KAPITEL 3

Andy streckte die Zunge heraus und spuckte den Klecks Sahnereis aus, den Ciaire ihm gerade mit dem Löffel gefüttert hatte. »Bäh«, sagte er. Das Klümpchen, das er als Nahrung verschmäht hatte, übte anscheinend eine neue Faszination als Spielzeug aus, denn er fing es mit seiner oberen rechten und unteren linken Hand ein, als es langsam von ihm wegrotierte. »Äh!«, protestierte er, als sein neuer Satellit auf den Händen verschmiert wurde.

»O Andy«, murmelte Ciaire frustriert und wischte mit einem ziemlich vollgesudelten Tuch von hoher Kapillarität die Flecken in einer heftigen Bewegung von seinen Händen. »Ach, komm schon, Baby, du mußt das versuchen. Dr. Yei sagt, es ist gut für dich!«

»Vielleicht ist er schon voll«, schlug Tony hilfreich vor.

Das Ernährungsexperiment fand in Claires privater Unterkunft statt, die ihr bei Andys Geburt eingeräumt worden war und die sie mit dem Baby teilte. Sie vermißte oft ihre alten Kameradinnen von den Schlafräumen, aber sie räumte bedauernd ein, daß die Firma recht hatte; ihre Popularität und Andys Faszination hätten wahrscheinlich nicht viele Nachtfütterungen überlebt, dazu Windelwechsel, Gasangriffe, mysteriöse Durchfälle und Fieber und andere kindliche Nöte während der Nacht.

In letzter Zeit hatte ihr Tony auch gefehlt. In den letzten sechs Wochen hatte sie ihn kaum gesehen; sein neuer Schweißinstrukteur hielt ihn so beschäftigt. Das Tempo des Lebens schien im ganzen Habitat schneller zu werden. Es gab Tage, an denen kaum Zeit zum Atmen zu bleiben schien.

»Vielleicht mag er es nicht«, mutmaßte Tony. »Hast du versucht, es mit dieser anderen Pampe zu mischen?« »Alle sind Experten«, seufzte Ciaire, »außer mir… Er hat jedenfalls gestern etwas davon gegessen.«

»Wie schmeckt es?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe es nie versucht.«

»Hm.« Tony nahm ihr den Löffel aus der Hand und steckte ihn in den offenen Lebensmittelbecher, holte einen Klecks heraus und stopfte ihn sich in den Mund.

»Heh…!« begann Ciaire ungehalten.

»Bäh!« Tony würgte. »Gib mir das Tuch.« Er entledigte sich seiner Probe. »Kein Wunder, daß er es ausspuckt. Das bleibt einem ja im Hals stecken.«

Ciaire packte den Löffel, murmelte »Was?!« und schwebte zu ihrer Einbauküche hinüber, um den Löffel durch die Handlöcher in den Wasserspender zu stecken und ihn mit dampfend heißem Wasser zu spülen. »Keime!«, sagte sie vorwurfsvoll zu Tony.

»Versuch du es mal!«

Sie schnupperte mißtrauisch an dem Essensbecher. »Ich nehme dein Wort dafür.«

Andy hatte in der Zwischenzeit mit seinen oberen Händen die untere rechte erwischt und knabberte daran.

»Du sollst noch kein Fleisch bekommen«, seufzte Ciaire und streckte Andy wieder gerade. Andy holte Luft, um einen Protest anzustimmen, aber er ließ es bei einem bloßen »Aah« bewenden, da die Tür zur Seite glitt und ein neues interessantes Objekt erschien.

»Wie geht es, Ciaire?«, fragte Dr. Yei. Ihre kräftigen, nutzlosen Planetarierbeine hingen entspannt von ihren Hüften, als sie sich in die Kabine zog.

Claires Gesicht hellte sich auf. Sie hatte Dr. Yei gern; die Dinge schienen sich immer ein bißchen zu beruhigen, wenn sie in der Nähe war. »Andy will den Sahnereis nicht essen. Die filtrierte Banane hat er ziemlich gern gehabt.«

»Nun, wenn du ihn das nächstemal fütterst, dann versuche statt dessen, mit dem Haferschleim zu beginnen«, sagte Dr. Yei. Sie schwebte hinüber zu Andy und streckte ihm ihre Hand entgegen; er ergriff sie mit seinen oberen Händen. Sie streifte seine Hände ab und hielt ihre Hand weiter unten; jetzt erfaßte er sie mit seinen unteren Händen und kicherte. »Die Koordination seines Unterkörpers entwickelt sich gut. Wenn er seinen ersten Geburtstag hat, entspricht sie bestimmt der des Oberkörpers.«

»Und vorgestern hat er seinen vierten Zahn bekommen«, sagte Ciaire und führte ihn vor.

»Auf diese Weise sagt dir die Natur, daß es Zeit ist, Sahnereis zu essen«, belehrte Dr. Yei das Baby mit gespielter Ernsthaftigkeit. Andy klammerte sich an ihren Arm, seine kleinen, runden, glänzenden Augen waren auf ihre goldenen Ohrringe gerichtet. Das Essen hatte er ganz vergessen. »Mach dir nicht zu viele Sorgen, Ciaire. Man hat immer die Neigung, beim ersten Kind alles erzwingen zu wollen, einfach um sich selbst zu beruhigen, daß man alles fertigbringt. Beim zweiten ist man dann entspannter. Ich garantiere dir, alle Babies schaffen ihren Sahnereis, bevor sie zwanzig sind, egal, was man mit ihnen macht.«

Ciaire lachte und war insgeheim erleichtert. »Es ist nur, daß Mr. Van Atta nach seinen Fortschritten gefragt hat.« »Aha.« Dr. Yeis Lippen verzogen sich zu einem ziemlich gepreßten Lächeln. »Ich verstehe.« Sie verteidigte ihren Ohrring gegen einen entschlossenen Angriff, indem sie Andy außer Reichweite in der Luft plazierte. Frustriert suchte Andy Zuflucht in hektischen Schwimmbewegungen, aber dadurch erhielt er nur eine unerwünschte Drehbewegung. Er öffnete den Mund, um mit Geheul zu protestieren; Dr. Yei gab sofort nach, gewann aber eine kleine Galgenfrist, indem sie ihm nur ihre Fingerspitzen hinstreckte.

Andy arbeitete sich wieder auf den Ohrring zu, Hand um Hand. »Ja, hol ihn dir, Baby«, feuerte Tony ihn an.

»Nun ja«, Dr. Yei wandte ihre Aufmerksamkeit Ciaire zu, »ich bin eigentlich vorbeigekommen, um eine gute Nachricht zu überbringen. Die Firma ist so angetan von der Art, wie sich Andy entwickelt hat, daß man beschlossen hat, das Datum vorzuverlegen, an dem du deine zweite Schwangerschaft beginnen kannst.«

Hinter Dr. Yeis Schulter erschien ein freudiges Grinsen auf Tonys Gesicht. Seine oberen Hände verschränkten sich in einer Siegesgeste. Ciaire winkte ihm verlegen ab, aber sie mußte einfach sein Grinsen erwidern. »Toll!«, sagte sie voller Freude. Also war die Firma der Meinung, daß sie das gut machte. Es hatte Tage der Niedergeschlagenheit gegeben, an denen sie dachte, niemand würde bemerken, wieviel Mühe sie sich gab. »Um wieviel eher?«

»Deine Monatsregel wird noch vom Stillen unterdrückt, nicht wahr? Du hast morgen einen Termin auf der Medizinstation. Dr. Minchenko wird dir ein Medikament geben, das die Monatsregel wieder auslöst. Du kannst im zweiten Zyklus beginnen, es zu versuchen.«

»Du lieber Himmel. So bald schon.« Ciaire hielt inne und schaute auf den zappelnden Andy. Sie erinnerte sich, wie die erste Schwangerschaft ihre Energie aufgebraucht hatte. »Ich werde es schon schaffen. Aber was ist mit dem idealen Abstand von zweieinviertel Jahren, von dem Sie geredet haben?« Dr. Yei sagte sehr vorsichtig: »Es gibt eine Kampagne im ganzen Projekt, die Produktivität zu erhöhen. Auf allen Gebieten.« Dr. Yei, die nach Claires Erfahrung immer sehr freimütig war, lächelte gezwungen. Sie warf einen Blick auf Tony, der glücklich und zufrieden neben ihr schwebte, und schürzte die Lippen.

»Ich bin froh, daß du hier bist, Tony, denn ich habe auch für dich eine gute Nachricht. Dein Ausbilder im Schweißen, Mr. Graf, hat dich in seinem Kurs als erstklassig eingestuft. Deshalb bist du ausgewählt worden, als Vorarbeiter mit der Kolonne zu dem ersten Auftrag mitzugehen, den Galac-Tech für das Cay-Projekt an Land gezogen hat. Du und deine Kollegen, ihr werdet in etwa einem Monat zu einem Ort reisen, der Station Kline heißt, am anderen Ende des Wurmlochsystems, jenseits der Erde. Das ist eine lange Reise. Deshalb wird Mr. Graf dabei sein und eure Ausbildung unterwegs abschließen und gleichzeitig euer technischer Vorgesetzter sein.«

Tony schoß aufgeregt durch den Raum. »Endlich! Echte Arbeit! Aber…« Er hielt erschrocken inne. Ciaire, die ihm mit ihren Gedanken voraus war, spürte, wie ihr Gesicht zu einer Maske erstarrte. »Aber wie soll Ciaire im nächsten Monat mit einem Baby anfangen, wenn ich unterwegs bin?«

»Dr. Minchenko wird ein paar Spermaproben einfrieren, bevor du gehst«, bemerkte Ciaire. »Nicht wahr…?« »Ah… hm«, sagte Dr. Yei. »Nun, eigentlich war das nicht geplant. Als Vater für dein nächstes Baby ist Rudy von der Abteilung Mikrosystem-Installation vorgesehen.«

»O nein!«, keuchte Ciaire.

Dr. Yei musterte die Gesichter der beiden und verzog ihren Mund zu einem strengen Ausdruck des Mißfallens. »Rudy ist ein sehr netter Junge. Ihn würde diese Reaktion bestimmt sehr verletzen. Das kann doch nach all unseren Gesprächen keine Überraschung für dich sein, Ciaire.«

»Ja, aber — ich hatte gehofft, da Tony und ich es so gut gemacht haben, dann würde man uns lassen — ich wollte zu Dr. Cay gehen und ihn fragen.«

»Er weilt nicht mehr unter uns«, seufzte Dr. Yei. »Und so habt ihr euch gehen lassen und seid eine Zweierbeziehung eingegangen. Ich hatte dich davor gewarnt, nicht wahr?«

Ciaire ließ den Kopf hängen. Jetzt glich Tonys Gesicht einer Maske.

»Ciaire, Tony, ich weiß, das erscheint hart. Aber ihr in der ersten Generation habt eine besondere Last zu tragen. Ihr seid die erste Stufe in einem sehr detaillierten Langzeitplan für Galac-Tech, der buchstäblich Generationen umfaßt. Eure Taten haben einen ganz unverhältnismäßigen Multiplikationseffekt… Schaut, das bedeutet keineswegs für euch beide das Ende der Welt. Für Ciaire ist eine lange Fortpflanzungsspanne vorgesehen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ihr eines Tages wieder zusammenkommt. Und du, Tony — du bist super. Galac-Tech wird auch dich gut einsetzen. Es wird andere Mädchen für dich geben…«

»Ich möchte keine anderen Mädchen«, sagte Tony eisig. »Ich möchte nur Ciaire.«

Dr. Yei schwieg einen Augenblick lang, dann fuhr sie fort: »Ich sollte es dir noch nicht sagen, aber Sinda in der Abteilung Ernährung ist als nächste für dich vorgesehen. Ich war immer der Meinung, daß sie ein außerordentlich hübsches Mädchen ist.«

»Sie lacht wie eine Metallsäge.«

Dr. Yei stieß ungeduldig ihren Atem aus. »Darüber werden wir später reden. Ausführlich. Im Augenblick muß ich mit Ciaire sprechen.« Sie schob ihn entschlossen zur Tür hinaus und sperrte ihn trotz seines finsteren Blickes und seiner gebrummelten Einwände aus.

Dann wandte sie sich wieder Ciaire zu und fixierte sie mit einem strengen Blick. »Ciaire — habt ihr, nachdem du schwanger wurdest, eure sexuellen Beziehungen fortgesetzt?«

»Dr. Minchenko hat gesagt, es würde dem Baby nicht schaden.«

»Dr. Minchenko hat es gewußt?« »Ich weiß es nicht… Ich habe ihn einfach gefragt, ganz allgemein.« Ciaire betrachtete schuldbewußt ihre Hände. »Hatten Sie von uns erwartet, daß wir damit aufhören?«

»Aber ja!«

»Sie haben es uns nicht gesagt.«

»Ihr habt nicht gefragt. In der Tat, wenn ich jetzt zurückdenke, dann hast du dieses Thema sehr sorgfältig vermieden — oh, wie konnte ich bloß so blind sein!« »Aber die Planetarier machen es doch die ganze Zeit«, verteidigte sich Ciaire.

»Wie weißt du, was Planetarier tun?«

»Silver sagt, daß Mr. Van Atta…« Ciaire verstummte abrupt.

Dr. Yeis Aufmerksamkeit wurde scharf und unbehaglich wie ein Messer. »Was weißt du über Silver und Mr. Van Atta?«

»Na ja — vermutlich alles. Ich will sagen, wir alle wollten wissen, wie es die Planetarier machen.« Ciaire hielt kurz inne. »Planetarier sind seltsam«, fügte sie dann hinzu. Nach einem Moment der Lähmung verbarg Dr. Yei ihr errötendes Gesicht in den Händen und kicherte hilflos. »Und so hat Silver euch mit detaillierten Informationen versorgt?«

»Nun, ja.« Ciaire betrachtete die Psychologin vorsichtig und wie gebannt.

Dr. Yei unterdrückte ihr Glucksen. In ihren Augen glomm ein seltsames Leuchten auf, halb Humor, halb Irritation. »Ich glaube — ich glaube, du solltest lieber Tony sagen, daß er den Mund hält. Ich fürchte, Mr. Van Atta würde sich etwas aufregen, wenn er erfährt, daß seine persönlichen Aktivitäten ein indirektes Publikum haben.«

»In Ordnung«, stimmte Ciaire unsicher zu. »Aber — Sie wollten immer alles über mich und Tony wissen.«

»Das ist etwas anderes. Wir haben versucht, euch zu helfen.«

»Na ja, wir und Silver versuchen einander zu helfen.«

»Ihr sollt nicht einander helfen.« Dr. Yeis unterdrücktes Lächeln nahm ihrer Kritik die Schärfe. »Ihr sollt warten, bis ihr betreut werdet.« Yei machte eine Pause. »Wie viele von euch sind denn überhaupt in diese… hm… Silbermine der Information eingeweiht? Nur du und Tony, hoffentlich?«

»Ja, und meine Kameradinnen vom Schlafraum. Ich nehme Andy in meinen freien Stunden dorthin mit, und wir alle spielen mit ihm. Ich hatte meine Schlafstelle gegenüber Silver, bis ich auszog. Sie ist meine beste Freundin. Silver ist so — so mutig, meine ich —, sie probiert Dinge aus, die ich mich nie traue.« Ciaire seufzte neidisch.

»Acht Mädchen«, murmelte Yei. »Oh, Lord Krishna… Ich hoffe, keine von denen ist davon schon zur Nachahmung angeregt worden, oder?«

Ciaire sagte nichts, denn sie wollte nicht lügen. Sie brauchte auch nichts zu sagen; die Psychologin, die ihr Mienenspiel beobachtete, zuckte zusammen.

Dann drehte sie sich unschlüssig in der Luft um. »Ich muß mit Silver reden. Ich hätte es schon tun sollen, als ich den ersten Verdacht hatte — aber ich hatte gedacht, der Mann hätte die Vernunft, das Projekt nicht zu beeinträchtigen — ich muß geschlafen haben. Hör mal, Ciaire, ich möchte mit dir noch ausführlicher über deinen neuen Auftrag sprechen. Ich bin da und bemühe mich, es dir so leicht und angenehm wie möglich zu machen — du weißt, daß ich dir helfen werde, okay? Ich komme so schnell wieder zu dir, wie ich kann.«

Yei nahm Andy von ihrem Hals herunter, wo er gerade versuchte, an ihrem Ohrring zu knabbern, und reichte ihn wieder an Ciaire. Dann bewegte sie sich zur Tür hinaus und murmelte dabei etwas wie »den Schaden eindämmen…«

Claire hielt ihr Baby ganz eng. Ihre Unsicherheit und Unruhe ballte sich unter ihrem Herzen wie ein Klumpen Metall zusammen. Sie hatte sich so sehr bemüht, gut zu sein…


Durch den scharfen Kontrast von grellem Licht und tiefem Schatten im Vakuum mußte Leo blinzeln, als er anerkennend beobachtete, wie zwei seiner mit Raumanzügen bekleideten Schüler den Verschlußring genau an seinen Platz am Ende seines Anschlußrohres schoben. Zu zweit erledigten sie mit ihren acht behandschuhten Händen diese Aufgabe im Nu.

»Pramod, Bobbi, jetzt holt das Elektronenstrahl-Schweißgerät und den Recorder herauf und bringt sie in ihre Startposition. Julian, du steuerst das optische Laserjustierungsprogramm und schließt sie an.«

Ein Dutzend der vierarmigen Gestalten, deren Namen und Nummern auf den Vorderseiten ihrer Helme und den Rückseiten ihrer silbrigen Arbeitsanzüge deutlich zu lesen waren, tanzten um den Ort des Geschehens herum. Mit den Düsen ihrer Anzüge bugsierten sie sich in günstige Sichtpositionen.

»Also, bei diesem Hochenergiedichte-Schweißen mit teilweisem Eindringen«, dozierte Leo in das Mikrophon seines Raumanzugs, »darf der Elektronenstrahl keinen durchdringenden Dauerzustand erreichen. Dieser Strahl kann einen halben Meter Stahl durchlöchern. Es genügt ein einziger Überspannungsimpuls, und euer Nukleardruckbehälter oder eure Antriebskammer kann die strukturelle Integrität verlieren. Nun, der Impulsgenerator, den Pramod gerade überprüft…« Leos Stimme nahm einen bedeutungsvollen Ton an; Pramod zuckte zusammen und begann hastig an seinem System die Ausgabe abzurufen, »benutzt die natürliche Oszillation des Auftreffens des Strahlpunktes innerhalb der Schweißaushöhlung, um einen Impulsrhythmus einzurichten, der seine Frequenz aufrechterhält und das Überspannungsproblem ausschaltet. Überprüft immer seine Funktion, bevor ihr beginnt.«

Der Verschlußring wurde fest an sein Anschlußrohr geschweißt und ordnungsgemäß auf Fehler untersucht, und zwar mit dem Auge, mit einer holographischen Abtastung, einem Wirbelstrom, mit der Überprüfung und dem Vergleich der gleichzeitigen Röntgenemissionsaufzeichnung und dem klassischen Stoß- und Rucktest. Leo bereitete sich darauf vor, seine Schüler zur nächsten Aufgabe weiterzuleiten.

»Tony, bring den Elektronenstrahlschweißer herüber — SCHALTE IHN ZUERST AUS!« Das schrille Pfeifen von Rückkopplungen drang aus allen Kopfhörern, und Leo dämpfte seine Stimme nach seinem ersten hastig-panischen Gebrüll. Der Strahl war zwar ausgeschaltet gewesen, aber die Steuerung war an; ein versehentlicher Stoß, während Tony die Maschine herumschwang und… Leos Auge folgte dem hypothetischen Schnitt durch den nahegelegenen Flügel des Habitats, und ihm schauderte.

»Wo hast du denn deinen Kopf, Tony! Ich habe schon einmal gesehen, wie ein Mann von einem seiner Freunde in der Mitte durchgeschnitten wurde, bloß durch diese Unvorsichtigkeit.«

»Entschuldigung… dachte, es würde Zeit sparen… tut mir leid…«, murmelte Tony.

»Du weißt es doch besser.« Leo beruhigte sich, und sein Herz hörte auf zu hämmern. »In diesem Vakuum hört der Strahl nicht auf, bis er auf den dritten Mond stößt, oder worauf sonst er dazwischen trifft.« Er war nahe daran, weiterzureden, doch dann hielt er sich zurück; nein, nicht über den öffentlichen Kommunikationskanal. Später.

Später, als seine Schüler im Geräteraum ihre Anzüge auszogen und sie unter Lachen und Scherzen reinigten und aufräumten, schwebte Leo zu Tony hinüber, der bleich im Gesicht war und schwieg. Bestimmt habe ich ihn doch nicht so schlimm angebrüllt, dachte Leo bei sich. Ich hätte ihn für unverwüstlicher gehalten… »Wenn du hier fertig bist, dann komm mal zu mir«, sagte Leo ruhig.

Tony zuckte schuldbewußt zusammen. »Jawohl, Sir.«

Nachdem alle seine Kameraden den Raum verlassen hatten, begierig auf ihre Mahlzeit nach Schichtende, blieb Tony mitten im Raum schwebend zurück, beide Armpaare schützend vor seinem Körper gekreuzt. Leo schwebte zu ihm und fragte in einem ernsten Ton: »Wo warst du da draußen heute mit deinen Gedanken?«

»Tut mir leid, Sir. Das wird nicht wieder passieren.«

»Das passiert schon die ganze Woche. Dich beschäftigt doch irgend etwas, mein Sohn, oder?«

Tony schüttelte den Kopf. »Nichts — nichts, das mit Ihnen zu tun hätte, Sir.«

Das hieß: nichts, das mit der Arbeit zu tun hätte, interpretierte Leo. In Ordnung. »Wenn es dich von der Arbeit ablenkt, dann hat es etwas mit mir zu tun. Willst du darüber reden? Hast du Probleme mit deinem Mädchen? Geht es dem kleinen Andy gut? Hast du dich mit jemandem gestritten?«

Tonys blaue Augen suchten in plötzlicher Unsicherheit Leos Gesicht, dann wurde er wieder verschlossen und nach innen gerichtet. »Nein, Sir.«

»Machst du dir Sorgen, daß du mit diesem Auftrag nach draußen mußt? Vermutlich seid ihr Kinder da zum erstenmal fort von zu Hause.«

»Das ist es nicht«, verneinte Tony. Er hielt inne und beobachtete Leo wieder. »Sir — gibt es dort draußen noch viele andere Firmen außer der unseren?« »Nicht so viele, für Arbeit im tiefen interstellaren Raum«, erwiderte Leo, den diese neue Wendung des Gespräches etwas verwunderte. »Wir sind natürlich die größte, obwohl es vielleicht ein halbes Dutzend gibt, die uns wirklich ein bißchen Konkurrenz machen können. In den dicht besiedelten Systemen wie Tau Ceti oder Escobar oder Orient oder natürlich auf der Erde, da gibt es immer eine Menge kleiner Gesellschaften, die in einem geringeren Umfang operieren. Superspezialisten oder unternehmerische Einzelgänger, dies und das. In letzter Zeit werden die äußeren Welten stark.«

»Also — also wenn Sie einmal Galac-Tech verlassen, dann könnten Sie einen anderen Job im All bekommen.«

»Oh, sicher. Ich habe sogar schon Angebote bekommen — aber unsere Gesellschaft erledigt den größten Teil der Art von Arbeit, die ich tun möchte, und so gibt es keinen Grund, woanders hinzugehen. Und jetzt habe ich ja schon ein ganz schönes Dienstalter beisammen, und das spielt ja dabei auch eine Rolle. Ich werde wahrscheinlich bis zu meiner Pensionierung bei Galac-Tech bleiben, wenn ich nicht in den Sielen sterbe.« Wahrscheinlich durch einen Herzanfall, den ich erlebe, wenn ich beobachte, wie einer meiner Schüler versucht, versehentlich sich selbst umzubringen. Leo sprach diesen Gedanken nicht laut aus; Tony schien schon genug gestraft zu sein. Aber er war immer noch mit den Gedanken woanders.

»Sir… erzählen Sie mir etwas über Geld.«

»Geld?« Leo hob die Augenbrauen. »Was gibt es da zu erzählen. Das ist der Stoff des Lebens.«

»Ich habe nie welches gesehen — ich habe gehört, es sei eine Art codiertes Wertzeichen, um… um Handel zu erleichtern und um zu zählen.«

»Das stimmt.«

»Wie bekommt man es?« »Nun — die meisten Leute arbeiten dafür. Sie tauschen ihre Arbeitskraft dafür ein. Oder wenn sie etwas besitzen oder herstellen oder anbauen, dann können sie es verkaufen. Ich arbeite.«

»Und Galac-Tech gibt Ihnen Geld?«

»Hm, ja.«

»Wenn ich darum bäte, würde die Firma mir dann Geld geben?«

»Ach so…« Leo wurde sich bewußt, daß er sich jetzt auf sehr dünnem Eis bewegte. Seine private Meinung über das Cay-Projekt sollte vielleicht lieber privat bleiben, solange er das Brot der Firma aß. Sein Job war, sichere Qualitätsschweißmethoden zu unterrichten, nicht — Gewerkschaftsforderungen zu schüren, oder worauf immer dieses Gespräch hinauslief. »Wofür würdest du es hier oben ausgeben? Galac-Tech gibt euch alles, was ihr braucht. Wenn ich auf dem Planeten bin oder nicht auf einer Einrichtung der Firma, dann muß ich mir mein Essen, meine Kleidung, meine Transportmittel und was sonst noch kaufen. Außerdem« — Leo suchte nach einem weniger bedenklichen Scheinargument — »bis jetzt hast du eigentlich noch keine Arbeit für Galac-Tech getan, obwohl die Firma eine Menge für dich getan hat. Warte, bis du wirklich auf einem Auftrag gewesen bist und einiges an echter Produktion geleistet hast. Dann ist es vielleicht der rechte Zeitpunkt, um über Geld zu reden.« Leo lächelte, dabei kam er sich heuchlerisch vor, aber wenigstens loyal gegenüber der Firma.

»Oh.« Tony schien sich nach einer geheimen Enttäuschung in sich zu verschließen. Seine blauen Augen schnellten empor und sondierten Leo aufs neue. »Wenn eines der Sprungschiffe der Firma Rodeo verläßt — wohin fährt es da zuerst?«

»Das kommt vermutlich darauf an, wo es gebraucht wird. Einige fliegen direkt die ganze Strecke bis zur Erde. Mit Fracht oder Passagieren für einen anderen Bestimmungsort ist der erste Halt für gewöhnlich die Orient-Station.«

»Die Orient-Station gehört nicht Galac-Tech, nicht wahr?«

»Nein, sie gehört der Regierung von Orient IV. Allerdings hat Galac-Tech ein gutes Viertel davon geleast.«

»Wie lange braucht man, um von Rodeo zur Orient-Station zu kommen?«

»Oh, gewöhnlich etwa eine Woche. Du wirst wahrscheinlich dort schon recht bald haltmachen, und wenn auch nur, um zusätzliche Geräte und Nachschub aufzunehmen, wenn du zu deinem ersten Bauauftrag geschickt wirst.«

Der Junge wirkte jetzt umgänglicher; vielleicht dachte er über seine erste interstellare Reise nach. Das war besser. Leo entspannte sich leicht.

»Ich freue mich darauf, Sir.«

»So ist’s recht. Wenn du dir nur in der Zwischenzeit nicht deinen Fuß… äh… deine Hand abschneidest, nicht wahr?«

Tony zog den Kopf ein und grinste. »Ich werde versuchen, das nicht zu tun, Sir.«

Und worum war es jetzt bei dem Ganzen gegangen? fragte sich Leo, während er beobachtete, wie Tony zur Tür hinaussegelte. Gewiß dachte der Junge doch nicht daran, seinen eigenen Weg zu gehen? Tony hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie monströs er außerhalb seines vertrauten Habitats wirken würde. Wenn er sich doch nur etwas mehr öffnen würde…

Leo scheute vor dem Gedanken zurück, ihn offen zur Rede zu stellen. Alle Planetarier im Personal des Habitats schienen zu glauben, daß sie ein Anrecht auf die privaten Gedanken der Quaddies hatten. In den Unterkünften der Quaddies gab es nirgendwo eine Tür, die man abschließen konnte. Sie hatten soviel Privatsphäre wie Ameisen unter Glas.

Leo schüttelte die kritischen Gedanken ab, aber sein Unbehagen konnte er nicht abschütteln. Sein ganzes Leben lang hatte er sein Vertrauen in seine eigene technische Integrität gesetzt — wenn er diesem Stern folgte, dann würden seine Füße nicht straucheln. Inzwischen war dies eine tief eingewurzelte Gewohnheit, er hatte diese technische Integrität fast automatisch in den Unterricht von Tonys Arbeitskolonne eingebracht. Und doch… diesmal schien das nicht ganz auszureichen. Als hätte er die Antwort auswendig gelernt, um dann zu entdecken, daß die Frage geändert worden war.

Aber was konnte man von ihm noch mehr verlangen? Was konnte man von ihm noch mehr erwarten? Was konnte letztlich ein einzelner Mann tun?

Ein Anfall vager Furcht ließ ihn blinzeln. Die scharf konturierten Sterne im Aussichtsfenster verschwammen, während der drohende Schatten des Dilemmas am Horizont seines Bewußtseins wie eine Wolke aufstieg. Mehr…

Er zitterte und drehte der Weite seinen Rücken zu. Sie konnte einen Mann verschlingen, gewiß.


Ti, der Kopilot des Frachtshuttles, hielt die Augen geschlossen. Vielleicht war das bei Gelegenheiten wie dieser natürlich, dachte Silver, während sie sein Gesicht aus einer Entfernung von zehn Zentimetern studierte. Bei diesem Abstand konnten ihre Augen die stereoskopischen Bilder nicht mehr koordinieren, und so überlappte sein zwiefaches Gesicht sich selbst. Wenn sie nur richtig schielte, dann konnte sie ihn so aussehen lassen, als hätte er drei Augen. Männer waren ziemlich fremdartig. Aber das lag nicht an dem metallenen Kontakt, der in seine Stirn implantiert war, wie die beiden anderen in den Schläfen; er wirkte mehr wie ein Schmuck oder ein Rangabzeichen. Sie kniff abwechselnd eines der beiden Augen zu und erzielte damit den Effekt, daß sein Gesicht in ihrem Blickfeld vor- und zurückgeschoben wurde.

Ti öffnete die Augen einen Moment lang, und Silver trat schnell wieder in Aktion. Sie lächelte, schloß selbst die Augen halb und nahm den Rhythmus ihrer biegsamen Hüften wieder auf. »Uuuh«, murmelte sie, wie Van Atta sie gelehrt hatte. Laß mich ein Feedback hören, Schatz, hatte Van Atta gefordert, und so hatte sie eine Auswahl von Lauten gefunden, die ihm zu gefallen schienen. Sie funktionierten auch bei dem Piloten, wenn sie sie bei ihm einsetzte.

Tis Augen schlossen sich wieder fest, seine Lippen öffneten sich, sein Atem ging schneller, und Silvers Gesicht entspannte sich wieder in nachdenklicher Ruhe. Sie war dankbar, daß sie nicht beobachtet wurde. Auf jeden Fall war Tis Blick für sie nicht so unbehaglich wie der von Mr. Van Atta, der immer nahezulegen schien, sie sollte es anders machen, oder intensiver, oder etwas ganz anderes.

Die Stirn des Piloten war feucht vom Schweiß, eine Locke seines braunen Haares klebte daran, neben dem glänzenden Kontakt. Mechanischer Mutant, biologische Mutantin, in gleicher Weise betroffen von unterschiedlichen Technologien; vielleicht war das der Grund, weshalb Ti damals gedacht hatte, er könne sich an sie heranmachen, da er selbst ein Außenseiter war. Zwei Monstrositäten, die sich zusammengetan hatten. Andrerseits, vielleicht war der Sprungpilot einfach nicht sehr wählerisch.

Er zitterte, keuchte krampfhaft und preßte sie dicht an seinen Leib. Eigentlich sah er — sehr verletzlich aus. Mr. Van Atta sah in diesem Augenblick nie verletzlich aus; Silver war sich nicht sicher, wonach er dann aussah.

Was hat er eigentlich davon, was ich nicht habe? überlegte Silver. Was stimmt denn mit mir nicht? Vielleicht war sie wirklich, wie Van Atta ihr einmal vorgeworfen hatte, frigide — ein unangenehmes Wort, es erinnerte sie an eine Maschinerie und an die Müllbehälter, die außen am Habitat angebracht waren —, und deshalb hatte sie gelernt, für ihn Laute von sich zu geben und lustvoll zu zucken, wenn er sich in ihr bewegte, und er hatte sie gelobt, weil sie lockerer würde.

Silver erinnerte sich daran, daß sie einen anderen Grund hatte, die Augen offenzuhalten. Sie blickte wieder am Kopf des Piloten vorbei. Das Beobachtungsfenster der abgedunkelten Steuerkabine, wo sie ihr Rendezvous abhielten, gab den Blick auf die Frachtladebucht frei. Der Bereitstellungsraum zwischen der Steuerkabine der Ladebucht und dem Eingang zur Luke des Frachtshuttles war dämmerig beleuchtet; nichts bewegte sich dort. Beeilt euch, Tony, Ciaire, dachte Silver besorgt. Ich kann diesen Burschen nicht die ganze Schicht beschäftigt halten. »Toll«, hauchte Ti, der aus seiner Trance auftauchte, seine Augen öffnete und grinste. »Als man euch für die Schwerelosigkeit entworfen hat, da hat man an alles gedacht.« Er löste seinen Griff von Silvers Schulterblättern und ließ seine Hände ihren Rücken hinabgleiten, um ihre Hüften herum und an ihren unteren Armen entlang, zuletzt gab er ihr einen anerkennenden Klaps auf ihre Hände, die seine muskulösen Planetarierschenkel umfaßt hielten. »Wirklich zweckmäßig.« »Wie macht ihr Planetarier es eigentlich, daß ihr nicht voneinander abprallt?«, forschte Silver neugierig und nutzte die Gelegenheit aus, daß sie einen offensichtlichen Experten für dieses Thema zur Hand hatte. Sein Grinsen wurde breiter. »Die Schwerkraft hält uns zusammen.«

»Wie seltsam. Ich habe die Schwerkraft mir immer als etwas vorgestellt, wogegen ihr die ganze Zeit ankämpfen müßt.«

»Nein, nur die halbe Zeit. Die andere Hälfte arbeitet sie für uns«, versicherte er ihr.

Er ließ sein Glied herausgleiten und löste sich ziemlich elegant von ihrem Körper — vielleicht kam hier seine ganze Pilotenerfahrung durch — und gab ihr einen Kuß auf den Hals. »Hübsche Lady.«

Silver errötete ein bißchen und war für das trübe Licht dankbar. Ti richtete seine Aufmerksamkeit einen Moment lang einer notwendigen Verrichtung zu. Ein kurzes Zischen von Luft, und das mit einem Spermizid versehene Kondom war im Müllschlucker verschwunden. Silver unterdrückte einen schwachen Anflug von Bedauern. Es war einfach zu schade, daß Ti keiner von ihnen war. Zu schade, daß sie auf der Liste der für Mutterschaft Bestimmten so weit hinten stand. Zu schade…

»Hast du von eurem Doktor herausbringen können, ob wir das wirklich brauchen?«, fragte Ti sie. »Ich konnte Dr. Minchenko nicht direkt fragen«, erwiderte Silver. »Aber er scheint zu meinen, jede Empfängnis zwischen einem Planetarier und einer von uns würde zu einem spontanen Abort führen, und zwar ziemlich früh — aber niemand weiß es sicher. Es könnte sein, daß ein Baby geboren wird, dessen untere Gliedmaßen weder Arme noch Beine sind, sondern irgend etwas Verkorkstes dazwischen.« Und ich dürfte es wahrscheinlich nicht behalten… »Jedenfalls brauchen wir so nicht mit einem Handsauger im Raum nach Körperflüssigkeiten zu jagen.«

»Das stimmt auch wieder. Na ja, ich bin bestimmt noch nicht bereit, Vater zu werden.«

Wie unbegreiflich, dachte Silver, bei einem Mann in diesem Alter. Ti mußte mindestens fünfundzwanzig sein, viel älter als Tony, der nahezu der älteste von ihnen allen war. Sie achtete darauf, mit dem Gesicht zum Fenster zu schweben, so daß der Pilot ihm seinen Rücken zukehrte. Los, Tony, tu’s, wenn du es tun willst…

Ein kühler Luftzug von den Ventilatoren ließ auf allen ihren Armen Gänsehaut erscheinen, und Silver zitterte.

»Ist dir kalt?«, fragte Ti besorgt und rieb seine Hände schnell an ihren Armen auf und ab, um sie durch die Reibung zu wärmen, dann holte er ihr blaues Hemd und ihre blauen Shorts aus der Ecke des Raums, wohin sie geschwebt waren. Silver schlüpfte dankbar in die Kleider. Der Pilot zog sich ebenfalls an, und Silver beobachtete mit heimlicher Faszination, wie er seine Schuhe zuband. Solche unbiegsamen, schweren Umhüllungen, aber schließlich waren auch die Füße ihrerseits unbiegsame, schwere Dinger. Sie hoffte, er würde achtgeben, wenn er sie herumschwenkte. Mit den Schuhen daran erinnerten seine Füße sie an Hämmer.

Ti lächelte und nahm seine Pilotentasche von einem Halter an der Wand, wo er sie verstaut hatte, als sie sich vor einer halben Stunde in die Steuerkabine zurückgezogen hatten. »Hab dir was mitgebracht.«

Silver reckte sich und verschränkte erwartungsvoll ihre vier Hände. »Oh! Hast du noch mehr Buchdisketten von derselben Autorin finden können?«

»Ja, hier sind sie…« Ti holte einige dünne Plastikquadrate aus seiner Pilotentasche. »Drei Titel, alle neu.«

Silver griff danach und las eifrig ihre Aufschriften. Illustrierte Regenbogen-Romane: Sir Randans Torheit, Liebe im Aussichtsturm, Sir Randan und die vertauschte Braut, alle von Valeria Virga. »Oh, wunderbar!« Sie schlang ihren oberen rechten Arm um Tis Hals und gab ihm einen ganz spontanen und heftigen Kuß.

Er schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Ich weiß nicht, wie du diesen Kitsch lesen kannst. Ich glaube sowieso, daß die Autorin ein ganzes Komitee ist.« »Die sind großartig«, verteidigte Silver ungehalten ihre Lieblingsliteratur. »Sie sind so… so voller Farbe und seltsamer Orte und Zeiten — viele von ihnen spielen auf der guten, alten Erde, damals, als alle noch auf den Planeten lebten — sie sind so erstaunlich. Die Leute hielten sich damals Tiere — diese riesigen Kreaturen, die man Pferde nennt, trugen sie tatsächlich auf ihren Rücken herum. Vermutlich machte die Schwerkraft die Menschen müde. Und diese reichen Leute, wie — wie leitende Angestellte vermutlich —, die ›Lords‹ und ›Adelige‹ genannt wurden, lebten in den phantastischsten Habitats, die an der Oberfläche des Planeten befestigt waren — und von alldem haben wir im Geschichtsunterricht nichts gehört!« Ihre Empörung erreichte einen Gipfel. »Dieses Zeug hat doch nichts mit Geschichte zu tun«, widersprach er, »das ist Literatur.«

»Es ist aber auch anders als die Literatur, die man uns gibt. Oh, die ist schon in Ordnung für kleine Kinder — Der kleine Kompressor hat mir immer gut gefallen —, wir haben es uns von unserer Krippenmutter immer wieder und wieder vorlesen lassen. Und die Bobby-BX-99-Serie war in Ordnung… Bobby BX-99 löst das Rätsel der übermäßigen Feuchtigkeit… Bobby BX-99 und das Pflanzenvirus… Daraufhin habe ich gebeten, mich auf Hydrokultur spezialisieren zu dürfen. Aber es ist viel interessanter, über Planetarier zu lesen. Es ist so… so… wenn ich das lese«, sie hielt die kleinen Plastikquadrate krampfhaft fest, »es ist, als wären sie real und ich nicht.« Silver seufzte schwer.

Obwohl Mr. Van Atta vielleicht ein bißchen wie Sir Randan war… von hohem Status, herrisch, leicht aufbrausend… Silver überlegte kurz, warum das aufbrausende Temperament bei Sir Randan immer so erregend und anziehend erschien, voller faszinierender Folgen. Wenn Mr. Van Atta ärgerlich wurde, dann bekam sie bloß ein flaues Gefühl im Magen. Vielleicht hatten planetarische Frauen mehr Mut.

Ti zuckte überrascht und amüsiert die Achseln. »Dich regt es vermutlich an. Für mich ist das harmlos. Aber ich habe etwas Besseres für dich mitgebracht, von dieser Reise…« Er kramte in seiner Pilotentasche herum und holte ein Gespinst aus elfenbeinfarbenem Stoff, Spitzen und Seidenbändern heraus. »Ich habe mir vorgestellt, du könntest durchaus mal eine normale Damenbluse tragen. In dem Muster sind Blumen drin. Ich dachte, du magst das, weil du in der Hydrokultur arbeitest und so.« »Oh…« Eine von Valeria Virgas Heldinnen mochte sich in einem solchen Gewand wohlgefühlt haben. Silver griff danach, dann zog sie ihre Hand zurück. »Aber… aber ich kann es nicht annehmen.«

»Warum nicht? Du nimmst die Buchdisketten ja auch. Das war nicht so teuer.«

Silver, die meinte, daß sie aufgrund ihrer Lektüre nun beginne, eine ziemlich klare Vorstellung davon zu haben, wie Geld funktionierte, schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht. Es ist, na ja — weißt du, ich glaube, Dr. Yei würde unsere Treffen nicht billigen. Und — eine Menge anderer Leute auch nicht.« Tatsächlich war sich Silver ziemlich sicher, daß ›mißbilligen‹ kaum die Konsequenzen bezeichnen würde, die entstünden, wenn ihre geheimen Transaktionen mit Ti herauskämen.

»Prüde Typen«, sagte Ti verächtlich. »Du wirst dir doch nicht von ihnen sagen lassen, was du jetzt zu tun hast, oder?« Aber in seiner Geringschätzung klang Besorgnis an.

»Ich werde auch nicht anfangen, ihnen zu sagen, was ich tue«, sagte Silver nachdrücklich. »Würdest du das?«

»Lieber Gott, nein«, er winkte erschreckt ab.

»Also, da stimmen wir überein. Unglücklicherweise ist das«, sie zeigte mit Bedauern auf die Bluse, »etwas, das ich nicht verstecken kann. Ich könnte sie nicht tragen, ohne daß jemand fragt, woher ich sie bekommen habe.«

»Oh«, sagte er in dem dumpfen Ton eines Menschen, der von einer unbestreitbaren Tatsache beeindruckt ist. »Tja, ich — vermutlich hätte ich daran denken sollen. Meinst du, daß du sie vielleicht einige Zeit verstecken kannst? Ich habe meinen Schwerkrafturlaub auf Rodeo genommen, weil einem alle Plätze mit Shuttlebonus auf Orient IV von den dienstälteren Burschen weggeschnappt werden. Na ja, und man kann hier schneller eine Menge Arbeitsstunden zusammenbekommen, mit dem ganzen Frachtverkehr. Aber nach ein paar weiteren Zyklen werde ich den Dienstgrad eines Shuttlekommandanten und wieder den permanenten Sprungpilotenstatus haben.«

»Ich kann die Bluse auch mit niemandem teilen«, sagte Silver. »Weißt du, die Sache mit den Büchern und den Vid-Dramen und den anderen Dingen ist, sie sind nicht nur klein und leicht zu verstecken, sondern ich kann sie auch in der Gruppe herumgehen lassen, ohne daß sie abgenutzt werden. Niemand wird dabei ausgelassen. So kann ich eine Menge Kooperation bekommen, wenn ich, sagen wir mal, ein bißchen für mich selbst sein möchte.« Mit einem Zurückwerfen des Kopfes deutete sie auf die Ungestörtheit hin, die sie im Augenblick genossen.

»Aha«, Ti schluckte. Er zögerte. »Ich — hatte nicht gewußt, daß du die Sachen weitergibst.«

»Nicht teilen?«, sagte Silver. »Das wäre wirklich falsch.« Sie starrte ihn leicht gekränkt an und schob ihm die Bluse schnell wieder zu, bevor sie schwach würde. Sie wollte beinahe weitere Erklärungen geben, aber dann besann sie sich eines besseren.

Am besten erfuhr Ti nichts von dem Aufruhr, den es gegeben hatte, als ein Planetarier vom Personal des Habitats eine der Buchdisketten, die sie aus Versehen in einem Projektor gelassen hatten, fand und an Dr. Yei weitergab. Die Suche — sie waren gerade noch alarmiert worden und es war ihnen gelungen, den Rest der eingeschmuggelten Bibliothek zu verstecken, aber die heftige und intensive Suche war für Silver Warnung genug gewesen, wie ernst ihr Vergehen in den Augen ihrer Autoritäten war. Es hatte seitdem zwei weitere überraschende Inspektionen gegeben, obwohl keine weiteren Disketten gefunden wurden. Sie hatte den Wink wohl verstanden.

Mr. Van Atta selbst hatte sie — sie! — beiseite genommen und gedrängt, sie solle die undichte Stelle unter ihren Kameraden ausspionieren. Sie hatte begonnen, ein Geständnis abzulegen, aber dann gerade noch rechtzeitig abgebrochen, als seine aufkommende Wut ihr Angst einjagte und fast die Kehle abschnürte. »Ich werde den kleinen Schleicher in Stücke reißen, wenn ich ihn erwische«, hatte Van Atta geknurrt. Vielleicht würde Ti Mr. Van Atta und Dr. Yei und ihr ganzes Personal zusammen nicht so einschüchternd finden — aber sie wagte es nicht, den Verlust ihrer einzigen sicheren Quelle für Planetarierfreuden zu riskieren. Ti war zumindest bereit, gegen etwas zu tauschen, das praktisch ein Teil von Silvers Arbeitskraft war, die eine unsichtbare Ware, die in keinem Inventar geführt wurde; wer weiß, vielleicht mochte ein anderer Pilot irgendwelche Sachen verlangen, die weit schwieriger unbemerkt aus dem Habitat zu schmuggeln waren.

Eine lange erwartete Bewegung im Ladebereich fiel ihr ins Auge. Und du hast gemeint, du würdest wegen ein paar Büchern Schwierigkeiten riskieren, dachte Silver bei sich selbst. Warte nur, bis erst mal diese Kinderei herauskommt…

»Auf jeden Fall vielen Dank«, sagte Silver hastig und faßte Ti um den Hals für einen ausgedehnten Dankeskuß. Er schloß die Augen — das war ein wunderbarer Reflex — und Silver rollte die ihren, um durch das Fenster der Steuerkabine schauen zu können. Tony, Ciaire und Andy verschwanden gerade im Anschlußrohr zur Shuttleluke.

Na also, dachte Silver, das war’s. Ich habe getan, was ich konnte — der Rest liegt bei euch. Viel Glück, doppeltes Glück. Und etwas heftiger: Ich wünschte, ich würde mit euch gehen.

»Uff! Schau mal auf die Uhr!« Ti löste sich aus ihrer Umarmung. »Ich muß noch mit dieser Checkliste fertig werden, bevor Kapitän Durrance zurückkommt. Vermutlich hast du recht mit dem Hemd«, er stopfte die Bluse achtlos wieder in seine Pilotentasche, »was soll ich dir nächtesmal mitbringen?« »Siggy von der Abteilung Wartung Luftsysteme hat mich gefragt, ob es noch mehr Holovids aus der Serie Ninja vom Zwillingsstern gibt«, sagte Silver prompt. »Er ist jetzt bei Nummer 7, aber ihm fehlen Nr. 4 und 5.«

»Aha«, sagte Ti, »das war also anständige Unterhaltung. Hast du sie auch selber angeschaut?«

»Ja«, Silver rümpfte die Nase, »aber ich bin mir nicht sicher — die Leute darin taten einander so schreckliche Dinge an — das ist auch nur erfunden, oder?«

»Nun, ja.«

»Da bin ich erleichtert.«

»Ja, aber was möchtest du für dich selbst?«, fragte er hartnäckig. »Ich riskiere den Anpfiff nicht, um Siggy eine Freude zu machen, egal, wer er auch sein mag. Siggy hat nicht deine«, er seufzte in Erinnerung an seine Wonne, »herrlich doppelt gelenkigen Hüften.«

Silver fächerte die drei neuen Buchdisketten in ihrer unteren rechten Hand auf. »Mehr davon, bitte, Sir.«

»Wenn du Kitsch möchtest«, er nahm nacheinander jede ihrer Hände und küßte sie auf die Handflächen, »dann sollst du Kitsch bekommen. O weh, da kommt mein furchtloser Kapitän.« Ti glättete hastig seine Shuttlepilotenuniform, stellte das Licht stärker und nahm sein Reportpanel zur Hand, während sich am anderen Ende der Ladebucht eine luftdichte Tür zischend öffnete. »Er mag es nicht, wenn ihm Juniorsprungpiloten aufgehalst werden. Kaulquappen nennt er uns. Ich glaube, es ist ihm unbehaglich, weil ich auf meinem Sprungschiff im Rang über ihm stehen würde. Trotzdem ist es besser, daß ich dem alten Knaben keinen Grund zum Meckern gebe…« Silver ließ die Buchdisketten in ihrer Arbeitstasche verschwinden und nahm die Haltung einer müßigen Zuschauerin an, als Kapitän Durrance, der Kommandant des Shuttles, in die Steuerkabine schwebte.

»Machen Sie schnell, Ti, unser Reiseplan ist geändert worden«, sagte Kapitän Durrance.

»Jawohl, Sir. Um was geht’s?«

»Wir sollen hinunterfliegen.«

»Zum Teufel«, fluchte Ti schwach. »Wie schade. Ich hatte eine hübsche Verabredung…«, sein Blick fiel auf Silver, »ich sollte mich heute abend mit einem Freund auf der Transferstation zum Essen treffen.«

»Schön«, sagte Kapitän Durrance ironisch kühl. »Schicken Sie eine Beschwerde an die Personalabteilung, daß Ihr Arbeitsplan Ihr Liebesleben stört. Vielleicht können die es einrichten, daß Sie überhaupt keinen Arbeitsplan bekommen.«

Ti verstand den Wink und bewegte sich schleunigst hinaus, um seine Pflichten zu absolvieren, während ein Techniker des Habitats eintraf, um die Steuerkabine zu übernehmen.

Silver hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, erstarrt vor Schreck und Verwirrung. Tony und Ciaire hatten geplant, auf der Transferstation sich an Bord eines Sprungschiffes zu schmuggeln, das nach Orient IV unterwegs war, um aus dem Einflußbereich von Galac-Tech zu gelangen und dort nach ihrer Ankunft Arbeit zu finden; ein schrecklich riskanter Plan, nach Silvers Einschätzung, der das Ausmaß ihrer Verzweiflung zeigte. Ciaire war entsetzt gewesen, hatte sich aber schließlich von Tonys Planung mit sorgfältig durchdachten Etappen überreden lassen. Zumindest die ersten Etappen waren sorgfältig durchdacht gewesen; je weiter weg sie von Rodeo und von zu Hause waren, desto vager schienen sie zu werden. Einen Umweg über den Planeten hatten sie in keiner Version eingeplant.

Inzwischen hatten Tony und Ciaire sich sicher im Laderaum des Shuttles versteckt. Es gab für Silver keine Möglichkeit, sie zu warnen — sollte sie sie verraten, um sie zu retten? Der darauf folgende Aufruhr würde garantiert schrecklich werden — ihre Verzweiflung legte sich um ihre Brust wie ein Stahlband, behinderte ihre Atmung, hinderte sie am Sprechen.

Elend und wie gelähmt beobachtete sie auf dem Vid-Display der Steuerkabine, wie das Shuttle vom Habitat abstieß und in Richtung auf Rodeos wirbelnde Atmosphäre hinabzusinken begann.

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