6

Der Morgen dämmerte. Krynns Sonne schlich sich langsam hinter dem Gebirge hervor, als ob sie wüßte, auf welch greuliche Anblicke sie am heutigen Tag ihr Licht werfen würde. Aber die Zeit konnte nicht aufgehalten werden. Als die Sonne schließlich über den Berggipfeln erschien, wurde sie mit Jubel von jenen begrüßt, die vielleicht zum letzten Mal in ihrem Leben die Morgendämmerung erleben würden.

Unter diesen Jubelnden befand sich Dunkan, König der Bergzwerge. Auf den Zinnen der gigantischen Festung Pax Tarkas stehend, umgeben von seinen Generälen, hörte Dunkan die tiefen, heiseren Stimmen seiner Männer um sich herum anschwellen, und er lächelte zufrieden. Heute würde ein glorreicher Tag sein.

Nur ein Zwerg jubelte nicht. Dunkan brauchte ihn nicht einmal anzusehen, um sich des Schweigens bewußt zu sein, das in seinem Herzen so laut aufdonnerte wie die Jubelschreie in seinen Ohren.

Abseits von den anderen stand Kharas, der Held der Zwerge. Hochgewachsen, prächtig in seiner glänzenden Rüstung, seinen riesigen Hammer in seinen großen Händen haltend, stand er da und starrte den Sonnenaufgang an, und wenn ihn jemand angesehen hätte, hätte er die Tränen bemerkt, die über sein Gesicht liefen.

Aber niemand sah ihn an. Jeder wich Kharas sorgsam aus. Nicht weil er weinte, obgleich Zwerge Tränen als eine kindliche Schwäche empfinden.

Nein, der Grund war nicht Kharas’ Weinen. Der Grund war, daß seine Tränen ungehindert über ein nacktes Gesicht tröpfelten.

Kharas hatte seinen Bart abrasiert.

Selbst als Dunkans Augen über die Ebene von Pax Tarkas glitten, selbst als sein Geist die Aufstellung des Feindes aufnahm, der sich über die öden Ebenen ausbreitete, konnte der Lehnsherr den grenzenlosen Schock immer noch spüren, der seine Seele an jenem Morgen überwältigt hatte, als er Kharas sah, der seinen Platz auf den Zinnen einnahm – bartlos. In seinen Händen hatte der Zwerg die langen Locken seines prächtigen Bartes gehalten, und entsetzt hatten sie beobachtet, wie Kharas ihn über die Zinnen schleuderte.

Ein Bart ist das Vorrecht eines jeden Zwergs, sein Stolz, der Stolz seiner Familie. Im Todesfall wird ein Zwerg durch die Trauerzeit gehen, ohne seinen Bart zu kämmen, aber nur aus einem Grund würde ein Zwerg ihn abrasieren, und das ist Schamgefühl. Es ist das Zeichen der Schande – die Strafe für Mord, die Strafe für Diebstahl, die Strafe für Feigheit, die Strafe für Fahnenflucht.

Warum? war alles, was der betäubte Dunkan denken konnte.

Über das Gebirge starrend, antwortete Kharas mit einer Stimme, die wie Gestein splitterte: »Ich kämpfe in dieser Schlacht, weil du mir zu kämpfen befohlen hast, Lehnsherr. Ich habe dir meine Treue geschworen, und ich bin durch meine Ehre gebunden, diesen Schwur einzuhalten. Aber alle sollen wissen, daß ich zwar kämpfe, aber keine Ehre darin finde, meine Verwandten zu töten, und auch nicht die Menschen, die mehr als einmal an meiner Seite gekämpft haben. Alle sollen wissen; Kharas geht an diesem Tag voller Scham in die Schlacht.«

»Du wirst für jene, die du anführst, eine hervorragende Figur abgeben!« erwiderte Dunkan verbittert.

Aber Kharas sagte nichts mehr.

»Lehnsherr!« Mehrere Männer schrien es auf einmal und lenkten Dunkans Aufmerksamkeit wieder zur Ebene zurück. Aber auch er hatte vier Gestalten gesehen, aus dieser Entfernung, winzig wie Spielzeugpuppen, die sich von der Armee gelöst hatten und auf Pax Tarkas zuritten. Drei der Gestalten trugen flatternde Fahnen. Der vierte hielt nur einen Stab, von dem ein klares, helles Licht ausging, das selbst aus der Ferne von dem zunehmenden Tageslicht unterschieden werden konnte.

Zwei der Fahnen kannte Dunkan natürlich. Das Banner der Hügelzwerge mit ihrem allzu vertrauten Symbol von Amboß und Hammer, das sich in anderen Farben auf Dunkans eigenem Banner wiederholte. Das Banner der Barbaren hatte er niemals zuvor gesehen, aber er erkannte es sofort. Es paßte zu ihnen – das Symbol des Windes, der über Präriegras fegte. Das dritte Banner gehörte vermutlich diesem Emporkömmling, diesem General, der aus dem Nichts hervorgeritten war.

»Pah!« schnaufte Dunkan und beäugte verächtlich das Banner mit dem neunzackigen Stern. »Nach dem, was wir gehört haben, sollte er ein Banner mit dem Zeichen der Gaunergilde zusammen mit einer muhenden Kuh tragen!«

Die Generäle lachten.

»Oder verwelkte Rosen«, schlug einer vor. »Ich habe gehört, viele abtrünnige Ritter von Solamnia reiten mit diesen Dieben und Bauern.«

Die vier Gestalten galoppierten über die Ebene, ihre Standarten flatterten hinter ihnen, die Hufe ihrer Pferde wirbelten Staubwolken auf.

»Der in den schwarzen Roben ist wohl der Zauberer Fistandantilus?« fragte Dunkan mürrisch; durch seine schweren Augenbrauen war sein finsterer Blick fast nicht zu erkennen.

»Ja, Lehnsherr«, erwiderte ein General.

»Von allen fürchte ich ihn am meisten«, murmelte Dunkan düster.

»Pah!« Ein alter General strich selbstgefällig über seinen langen Bart. »Diesen Zauberer brauchst du nicht zu fürchten. Unsere Spione haben berichtet, daß seine Gesundheit angeschlagen ist. Er verwendet selten seine Magie, wenn überhaupt, und verbringt die meiste Zeit in seinem Zelt. Außerdem würde eine ganze Armee von Zauberern, alle so mächtig wie er, nötig sein, um diese Festung durch Magie zu erobern.«

»Vermutlich hast du recht«, sagte Dunkan, über seinen eigenen Bart streichend. Als er jedoch aus einem Augenwinkel einen Blick auf Kharas erhaschte, fühlte er sich plötzlich unbehaglich. »Dennoch haltet ein Auge auf ihn.« Er hob seine Stimme an. »Ihr Scharfschützen, ein Beutel Gold für denjenigen, dessen Pfeil in die Rippen des Zauberers trifft!«

Tosender Jubel setzte ein, der aber unverzüglich verstummte, als die vier vor der Festung anhielten. Der Anführer, der General, hob seine Handfläche nach außen in der uralten Geste des Waffenstillstandes. Über die Zinnen schreitend und auf einen Steinblock kletternd, der speziell für diesen Zweck errichtet worden war, legte Dunkan seine Hände an die Hüften, spreizte seine Beine und starrte grimmig hinab.

»Wir wollen reden!« schrie General Caramon von unten. Seine Stimme dröhnte und echote zwischen den Wänden des steilen Gebirges, von denen die Festung umgeben war.

»Es wurde bereits alles gesagt!« gab Dunkan zurück. Die Stimme des Zwerges erscholl fast genauso kraftvoll, obgleich er nur ein Viertel der Größe des Menschen hatte.

»Wir geben euch eine letzte Chance! Erstatte deinen Verwandten das zurück, von dem du weißt, daß es ihnen rechtmäßig zusteht! Gib diesen Menschen zurück, was du ihnen genommen hast. Teile deinen unermeßlichen Reichtum. Denn der Tod kann ihn nicht ausgeben!«

»Nein, aber ihr Lebenden würdet einen Weg finden, nicht wahr?« dröhnte Dunkan höhnisch zurück. »Was wir besitzen, haben wir durch ehrliche Plackerei erworben, indem wir unter den Bergen gearbeitet haben und nicht in der Begleitung wilder Barbaren durch das Land gezogen sind. Das ist unsere Antwort!«

Dunkan hob seine Hand. Scharfschützen zogen die Sehnen ihrer Bogen zurück. Dunkans Hand fiel herab, und hundert Pfeile zischten durch die Luft. Die Zwerge auf den Zinnen begannen zu lachen; sie erwarteten, die vier umdrehen und wie wahnsinnig um ihr Leben reiten zu sehen.

Aber das Lachen erstarb ihnen auf den Lippen. Die Gestalten rührten sich nicht von der Stelle, als die Pfeile auf sie zuschossen. Der schwarzgekleidete Zauberer hob seine Hand. Gleichzeitig ging die Spitze eines jeden Pfeils in Flammen auf, um den Schaft hüllte sich Rauch, und innerhalb von Augenblicken lösten sie sich in der hellen Morgenluft in nichts auf.

»Das ist unsere Antwort!« Die strenge, kalte Stimme des Generals trieb nach oben. Er wendete sein Pferd und galoppierte zu seiner Armee zurück, flankiert von dem schwarzgekleideten Zauberer, dem Hügelzwerg und dem Barbaren.

Als Dunkan seine Männer murren hörte und sie zweifelnde Blicke tauschen sah, unterdrückte er rigoros seine eigenen Zweifel und wandte sich ihnen zu. Sein Bart zitterte vor Zorn. »Was ist denn das?« herrschte er sie an. »Bekommt ihr Angst vor den Tricks eines Straßenillusionisten? Wen führe ich hier überhaupt an, eine Armee von Männern – oder von Kindern?«

Als sich die Köpfe senkten, kletterte Dunkan von seinem Aussichtspunkt herunter. Zur anderen Seite der Zinnen schreitend, sah er in den riesigen Hof der mächtigen Festung hinab, der nicht von künstlich erschaffenen Mauern, sondern von den natürlichen Wänden des Gebirges umgeben wurde. Höhlen säumten die Wände. Normalerweise würden aus ihren klaffenden Öffnungen Rauch und die Geräusche von Metall, das verarbeitet und zu Stahl geschmiedet wurde, strömen. Aber heute waren die Minen geschlossen, wie auch die Schmieden.

An diesem Morgen wimmelte der Hof von Zwergen. In schwere Rüstungen gekleidet, trugen sie Schilde, Äxte und Hämmer, die Lieblingswaffen der Infanterie. Alle Köpfe fuhren hoch, als Dunkan auftauchte, und der Jubel, der kurz versiegt war, setzte wieder ein.

»Wir haben Krieg!« schrie Dunkan über den Lärm, beide Hände ausstreckend.

Der Jubel verstärkte sich, dann hörte er auf. Nach einem Augenblick des Schweigens erhoben sich die tiefen Zwergenstimmen zu einem kriegerischen Lied.

Dunkan, dessen Blut bei dem Lied in Wallung geriet, spürte, wie sich seine Zweifel wie die Pfeile in der stillen Luft zuvor auflösten. Seine Generäle stiegen bereits eilig von den Zinnen herab, um ihre Stellungen einzunehmen. Nur einer blieb stehen, Argat, der General der Dewaren. Und auch Kharas hatte sich nicht gerührt. Dunkan sah jetzt zu Kharas hin und Öffnete den Mund, um zu sprechen.

Aber der Held der Zwerge musterte seinen König lediglich mit einem finsteren, gehetzten Blick, verbeugte sich vor seinem Lehnsherrn, wandte sich um und folgte den anderen, um seinen Platz als einer der Führer der Infanterie einzunehmen.

Dunkan funkelte ihn wütend an. »Soll Reorx seinen Bart in Flammen aufgehen lassen!« brummte er. Er mußte dabei sein, wenn die riesigen Tore aufgestoßen wurden und seine Armee in die Ebene hinausmarschierte. »Was glaubt er wohl, wer er ist? Meine eigenen Söhne würden sich nicht so verhalten! Das darf so nicht weitergehen! Nach der Schlacht werde ich ihn zurechtstutzen!«

Murrend hatte Dunkan fast die nach unten führenden Stufen erreicht, als er eine Hand auf seinem Arm spürte. Er blickte auf. Es war Argat.

»Ich bitte dich, König«, sagte der Zwerg mit seiner ungehobelten Aussprache, »noch einmal nachzudenken. Unser Plan, wertloses Gestern aufzugeben, ist gut. Laß es sie haben.« Er wies auf die Soldaten draußen auf der Ebene. »Sie befestigen es nicht. Wenn wir nach Thorbadin zurückstoßen, werden sie uns in die Ebene jagen. Dann erobern wir Pax Tarkas zurück, und bum«, der Dunkelzwerg schlug seine Hände zusammen, »haben wir sie! Gefangen zwischen Pax Tarkas im Norden und Thorbadin im Süden!«

Dunkan starrte den Dewar kalt an. Argat hatte diese Strategie dem Kriegsrat vorgelegt, und Dunkan hatte sich damals gefragt, wie er darauf gekommen war. Der Dewar hatte normalerweise herzlich wenig Interesse an militärischen Angelegenheiten und kümmerte sich nur um eins, seinen Anteil an Beute.

War Kharas im Spiel, der wieder einmal versuchte, sich aus den Kämpfen herauszuhalten?

Dunkan schüttelte wütend den Arm des Dewars ab. »Pax Tarkas wird niemals fallen!« sagte er. »Deine Strategie ist die Strategie eines Feiglings. Ich werde für diesen Pöbelhaufen nichts aufgeben, nicht einmal ein Stück Kupfer, nicht einmal einen Stein vom Boden! Lieber sterbe ich hier!« Damit stapfte Dunkan fort. Er klapperte die Stufen hinab, und sein Bart sträubte sich vor Zorn.

Argat, der ihm nachsah, kräuselte höhnisch die Lippen. »Vielleicht wirst du auf diesem erbärmlichen Stein sterben, Dunkan. Aber nicht Argat.« Er wandte sich zu zwei Dawaren um, die im Schatten einer Nische standen, und nickte zweimal. Die Zwerge nickten ebenfalls, dann eilten sie davon.

Oben auf den Zinnen stehend, beobachtete Argat, wie die Sonne höher in den Himmel stieg. Gedankenverloren begann er seine Hände an seiner Lederrüstung abzureiben, als ob er sie säubern wollte.


Der Hochgug war sich nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, daß etwas schief lief.

Obgleich er nur wenig von den komplizierten Taktiken und Strategien der Kriegsführung verstand, kam es dem Hochgug nichtsdestotrotz in den Sinn, daß siegreich aus dem Schlachtfeld zurückkehrende Zwerge nicht blutüberströmt in die Festung hereintaumeln und dann vor seinen Füßen tot umfallen.

Wenn es einer oder zwei gewesen wären, hätte er das als Kriegsgeschick verstanden, aber die Anzahl der Zwerge, die sich so aufführten, wuchs wahrhaft beunruhigend an. Der Hochgug wollte herausfinden, was eigentlich vor sich ging.

Er trat also zwei Schritte vor. Als er dann den schrecklichen Tumult hinter sich hörte, blieb er unverzüglich stehen. Einen schweren Seufzer ausstoßend, drehte sich der Hochgug um. Er hatte seine Kompanie vergessen.

»Nein, nein, nein!« schrie der Hochgug ärgerlich und fuchtelte mit seinen Armen in der Luft herum. »Wie viele Male habe ich es euch schon gesagt? – Bleibt hier! Bleibt hier!«

Der Hochgug fixierte seine Kompanie mit einem strengen Auge; er ließ diejenigen, die still auf ihren Füßen standen und fähig waren, dem Blick des Auges (das andere fehlte) zu begegnen, vor Scham erzittern. Jene Gossenzwerge in der Kompanie jedoch, die über ihre Speerspitzen gestolpert waren, jene, die ihre Speere hatten fallen lassen, jene, die vor lauter Verwirrung ihren Nachbarn mit einem Speer gestochen hatten, jene, die auf dem Bauch lagen, und jene, die sich ganz umgedreht hatten und jetzt tapfer und beherzt der Nachhut gegenüberstanden, hörten die Stimme ihres Hauptmanns und zitterten vor Angst.

»Schaut, ihr schleimigen Gulp-Phunger«, knurrte der Hochgug schweratmend. »Ich finde heraus, was los ist. Es ist nicht richtig, daß alle so zurückkommen. Kein Singen – nur Bluten. Das ist nicht die Art, wie alles werden soll. Darum gehe ich. Ihr bleibt hier. Verstanden? Wiederholt es!«

»Ich gehe«, echoten seine Soldaten gehorsam. »Ihr bleibt hier.«

Der Hochgug zerrte an seinem Bart. Im Zorn stolzierte er von dannen, als er wieder hinter seinem Rücken das Klappern von fallenden Speeren hörte, die auf dem Boden aufschlugen. Der Hochgug hatte ungefähr zwanzig Schritte zurückgelegt, als er um eine Ecke bog und fast in Dunkan, seinen König, hineinlief. Dunkan bemerkte ihn jedoch nicht, da er ihm den Rücken zugekehrt hatte. Er war in eine Unterhaltung mit Kharas und mehreren Offizieren vertieft. Einen hastigen Schritt zurückweichend, sah und hörte der Hochgug gespannt zu.

Ungleich vielen vom Schlachtfeld zurückgekehrten Zwergen, deren schwere Plattenpanzer eingedellt waren, als ob sie einen Berghang hinabgestürzt wären, war Kharas’ Rüstung nur an einigen Stellen eingebeult. Die Hände und Arme des Helden waren bis zu den Ellbogen blutverschmiert, aber es war das Blut der Feinde, nicht sein eigenes. Es gab nur wenige, die sich den mächtigen Hieben seines Hammers widersetzen konnten. Unzählig waren die Männer, die durch Kharas’ Hand gefallen waren, obgleich sich viele bei ihrem letzten Atemzug wunderten, warum der große Zwerg bitterlich weinte, wenn er den tödlichen Schlag abgab.

Jetzt weinte Kharas nicht. Seine Tränen waren versiegt. Er stritt mit seinem König. »Wir sind auf dem Feld geschlagen, Lehnsherr«, sagte er ernst. »General Eisenhand hat recht getan, den Rückzug zu befehlen. Wenn du Pax Tarkas halten willst, müssen wir zurückweichen und die Tore verschließen, wie wir es geplant haben. Vergiß nicht, diese Situation hatten wir in Betracht gezogen.«

»Aber nichtsdestotrotz eine beschämende Situation«, knurrte Dunkan mit einem Fluch. »Geschlagen von einem Haufen von Dieben und Bauern!«

»Dieser Haufen Diebe und Bauern ist gut ausgebildet«, erwiderte Kharas feierlich, und die Generäle nickten in widerwilliger Zustimmung. »Die Barbaren sind in der Schlacht siegreich, und unsere Verwandten kämpfen mit einem Mut, der ihnen angeboren ist. Und dann fegen die Ritter von Solamnia auf ihren Pferden die Hügel herunter.«

»Du mußt den Befehl geben, Lehnsherr!« drängte einer der Generäle. »Oder wir können uns jetzt auf der Stelle aufs Sterben vorbereiten.«

»Dann schließt die gottverfluchten Tore!« schrie Dunkan zornig. »Aber laßt nicht die Steine fallen. Nicht bis zum letztmöglichen Augenblick. Vielleicht besteht keine Notwendigkeit dazu. Es wird sie teuer zu stehen kommen, die Tore aufzubrechen, und ich will herauskommen, ohne tonnenweise Gestein wegzuschaffen.«

»Schließt die Tore, schließt die Tore!« erscholl es aus allen Richtungen.

Alle im Hof, die Lebenden, die Verletzten und sogar die Sterbenden, wandten ihre Köpfe, um zuzusehen, wie die Tore zugeschlagen wurden. Der Hochgug war einer von ihnen und glotzte ehrfürchtig. Er hatte von diesen riesigen Toren gehört – wie sie sich lautlos in gigantischen, geölten Angeln bewegten, was so glatt funktionierte, daß nur zwei Zwerge auf jeweils einer Seite nötig waren, um sie zu schließen.

Der Hochgug hielt den Atem an, so daß er sich beinahe selbst erstickt hätte. Er blickte auf die Tore und konnte sehen, was sich dahinter abspielte; was er sah, lähmte ihn.

Eine riesige Armee raste auf ihn zu. Und es war nicht seine Armee! Was bedeutete, daß das der Feind sein mußte, entschied er nach einem Augenblick tiefen Nachdenkens, da es, soweit er informiert war, nur zwei Seiten in diesem Konflikt gab – seine und ihre.

Die Mittagssonne schien hell auf die Rüstungen der Ritter von Solamnia, sie funkelte auf ihren Schilden und glitzerte an ihren gezogenen Schwertern. Weit hinter ihnen folgte die Infanterie im Laufschritt. Die Armee des Fistandantilus schoß auf die Festung zu; sie hoffte sie zu erreichen, bevor die Tore geschlossen sein würden. Die wenigen Bergzwerge, die mutig genug waren, sich ihnen in den Weg zu stellen, wurden von aufblitzendem Stahl und trampelnden Pferdehufen niedergemacht.

Der Feind kam näher und näher. Der Hochgug schluckte nervös. Er wußte nicht viel über militärische Manöver, aber es schien ihm, daß jetzt die passende Zeit wäre, die Tore zu schließen. Es schien, daß die Generäle den gleichen Gedanken hegten, denn jetzt rannten alle schreiend in diese Richtung.

»Im Namen von Reorx, was machen sie...«, begann Dunkan.

Plötzlich wurde Kharas leichenblaß. »Dunkan«, sagte er ruhig, »wir wurden verraten. Du mußt sofort verschwinden.«

»W...was?« stammelte Dunkan verwirrt. Auf den Zehenspitzen stehend, versuchte er vergeblich, über die Menge zu sehen, die im Hof ziellos herumlief. »Verraten! Wie...«

»Der Dewar, mein Lehnsherr«, erklärte Kharas, der aufgrund seiner ungewöhnlichen Körpergröße in der Lage war, die Situation zu überblicken. »Sie haben offensichtlich die Torwachen ermordet, und jetzt versuchen sie, die Tore offenzuhalten.«

»Bringt sie um!« Dunkans Mund schäumte vor Zorn, der Speichel tröpfelte über seinen Bart. »Bringt sie alle um!« Der Zwergenkönig zog sein Schwert und sprang nach vorne. »Ich persönlich...«

»Nein, Lehnsherr!« Kharas bekam ihn zu fassen und zog ihn zurück. »Es ist zu spät! Komm, wir müssen zu den Greifen! Du mußt zurück nach Thorbadin, mein König!«

Aber Dunkan befand sich jenseits aller Vernunft. Er kämpfte heftig gegen Kharas. Schließlich ballte der jüngere Zwerg mit grimmigem Gesicht seine Riesenfaust und schlug sie seinem König mitten in den Kiefer. Dunkan taumelte zurück und schwankte von dem Hieb, fiel aber nicht.

»Dafür will ich deinen Kopf!« schwor der König und griff nach seinem Schwertknauf. Ein Schlag von Kharas folgte, und Dunkan lag ausgestreckt und still auf dem Boden.

Mit kummervollem Gesicht bückte sich Kharas, hob seinen König auf und wuchtete mit einem Stöhnen den stämmigen Zwerg über seine Schulter. Kharas rief einigen, die noch stehen und kämpfen konnten, zu, ihm Deckung zu geben, und eilte zu dem Platz, wo die Greife warteten. Der bewußtlose König hing mit herabbaumelnden Armen über seine Schulter.

Der Hochgug starrte mit entsetzter Faszination auf die heranrückende Armee. Immer wieder echote in seinem Gehirn Dunkans letzter Befehl: »Du bleibst hier.« Er drehte sich um und lief zu seiner Truppe zurück.

Obgleich die Gossenzwerge einen verdienten Ruf als feigste Rasse auf Krynn genossen, konnten sie, wenn in die Ecke gedrängt, mit einer Wildheit kämpfen, die den Feind in Staunen versetzte. Die meisten Armeen verwendeten Gossenzwerge aber nur als Hilfstruppen, so weit wie möglich in der Nachhut, da die Chance fünfzig zu fünfzig stand, daß ein Regiment Gossenzwerge mehr Schaden in den eigenen Reihen anrichtete als beim Feind.

Folglich hatte Dunkan die einzige Abteilung Gossenzwerge, die sich zur Zeit in Pax Tarkas befand – es waren ehemalige Minenarbeiter —, mitten im Hof postiert und sie angewiesen, dort zu bleiben, da er überzeugt war, sie auf diese Weise am besten aus allem Mißgeschick herauszuhalten. Er hatte sie angesichts der unwahrscheinlichen Möglichkeit, daß der Feind mit Kavallerie durch die Tore stürzte, mit Speeren ausgerüstet.

Aber genau diese unwahrscheinliche Möglichkeit traf jetzt ein. Die Armee des Fistandantilus auf sie zustoßen sehend, wissend, daß sie in der Falle saßen und besiegt waren, wurden alle Zwerge in Pax Tarkas in helle Verwirrung gestürzt.

Einige wenige behielten einen kühlen Kopf. Die Scharfschützen auf den Zinnen ließen Pfeile auf den vorrückenden Feind hinabregnen. Mehrere Befehlshaber versammelten ihre Regimenter um sich und bereiteten sich auf den Kampf vor. Aber die meisten flohen einfach, liefen in die Sicherheit der umgebenden Berge.

Und bald stand nur noch eine Gruppe im Weg der einfallenden Armee – die Gossenzwerge.

»Jetzt ist es soweit«, rief der Hochgug eilig seinen Männern zu, als er schnaubend und prustend zurückkam. Sein Gesicht war weiß unter dem Schmutz, aber er wirkte ruhig und gelassen. Ihm war gesagt worden, hier zu bleiben, und beim Barte Reorx’, er würde hier bleiben.

Dann sah der Hochgug jedoch, daß sich die meisten seiner Männer davonstehlen wollten; ihre Augen waren weit aufgerissen beim Anblick der donnernden Pferde, die jetzt gesichtet werden konnten, als sie die offenen Tore erreichten. »Speere setzen!« schrie er.

Das war ein Fehler, und er war sich dessen bewußt, als er den Befehl gab und den Aufruhr, die Verwirrung und das Fluchen hinter sich hörte.

Aber zu dieser Zeit spielte es keine Rolle mehr...

Die Sonne ging in einem blutroten Schleier unter, als sie in die stummen Wälder von Qualinesti sank.

Alles war ruhig in Pax Tarkas; die mächtige, uneinnehmbare Festung war kurz nach Mittag gefallen. Der Nachmittag verlief mit Gefechten mit vereinzelten Zwergengruppen, die sich kämpfend in die Berge zurückzogen. Viele waren entkommen, denn der Angriff der Ritter war wirkungsvoll von einer kleinen Gruppe Speerträger aufgehalten worden, die standhaft ihre Stellung gehalten hatten.

Kharas, der den bewußtlosen König in seinen Annen trug, flog auf einem Greif nach Thorbadin zurück, begleitet von den noch lebenden Offizieren Dunkans.

Die restliche Armee der Bergzwerge, die in den Höhlen und Bergen der schneebedeckten Pässe zu Hause waren, befand sich auf dem Weg zurück nach Thorbadin. Die Dewaren, die ihre Verwandten verraten hatten, tranken Dunkans erbeutetes Bier und brüsteten sich mit ihren Taten, während der Großteil von Caramons Armee sie mit Abscheu musterte.

Als am Abend die Sonne unterging, war der Hof mit Zwergen und Menschen gefüllt, die ihren Sieg feierten, während die Offiziere vergeblich versuchten, die Flut der Betrunkenheit aufzuhalten, die jeden zu überschwemmen schien. Schreiend, kommandierend, einige Köpfe zusammenschlagend, schafften sie es, genügend Männer wegzuzerren, die die Wachtposten einnehmen und Beerdigungsmannschaften bilden sollten.

Crysania hatte die Prüfung des Blutes bestanden. Obgleich sie von einem wachsamen Caramon von der Schlacht ferngehalten wurde, war es ihr, als sie die Festung betreten hatte, gelungen, ihm auszuweichen. In Umhang und Kapuze eingehüllt, bewegte sie sich jetzt unter den Verletzten und heilte heimlich jene, von denen sie annahm, daß sie bei ihnen keine Aufmerksamkeit erregte. In späteren Jahren würden die Überlebenden ihren Enkeln Geschichten erzählen, in denen sie behaupteten, daß sie eine weißgekleidete Gestalt mit einem glänzenden Licht um den Hals gesehen hätten, die ihre sanften Hände auf sie gelegt und ihnen den Schmerz weggenommen habe.

Caramon traf sich mittlerweile mit Offizieren in einem Zimmer in Pax Tarkas und plante ihre weitere Strategie, obgleich der große Mann so erschöpft war, daß er kaum richtig denken konnte.

Folglich sahen nur wenige die einzelne schwarzgekleidete Gestalt die offenen Tore von Pax Tarkas betreten. Sie ritt auf einem schwarzen Pferd, das vor dem Blutgeruch zurückschreckte. Die Gestalt hielt das Pferd an und sagte offenbar einige beruhigende Worte zu ihm. Jene, die die Gestalt sahen, hielten einen Moment vor Entsetzen inne, viele hatten den Eindruck, daß der Tod persönlich eingekehrt sei, um die noch nicht Begrabenen einzusammeln. Dann murmelte jemand: »Der Zauberer«, und sie wandten sich wieder ab, lachten nervös oder seufzten erleichtert auf.

Seine Augen waren durch die Tiefen seiner schwarzen Kapuze verdeckt, dennoch erforschten sie alles aufmerksam um sich herum. Raistlin ritt weiter, bis er den ungewöhnlichen Anblick des gesamten Schlachtfeldes hatte – die Leichen von mehr als hundert Gossenzwergen, die geordnet Reihe um Reihe dalagen. Die meisten hielten noch ihre Speere fest umklammert in ihren leblosen Händen. Bei ihnen lagen auch einige Pferde, die durch wilde Hiebe und Stöße der verzweifelten Gossenzwerge verletzt worden waren. Am Ende hatten die Gossenzwerge ihre nutzlosen Speere fallen lassen, um auf die Weise zu kämpfen, die ihnen am vertrautesten war, mit Zähnen und Fingernägeln.

»Das stand nicht in den Geschichtsbüchern«, murmelte Raistlin leise, starrte auf die erbärmlichen kleinen Körper und runzelte die Augenbrauen. Seine Augen funkelten. »Vielleicht«, stieß er aus, »bedeutet das, daß die Zeit bereits verändert wurde!«

Niemand sah Raistlins Gesicht, das von seiner Kapuze verborgen wurde, denn sonst hätte man ein schnelles, plötzliches Zucken des Kummers und des Zornes vorbeiziehen sehen. »Nein«, sagte er sich verbittert, »das mitleiderregende Opfer dieser armen Kreaturen wurde nicht aus der Geschichte ausgelassen, weil es nicht passierte. Es wurde ausgelassen, weil es niemanden gekümmert hat.«

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