhlen, als ein Ohr aufsprang, während das andere verstopft blieb und pochte. Eine vom Adrenalin ausgelöste Unruhe bebte in seinem Magen.

Als sie im Vortragsmodul C ankamen, war es schon vollbesetzt mit Planetariern in jedem denkbaren Stadium der Bekleidung und Entkleidung. Eine Frau vom Küchenpersonal hatte eine Schachtel mit tiefgefrorenen Lebensmitteln unter den Arm geklemmt — Van Atta lehnte die Vorstellung ab, daß sie über eine Insiderinformation über die Dauer des Notfalles verfügte, und kam zu dem Schluß, daß sie die Schachtel einfach in Händen gehabt hatte, als der Alarm losging, und daß sie nicht daran gedacht hatte, sie fallen zu lassen, als sie floh.

»Schließt die Tür!«, heulte ein Chor von Stimmen, als die Gruppe mit Van Atta und Yei in das Modul kam. Ein deutlich erkennbarer Luftzug seufzte an ihnen vorüber, stieg zu einem Pfeifen an und verstummte abrupt, als die Türen sich schlossen.

Chaos und Stimmengewirr herrschten jetzt in dem voll besetzten Modul.

»Was ist los?«

»Fragen Sie Wyzak.«

»Er ist bestimmt da draußen und unternimmt was.« »Wenn nicht, dann sollte er sich lieber hinausbegeben, verdammt noch mal …«

»Sind alle hier?«

»Wo sind die Quaddies? Wie steht es um die Quaddies?«

»Die haben ihren eigenen Sicherheitsbereich; der hier ist nicht groß genug.«

»Wahrscheinlich ihr Turnraum.«

»Für sie habe ich über das Holovid keine Anweisungen gehört, daß sie sich in den Turnraum begeben sollen oder sonst wohin …«

»Versuchen Sie es mal mit dem Kommunikator.«

»Die Hälfte der Kanäle ist tot.«

»Können Sie nicht einmal die Systemzentrale erreichen?«

»Lady, ich bin von der Systemzentrale …«

»Sollten wir uns nicht abzählen? Weiß jemand genau, wie viele von uns im Augenblick im Habitat Dienst tun?« »Zweihundertzweiundsiebzig, aber wie kann man wissen, welche fehlen, weil sie in der Falle sitzen, und welche, weil sie draußen sind und sich mit der Sache befassen …?« »Lassen Sie mich an diese verdammte Kommunikatoreinheit …«

»TÜREN ZU!« Diesmal stimmte Van Atta halb unwillkürlich in den Chor ein. Der Druckunterschied wurde deutlicher. Er war froh, daß er nicht zu spät gekommen war. Wenn das so weiterging, dann würde es binnen kurzem seine Pflicht werden, dafür zu sorgen, daß die Türen um jeden Preis geschlossen blieben, egal, wer von der anderen Seite daran klopfte, um eingelassen zu werden. Er hatte eine kleine Liste … Nun ja, wem die Geistesgegenwart fehlte, schnell auf Notfallinstruktionen zu reagieren, der sollte sich nicht auf einer Raumstation befinden. Es galt das Gesetz vom Überleben der Tüchtigsten.

Falls sie bis jetzt nicht die ganzen zweihundertzweiundsiebzig zusammengebracht hatten, so kamen sie doch sicher dieser Zahl nahe. Van Atta bahnte sich seinen Weg durch die wogende Menge zur Mitte des Moduls und stahl dabei dem einen oder anderen etwas Schwung, wodurch diese Personen verdrängt wurden. Ein paar drehten sich um und wollten protestieren, sahen dann, wer sie angestoßen hatte, und schluckten ihre Beschwerden hinunter. Jemand hatte die Verkleidung der Kommunikatoreinheit abgenommen und blickte frustriert in ihr Inneres; ihm fehlten die empfindlichen Diagnosegeräte, die zweifellos irgendwo im Habitat zurückgelassen worden waren. »Können Sie nicht wenigstens den Turnraum der Quaddies erreichen?«, wollte eine junge Frau wissen. »Ich muß wissen, ob meine Klasse es dorthin geschafft hat.« »Nun, warum sind Sie dann nicht mit ihnen gegangen?«, versetzte der Reparateur spöttisch.

»Einer von den älteren Quaddies hat sie mitgenommen. Er sagte mir, ich sollte hierherkommen. Ich hielt es nicht für richtig, mich mit ihm zu streiten, während diese Alarmsirene heulte …«

»Funktioniert nicht.« Mit einer Grimasse klappte der Mann die Verkleidung zu.

»Also, ich werde zurückgehen und es herausfinden«, sagte die junge Frau entschlossen.

»Nein, das werden Sie nicht«, unterbrach Van Atta. »Hier drinnen sind zu viele Leute, die hier atmen wollen, als daß wir die Tür öffnen und unnötigerweise Luft verlieren können. Nicht, bis wir herausgefunden haben, was los ist, welchen Umfang diese Störung hat und wie lange sie wahrscheinlich dauert.«

Der Mann klopfte auf die Verkleidung des Holovids. »Falls dieses Ding sich nicht wieder einschaltet, dann ist die einzige Methode, um etwas herauszufinden, daß wir jemanden mit einer Atemmaske hinausschicken, damit er nachschaut.«

»Wir warten noch ein paar Minuten länger.« Zum Teufel mit Graf, diesem eingebildeten Laffen. Was hatte der wohl angestellt? Und wo war er? Irgendwo mit einer Atemmaske, hoffte Van Atta, oder noch besser mit einem Druckanzug — obwohl Van Atta sich nicht sicher war, ob er Graf einen Druckanzug wünschte, wenn er tatsächlich diesen verdammten Schlamassel angerichtet hatte. Soll er doch eine Atemmaske haben und zur Strafe einen schlimmen Fall von Luftdruckkrankheit. Dieser Idiot Graf.

Das war also Grafs berühmter Ruf auf dem Gebiet der Sicherheit. Das Ganze mochte ein Gutes haben, denn jetzt würde der Ingenieur Van Atta diese Geschichte mit der Sicherheit nicht mehr vorhalten können. Ein bißchen Bescheidenheit würde ihm guttun.

Und doch — die Situation war so verdammt anormal. Es dürfte eigentlich gar nicht möglich sein, daß es im ganzen Habitat gleichzeitig einen Druckabfall gab. Da gab es mehrere Stufen von Ersatzsystemen, Sperren, unabhängig funktionierende Schotts — ein Unfall, der das ganze System umfaßte, brauchte … brauchte Vorausschau und Planung.

Van Atta gab ein leises Zischen von sich und verkrallte sich in einen plötzlichen Zustand wütender Konzentration. Seine Augen weiteten sich. Ein geplanter Unfall — konnte das sein, war das etwa möglich …?

Graf, das Genie. Ein Unfall, ein Unfall, ein perfekter Unfall, genau der Unfall, den er sich so gewünscht hatte, aber er hatte seinen Wunsch nie laut auszusprechen gewagt. War es das? Das mußte es sein! Eine tödliche Katastrophe für die Quaddies, jetzt im letzten Augenblick, wo alle beisammen waren und es auf einen Streich verwirklicht werden konnte?

Ein Dutzend Anhaltspunkte verrieten jetzt ihren Sinn. Der Nachdruck, mit dem Graf darauf bestanden hatte, daß er alle Einzelheiten der Planung des Abbaus selbst erledigte, seine Geheimnistuerei, seine Besorgtheit um den jeweils neuesten Stand des Evakuierungszeitplans — sein Rückzug von sozialen Kontakten, den Yei mit Mißfallen beobachtet hatte, sein zwanghafter Arbeitsplan, der allgemeine Eindruck eines Mannes, den ein geheimes Vorhaben bis zur Erschöpfung vorantrieb — all das kulminierte in diesem Ereignis.

Natürlich war es geheim. Jetzt, da er selbst den Plan durchschaut hatte, konnte Van Atta ihm nur beipflichten. Die Dankbarkeit der Galac-Tech-Hierarchie gegenüber Graf dafür, daß er sie von dem Quaddie-Problem befreit hatte, müßte sich indirekt ausdrücken, in besseren Aufträgen, schnellerer Beförderung — er würde sich eine geeignet indirekte Methode ausdenken müssen, diese Dankbarkeit zu übermitteln.

Auf der anderen Seite — warum sollte er mit ihm teilen? Van Attas Lippen verzogen sich zu einem fuchsischen Grinsen. Hier handelte es sich kaum um eine Situation, für die Graf Anerkennung fordern konnte, wo sie ihm letztlich zustand. Graf war raffiniert gewesen — aber nicht raffiniert genug. Nach dem Unfall mußte es der Form halber ein Opfer geben. Alles, was er zu tun hatte, war, seinen Mund zu halten und … Van Atta mußte seine Aufmerksamkeit wieder seiner gegenwärtigen Situation zuwenden.

»Ich muß nach meinen Quaddies schauen!« Die junge Frau schaute wild drein. Sie gab ihre Bemühungen an der Kommunikatoreinheit auf und begann sich in Richtung der luftdichten Türen zu bewegen.

»Ja«, ein anderer Mann schloß sich ihr an, »und ich muß Wyzak finden, er ist immer noch nicht hier. Er wird Hilfe brauchen. Ich gehe mit Ihnen …«

»Nein!«, rief Van Atta eindringlich und hätte fast hinzugefügt: Sie werden alles verderben! »Sie müssen auf die Entwarnung warten. Ich möchte keine Panik haben. Wir bleiben einfach ruhig sitzen und warten auf Anweisungen.« Die Frau gab nach, aber der Mann fragte skeptisch: »Anweisungen von wem?«

»Graf«, sagte Van Atta. Ja, es war nicht zu früh, um damit zu beginnen, Zeugen klarzumachen, wo die praktische Verantwortung lag. Er zügelte seinen erregt beschleunigten Atem und bemühte sich um eine Ausstrahlung standhafter Ruhe. Allerdings durfte er nicht zu ruhig wirken — er mußte so überrascht wirken wie alle anderen — nein, überraschter als alle anderen —, wenn das volle Ausmaß der Katastrophe offenkundig wurde.

Er richtete sich aufs Warten ein. Die Minuten zogen sich hin. Eine letzte Gruppe keuchender Zufluchtsuchender kam durch die Tür herein; das Tempo des habitatweiten Druckabfalls mußte sich verlangsamen. Einer der Administratoren von der Inventurkontrolle präsentierte ihm das Ergebnis einer ungebetenen Zählung der Anwesenden.

Van Atta verfluchte insgeheim die Initiative des Zählers, obwohl er das Resultat mit Dank entgegennahm. Der Beweis, daß nicht alle anwesend waren, könnte ihn zu Aktionen zwingen, die er nicht zu unternehmen wünschte.

Nur elf Mitglieder des planetarischen Personals hatten es nicht geschafft. Ein notwendiger Preis, den man zahlen muß, versicherte sich Van Atta nervös. Einige steckten sicher in anderen Winkeln, wo noch Druck herrschte, oder er konnte zumindest später behaupten, daß er das geglaubt hatte. Ihre tödlichen Fehler konnten Graf angelastet werden.

Eine Gruppe an der Tür bereitete sich auf einen Ausbruch vor. Van Atta holte Luft und zögerte; er war sich momentan unsicher, wie er sie aufhalten sollte, ohne alles zu verraten. Aber eine Frau stieß einen verzweifelten Schrei aus: »Aus unserem Korridor ist jetzt die ganze Luft raus! Ohne Druckanzüge kommen wir nicht durch!« Erleichtert atmete Van Atta aus. Er bahnte sich den Weg zu einem der Ausguckfenster des Moduls; es umrahmte einen langweiligen Ausblick auf starr am Himmel stehende Sterne. Das Fenster auf der anderen Seite ermöglichte eine Sicht schräg nach hinten auf das Habitat. Eine Bewegung fiel ihm ins Auge, und in einem Versuch, die Details zu erkennen, preßte er seine Nase an das kalte Glas.

Silbern blitzten die Arbeitsanzüge von Gestalten, die über die Außenfläche des Habitats hüpften. Geflüchtete? Oder eine Reparaturmannschaft? War seine erste Hypothese von einem echten Unfall am Ende doch richtig? Nicht gut, aber in jedem Fall war der Schwarze Peter noch bei Graf.

Aber da draußen waren Quaddies, verdammt, Quaddies, die überlebt hatten. Graf hatte seinen Anschlag also nicht vollständig durchführen können. Bloß zwei überlebende Quaddies wären von Apmads Standpunkt aus gesehen genau so schlimm wie tausend, falls der eine männlich und die andere weiblich war. Vielleicht bestand die Mannschaft nur aus männlichen Schimpansen.

Da war unter den herumflitzenden Figuren Graf selber! Sie trugen allerlei Werkzeug mit sich. Die Verzerrung seiner schiefen Sicht durch das Fenster hinderten ihn daran zu erkennen, was sie genau bei sich hatten. Er verdrehte und reckte den Hals, bis er ihm wehtat. Dann entzog eine Biegung des Habitats die Mannschaft seinen Blicken. Ein Schubschiff glitt in Sicht und verschwand in einem eleganten Bogen über dem Vortragsmodul. Noch mehr Davongekommene? Quaddies oder Planetarier? »He«, eine aufgeregte Stimme aus dem Vortragsmodul unterbrach seine verzweifelten Beobachtungen. »Wir haben Glück, Leute. Dieser ganze Schrank ist voll mit Atemmasken. Das müssen dreihundert sein.« Van Atta wandte den Kopf, um den fraglichen Schrank zu betrachten. Beim letztenmal, als er sich in diesem Modul aufgehalten hatte, war dieser Lagerplatz mit audiovisuellem Gerät gefüllt gewesen. Wer, zum Teufel, hatte diesen Austausch veranlaßt, und warum …? Ein heftiger Schlag dröhnte durch das Modul, mit einem eigentümlichen scharfen Widerhall, wie wenn man seinen Kopf in einen Metalleimer hält, während ein anderer mit einem Hammer daraufschlägt. Und zwar mit aller Macht. Es gab Geschrei und Gekreisch. Die Lichter gingen aus, dann kamen sie wieder mit einem Viertel ihrer vorherigen Leuchtkraft. Sie waren jetzt an die Notstromversorgung des Moduls angeschlossen. Der Strom vom Habitat war abgeklemmt.

Der Strom war nicht das einzige, was abgeklemmt war. Verdutzt sah Van Atta, wie das Habitat sich langsam an seinem Ausguckfenster vorbeizudrehen begann. Nein, es war nicht das Habitat — es war das Modul, das sich bewegte. Ein allgemeines ›Aaah!‹ ertönte aus der Menge, als sie alle nach einer Seite zu schweben begannen und von der sanften Beschleunigung, die von außen auf das Modul einwirkte, an die Wand gedrückt wurden. Van Atta klammerte sich krampfhaft an die Handgriffe neben dem Ausguckfenster.

Die Erkenntnis überflutete ihn fast körperlich, strahlte heiß von seiner Brust in seine Arme und Beine hinab, pochte hinauf zu seinem Scheitel, als wollte sie seinen Schädel durchbrechen.

Verraten! Er war verraten worden, vollständig und auf jeder Ebene verraten. Eine zweibeinige Gestalt in einem Raumanzug winkte dem Modul fröhlich zum Abschied zu, und zwar von der Stelle, wo ein Loch in der Flanke des Habitats gähnte. Van Atta schüttelte sich vor Wut. Ich werde dich erwischen, Graf! Ich werde dich erwischen, du Mistkerl mit deinem doppelten Spiel! Dich und jeden dieser vierarmigen kleinen Kriecher, die bei dir sind …

»Beruhigen Sie sich, Mann!«, sagte Dr. Yei, die sich irgendwie an sein Ausguckfenster herangeschlichen hatte. »Was ist los?«

Van Atta erkannte, daß er laut geknurrt hatte. Er wischte sich den Speichel aus den Mundwinkeln und blickte Yei wütend an. »Sie … Sie … Sie haben es nicht gemerkt. Sie sollten sich über alles auf dem Laufenden halten, was mit diesen kleinen Monstern vor sich ging, und Sie haben es überhaupt nicht gemerkt …« Er bewegte sich auf sie zu, ohne recht zu wissen, was er tun wollte, ließ einen Handgriff los, schwang herum und schlitterte an der Wand hinab. Sein Blut pochte so laut in seinen Ohren, daß er befürchtete, er hätte eine Koronarthrombose. Einen Augenblick lang lag er mit geschlossenen Augen da und keuchte, von seinen Emotionen überwältigt. Reiß dich zusammen, sagte er sich in Todesangst vor seiner drohenden Selbstzerstörung. Reiß dich zusammen, beherrsche dich — und schnapp dir Graf später. Schnapp ihn dir, schnapp sie dir alle …

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