7

»Ich muß den General sehen!«

Die Stimme schnitt sich durch die weiche, warme Wolke des Schlafes, die Caramon wie die Daunensteppdecke auf dem Bett einhüllte – seit Monaten das erste richtige Bett, in dem er schlief.

»Verschwinde«, murmelte Caramon und hörte Garik sagen: »Unmöglich. Der General schläft. Er darf nicht gestört werden.«

»Ich muß ihn sehen. Es ist dringend!«

»Er hat seit fast achtundvierzig Stunden nicht mehr geschlafen...«

»Ich weiß! Aber...«

Die Stimmen senkten sich zu einem Geflüster. Gut, dachte Caramon, jetzt kann ich weiterschlafen. Aber unglücklicherweise fand er, daß die leisen Stimmen ihn eher wach werden ließen.

Etwas war nicht in Ordnung, das wußte er. Mit einem Stöhnen wälzte er sich auf die andere Seite. Jeder Muskel in seinem Körper schmerzte; er hatte fast achtzehn Stunden ohne Pause auf einem Pferderücken verbracht. Garik kam damit sicherlich zurecht...

Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich leise.

Caramon drückte die Augen zu. Dabei kam es ihm in den Sinn, daß ein paar hundert Jahre später Verminaard, der grausame Drachenfürst, in dem gleichen Bett schlafen würde. War er auch so geweckt worden, an dem Morgen, als die Helden die Sklaven von Pax Tarkas befreit hatten?

»General«, sagte Garik leise. »Caramon.«

Wenn ich aufbreche, lege ich vielleicht einen Frosch ins Bett, dachte Caramon boshaft. In zweihundert Jahren wäre er dann schön steif...

»General«, bestand Garik hartnäckig, »ich muß dich leider wecken, du wirst unverzüglich unten im Hof gebraucht.«

»Und wofür?« knurrte Caramon, warf die Decken von sich und richtete sich auf. Er rieb sich die Augen und funkelte Garik an.

»Die Armee, Herr. Sie bricht auf.«

Caramon starrte ihn an. »Was? Du bist verrückt!«

»Nein, Herr«, antwortete ein junger Soldat, der Garik nachgeschlichen war und jetzt hinter ihm stand, seine Augen vor Ehrfurcht weit geöffnet, da er sich in Gegenwart seines Generals befand, trotz der Tatsache, daß dieser nackt war. »Sie... sie versammeln sich gerade im Hof, Herr... Die Zwerge und die Barbaren und... und einige von uns.«

»Aber nicht die Ritter«, fügte Garik eilig hinzu.

»Nun... nun...«, stammelte Caramon, dann winkte er mit einer Hand ab. »Sag ihnen, sie sollen sich auflösen, verdammt! Das ist doch Unsinn!« Dann fluchte er: »Im Namen der Götter, dreiviertel von ihnen war doch in der vergangenen Nacht sturzbetrunken!«

»Heute morgen sind sie nüchtern genug, Herr. Und ich denke, du solltest kommen«, sagte Garik leise. »Dein Bruder führt sie an.«

»Was soll das bedeuten?« verlangte Caramon zu wissen; sein Atem stieg als weißes Wölkchen in die eisige Luft. Es war der kälteste Herbstmorgen. Eine dünne Eisschicht hatte sich über die Steine von Pax Tarkas gelegt. Eingemummt in einen dicken Umhang, nur mit Lederhosen und Stiefeln bekleidet, die er hastig übergezogen hatte, sah sich Caramon im Hof um. Er wimmelte von Zwergen und Menschen; alle standen ruhig in Reihen da und warteten auf den Marschbefehl.

Caramons strenger Blick blieb auf Regar Feuerschmied haften, dann ging er zu Schattennacht, Häuptling der Barbaren. »Wir haben gestern alles besprochen«, sagte Caramon. Seine Stimme war vor Zorn angespannt, den er kaum zurückhalten konnte. Er blieb vor Regar stehen. »Unsere Nachschubwagen werden zwei Tage brauchen, um uns einzuholen. Für den Marsch haben wir nicht genügend Lebensmittel, das hast du mir selbst gestern abend gesagt. Und du wirst in der Ebene von Dergod nichts finden.«

»Es wird uns nicht stören, einige Mahlzeiten ausfallen zu lassen«, knurrte Regar; die Betonung auf »uns« ließ keinen Zweifel an seinem Sinn. Caramons Vorliebe für ein gutes Abendessen war nur zu bekannt.

Das verbesserte jedoch nicht die Laune des Generals. »Was ist mit Waffen, du langbärtiger Narr?« schnappte er. »Was ist mit frischem Wasser, Obdach, Futter für die Pferde?«

»So lange werden wir uns nicht in der Ebene aufhalten«, gab Regar zurück; seine Augen blitzten auf. »Die Bergzwerge, Reorx verfluche ihre Steinherzen, sind in völliger Verwirrung. Wir müssen jetzt zuschlagen, bevor sie ihre Streitkräfte wieder sammeln können.«

»Das haben wir alles gestern abend besprochen!« schrie Caramon aufgebracht. »Dies war nur ein Teil ihrer Streitmacht, der wir gegenübergestanden haben. Dunkan hat noch eine ganze verdammte Armee, die unter dem Gebirge auf dich wartet!«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, fauchte Regar mürrisch, starrte nach Süden und schlug die Arme vor seiner Brust zusammen. »Auf jeden Fall haben wir unsere Meinung geändert. Wir marschieren heute – ob du mitkommst oder nicht.«

Caramon warf Schattennacht, der während der ganzen Unterhaltung geschwiegen hatte, einen Blick zu. Der Häuptling der Barbaren nickte nur einmal. Seine Männer, die hinter ihm standen, waren ernst und ruhig, obwohl Caramon vereinzelt grün angehauchte Gesichter sah und erkannte, daß sich viele noch nicht vollständig von der abendlichen Feier erholt hatten.

Schließlich glitt Caramons Blick zu einer schwarzgekleideten Gestalt, die auf einem schwarzen Pferd saß. Obgleich die Augen der Gestalt durch ihre schwarze Kapuze verdeckt waren, hatte Caramon ihren aufmerksamen, amüsierten Blick gespürt, seitdem er erschienen war.

Sich vom Zwerg abwendend, ging Caramon zu Raistlin. Er war nicht überrascht, Crysania auf ihrem Pferd vorzufinden, eingemummt in einen dicken Umhang. Als er näher kam, bemerkte er, daß der Saum ihres Umhangs mit Blut befleckt war. Ihr Gesicht, über einem Schal kaum sichtbar, den sie um Hals und Kinn gewickelt hatte, war blaß, aber beherrscht. Er fragte sich kurz, wo sie gewesen war und was sie in der langen Nacht getan hatte. Seine Gedanken jedoch waren auf seinen Bruder konzentriert.

»Das ist dein Tun«, sagte er leise, als er zu Raistlin trat und seine Hand auf den Hals des Pferdes legte.

Raistlin nickte selbstzufrieden, als er sich über den Sattelknauf beugte, um mit seinem Bruder zu sprechen. Caramon konnte sein Gesicht sehen; es war kalt und weiß wie der Frost auf dem Pflasterstein unter seinen Füßen.

»Was ist das für ein Unsinn?« herrschte Caramon ihn leise an. »Was soll das alles bedeuten? Du weißt genau, daß wir ohne Proviant nicht weitermarschieren können!«

»Jetzt gehst du aber zu sehr auf Nummer Sicher, mein Bruder«, antwortete Raistlin. Er zuckte die Achseln und fügte hinzu: »Die Nachschubwagen werden uns schon einholen. Und was die Waffen betrifft, haben die Männer hier nach der Schlacht welche erbeutet. Regar hat recht – wir müssen schnell zuschlagen, bevor sich Dunkan sammeln kann.«

»Das hättest du mit mir erörtern sollen!« fauchte Caramon und ballte die Faust. »Ich habe das Kommando!«

Raistlin sah weg. Caramon, der neben ihm stand, spürte seinen Bruder unter den schwarzen Roben zittern. »Dafür war keine Zeit«, sagte der Erzmagier nach einem Augenblick. »In der letzten Nacht hatte ich einen Traum, mein Bruder. Sie ist zu mir gekommen – meine Königin... Takhisis... Es ist unbedingt erforderlich, Zaman so schnell wie möglich einzunehmen.«

Caramon sah seinen Bruder schweigend an, plötzlich verstand er. »Sie bedeuten dir nichts!« sagte er leise und wies auf die Männer und Zwerge, die hinter ihm standen und warteten. »Du bist lediglich an einer Sache interessiert, nämlich dein kostbares Portal zu durchschreiten!« Sein verbitterter Blick glitt zu Crysania, die ihn ruhig musterte, obgleich ihre grauen Augen von einer schlaflosen, entsetzlichen Nacht getrübt waren, die sie bei den Verletzten und Sterbenden verbracht hatte. »Und du auch? Du unterstützt ihn auch noch?«

»Die Prüfung des Blutes, Caramon«, sagte sie sanft. »Sie muß durchgeführt werden. Ich habe den Gipfel der Bösartigkeit gesehen, die die Menschen einander antun können.«

»Das bezweifle ich!« brummte Caramon und warf seinem Bruder einen Blick zu.

Raistlin griff mit seinen schlanken Händen zu seiner Kapuze und zog sie langsam zurück. Caramon erschrak, als er sich in Raistlins Augen widergespiegelt sah, als er sein Gesicht sah – verhärmt, unrasiert, mit ungekämmten Haaren, die im Wind flatterten. Und dann, als Raistlin ihn anstarrte, ihn mit seinem Blick festhielt, so wie eine Schlange einen Vogel in ihren Bann schlägt, ertönten die Worte in Caramons Geist: »Du kennst mich gut, mein Bruder. Das Blut, das in unseren Adern fließt, spricht manchmal lauter als Worte. Ja, du hast recht. Dieser Krieg interessiert mich nicht. Ich trage ihn nur zu dem einzigen Zweck aus, das Portal zu durchschreiten. Diese Narren werden mich dorthin bringen. Und was soll es mich dann interessieren, ob wir gewinnen oder verlieren?

Ich habe dir erlaubt, General zu spielen, Caramon, da du dein kleines Spiel offenbar genossen hast. Du bist in der Tat überraschend gut darin. Du hast meinem Zweck angemessen gedient. Du wirst mir weiterhin dienen. Du wirst die Armee nach Zaman führen. Wenn Crysania und ich dort sicher angekommen sind, werde ich dich nach Hause schicken. Vergiß nicht, mein Bruder – die Schlacht in den Ebenen von Dergod wurde verloren! Du kannst das nicht ändern!«

»Ich glaube dir nicht!« sagte Caramon; er starrte Raistlin verstört an. »Du würdest nicht in deinen Tod reiten! Du mußt etwas wissen! Du...« Er stockte, bekam keine Luft.

»Meine Absichten behalte ich für mich! Was ich weiß oder nicht weiß, betrifft dich nicht, also strapaziere dein Gehirn nicht mit fruchtlosen Spekulationen.«

»Ich sage es ihnen!« Caramon zwang die Worte zwischen zusammengepreßten Zähnen heraus. »Ich sage ihnen die Wahrheit!«

»Was willst du ihnen sagen? Daß du die Zukunft gesehen hast? Daß sie zum Untergang verdammt sind?« Als er den Kampf in Caramons gequältem Gesicht sah, lächelte Raistlin. »Ich glaube es nicht, mein Bruder. Und falls du jemals wieder nach Hause zurückkehren möchtest, schlage ich vor, du gehst jetzt nach oben, legst deine Rüstung an und führst deine Armee.« Er zog sich die Kapuze wieder über die Augen.

Caramon sog die Luft mit einem Keuchen ein, als ob jemand kaltes Wasser in sein Gesicht gegossen hätte. Einen Augenblick konnte er seinen Bruder nur anstarren, vor Zorn erbebend, der ihn fast überwältigte. »Ich habe wohl keine andere Wahl«, sagte er.

»Nein«, erwiderte Raistlin. Er ergriff die Zügel. »Es gibt einige Dinge, um die ich mich kümmern muß. Crysania wird natürlich mit dir an der Spitze reiten. Warte nicht auf mich. Ich werde eine Zeitlang hinten reiten.«

Jetzt bin ich also entlassen, dachte Caramon. Als er seinen Bruder beim Wegreiten beobachtete, empfand er keinen Zorn mehr, nur noch einen dumpfen, nagenden Schmerz. Er drehte sich auf dem Absatz um, das bedrückende Schweigen eher spürend als hörend, das sich über den Hof gelegt hatte, ging allein in sein Quartier und legte langsam seine Rüstung an.

Als Caramon zurückkehrte, in seine goldene Rüstung gehüllt, erhoben die Zwerge, die Barbaren und die Männer seiner eigenen Armee ihre Stimmen zu tosendem Jubel.

Sie bewunderten und respektierten nicht nur aufrichtig den großen Mann, sondern schrieben ihm auch die hervorragende Strategie zu, die ihnen am Tag zuvor den Sieg eingebracht hatte. General Caramon hatte Glück, hieß es, er war von einem Gott gesegnet. War es denn kein Glück gewesen, daß die Zwerge die Tore so lange offengehalten hatten?

Die meisten fühlten sich unbehaglich, als das Gerücht aufkam, daß sie vielleicht ohne ihn davonreiten würden. Viele hatten düstere Blicke auf den schwarzgekleideten Zauberer geworfen, aber wer wagte schon, Mißfallen zu äußern?

Der Jubel spendete Caramon großen Trost, und einen Augenblick brachte er keinen Ton heraus. Als er dann die Stimme wiederfand, erteilte er mürrisch Befehle, während er sich für den Ritt bereit machte. Mit einer Geste rief er einen der jungen Ritter zu sich. »Michael, ich lasse dich hier in Pax Tarkas zurück, du wirst hier das Kommando führen«, sagte er, während er sich ein Paar Handschuhe überzog.

Der junge Ritter errötete vor Freude über diese unerwartete Ehre. »Herr, ich bin ungeeignet... Ein geeigneter Mann wird sicherlich...«

Ihn traurig anlächelnd, schüttelte Caramon den Kopf. »Ich kenne deine Eignung, Michael. Es wird nicht einfach sein, aber gib dein Bestes. Die Frauen und Kinder werden natürlich hier bleiben. Und ich schicke die Verwundeten zurück. Wenn die Nachschubwagen ankommen, sieh zu, daß sie so schnell wie möglich weiterfahren.« Er schüttelte den Kopf. »Das wird wahrscheinlich nicht schnell genug geschehen«, murmelte er. Seufzend fügte er hinzu: »Du kannst im Notfall den Winter hier durchhalten. Egal, was mit uns geschieht...« Als er sah, wie die Ritter mit besorgten Gesichtern Blicke austauschten, verkniff er sich weitere Worte. Nein, sein bitteres Vorwissen durfte er nicht zeigen. Fröhlichkeit vortäuschend, klopfte er Michael auf die Schulter, fügte etwas Albernes hinzu und stieg auf sein Pferd.

Der Fähnrich richtete die Standarte der Armee auf. Caramons Banner mit dem neunzackigen Stern glänzte hell in der Sonne. Seine Ritter bildeten hinter ihm Reihen. Crysania kam hinzu, um mit ihnen zu reiten. Obgleich die Ritter wie alle anderen im Lager mit einer »Hexe« nichts anfangen konnten, war sie trotz allem eine Frau, und aufgrund ihres Ehrbegriffs waren sie aufgerufen, sie mit ihrem Leben zu beschützen und zu verteidigen.

»Öffnet die Tore!« rief Caramon. Er warf einen letzten Blick um sich, um sich zu überzeugen, ob alle bereit waren, als seine Augen plötzlich denen seines Bruders begegneten.

Raistlin saß im Schatten der großen Tore auf seinem schwarzen Pferd. Er rührte sich nicht, noch sprach er. Er saß einfach da, beobachtend, wartend.

Die Zwillinge musterten einander so lange, wie man für einen Atemzug benötigt, dann wandte sich Caramon ab. Er nahm seine Standarte aus der Hand des Fähnrichs. Sie hoch über seinen Kopf haltend, schrie er nur ein Wort: »Thorbadin!« Die Morgensonne, die sich gerade über den Gipfeln erhob, brannte golden auf Caramons Rüstung. »Thorbadin!« schrie er noch einmal, gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte zum Tor hinaus.

»Thorbadin!« Sein Schrei hallte in einem donnerhaften Geschrei zurück. Die Zwerge begannen mit ihrem vertrauten, unheimlichen, aus tiefer Kehle kommenden Gesang: »Stein und Metall, Metall und Stein, Stein und Metall, Metall und Stein« und stampften mit ihren eisenbeschuhten Füßen, als sie aus der Festung marschierten.

Sie wurden von den Barbaren gefolgt, die sich weniger diszipliniert bewegten. Von der Ordnung schnell ermüdet, würden sie bald von der Straße abweichen, um in ihren gewohnten Jagdgruppen zu ziehen. Nach den Barbaren kam schließlich die Truppe der Bauern und Diebe, von denen nicht wenige unter der Nachwirkung der Siegesfeier in der vergangenen Nacht taumelten. Und schließlich, die Nachhut bildend, marschierten ihre neuen Verbündeten, die Dewaren.

Argat versuchte Raistlins Blick zu erhaschen, als er und seine Männer hinausmarschierten, aber der Zauberer saß in Schwarz gehüllt auf seinem schwarzen Pferd, sein Gesicht in Dunkelheit verborgen. Das einzige an Fleisch und Blut, was von ihm sichtbar war, waren die schlanken weißen Hände, die die Zügel des Pferdes hielten.

Raistlins Augen waren nicht auf den Dewar gerichtet, auch nicht auf die Armee, die an ihm vorbeimarschierte. Sie waren auf die goldglänzende Gestalt gerichtet, die an der Spitze der Armee ritt.

Die Dewaren marschierten hinaus, und der Hof war von Bewaffneten leer. Die Frauen wischten ihre Tränen ab und widmeten sich wieder miteinander plaudernd ihren Aufgaben. Die Kinder standen auf den Mauern, um der Armee zuzujubeln, solange sie noch zu sehen war. Die Tore von Pax Tarkas wurden schließlich wieder verschlossen.

Allein auf den Zinnen stehend, beobachtete Michael die große, in den Süden ziehende Armee. Hinter ihr ritt eine einsame schwarzgekleidete Gestalt. Als Michael sie betrachtete, war er etwas froher. Es schien ein gutes Omen zu sein. Der Tod ritt nun hinter der Armee, nicht vor ihr.

Die Sonne schien auf die geöffneten Tore von Pax Tarkas; sie sank beim Schließen der Tore der riesigen Gebirgsfestung Thorbadin. Wenn die Tore geschlossen und verriegelt waren, konnten sie nicht mehr von der Felswand des Gebirges unterschieden werden, so geschickt war die Handwerkskunst der Zwerge, die Jahre mit ihrer Konstruktion verbracht hatten.

Das Schließen der Tore bedeutete Krieg. Neuigkeiten über den Marsch der Armee des Fistandantilus wurden berichtet, herbeigetragen von Spionen auf den schnellen Flügeln der Greife. Jetzt war die Gebirgsfestung lebendig vor Geschäftigkeit. Funken flogen in den Geschäften der Waffenschmiede. Die Tavernen verdoppelten ihre Umsätze über Nacht, da jeder kam, um mit den großartigen Taten zu prahlen, die er auf dem Schlachtfeld vollbringen wollte.

Nur ein Teil des riesigen Königreiches unter dem Erdboden war still, und es war dieser Ort, auf die der Held der Zwerge seine schweren Fußtritte richtete, zwei Tage, nachdem Caramons Armee Pax Tarkas verlassen hatte.

Als Kharas den großen Empfangssaal des Königs der Bergzwerge betrat, hörte er seine Stiefel in der kugelförmigen Halle ertönen, die aus dem Stein des Gebirges gemeißelt war. Die Halle war außer einigen Zwergen leer, die vorne auf einem Steinpodium saßen.

Kharas passierte die langen Reihen der Steinbänke, wo in der Nacht zuvor Tausende von Zwergen ihre Zustimmung gegrölt hatten, als ihr König ihren Verwandten den Krieg erklärt hatte.

Heute fand das Kriegstreffen des Rates der Lehnsherren statt. Aus diesem Grund war die Anwesenheit der Bürgerschaft nicht erforderlich, und Kharas war etwas erstaunt, eingeladen worden zu sein. Der Held war in Ungnade gefallen – das wußte jeder!

Kharas bemerkte beim Näherkommen, daß Dunkan ihn unfreundlich musterte, aber das hätte auch etwas mit der Tatsache zu tun haben können, daß das Auge des Königs und sein linker Wangenknochen über seinem Bart blau und angeschwollen waren – die Folge des Schlags, den Kharas ihm zugefügt hatte.

»Oh, komm herauf, Kharas«, sagte Dunkan, als der hochgewachsene, bartlose Zwerg sich tief vor ihm verneigte.

»Erst, wenn du mir vergeben hast, Lehnsherr«, erwiderte Kharas, seine Stellung beibehaltend.

»Dir vergeben dafür, daß du ein bißchen Verstand in einen närrischen alten Zwerg geschlagen hast?« Dunkan lächelte sarkastisch. »Nein, dafür wird dir nicht vergeben. Es wird dir gedankt.« Der König rieb an seinem Kiefer. »›Pflicht ist schmerzhaft‹, lautet ein Sprichwort. Das habe ich jetzt verstanden. Aber genug davon!«

Als Kharas sich wieder aufrichtete, hielt Dunkan ihm eine Schriftrolle entgegen. »Ich habe dich aus einem anderen Grund gerufen. Lies das.«

Verwirrt untersuchte Kharas die Schriftrolle. Sie war mit einem schwarzen Band versehen, aber nicht versiegelt. Er sah zu den anderen Lehnsherren, die alle versammelt waren, jeder auf seinem eigenen Steinstuhl, etwas niedriger als der König, sitzend. Sein Blick glitt insbesondere zu einem leeren Stuhl, dem Stuhl von Argat, Lehnsherr der Dawaren. Stirnrunzelnd öffnete Kharas die Rolle und las laut vor.

»Dunkan von den Zwergen von Thorbadin, König.

Grüße von denen, die du jetzt als Verräter bezeichnest.

Diese Rolle wird dir von uns geschickt, die wissen, daß du jetzt Dewaren unter dem Gebirge bestrafen wirst für das, was wir in Pax Tarkas getan haben. Wenn diese Rolle zu dir geschickt wird, heißt das, daß wir erfolgreich die Tore offengehalten haben.

Du verachtetest unseren Plan im Rat. Vielleicht siehst du jetzt seine Weisheit. Der Feind wird von dem Zauberer geführt. Der Zauberer ist ein Freund von uns. Er läßt die Armee durch die Ebene von Dergod marschieren. Wir marschieren mit ihnen, sind Freunde von ihnen. Wenn die Stunde kommt, werden die, die du Verräter nennst, zuschlagen. Wir werden die Feinde angreifen und sie in deine Axtklingen treiben.

Wenn du Zweifel an unserer Treue hast, halte unser Volk als Geiseln unter dem Gebirge, bis zu der Zeit, in der wir zurückkehren. Wir versprechen dir ein großes Geschenk, das wir dir als Beweis unserer Treue geben werden.

Argat von den Dewaren, Lehnsherr.«

Kharas las die Rolle zweimal, und sein Stirnrunzeln glättete sich nicht.

»Nun?« fragte Dunkan.

»Ich habe mit Verrätern nichts zu schaffen«, sagte Kharas, wickelte die Rolle wieder auf und gab sie voll Abscheu zurück.

»Aber wenn sie aufrichtig sind«, beharrte Dunkan, »könnte uns das zu einem großartigen Sieg verhelfen!«

Kharas hob die Augen, um denen seines Königs zu begegnen, der auf dem Podest über ihm saß. »Wenn ich in diesem Augenblick, Lehnsherr, mit dem General unseres Feindes, diesem Caramon Majere, sprechen könnte, der nach allen Berichten ein gerechter und ehrenwerter Mann ist, würde ich ihm genau sagen, welche Gefahr ihm droht, selbst wenn es bedeutete, daß wir zugrunde gehen.«

Die anderen Lehnsherren schnauften oder murrten verächtlich.

»Du hättest ein Ritter von Solamnia werden sollen!« murmelte einer, eine Feststellung, die nicht als Kompliment gedacht war.

Dunkan warf allen einen strengen Blick zu, worauf sie in Schweigen verfielen.

»Kharas«, sagte Dunkan geduldig, »wir wissen, wie du über Ehre denkst, und wir stimmen dir auch zu. Aber Ehre wird die Kinder nicht ernähren, deren Väter in dieser Schlacht sterben. Nein«, fuhr er fort, und seine Stimme wurde streng und tief, »es gibt eine Zeit für Ehre und eine Zeit, in der man das tun muß, was getan werden muß.« Er rieb wieder an seinem Kiefer. »Das hast du mir selbst gezeigt.«

Kharas’ Gesicht wurde grimmig. Geistesabwesend hob er eine Hand, um über seinen Bart zu streichen, der nicht mehr da war, ließ sie nervös wieder fallen und starrte mit rotem Kopf auf seine Füße.

»Unsere Kundschafter haben diesen Bericht bestätigt«, fuhr Dunkan fort. »Die Armee marschiert.«

Kharas sah finster auf. »Das glaube ich nicht!« sagte er. »Ich habe es nicht geglaubt, als ich davon gehört habe! Sie haben Pax Tarkas verlassen? Bevor ihre Nachschubwagen eingetroffen sind? Dann führt der Zauberer jetzt wirklich das Kommando. Kein General würde diesen Fehler begehen...«

»Sie werden innerhalb der nächsten zwei Tage in den Ebenen sein. Ihr Ziel ist nach unseren Spionen die Festung Zaman, wo sie planen, ihr Hauptquartier zu errichten. Wir haben dort eine kleine Garnison, die eine Scheinniederlage inszenieren, sich dann zurückziehen und sie dabei hoffentlich ins Freie locken wird.«

»Zaman«, murmelte Kharas und kratzte sich am Kiefer, da er nicht mehr an seinem Bart ziehen konnte. Unvermittelt tat er einen Schritt nach vorn. »Lehnsherr, ich kann dir einen Plan unterbreiten, der diesen Krieg mit einem Minimum an Blutvergießen beenden wird, wenn du mir zuhörst und mir einen Versuch erlaubst.«

»Ich höre zu«, sagte Dunkan zweifelnd; sein Gesicht legte sich in strenge, harte Linien.

»Gib mir eine sorgsam ausgewählte Gruppe von Männern, Lehnsherr, und ich werde es in die Hand nehmen, diesen Zauberer, diesen Fistandantilus, zu töten. Wenn er tot ist, werde ich diese Schriftrolle seinem General und unseren Verwandten zeigen. Dann werden sie sehen, daß sie betrogen worden sind. Sie werden die Macht unserer Armee sehen, die sich gegen sie versammelt hat. Sie müssen dann einfach kapitulieren!«

»Und was sollen wir mit ihnen machen, wenn sie wirklich kapitulieren?« fragte Dunkan verärgert, obgleich er den Plan in Erwägung zog, während er sprach. Die anderen Lehnsherren hatten aufgehört, in ihre Bärte zu murmeln, und sahen einander jetzt an.

»Gib ihnen Pax Tarkas, Lehnsherr«, sagte Kharas, dessen Eifer wuchs. »Natürlich jenen, die dort leben wollen. Unsere Verwandten werden zweifellos wieder in ihre Heimat zurückkehren. Wir könnten ihnen einige Zugeständnisse machen – einige wenige«, fügte er hastig hinzu, als er Dunkans Gesicht sich verdunkeln sah. »Das könnte mit den Kapitulationsbedingungen ausgehandelt werden. Aber es würde Zuflucht und Schutz für die Menschen und unsere Verwandten während der Winterzeit bedeuten – sie könnten in den Minen arbeiten...«

»Dieser Plan liegt im Bereich des Möglichen«, murmelte Dunkan nachdenklich. »Wenn du erst einmal in der Wüste bist, könntest du dich in den Erdwällen verstecken...«

Er verstummte und dachte nach. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Aber es ist ein gefährliches Vorhaben, Kharas. Und es kann alles für nichts sein. Selbst wenn es dir gelingt, den Schwarzen zu töten – und ich erinnere dich daran, daß er ein überaus mächtiger Zauberer sein soll —, besteht die Möglichkeit, daß du getötet wirst, bevor du mit diesem General Majere sprechen kannst. Es wird gemunkelt, daß er der Zwillingsbruder des Zauberers ist!«

Kharas lächelte müde, seine Hand ruhte noch an seinem glattrasierten Kiefer. »Das ist ein Risiko, das ich gern auf mich nehme, Lehnsherr, wenn es bedeutet, daß keine weiteren Verwandten durch seine Hände sterben.«

Dunkan funkelte ihn an, dann rieb er über seinen geschwollenen Kiefer und seufzte schwer. »Na schön«, sagte er. »Es sei dir überlassen. Wähle deine Männer sorgfältig aus. Wann willst du aufbrechen?«

»Heute abend, Lehnsherr, mit deiner Erlaubnis.«

»Die Tore des Gebirges werden sich für dich öffnen und dann wieder geschlossen werden. Ob sie sich wieder öffnen, um dich siegreich einzulassen oder um die bewaffnete Macht der Bergzwerge hinauszulassen, wird von dir abhängen, Kharas. Möge Reorx’ Flamme auf deinem Hammer glänzen.«

Kharas verbeugte sich, drehte sich um und ging aus der Halle. Jetzt war sein Schritt schneller und schwungvoller als bei seinem Eintreten.

»Da geht einer dahin, dessen Verlust wir uns nicht leisten können«, sagte einer der Lehnsherren.

»Er war für uns schon von Anfang an verloren«, sagte Dunkan barsch. Aber sein Gesicht war verhärmt und von Trauer gezeichnet, als er brummte: »Wir müssen jetzt für den Krieg planen.«

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