KAPITEL 2

Die Beobachtungskabine an der Seite des Cay-Habitats verfügte über einen Televiewer, wie Leo zu seiner Freude entdeckte, und überdies war sie im Augenblick unbesetzt. In seiner eigenen Unterkunft fehlte ein Ausguckfenster. Er schlüpfte in die Kabine. Sein Zeitplan räumte ihm diesen einen freien Tag ein, damit er sich von den Strapazen der Reise und des Wurmlochsprungs erholen konnte, bevor sein Kurs begann. Nach einer Nacht guten Schlafs in der Schwerelosigkeit hatte sich seine Stimmung schon beträchtlich verbessert, im Vergleich zum Vortag, wie sie nach dem Rundgang mit Van Atta gewesen war, den Leo nur als ›Desorientierungstour‹ bezeichnen konnte. Rodeos gekrümmter Horizont nahm etwa die Hälfte der Aussicht ein, dahinter sah man das Sternenmeer. Gerade in diesem Augenblick kroch einer von Rodeos winzigen Monden über das Panorama. Ein Glitzern über dem Horizont fiel Leo ins Auge. Er stellte den Televiewer auf eine Nahaufnahme ein. Ein Galac-Tech-Shuttle brachte einen der gigantischen Lastbehälter herauf, vielleicht Petrochemikalien aus der Raffinerie oder eine große Menge Kunststoffe, die für die Erde bestimmt waren, wo es kein Erdöl mehr gab. Eine Ansammlung ähnlicher Behälter schwebte in der Umlaufbahn. Leo zählte. Eins, zwei, drei… sechs, mit dem gerade eintreffenden sieben. Zwei oder drei kleine bemannte Schubschiffe begannen schon, die Behälter zu bündeln, um sie aneinanderzukoppeln und an eine der großen, den Orbit durchbrechenden Beschleunigereinheiten anzuhängen. Sobald die Behälter gruppiert und an ihren Beschleuniger angehängt waren, wurden sie auf den fernen Wurmlochsprungpunkt ausgerichtet, den Zugang zum Lokalraum von Rodeo. Hatten sie die gewünschte Richtung und Geschwindigkeit, so löste sich der Beschleuniger wieder von ihnen und kehrte für die nächste Ladung in den Orbit von Rodeo zurück. Das unbemannte Bündel der Behälter setzte dann seinen langsamen, billigen Weg zu seinem Ziel fort, als eines in einer langen Reihe, die sich von Rodeo bis zu jener Anomalie im Raum erstreckte, die den Sprungpunkt bildete.

Dort angekommen, wurden die Lastbehälter eingefangen und von einem ähnlichen Beschleuniger abgebremst und für den Sprung positioniert. Dann wurden sie von den Supersprungschiffen (auch Superjumper genannt) übernommen, von Frachttransportern, die ebenso wie die Beschleuniger speziell für ihre Aufgabe entwickelt worden waren. Die monströsen Frachtsprungschiffe bestanden aus kaum mehr als einem Paar von Necklinfeldgeneratorstäben, die in ihren Schutzgehäusen so positioniert waren, daß sie eine Konstellation von Behälterbündeln umschlossen, dazu kam ein umklammerndes Paar normaler Raumtriebwerksarme und ein kleiner Steuerraum für den Sprungpiloten und sein neurologisches Kopfaggregat. Ohne die Behälterbündel erinnerten die Superjumper Leo an außerordentlich seltsame und dünne langbeinige Insekten.

Jeder Sprungpilot, der neurologisch mit seinem Schiff verkabelt war, um es durch die schwankenden Realitäten des Wurmlochraumes zu navigieren, machte zwei Sprünge pro Tag: einen in Richtung Rodeo mit leeren Behälterbündeln, und dann wieder einen hinaus mit Fracht. Darauf folgte ein freier Tag. Auf zwei Monate Dienst folgte ein unbezahlter, aber obligatorischer Gravitationsurlaub, der gewöhnlich mit Shuttledienst finanziell aufgebessert wurde. Sprünge waren für einen Piloten strapaziöser als 0 Ge. Die Piloten der schnellen Passagierschiffe wie dem, auf dem Leo tags zuvor angekommen war, nannten die Superjumperpiloten Pfützenspringer und Karussellreiter. Die Frachtpiloten nannten die Passagierschiffpiloten einfach nur Snobs.

Leo grinste und dachte über die Kette an Reichtum nach, die da durch den Raum schwebte. So faszinierend das Cay-Habitat auch war, so war es doch zweifellos nur ein Anhängsel am Ganzen von Galac-Techs Rodeo-Unternehmen. Eine einzige Beschleuniger-Ladung von Frachtbehältern, wie die, die jetzt gerade zusammengebündelt wurde, konnte einer ganzen Stadt von aktienbesitzenden Witwen und Waisen ein ganzes Jahr lang einen angemessenen Lebensstandard sichern. Die Grundstoffproduktion war wie eine umgekehrte Pyramide: die Leute an der nach unten gerichteten Spitze ernährten einen breiter werdenden Berg von Zinsempfängern, eine Tatsache, die bei Leo gewöhnlich mehr geheimen Stolz als Irritation auslöste.

»Mr. Graf?«, unterbrach eine Altstimme seine Gedanken. »Ich bin Dr. Sondra Yei. Ich leite die Psychologie- und Schulungsabteilung von Cay-Habitat.«

Die Frau, die in der Türöffnung schwebte, trug einen blaßgrünen Overall der Gesellschaft. Auf angenehme Weise häßlich und auf das mittlere Alter zugehend, hatte sie die strahlenden mongolischen Augen, die breite Nase, die breiten Lippen und die milchkaffeefarbene Haut ihrer gemischtrassigen Herkunft. Mit den genauen, entspannten Bewegungen der an die Schwerelosigkeit Gewöhnten schob sie sich durch die Öffnung.

»Ach ja, man hat mir gesagt, daß Sie mit mir sprechen wollen.« Leo wartete höflich darauf, daß sie sich festhielt, bevor sie sich die Hände schüttelten. Er zeigte auf den Televiewer. »Ich habe hier eine schöne Aussicht auf die Zusammenstellung der Fracht im Orbit. Es scheint mir, daß das vielleicht eine weitere Aufgabe für Ihre Quaddies wäre.«

»Tatsächlich machen sie es jetzt schon ein Jahr.« Yei lächelte befriedigt. »Sie finden es also nicht zu schwierig, sich an die Quaddies anzupassen? Das hat ja schon Ihr psychologisches Profil nahegelegt. Schön.«

»Oh, die Quaddies sind in Ordnung.« Leo hielt sich zurück und ließ sich nicht über sein Unbehagen aus. Er war nicht sicher, ob er es überhaupt in Worte fassen konnte. »Ich war am Anfang bloß überrascht.« »Das ist verständlich. Sie glauben also nicht, daß Sie Schwierigkeiten haben werden, sie zu unterrichten?« Leo lächelte. »Sie können kaum schlimmer sein als die Mannschaft von Schauerleuten, die ich auf der Jupiter-Orbitalstation Nr. 4 unterrichtet habe.«

»Ich hatte nicht an Schwierigkeiten von den Quaddies gedacht.« Yei lächelte wieder. »Sie werden entdecken, daß sie sehr intelligente und aufmerksame Schüler sind. Aufgeweckt. Gute Kinder, ganz buchstäblich. Und darüber möchte ich mit Ihnen reden.« Sie hielt inne, als würde sie ihre Gedanken zusammenstellen wie die entfernten Frachtschubschiffe ihre Behälter.

»Die Lehrer und Trainer von Galac-Tech nehmen hier in der Habitat-Familie eine Elternrolle ein. Obwohl sie selbst elternlos sind, müssen die Quaddies eines Tages selbst… — in der Tat werden schon einige von ihnen Eltern. Von Anfang an haben wir uns Mühe gegeben sicherzustellen, daß sie über Rollenmodelle für stabile erwachsene Verantwortlichkeit verfügen. Aber sie sind noch Kinder. Sie werden Sie genau beobachten. Ich möchte, daß Sie sich dessen bewußt sind und achtgeben. Sie werden noch mehr als nur das Schweißen von Ihnen lernen. Sie werden auch Ihre anderen Verhaltensmuster aufgreifen. Kurz gesagt, wenn Sie schlechte Gewohnheiten haben — und wir alle haben welche —, dann müssen sie unten auf dem Planeten geparkt werden, für die Dauer Ihres Aufenthalts hier. In anderen Worten«, fuhr Yei fort, »geben Sie auf sich acht. Geben Sie auf Ihre Sprache acht.« Ein unwillkürliches Lächeln ließ Fältchen um ihre Augen entstehen.

»Zum Beispiel benutzte jemand von unserem Krippenpersonal in irgendeinem Zusammenhang einmal die Redewendung ›Jetzt spuck’s schon aus!‹. Die Quaddies dachten nicht nur, das wäre sehr lustig, sondern es begann noch unter den Fünfjährigen eine Epidemie des Spuckens, und wir brauchten Wochen, um das wieder abzustellen. Nun, Sie werden mit viel älteren Kindern arbeiten, aber das Prinzip ist das gleiche. Zum Beispiel… äh… haben Sie persönliches Lese- oder Videomaterial mitgebracht? Vid-Dramas, Nachrichtendisketten, was auch immer.«

»Ich bin kein großer Leser«, gestand Leo. »Ich habe mein Kursmaterial mitgebracht.«

»Technische Informationen gehen mich nichts an. Aber wir haben in letzter Zeit ein Problem mit… hm… Romanen gehabt.«

Leo hob die Augenbrauen und grinste. »Pornographie? Ich weiß nicht, ob ich mir darüber Sorgen machen würde. Als ich ein Junge war, da tauschten wir…«

»Nein, nein, nicht Pornographie. Ich bin mir nicht sicher, ob die Quaddies Pornographie überhaupt verstehen würden. Die Sexualität ist hier ein offenes Thema, Teil ihrer Sozialerziehung. Biologie. Ich machte mir viel mehr Sorgen über Literatur, die falsche oder gefährliche Werte in attraktive Farben kleidet, oder über voreingenommene Geschichtsdarstellungen.«

Leo runzelte zunehmend bestürzt die Stirn. »Haben Sie diesen Kindern keine Geschichte beigebracht? Oder sie keine Erzählungen lesen lassen…?«

»Natürlich ja. Die Quaddies sind mit beidem gut versorgt. Es geht einfach um die richtigen Proportionen. Zum Beispiel: eine typische, für Planetenbewohner geschriebene Geschichtsdarstellung der Besiedlung von Orient IV widmet gewöhnlich etwa fünfzehn Seiten dem Jahr des Bruderkrieges, einer zeitweiligen, wenn auch bizarren, gesellschaftlichen Verirrung — und etwa zwei den tatsächlich rund hundert Jahren, die die Besiedlung und Erschließung dieses Planeten gedauert hat. Unser Text widmet dem Krieg nur einen Abschnitt. Aber der Bau der Einschienenbahn über den Graben von Witgow zusammen mit seinen nachfolgenden nützlichen ökonomischen Auswirkungen auf beide Seiten erhält fünf Seiten. Kurz gesagt, wir betonen eher das Gemeinsame als das Seltene, eher Aufbau als Zerstörung, das Normale auf Kosten des Abnormalen. Damit die Quaddies nie auf die Idee kommen, daß irgendwie von ihnen das Abnormale erwartet würde. Wenn Sie die Texte einmal lesen, dann werden Sie das Prinzip sehr schnell begreifen, glaube ich.«

»Ich… hm — ja, ich glaube, das sollte ich wohl«, murmelte Leo. Der Grad von Zensur, dem — nach Yeis kurzer Beschreibung zu schließen — die Quaddies unterworfen waren, erzeugte bei ihm eine Gänsehaut — und doch, die Vorstellung eines Geschichtsbuches, das ganze Kapitel großen Ingenieurleistungen widmete, weckte in ihm den Wunsch aufzustehen und ›hurra‹ zu rufen. Er verbarg seine Verwirrung hinter einem höflichen Lächeln. »Ich habe wirklich nichts an Bord mitgebracht«, erklärte er besänftigend.

Sie nahm ihn mit zu einer Besichtigung der Wohnquartiere und der beaufsichtigten Krippen der jüngeren Quaddies.

Die Kleinen machten Leo staunen. Sie schienen so viele zu sein — vielleicht einfach nur, weil sie sich so schnell bewegten. Etwa dreißig Fünfjährige hüpften im gravitationsfreien Turnraum wie ein Hagel verrückter Pingpongbälle umher, als ihre Krippenmutter, eine pummelige angenehme Planetarierin, die sie Mama Nilla nannten und der einige Quaddiemädchen im Teenageralter assistierten, sie aus der Lesestunde entließ. Aber dann klatschte sie in die Hände und stellte Musik an, und die Kleinen begannen mit einem Spiel oder einem Tanz (Leo war sich nicht sicher, was es genau war). Dabei warfen sie ihm viele Seitenblicke zu und kicherten. Es ging darum, in der Luft ein Duodekahedron zu bilden, wie eine menschliche Pyramide, nur komplexer, und dann im Rhythmus der Musik von Hand zu Hand die Formation zu verändern. Enttäuschte Schreie ertönten, wenn jemand sich vertat und die Formation der Gruppe störte. Wenn die Perfektion erreicht war, dann hatten alle gewonnen. Das Spiel gefiel Leo spontan. Dr. Yei beobachtete, wie Leo lachte, als die jungen Quaddies ihn danach umschwärmten, und sie schien zufrieden zu schnurren.

Aber am Ende des Rundgangs musterte sie ihn und verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln. »Mr. Graf, Sie sind immer noch beunruhigt. Sind Sie sicher, daß Sie all dem gegenüber nicht einfach noch etwas von dem alten Frankenstein-Komplex hegen? Es ist völlig in Ordnung, wenn Sie es mir eingestehen — tatsächlich möchte ich sogar, daß Sie darüber reden.«

»Darum geht es nicht«, sagte Leo langsam. »Es ist einfach… nun ja, ich kann wirklich nichts dagegen einwenden, daß Sie versuchen, die Quaddies so gruppenorientiert wie möglich zu erziehen, in Anbetracht der Tatsache, daß sie ihr ganzes Leben auf dichtbewohnten Raumstationen verbringen werden. Für ihr Alter sind sie in hohem Grad diszipliniert, auch gut…«

»Entscheidend für ihr Überleben, in einer Weltraumumgebung!«

»Ja… aber wie steht es — mit ihrer Selbstverteidigung?« »Diesen Begriff müssen Sie mir definieren, Mr.Graf. Verteidigung wogegen?« »Nun ja, mir scheint, es ist Ihnen gelungen, etwa tausend technisch tolle… ah… Fußabtreter heranzuziehen. Nette Kinder, aber sind sie nicht ein bißchen — verweiblicht?« Er geriet immer tiefer hinein; ihr Lächeln war jetzt von einem Stirnrunzeln begleitet. »Ich meine — sie scheinen einfach reif dafür zu sein, von jemand ausgebeutet zu werden. War dieses ganze soziale Experiment Ihre Idee? Es erscheint mir wie der Traum einer Frau von der vollkommenen Gesellschaft. Alle benehmen sich so gut.« Er war sich unbehaglicherweise bewußt, seinen Gedanken schlecht ausgedrückt zu haben, aber gewiß mußte sie begreifen, wie stichhaltig er war…

Sie holte tief Luft und dämpfte ihre Stimme. Ihr Lächeln war starr geworden. »Lassen Sie mich mal Ihre Meinung korrigieren, Mr. Graf. Ich habe die Quaddies nicht erfunden. Ich wurde vor sechs Jahren hierher versetzt. Es sind die Spezifikationen von Galac-Tech, die eine maximale Sozialisation fordern. Aber ich habe sie geerbt. Und ich sorge für sie. Es ist nicht Ihre Aufgabe — oder Ihre Angelegenheit —, den juristischen Status der Quaddies zu verstehen, aber mich geht das viel an. Ihre Sicherheit liegt in ihrer Sozialisation.

Sie scheinen von den allgemeinen Vorurteilen gegenüber den Ergebnissen von Genmanipulationen frei zu sein, aber es gibt viele Leute, die nicht frei sind. Es gibt planetare Jurisdiktionen, wo dieses Ausmaß genetischer Manipulation von Menschen sogar illegal wäre. Lassen Sie diese Leute — bloß einmal — die Quaddies als Bedrohung auffassen, und…« Sie preßte die Lippen vor jeder weiteren vertraulichen Mitteilung zusammen und zog sich wieder auf ihre Autorität zurück. »Lassen Sie es mich so ausdrücken, Mr. Graf. Die Vollmacht, Schulungspersonal für das Cay-Projekt zu billigen — oder zu mißbilligen —, liegt bei mir. Mr. Van Atta mag Sie hierhergeholt haben, aber ich kann Sie fortschicken lassen. Und ich werde das ohne Zögern tun, wenn Sie sich in Ihren Worten oder Ihrem Verhalten nicht an die Richtlinien der Psychologie-Abteilung halten. Ich glaube, ich kann es nicht deutlicher ausdrücken.«

»Nein, Sie sagen es… ah… ganz deutlich«, erwiderte Leo.

»Es tut mir leid«, sagte sie aufrichtig. »Aber solange Sie sich nicht eine Weile im Habitat aufgehalten haben, müssen Sie sich wirklich vor voreiligen Urteilen zurückhalten.«

Ich bin Prüfingenieur, Gnädigste, dachte Leo. Es ist mein Beruf, den ganzen Tag Urteile zu fällen. Aber er sprach diesen Gedanken nicht laut aus. Es gelang ihnen, sich mit nur leicht gezwungener Herzlichkeit zu trennen.


Das Unterhaltungsvid hatte den Titel ›Tiere, Tiere, Tiere‹. Silver startete zum drittenmal die Wiederholung für die Sequenz ›Katzen‹.

»Noch einmal?«, sagte Ciaire zaghaft. Sie war mit ihr in der Vid-Vorführungskammer. »Nur noch einmal«, bat Silver. Ihre Lippen öffneten sich fasziniert, als die schwarze Perserkatze über der Vidscheibe erschien, aber aus Rücksicht auf Ciaire stellte sie Musik und Kommentar leiser. Die Kreatur kauerte da und leckte Milch aus einer Schale, die durch planetarische Schwerkraft am Boden gehalten wurde. Die kleinen weißen Tröpfchen, die von ihrer rosa Zunge wegflogen, fielen in die Schale zurück, als wären sie magnetisiert.

»Ich wünsche mir, ich könnte eine Katze haben. Die Katzen sehen so weich aus…« Silver streckte ihre linke untere Hand aus, um pantomimisch das lebensgroße Bild zu tätscheln. Sie wurde mit keiner Tastempfindung belohnt; nur das bunte Licht des Holovids strich, ohne eine Empfindung auszulösen, über ihre Haut. Sie ließ ihre Hand durch die Katze fallen und seufzte. »Schau, man kann sie einfach hochheben wie ein Baby.« Das Vid schrumpfte und zeigte, wie die planetarische Besitzerin der Katze sie ihn ihren Armen davontrug.

»Na ja, vielleicht erlaubt man dir bald, ein Baby zu haben«, regte Ciaire an.

»Das ist nicht das gleiche«, sagte Silver. Sie konnte jedoch nicht verhindern, daß sie ein bißchen neidisch auf Andy schaute, der in der Luft zusammengerollt neben seiner Mutter schlief. »Ich frage mich, ob ich je eine Chance bekomme, nach unten auf den Planeten zu gehen.«

»Uff«, sagte Ciaire. »Wer würde das wollen? Es sieht dort so unbequem aus. Und auch gefährlich.«

»Die Planetarier kommen damit zurecht. Außerdem scheint alles Interessante von… von Planeten zu kommen.« Alle interessanten Leute auch, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie dachte über Mr. Van Attas früheren Lehrer nach, Mr. Graf, dem sie gestern während ihrer letzten Schicht in der Hydrokultur begegnet war. Noch ein weiterer Jemand mit Beinen, der überall hingehen und Dinge in Bewegung setzen konnte. Er war tatsächlich noch auf der guten alten Erde geboren worden, hatte Mr. Van Atta gesagt.

An der Tür der schalldichten Kabine ertönte ein gedämpftes Klopfen, und Silver betätigte die Fernsteuerung zum Öffnen der Tür. Siggy steckte den Kopf herein. Er trug das gelbe Hemd und die gelben Shorts der Wartungsabteilung für Luftsysteme. »Die Luft ist rein, Silver.«

»In Ordnung, komm herein.«

Siggy schlüpfte hinein. Silver tippte den Befehl zum Schließen der Tür ein, und Siggy drehte sich um, griff in die Werkzeugtasche an seinem Gürtel, stemmte eine Wandplatte auf und blockierte den Mechanismus der Tür. Er ließ die Wandplatte offen, für den Fall, daß ein schneller Zugriff nötig wurde, wenn zum Beispiel Dr. Yei an der Tür klopfte und fröhlich fragte, was sie denn da drinnen täten. Inzwischen hatte Silver die rückwärtige Abdeckung vom Holovid abgenommen. Siggy langte behutsam an ihr vorbei und klammerte seinen selbstgebauten elektronischen Zerhacker über dem Stromkabel fest. Wer jetzt über dieses Kabel ihre Projektionen würde kontrollieren wollen, bekäme nur statische Störungen zu sehen.


Ein lebhaftes Bild aus hellem blauem Licht, die von einem Computer generierte Aufzeichnung einer Röntgenüberprüfung des ursprünglichen Objekts, erschien in der Mitte des Raums. »Verteilt euch, Kinder, damit ihr alle gut sehen könnt.«

Die Quaddies gruppierten sich um das Display gleichsam in einer Kugel der Aufmerksamkeit und streckten dabei automatisch ihre Hände helfend zu den Nachbarn aus, um das Bewegungsmoment auszugleichen, so daß alle gleichmäßig schwebten. Dr. Yei war auch zugegen und schwebte unauffällig im Hintergrund. Um ihn auf seine politische Unbedenklichkeit zu überwachen, vermutete Leo, aber das machte ihm nichts aus. Er hatte nicht vor, um ihrer Anwesenheit willen seinen Vortrag auch nur um ein Jota zu ändern.

Er ließ die Projektion rotieren, damit jeder Schüler sie aus jedem Blickwinkel sehen konnte. »Jetzt vergrößern wir einmal diesen Teil. Ihr seht den tiefeingeschnitten V-förmigen Querschnitt, der durch den Hochenergiedichtestrahl erzeugt wurde, nicht wahr? Achtet auf die kleinen runden porösen Stellen hier…« Die Vergrößerung nahm wieder zu. »Würdet ihr sagen, daß diese Schweißung fehlerhaft ist oder nicht?« Beinahe fügte er hinzu: Hebt die Hand, doch er erkannte, wie besonders unverständlich diese Anweisung hier war. Einige der rotgekleideten Schüler lösten das Dilemma für ihn, indem sie statt dessen ihre oberen Arme formell vor der Brust kreuzten und dabei richtig unschlüssig aussahen. Leo nickte Tony zu.

»Das sind Gasblasen, nicht wahr, Sir? Die Schweißung muß fehlerhaft sein.«

Leo lächelte dankbar für die erwünschte direkte Antwort. »Es sind in der Tat Gasporösitäten. Seltsam genug jedoch, wenn wir alles durchrechnen, dann scheinen da keine Fehler zu sein. Lassen wir mal den Computer dieses ganze Stück abtasten und schauen wir dabei auf die digitale Anzeige. Wie ihr seht«, die Zahlen flimmerten in einer Ecke des Displays, während sich der Querschnitt schwindelerregend bewegte, »erscheinen an keinem Punkt mehr als zwei Porösitäten in einem Querschnitt, und an allen Punkten belegen die Leerstellen weniger als fünf Prozent des Querschnitts. Sphärische Aushöhlungen wie diese richten von allen potentiellen Formen von Diskontinuitäten am wenigsten Schaden an; dort ist es am wenigsten wahrscheinlich, daß sich Risse ausbreiten. Ein nichtkritischer Fehler wird Diskontinuität genannt«. Leo machte höflich eine Pause, während sich zwei Dutzend Köpfe gleichzeitig über ihre Leuchttafeln beugten, um diese erfreulich unzweideutige Tatsache in der Autotransskription hervorzuheben. Die Leuchttafeln hielten sie als tragbare Aufzeichnungsflächen in ihren unteren Händen. »Wenn ich noch dazu sage, daß diese Schweißung in einem Flüssigkeitsspeichertank für ziemlich niedrigen Druck durchgeführt wurde und nicht beispielsweise in einer Triebwerkskammer mit ihrer erheblich größeren Belastung, dann wird die Zweifelhaftigkeit dieser Definition noch deutlicher. Denn bei einem Triebwerk wäre der Fehlergrad, der sich hier zeigt, kritisch gewesen.

Nun«, er schaltete das Holovid-Display auf eine Projektion in rotem Licht um. »Das ist ein Holovid der gleichen Schweißnaht aus Datenbits, die von einem Ultraschall-Pulsreflexscanner aufgezeichnet wurden. Schaut ganz anders aus, nicht wahr? Kann jemand diese Diskontinuität identifizieren?« Er vergrößerte einen leuchtenden Bereich.

Einige Armpaare wurden wieder gekreuzt. Leo nickte einem anderen Schüler zu, einem auffallenden Jungen mit einer Adlernase, funkelnden schwarzen Augen, drahtigen Muskeln und einer dunklen, mahagonifarbenen Haut, die einen eleganten Kontrast zu seinem roten T-Shirt und seinen roten Shorts bildete. »Ja, Pramod?«

»Da hat sich eine Laminierung gelöst.«

»Richtig!« Leo tippte auf seine Holovid-Steuerung. »Aber überprüft mal diesen Scan — wohin sind alle unsere kleinen Blasen verschwunden? Meint jemand, die hätten sich zwischen den Tests auf magische Weise geschlossen? Danke«, sagte er auf ihr wissendes Grinsen hin, »ich bin froh, daß ihr das nicht meint. Jetzt legen wir einmal beide Aufzeichnungen übereinander.« Rot und Blau verschmolzen an den überlappenden Stellen zu Purpur, als der Computer die beiden Displays integrierte. »Und jetzt sehen wir den üblen Winzling«, sagte Leo und vergrößerte wieder. »Diese beiden Porösitäten, plus diese Laminierung, alle auf derselben Ebene. Ihr könnt schon sehen, wie sich der fatale Riß ausbreitet, bei dieser Rotation…« Das Holovid drehte sich und Leo hob den Riß mit einem hellen rosafarbenen Licht hervor. »Das, Kinder, ist eine schadhafte Stelle.«

Sie riefen fasziniert »uuh«. Leo grinste und machte weiter. »Nun, hier ist der springende Punkt. Beide diese Testscans waren gültige Darstellungen — soweit sie gingen. Aber keine von beiden war vollständig, keine genügte allein. Die Landkarten sind nicht die Territorien. Ihr müßt wissen, daß die Röntgenaufzeichnungen ausgezeichnet geeignet sind, Leerstellen und Einschlüsse zu zeigen, aber unzureichend, wenn es um das Auffinden von Rissen geht, ausgenommen bei gewissen zufälligen Einstellungen, und Ultraschall ist optimal für genau diese laminaren Diskontinuitäten, die Röntgenstrahlen aller Wahrscheinlichkeit nach entgehen. Beide Aufzeichnungen ermöglichten ein Urteil, weil sie intelligent integriert wurden. Jetzt«, Leo lächelte ein bißchen grimmig und ersetzte die grell bunte Projektion durch eine andere, diesmal einfarbig grüne. »Schaut euch das an. Was seht ihr?« Er nickte wieder Tony zu.

»Eine Laserschweißnaht, Sir.« »So würde man meinen. Deine Identifizierung ist völlig verständlich — und völlig falsch. Ich möchte, daß ihr euch alle dieses Stück Arbeit einprägt. Schaut gut hin. Denn es ist vielleicht das schlimmste Objekt, dem ihr je begegnet.«

Sie sahen tief beeindruckt, aber zugleich auch völlig verwirrt aus. Er gebot ihnen abolutes Schweigen und äußerste Aufmerksamkeit.

»Das«, er zeigte unterstreichend hin und seine Stimme nahm den Ton von Verachtung an, »ist ein gefälschter Prüfbericht. Schlimmer, es ist einer aus einer Serie. Ein gewisser Subunternehmer von Galac-Tech, der Triebwerkskammern für Sprungschiffe lieferte, fand seine Profitmarge gefährdet, da ein hoher Anteil seiner Produkte zurückgewiesen wurde — nachdem sie in die Systeme eingebaut worden waren. Doch anstatt die Produkte zu zerlegen und sie noch einmal richtig zusammenzubauen, entschied man sich, die Inspektoren der Qualitätskontrolle zu beeinflussen. Wir werden nie erfahren, ob der Chefinspektor eine Bestechung zurückgewiesen hat oder nicht, denn er konnte es uns nicht mehr sagen. Er wurde zufällig mausetot aufgefunden, infolge einer offensichtlichen Fehlfunktion seines Poweranzugs, die seinen eigenen Fehlern zugeschrieben wurde, die ihm unterlaufen waren, als er ihn in betrunkenem Zustand anziehen wollte. Bei der Autopsie fand man sehr viel Alkohol in seinem Blut. Erst später wurde darauf hingewiesen, daß der Alkoholanteil so hoch war, daß er gar nicht in der Lage gewesen sein dürfte, zu gehen, geschweige denn, sich anzuziehen.

Der stellvertretende Inspektor nahm die Bestechung an. Die Schweißnähte erhielten anstandslos die Computerbestätigung — denn es war immer dieselbe verdammt gute Schweißnaht, die immer wieder kopiert und in die Datenbank anstelle wirklicher Inspektionen eingegeben worden war, und die echten Inspektionen waren größtenteils nie durchgeführt worden. Zwanzig Triebwerkskammern wurden in Dienst gestellt. Zwanzig Zeitbomben.

Erst als achtzehn Monate später die zweite explodierte, wurde die ganze Geschichte endlich aufgedeckt. Das weiß ich nicht vom Hörensagen; ich war bei dem Team dabei, das nach der möglichen Ursache forschte. Ich war derjenige, der es herausfand, mit der ältesten Prüfmethode der Welt: Überprüfung mit Auge und Hirn. Als ich da an meinem Arbeitsplatz saß und diese Hunderte von Holovids eines nach dem anderen durchging, und zum erstenmal das Stück erkannte, als ich es wiedersah — und wieder — und wieder — denn der Computer erkannte nur, daß die Serie frei von Fehlern war — und ich erkannte, was diese Mistkerle getan hatten…« Seine Hände zitterten, wie immer an dieser Stelle seiner Ausführungen, da die alten Erinnerungen wieder aufflackerten. Leo ballte sie zu Fäusten.

»Das Urteil der Aufzeichnung wurde in diesen elektronischen Traumbildern gefälscht. Aber die universellen Gesetze der Physik fällten ein blutiges Urteil, das absolut real war. Insgesamt kamen sechsundachtzig Personen ums Leben. Das«, betonte Leo erneut, »war nicht bloß Betrug, es war eiskalter, grausamster Mord.«

Er machte eine kleine Atempause und fuhr dann fort: »Das ist das Wichtigste, was ich euch je sagen werde. Der menschliche Geist ist das endgültige Testwerkzeug. Über die technischen Daten könnt ihr euch alle Notizen machen, die ihr wollt, alles, was ihr vergeßt, könnt ihr wieder nachschlagen, aber das muß in eure Herzen in feurigen Lettern eingraviert werden.

Es gibt nichts, nichts, nichts Wichtigeres für mich bei den Männern und Frauen, die ich ausbilde, als ihre absolute persönliche Integrität. Ob ihr als Schweißer oder als Prüfer arbeitet, die Gesetze der Physik sind unnachgiebige Lügendetektoren. Ihr mögt Menschen täuschen. Ihr werdet nie das Metall täuschen. Das ist alles.«

Er stieß den Atem aus, fand seine gute Stimmung wieder und blickte sich um. Die Quaddie-Schüler nahmen es mit dem erforderlichen Ernst auf — gut; es gab keine Klassenkasper, die in den hinteren Reihen blöde Witze machten. Tatsächlich schauten sie ziemlich geschockt drein und schauten ihn mit großem Respekt an.

»Also«, er klatschte in die Hände und rieb sie fröhlich, um den Bann zu brechen, »jetzt gehen wir hinüber in die Werkstatt und nehmen ein Strahlschweißgerät auseinander und schauen, ob wir alles herausfinden können, was möglicherweise daran einen Fehler verursachen kann…«

Folgsam strömten sie vor ihm hinaus und schwatzten wieder untereinander. Yei wartete an der Türöffnung, als Leo seinen Schülern folgte. Sie lächelte ihm kurz zu.

»Eine beeindruckende Präsentation, Mr. Graf. Sie werden sehr beredt, wenn Sie über Ihre Arbeit sprechen. Gestern dachte ich, Sie wären ein starker, schweigsamer Typ.«

Leo errötete leicht und zuckte die Achseln. »Es ist nicht so schwer, wenn man etwas Interessantes hat, worüber man redet.«

»Ich hätte nicht gedacht, daß Schweißen ein so unterhaltsames Thema sein könnte. Sie sind ein begabter Enthusiast.«

»Ich hoffe, Ihre Quaddies waren genauso beeindruckt. Es ist großartig, wenn ich jemanden begeistern kann. Das ist die großartigste Arbeit auf der Welt.« »Ich fange an, auch so zu denken. Ihre Geschichte…« Sie zögerte. »Ihre Geschichte mit dem Betrug hinterließ einen großen Eindruck. So etwas haben die Quaddies noch nie gehört. Freilich habe ich auch noch nie davon gehört.«

»Das war vor Jahren.«

»Trotzdem wirklich sehr beunruhigend.« Sie schien in sich selbst hineinzublicken. »Ich hoffe jedoch, nicht übermäßig.«

»Nun ja, ich hoffe, die Geschichte ist sehr beunruhigend. Sie ist wahr. Ich war dort.« Er schaute sie an. »Eines Tages sind die Quaddies vielleicht mit so etwas konfrontiert. Es wäre eine sträfliche Unterlassung, wenn ich sie nicht vorbereiten würde.«

»Aha.« Sie lächelte kurz.

Der letzte seiner Schüler war im Korridor verschwunden. »Na, ich sollte sie lieber einholen. Werden Sie bei meinem ganzen Kurs dabeisein? Kommen Sie mit, ich mache aus Ihnen noch eine Schweißerin.«

Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Es klingt wirklich sehr verlockend, wie Sie das so sagen. Aber ich habe leider eine Vollzeitaufgabe. Ich muß Sie jetzt sich selber überlassen.« Sie nickte ihm kurz zu. »Sie werden es schon richtig machen, Mr. Graf.«

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