KAPITEL 12

Leo zog seinen Raumanzug aus. Um ihn herum schrien aufgeregte Quaddies.

»Was meint ihr damit, daß wir sie nicht alle geschnappt haben?«, fragte er, während seine gehobene Stimmung verflog. Er hatte so sehr gehofft, daß seine Probleme — oder zumindest deren planetarischer Teil — vorbei wären, sobald sie die Düse gezündet hatten, die das Vortragsmodul C abtrennte.

»Vier von den Bereichsaufsehern sind mit Atemmasken im Gemüsekühler eingeschlossen und wollen nicht herauskommen«, berichtete Sinda von der Ernährungsabteilung. »Und die drei Crewmitglieder von dem Shuttle, das gerade angedockt hat, haben versucht, wieder auf ihr Schiff zu gelangen«, sagte ein Quaddie in gelbem Hemd von der Abteilung Docks Schleusen. »Wir haben sie zwischen zwei luftdichten Türen eingesperrt, aber sie haben sich den Mechanismus vorgenommen, und wir glauben, daß wir sie nicht viel länger eingesperrt halten können.« »Mr. Wyzek und zwei Aufseher von der Abteilung Life-Support-Systeme sind … hm … in der Systemzentrale gefesselt. An die Handgriffe in der Wand«, berichtete ein anderer Quaddie in Gelb und fügte nervös hinzu: »Mr. Wyzak ist ziemlich wild.«

»Drei der Krippenmütter haben sich geweigert, ihre Kinder zu verlassen«, sagte ein älteres Quaddie-Mädchen in Rosa. »Sie sind immer noch im Turnraum mit den übrigen Kleinen. Sie sind ziemlich aufgeregt. Niemand hat ihnen bisher gesagt, was los ist, zumindest nicht, als ich von dort weg bin.« »Und da ist … hm … noch eine andere Person«, fügte der rotgekleidete Bobbi von Leos Schweiß- und Lötmannschaft mit schwacher Stimme hinzu. »Wir sind nicht ganz sicher, was wir mit ihm machen sollen …«

»Immobilisiert ihn mal für den Anfang«, begann Leo müde. »Wir werden einfach ein Rettungspod für die Nachzügler herrichten müssen.«

»Das wird vielleicht nicht so einfach sein«, sagte Bobbi.

»Ihr seid ihm doch zahlenmäßig überlegen, nehmt zehn — nehmt zwanzig — ihr könnt so vorsichtig sein, wie ihr wollt — ist er bewaffnet?« »Nicht direkt«, gestand Bobbi ein, die scheinbar mit neu erwachter Faszination auf ihre unteren Fingernägel starrte. Das war bei den Quaddies dasselbe, wie wenn Planetarier verlegen mit den Füßen scharrten, erkannte Leo.

»Graf!«, dröhnte eine herrische Stimme, während die Tür am Ende des Geräteraums sich öffnete. Dr. Minchenko schwang sich in das Modul, landete mit einem Bums neben Leo und versetzte dem Spind einen Extraschlag mit der Faust, um seine Empörung zu unterstreichen. Man konnte in der Schwerelosigkeit schließlich nicht mit den Füßen aufstampfen. Die unbenutzte Atemmaske, die von seiner Hand baumelte, hüpfte und zitterte. »Was, zum Teufel, ist hier los? Es gibt keinen verdammten Druckabfall …« Er holte kräftig Luft, wie zum Beweis seiner Worte.

Das Quaddiemädchen Kara in weißem T-Shirt und weißen Shorts folgte hinter ihm und blickte besorgt drein. »Tut mir leid, Leo«, entschuldigte sie sich, »ich konnte ihn nicht dazu bewegen zu gehen.«

»Soll ich mich in eine Kammer zurückziehen, während alle meine Quaddies ersticken?«, wollte Minchenko ungehalten von ihr wissen. »Wofür hältst du mich denn, Mädel?«

»So gut wie alle anderen haben es getan«, brachte sie stockend vor.

»Feiglinge — Schurken — Idioten«, sprudelte er hervor.

»Die anderen haben die Notfallinstruktionen des Computers befolgt«, sagte Leo. »Warum Sie nicht?«

Minchenko blickte ihn wütend an. »Weil die ganze Sache faul war. Ein Druckabfall im gesamten Habitat dürfte fast unmöglich sein. Da müßte schon eine ganze Kette von ineinandergreifenden Unfällen passieren.«

»Solche Ketten passieren allerdings«, sagte Leo und sprach damit aus Erfahrung. »Sie sind praktisch mein Spezialgebiet.« »Ganz recht«, knurrte Minchenko und kniff die Augen zusammen. »Und dieser Parasit Van Atta hat Sie als seinen Lieblingsingenieur angekündigt, als er Sie herbrachte. Offen gesagt, ich dachte … hm!«, er blickte nur leicht verlegen drein, »daß Sie seine Marionette wären. Der Unfall schien gerade jetzt so verdächtig gut zu passen, von seinem Standpunkt aus gesehen. Da ich Van Atta kenne, war das praktisch das erste, woran ich dachte.«

»Danke«, knurrte Leo.

»Ich kenne Van Atta — Sie kannte ich nicht.« Minchenko zögerte und fügte dann in sanfterem Ton hinzu: »Ich kenne Sie immer noch nicht. Was meinen Sie denn, was Sie da tun?«

»Ist es nicht offensichtlich?«

»Nicht ganz, nein. Oh, gewiß, Sie können sich im Habitat einige Monate halten, abgeschnitten von Rodeo — vielleicht Jahre, falls Sie vorsichtig und clever genug sind und wir mal Gegenangriffe außer acht lassen — aber was dann? Hier gibt es keine öffentliche Meinung, die Ihnen zu Hilfe kommen kann, kein Publikum, vor dem Sie sich in Szene setzen können. Das Ganze ist nicht durchdacht, Graf. Sie haben keine Vorkehrungen getroffen, um Hilfe zu bekommen …«

»Wir bitten nicht um Hilfe. Die Quaddies retten sich selbst.«

»Wie?« Minchenkos Ton war spöttisch, seine Augen jedoch begannen zu leuchten.

»Mit dem Habitat durchs Wurmloch. Und dann weiter.«

Sogar Minchenko war einen Augenblick sprachlos. »Oh …«

Leo zog sich den roten Overall vollends an und griff nach dem Werkzeug, das er haben wollte. Mit der Laserlötpistole deutete er entschlossen auf Minchenkos Zwerchfell. Hierbei schien es sich nicht um eine Aufgabe zu handeln, die er ohne Gefahr an die Quaddies delegieren konnte. »Und Sie«, sagte er, »können sich in dem Rettungspod mit den übrigen Planetariern zur Transferstation begeben. Los, gehen wir.«

Minchenko würdigte die Lötpistole kaum eines Blickes. Er schürzte die Lippen voller Verachtung für die Waffe und, so empfand es Leo, für den, der sie hielt. »Benehmen Sie sich nicht idiotischer als unvermeidlich, Graf. Ich weiß, daß die Quaddies diesen Schwachkopf Curry reingelegt haben, und daß somit mindestens noch fünfzehn schwangere Quaddiemädchen dort draußen sind. Dabei sind die Ergebnisse nicht autorisierter Experimente noch nicht mitgezählt, die signifikant werden dürften, wenn ich danach gehe, wie schnell sich diese Schachtel mit Kondomen in der unverschlossenen Schublade in meinem Büro leert.« Kara zuckte bestürzt und schuldbewußt zusammen, und Minchenko fügte leise zu ihr gesprochen hinzu: »Was meinst du, warum habe ich dich wohl auf diese Schachtel aufmerksam gemacht, meine Liebe? Sei dem, wie ihm wolle, Graf«, er fixierte Leo mit einem strengen Blick, »wenn Sie mich rausschmeißen, was planen Sie dann zu tun, falls eine bei den Wehen eine Placenta praevia bekommt? Oder einen Gebärmuttervorfall post partum? Oder wenn ein anderer medizinischer Notfall auftritt, der mehr erfordert als nur ein Heftpflaster?« »Nun … aber …« Leo war verblüfft. Er war sich nicht ganz sicher, was eine Placenta praevia war, aber irgendwie glaubte er nicht, daß es nur um medizinisches Kauderwelsch für einen Niednagel handelte. Nicht, daß eine präzise Erklärung des Begriffes etwas dazu beigetragen hätte, die unheilvolle Beklemmung aufzulösen, die er in ihm hervorrief. War es etwas, das wahrscheinlich auftreten konnte, wenn man die Veränderungen in der Anatomie der Quaddies in Betracht zog? »Es gibt keine Wahl. Hierzubleiben bedeutet den Tod für jeden Quaddie. Wegzugehen bedeutet eine Chance — nicht eine Garantie — auf Leben.«

»Aber Sie brauchen mich«, argumentierte Minchenko.

»Sie müssen … was?« Leos Zunge verhaspelte sich.

»Sie brauchen mich. Sie können mich nicht rausschmeißen.« Minchenkos Blick streifte einen Sekundenbruchteil lang die Lötpistole. »Nun na ja«, würgte Leo hervor, »ich kann Sie auch nicht kidnappen.«

»Wer verlangt das von Ihnen?«

»Sie, offensichtlich …« Er räusperte sich. »Sehen Sie, ich glaube, Sie verstehen mich nicht. Ich nehme dieses Habitat über das Wurmloch hinaus, und wir kommen nicht zurück, nie mehr. Wir gehen so weit weg, wie wir können, jenseits aller bewohnten Welten. Das ist eine Reise ohne Wiederkehr.«

»Ich bin erleichtert. Am Anfang hatte ich gedacht, Sie würden etwas Törichtes versuchen.«

Leo fühlte einen Widerstreit der Emotionen, eine Mischung aus Mißtrauen, Eifersucht? — und einer schnell wachsenden Hoffnung. Was für eine Erleichterung würde es bedeuten, wenn er nicht alles allein machen mußte … »Sind Sie sich sicher?«

»Sie sind meine Quaddies …« Minchenko ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. »Daryls und meine. Ich glaube, Sie verstehen nicht einmal zur Hälfte, welche Arbeit wir da geleistet haben. Was für eine gute Arbeit, indem wir diese Leute entwickelt haben. Sie sind bestens an ihre Umgebung angepaßt. In jeder Weise überlegen. Die Arbeit von fünfunddreißig Jahren — soll ich zulassen, daß ein völlig Fremder sie durch die ganze Galaxis fortschleppt, einem unbekannten Schicksal entgegen? Außerdem hatte Galac-Tech vor, mich nächstes Jahr in Ruhestand zu schikken.«

»Sie werden Ihre Pension verlieren«, betonte Leo. »Vielleicht Ihre Freiheit — möglicherweise Ihr Leben.«

Minchenko schnaubte. »Davon ist nicht mehr viel übrig.«

Das stimmt nicht, dachte Leo. Der Biowissenschaftler besaß ein enormes Leben, angesammelt in einem dreiviertel Jahrhundert. Wenn dieser Mann starb, dann würde ein Universum an Spezialwissen ausgelöscht werden. Engel würden weinen über diesen Verlust. Es sei denn … »Könnten Sie Quaddies zu Ärzten ausbilden?«

»Überflüssig zu sagen, daß Sie es nicht können.« Minchenko fuhr sich mit den Händen durch sein kurzgeschorenes weißes Haar, in einer Geste, die teils Wut war, teils Bitte.

Leo blickte sich unter den unruhig wartenden Quaddies um, die mithörten — mithörten, während wieder Menschen mit Beinen über ihr Schicksal entschieden. Das war nicht recht … die Worte schlüpften ihm aus dem Mund, bevor vernünftige Vorsicht sie zurückhalten konnte. »Was meint ihr darüber?«

Sofort erhob sich ein Chor der Zustimmung für Minchenko — und in ihren Augen war auch Erleichterung zu lesen. Minchenkos vertraute Autorität würde für sie offensichtlich eine enorme Beruhigung darstellen, während sie weiter hinaus ins Unbekannte reisten. Leo erinnerte sich plötzlich daran, wie sich das Universum an jenem Tag in einen fremdartigeren Ort verwandelt hatte, als sein Vater gestorben war. Daß wir Erwachsene sind, bedeutet noch nicht automatisch, daß wir euch retten können … Aber das war eine Entdeckung, die jeder Quaddie zu seiner eigenen Zeit würde machen müssen. Er holte tief Luft. »In Ordnung …« Wie konnte man sich plötzlich um hundert Kilos leichter fühlen, wenn man schon schwerelos war? Placenta praevia, du lieber Himmel!

Minchenko reagierte darauf nicht mit sofortigem Wohlgefallen. »Da ist bloß noch eine Sache«, begann er und setzte ein unterwürfiges Lächeln auf, das überhaupt nicht in sein Gesicht paßte.

Worauf ist er jetzt aus? fragte sich Leo, und sein Mißtrauen erwachte wieder. »Was?«

»Madame Minchenko.«

»Wer?«

»Meine Frau. Ich muß sie holen.«

»Ich wußte nicht, daß Sie verheiratet sind. Wo ist sie?«

»Unten. Auf Rodeo.« »Zum Teufel …« Leo unterdrückte den Impuls, sich seine restlichen Haare herauszureißen.

»Tony ist auch dort unten«, erinnerte ihn Pramod, der zugehört hatte.

»Ich weiß, ich weiß — und ich habe es Ciaire versprochen — ich weiß nicht, wie wir das schaffen …«

Minchenko wartete mit gespanntem Gesichtsausdruck — ein Mann, der nicht daran gewöhnt war zu betteln. Nur seine Augen baten stumm. Leo wurde davon angerührt. »Wir werden es versuchen. Wir versuchen es. Mehr kann ich nicht versprechen.«

Minchenko nickte würdevoll.

»Welche Meinung wird Madame Minchenko überhaupt über all das haben?«

»Sie verabscheut Rodeo seit fünfundzwanzig Jahren«, versprach Minchenko — etwas unbekümmert, für Leos Empfinden. »Sie wird froh sein, wegzukommen.« Minchenko sagte nicht: hoffe ich, aber Leo hörte es trotzdem. »In Ordnung. Na ja, wir müssen noch diese Nachzügler zusammentreiben und sie loswerden …« Leo überlegte sehnsüchtig, ob es möglich war, nach einem Beklemmungsanfall schmerzlos tot umzufallen. Er führte seine kleine Truppe aus dem Umkleideraum hinaus.


Von Handgriff zu Handgriff flog Ciaire die sich verzweigenden Korridore entlang. Jetzt hatte sie keine Geduld mehr. Ihr Herz jubilierte vor Erwartung. Die Türen zu dem lärmerfüllten Turnraum waren von Quaddies umlagert, und sie mußte sich zurückhalten, um sich nicht gewaltsam mit den Ellbogen einen Weg durch sie zu bahnen. Eine ihrer alten Kameradinnen vom Schlafsaal, in das rosafarbene T-Shirt und die rosa Shorts des Krippendienstes gekleidet, erkannte sie mit einem Grinsen und streckte eine untere Hand aus, um sie durch die Menge zu ziehen.

»Die Kleinsten sind an Tür C«, sagte sie. »Ich habe dich schon erwartet …« Nach einem kurzen prüfenden Blick, der sicherstellen sollte, daß ihre Flugbahn nicht gewaltsam auf jemanden anderen traf, der eine ähnliche Abkürzung nahm, half die Kameradin Ciaire, sich auf dem kürzesten Weg in diese Richtung abzustoßen, quer durch den großen Raum.

Die dralle Gestalt im rosafarbenen Overall, die Ciaire suchte, war praktisch unter einem Schwarm aufgeregter, erschreckter, schnatternder und weinender Fünfjähriger begraben. Ciaire empfand einen Stich echter Schuld, daß man es zu gefährlich für die Geheimhaltung ihres Unternehmens erachtet hatte, die jüngeren Quaddies im voraus vor den großen Veränderungen zu warnen, die über sie hinwegfegen würden. Die Kleinen konnten auch nicht mit abstimmen, dachte sie.

Andy war an Mama Nilla gegurtet und weinte jämmerlich. Mama Nilla versuchte verzweifelt, ihn mit einer Spritzflasche Babynahrung in der einen Hand zu beruhigen, während sie mit der anderen einen sich rötenden Gazebausch an die Stirn eines schreienden Fünfjährigen hielt. Zwei oder drei weitere klammerten sich trostsuchend an ihre Beine, während sie versuchte, mit Worten die Bemühungen eines sechsten zu lenken, einem siebenten zu helfen, der aus Versehen eine Packung mit Proteinchips zu weit aufgerissen hatte, dessen Inhalt sich nun in die Luft ergoß. Durch alles hindurch klang ihre vertraute ruhige, gedehnte Sprechweise nur wenig gepreßter als gewöhnlich, bis ihr Blick auf Ciaire fiel. »Oh, meine Liebe«, sagte sie mit schwacher Stimme.

»Andy!«, rief Ciaire.

Er drehte ihr den Kopf zu und stieß sich mit verzweifelten Schwimmbewegungen von Mama Nilla ab, doch als er am Ende seines Gurtes ankam, wurde er wieder zurück zu seiner Krippenmutter geschnellt. Jetzt brüllte er ernsthaft los. Wie ein Echo begann der blutende Junge auch lauter zu schreien.

Ciaire bremste sich an der Wand ab und näherte sich ihnen.

»Ciaire, Liebling, es tut mir leid«, sagte Mama Nilla und drehte ihre Hüften, um Andy zu verstecken, »aber ich kann ihn dir nicht geben. Mr. Van Atta hat gesagt, er würde mich auf der Stelle feuern, ob ich zwanzig Jahre im Dienst bin oder nicht — und Gott weiß, wen sie dann bekommen würden — es gibt so wenige, denen ich vertrauen kann, daß sie nicht auf den Kopf gefallen sind …« Andy unterbrach sie, indem er sich wieder abstieß; er schlug ihr die dargebotene Flasche heftig aus der Hand, und sie rotierte davon und trug im Vorbeifliegen mit einigen Tropfen Babynahrung zu dem allgemeinen Durcheinander bei. Ciaire streckte die Hände nach ihm aus.

»… ich kann nicht, ich kann wirklich nicht — ach, zum Teufel, nimm ihn!« Es war das erstemal, daß Ciaire Mama Nilla überhaupt hatte fluchen hören. Sie hakte den Gurt los, und ihre freigewordene linke Seite wurde sofort von den wartenden Fünfjährigen okkupiert.

Andys Schreie gingen sofort in ein gedämpftes Weinen über, während seine kleinen Hände sich heftig an sie klammerten. Ciaire drückte ihn mit all ihren vier Armen nicht weniger heftig an sich. Er suchte mit dem Mund in ihrem Hemd — vergebens, wie Ciaire bewußt wurde. Ihn einfach nur zu halten mochte für sie genug sein, aber für ihn galt das nicht notwendigerweise. Sie schnupperte in seinem dünnen Haar und genoß seinen sauberen Babyduft, seine fein geschnittenen Ohren, seine durchscheinende Haut, seine zarten Wimpern, jeden Teil seines zappelnden Körpers. Mit dem Saum ihres blauen Hemdes wischte sie glücklich seine Nase.

»Es ist Ciaire«, hörte sie einen der Fünfjährigen einem anderen gescheit erklären. »Sie ist eine echte Mama.« Sie blickte auf und sah, wie die Kleinen sie neugierig in Augenschein nahmen; dann kicherten sie. Sie grinste zurück. Ein Siebenjähriger von einer benachbarten Gruppe hatte die Flasche aufgefangen und beobachtete Andy voller Interesse.

Als die Schnittwunde auf der Stirn des kleinen Quaddies nicht mehr blutete, war Mama Nilla endlich in der Lage, ein Gespräch zu führen. »Du weißt nicht zufällig, wo Mr. Van Atta jetzt ist, oder?«, fragte sie Ciaire nervös. »Fort«, sagte Ciaire voller Freude, »fort für immer! Wir übernehmen jetzt das Habitat.«

Mama Nilla blinzelte. »Ciaire, man wird euch nicht lassen …«

»Wir haben Hilfe.« Sie deutete mit einem Nicken zur anderen Seite des Turnraums, wo ihr Blick auf Leo in seinem roten Overall fiel — er mußte gerade angekommen sein. Bei ihm war eine andere zweibeinige Gestalt in einem weißen Overall. Was tat Dr. Minchenko noch hier? Eine plötzliche Angst durchzuckte sie. War es ihnen schließlich doch nicht gelungen, die Planetarier aus dem Habitat zu entfernen? Zum erstenmal kam ihr der Gedanke, Mama Nillas Anwesenheit in Frage zu stellen. »Warum sind Sie nicht in Ihren Sicherheitsbereich gegangen?«, fragte Ciaire sie.

»Sei nicht töricht, meine Liebe. Oh, Dr. Minchenko!« Mama Nilla winkte ihm zu. »Hier drüben!«

Die zwei Planetarier, denen das Vertrauen der Quaddies in den freien Flug fehlte, durchquerten den Raum an einem Netz, das an einem entfernten Bogen aufgehängt war, und bahnten sich ihren Weg zu Mama Nillas Gruppe.

»Ich habe hier einen, der etwas biotischen Kleber braucht«, sagte Mama Nilla zu Dr. Minchenko, sobald er in Hörweite war, und umarmte den Quaddie, der sich geschnitten hatte. »Was ist los? Ist es schon sicher, sie wieder in die Krippenmodule zu bringen?« »Es ist sicher«, erwiderte Leo, »aber Sie werden mit mir kommen müssen, Ms. Villanova.«

»Ich verlasse meine Kinder nicht, bis meine Ablösung kommt«, sagte Mama Nilla scharf, »und neun Zehntel meiner Abteilung scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben, meine Abteilungsleiterin eingeschlossen.«

Leo runzelte die Stirn. »Hatten Sie noch keine Besprechung mit Dr. Yei?«

»Nein …«

»Sie haben sich die Besten für zuletzt aufgehoben«, sagte Dr. Minchenko grimmig, »aus offenkundigen Gründen.« Er wandte sich der Krippenmutter zu. »GalacTech hat gerade das Cay-Projekt abgebrochen, Liz. Ohne mich überhaupt zu Rate zu ziehen!« Mit schonungsloser Offenheit skizzierte er ihr das Abbruchszenario. »Ich war gerade dabei, meinen Protest zu Papier zu bringen, aber Graf hier ist mir zuvorgekommen. Beträchtlich wirkungsvoller, nehme ich an. Die Insassen haben die Anstalt übernommen. Er meint, daß er das Habitat in ein Kolonieschiff umwandeln kann. Ich glaube … ich ziehe es vor zu glauben, daß er das kann.«

»Sie wollen damit sagen, daß Sie für dieses Durcheinander verantwortlich sind?« Mama Nilla funkelte Leo an und blickte sich um, sichtlich verdutzt. »Ich dachte, Ciaire würde nur daherplappern …« Die anderen beiden Krippenmütter, Planetarierinnen wie Mama Nilla, die während Dr. Minchenkos Erklärungen herbeigekommen waren, hingen in der Luft und sahen ebenso verblüfft drein. »Galac-Tech gibt Ihnen das Habitat nicht … oder?«, fragte Mama Nilla Leo matt.

»Nein, Ms. Villanova«, sagte Leo geduldig. »Wir stehlen es. Nun, ich möchte von Ihnen nicht verlangen, sich in etwas Illegales zu verstricken, wollen Sie mir also einfach zum Rettungspod folgen …«

Mama Nilla blickte im Turnraum umher. Ein paar Gruppen von Jüngeren wurden schon von einigen älteren Quaddies hinausgeleitet. »Aber diese Kinder können doch nicht für all diese Kinder sorgen!«

»Sie werden es müssen«, sagte Leo.

»Nein, nein … ich glaube, Sie haben nicht die leiseste Ahnung, wie arbeitsintensiv diese Abteilung ist!« »Hat er nicht«, bestätigte Dr. Minchenko und rieb sich nachdenklich mit dem Zeigefinger über die Lippen.

»Es gibt keine Wahl«, sagte Leo und biß die Zähne aufeinander. »Jetzt, Kinder, laßt Ms. Villanova los«, wandte er sich an die Quaddies, die sich an sie klammerten. »Sie muß gehen.«

»Nein!«, sagte der Kleine, der sich an ihrem linken Knie festhielt. »Sie muß uns nach dem Essen Geschichten vorlesen, sie hat es versprochen.« Das Kind mit der Schnittwunde begann wieder zu weinen. Ein anderes zupfte sie an ihrem linken Ärmel und flüsterte vernehmlich: »Mama Nilla! Ich muß aufs Klo!«

Leo fuhr sich mit den Händen durchs Haar und zwang sich sichtlich, sie nicht zu Fäusten zu ballen. »Ich muß jetzt meinen Raumanzug anziehen und draußen sein, Gnädigste, ich habe keine Zeit, mich herumzustreiten. Sie alle …« — sein zorniger Blick umfaßte auch die beiden anderen Krippenmütter —, »raus mit ihnen!«

Mama Nillas Augen funkelten. Sie hielt ihm ihren linken Arm entgegen, an dem das Quaddiekind hing und mit blauen Augen um Mama Nillas kräftigen Oberarm herum Leo erschrocken anguckte. »Bringen Sie dann dieses kleine Mädchen zur Toilette?«

Das Quaddiemädchen und Leo starrten einander mit gleich großem Entsetzen an. »Sicher nicht«, würgte der Ingenieur hervor. Er blickte sich um. »Eine andere Quaddie wird das machen. Ciaire …?« Nachdem Andy wie ein Barracuda gesucht hatte, wählte er diesen Moment, um mit seinem Protestgeheul zu beginnen, weil aus den Brüsten seiner Mutter nicht die erwartete Milch kam. Ciaire versuchte ihn zu beruhigen, tätschelte seinen Rücken und war wegen seiner Enttäuschung selbst den Tränen nahe.

»Ich nehme an«, warf Dr. Minchenko sanft ein, »Sie würden nicht mit uns mitkommen wollen, Liz? Es würde natürlich keinen Weg zurück geben.«

»Mit uns?« Mama Nilla blickte ihn scharf an. »Machen Sie bei diesem Unsinn mit?«

»Ich glaube schon.«

»Na schön, also dann.« Sie nickte.

»Aber Sie können doch nicht …«, begann Leo.

»Graf«, sagte Dr. Minchenko, »hat Ihr kleines Drama mit dem Druckabfall gerade eben diesen Damen Grund zu der Annahme gegeben, daß sie noch Luft zum Atmen haben würden, wenn sie bei ihren Quaddies blieben?«

»Sollte es eigentlich nicht«, sagte Leo.

»Ich habe darüber nicht einmal nachgedacht«, sagte eine der Krippenmütter und blickte plötzlich entsetzt drein.

»Ich schon«, sagte die andere und schaute Leo finster an.

»Ich wußte, daß im Turnmodul eine Notbelüftung vorhanden ist«, sagte Mama Nilla, »das gehört schließlich zu den regulären Übungen. Die ganze Abteilung hätte hierherkommen sollen.«

»Ich habe sie umgelenkt«, sagte Leo knapp.

»Die ganze Abteilung hätte Ihnen sagen sollen, Sie sollten sich zum Teufel scheren«, fügte Mama Nilla gleichmütig hinzu. »Erlauben Sie mir, daß ich für die Abwesenden spreche.« Sie lächelte den Ingenieur eisig an.

Eine der Krippenmütter wandte sich verzweifelt an Mama Nilla. »Aber ich kann nicht mit Ihnen mitkommen. Mein Mann arbeitet unten auf dem Planeten!«

»Niemand verlangt das von Ihnen!«, knurrte Leo.

Die andere Krippenmutter ignorierte ihn und sagte zu Mama Nilla: »Es tut mir leid. Es tut mir so leid, Liz, aber ich kann einfach nicht. Das ist einfach zu viel.«

»Ja, genau.« Leos Hand zögerte über einer Ausbuchtung in seinem Overall. Dann ließ er wieder davon ab und versuchte stattdessen, sie alle mit weiten, winkenden Gesten hinauszuscheuchen.

»Es ist schon gut, Mädels, ich verstehe«, beruhigte Mama Nilla die offenkundige Besorgnis der beiden. »Ich werde bleiben und die Festung halten. Schließlich wartet niemand auf mich alte Tante«, erklärte sie lachend. Es klang etwas gezwungen. »Übernehmen Sie dann die Abteilung?«, holte sich Dr. Minchenko Mama Nillas Bestätigung. »Halten Sie sie in Betrieb, so gut Sie können — kommen Sie zu mir, wenn Sie es nicht können.« Sie nickte in sich gekehrt, als ginge ihr erst jetzt auf, wie unendlich kompliziert die vor ihr liegende Aufgabe war. Dr. Minchenko übernahm den Quaddiejungen mit der Schnittwunde auf der Stirn. Schließlich gelang es Leo, die beiden anderen Planetarierinnen loszureißen, und er sagte: »Kommen Sie schon. Ich muß als nächstes den Gemüsekühlraum leermachen.«

»Wieso verwendet er bei all dem Durcheinander Zeit für die Reinigung eines Kühlraums?«, murmelte Mama Nilla vor sich hin. »Verrücktheit …«

»Mama Nilla, ich muß jetzt!« Das kleine Quaddiemädchen schlang all ihre Arme nachdrücklich um den Leib der Krippenmutter, und Mama Nilla machte sich mit ihr notgedrungen auf den Weg.

Andy brüllte immer noch seine Enttäuschung in ungehaltenen stoßweisen Ausbrüchen hinaus.

»He, kleiner Bursche«, redete Dr. Minchenko ihn an, »das ist doch keine Art, wie man mit seiner Mutter spricht …«

»Keine Milch«, erklärte Ciaire. Niedergeschlagen und mit einem schrecklichen Gefühl der Unzulänglichkeit, bot sie ihm die Flasche an, doch die stieß er beiseite. Als sie versuchte, ihn einen Augenblick loszulassen, um nach der Flasche zu fischen, klammerte er sich an ihren Arm und schrie verzweifelt. Einer der Fünfjährigen rollte sich zusammen und legte demonstrativ alle vier Hände auf seine Ohren.

»Komm mit uns zur Krankenstation«, sagte Dr. Minchenko mit einem verstehenden Lächeln. »Ich glaube, ich habe etwas, das dieses Problem lösen wird. Es sei denn, du willst ihn jetzt abstillen, was ich nicht empfehle.«

»O bitte«, sagte Ciaire voller Hoffnung.

»So wie die Biofeedback-Verzögerungszeit nun einmal ist«, warnte er, »wird es ein paar Tage dauern, bis euer beider Systeme wieder ineinandergreifen. Aber seit ich hochgekommen bin, hatte ich ja sowieso keine Gelegenheit, euch zu untersuchen …«

Ciaire schwebte dankbar hinter ihm her. Andy hörte sogar zu weinen auf.

Pramod hatte über die Klampen keine Witze erzählt, dachte Leo mit einem Seufzen, als er den zusammengeschmolzenen Klumpen betrachtete, den er vor sich hatte. Er rief auf der Computertastatur, die neben ihm schwebte, die Spezifikationen auf, etwas langsam und schwerfällig mit den Händen in den Druckhandschuhen. Dieses besondere isolierte Rohr leitete Abwasser weiter. Kein glanzvolles Objekt, aber ein Fehler hier konnte genau so ein Desaster hervorrufen wie anderswo.

Und hier würde es viel dreckiger werden, dachte Leo mit einem grimmigen Grinsen. Er blickte zu Bobbi und Pramod auf, die in ihren silbrigen Arbeitsanzügen einsatzbereit neben ihm schwebten; fünf weitere Quaddiemannschaften waren auf der Oberfläche des Habitats zu sehen, und in der Nähe brachte sich ein Schubschiff in Stellung. Im Hintergrund drehte sich die sonnenbeleuchtete Sichel von Rodeo. Tja, sie waren gewiß die teuersten Klempner der Galaxis.

Das Durcheinander verschieden codierter Röhren und Rohre vor ihm bildete die Nabelschnüre zwischen einem Modul und dem nächsten und wurde durch eine äußere Hülle vor Korrosion durch Mikrostaub und anderen Beschädigungen abgeschirmt. Die Aufgabe, die vor ihnen lag, bestand darin, die Module in einheitlichen Bündeln der Länge nach neu auszurichten, damit sie unter Beschleunigung standhielten. Jedes zusammengeschnürte Bündel würde mit den Frachtbehältern eine stabile, sich selbst tragende, ausbalancierte Masse bilden, zumindest unter den Bedingungen der relativ niedrigen Schübe, die Leo ins Auge faßte. Es war wie das Antreiben einer Gruppe von zusammengespannten Nilpferden. Aber das Neuausrichten der Module hatte zur Folge, daß all ihre Verbindungen neu hergestellt werden mußten, und es gab wirklich jede Menge an Verbindungen.

In den Augenwinkeln nahm Leo eine Bewegung wahr. Pramods Helm folgte der Drehung von Leos Kopf.

»Da ziehen sie hin«, bemerkte Pramod. In seiner Stimme mischten sich Triumph und Bedauern.

Das Rettungspod mit den letzten Planetariern an Bord floh lautlos in die Leere, und von einem Guckfenster blinkte ein Lichtblitz auf, bevor es hinter dem gebogenen Horizont von Rodeo aus ihrem Sichtfeld verschwand. Das war’s dann also für die Zweihändigen, außer ihm selbst, Dr. Minchenko, Mama Nilla und einem leicht verrückten jungen Aufseher, den sie aus einer Rohrleitung herausgeholt hatten, und der seine heftige Liebe für ein Quaddiemädchen aus der Abteilung Wartung Luftsysteme erklärte, drohend einen Schraubenschlüssel schwenkte und sich weigerte, abgeschoben zu werden. Wenn er wieder bei Sinnen war, sobald sie Orient IV erreichten, dann würden sie ihn dort absetzen, entschied Leo. In der Zwischenzeit mußten sie wählen, ob sie ihn niederschießen oder bei der Arbeit einsetzen wollten. Leo hatte den Schraubenschlüssel beäugt und den Mann zur Arbeit abkommandiert.

Zeit. Die Sekunden schienen wie Insekten über Leos Haut unter seinem Anzug dahinzukrabbeln. Die restliche Gruppe der evakuierten Planetarier mußte bald die verwirrte erste Schar einholen und beginnen, mit ihnen ihre Beobachtungen zu vergleichen. Es würde danach nicht mehr lange dauern, war Leos Schluß, bis Galac-Tech anfangen mußte, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Man brauchte keinen Ingenieur, um tausend Arten der Verwundbarkeit des Habitats zu entdecken. Die einzige Option, die den Quaddies jetzt blieb, war schnelle Flucht.

Phlegmatische Ruhe, rief sich Leo ins Gedächtnis, war der Schlüssel, um hier lebend herauszukommen. Erinnere dich daran. Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Aufgabe, die vor ihm lag. »In Ordnung, Bobbi, Pramod, packen wir’s an. Bereitet die Notfall-Abschaltungen an beiden Enden vor, und wir werden dieses Monster ummanövrieren …«

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