16

Das war sein Augenblick. Der Augenblick, für den er geboren war. Der Augenblick, für den er sein ganzes Leben lang Schmerz, Erniedrigung und Qualen erduldet hatte. Der Augenblick, für den er studiert, gekämpft, geopfert und getötet hatte.

Er genoß ihn, ließ die Kraft über und durch sich fließen, ließ sich von ihr umgeben und emporheben. Nichts auf dieser Welt existierte für ihn in diesem Augenblick – außer dem Portal und der Magie.

Aber auch während er diesen Augenblick genoß und frohlockte, war sein Geist aufmerksam auf seine Arbeit gerichtet. Seine Augen musterten das Portal und studierten jede Einzelheit – obwohl das eigentlich unnötig war. Er hatte es unzählige Male in Träumen sowie im Wachzustand gesehen. Die Zaubersprüche zum Öffnen waren simpel. Die fünf Drachenköpfe, die das Portal bewachten, mußten hintereinander mit dem richtigen Satz besänftigt werden. Aber wenn das vollbracht war und die weißgekleidete Klerikerin Paladin ermahnt hatte, Fürbitte einzulegen und das Portal offen zu halten, würden sie eintreten können. Es würde sich hinter ihnen schließen, und er würde seiner größten Herausforderung gegenüberstehen.

Der Gedanke erregte ihn. Sein schnell schlagendes Herz ließ das Blut in seinen Schläfen pochen. Er blickte Crysania an und nickte ihr zu.

Die Zeit war gekommen.

Die Klerikerin, deren Augen im Glanz der Ekstase schimmerten, nahm ihren Platz im Portal gegenüber Raistlin ein. Dieser Schritt machte unerschütterliches Vertrauen auf ihn erforderlich. Denn eine falsch gesprochene Silbe, ein zu unpassender Zeit geschöpfter Atem, das leichteste Entgleiten der Zunge oder eine geringfügige Handbewegung würde sich für beide als tödlich erweisen.

Crysania trat in das Portal und lächelte Raistlin an, den sie zum letzten Mal auf dieser Welt sehen sollte. Er lächelte zurück, während sich gleichzeitig die Worte des ersten Zaubers in seinem Geist bildeten.

Crysania hob die Arme. Ihre Augen starrten jetzt über Raistlin hinweg, in die herrlichen, wunderschönen Reiche, in denen ihr Gott lebte.

Sie hatte die letzten Worte des Königspriesters gehört, sie wußte, welchen Fehler er begangen hatte – den Fehler des Stolzes, von den Göttern zu verlangen, was er in Demut hätte erbitten sollen.

In jenem Augenblick war Crysania klar geworden, warum die Götter die Verwüstung der Welt herbeigeführt hatten. Und sie hatte in ihrem Herzen gewußt, daß Paladin ihre Gebete erhören würde, so wie er die des Königspriesters nicht erhört hatte. Dies war Raistlins Augenblick der Erhabenheit, und gleichsam war es ihr eigener.

Wie der heilige Ritter Huma war sie durch ihre Prüfungen gegangen, die Prüfungen des Feuers, der Dunkelheit, des Todes und des Blutes. Sie war bereit.

»Paladin, Platindrache, deine treue Dienerin kommt zu dir und bittet, daß du deinen Segen auf sie wirfst. Ihre Augen sind deinem Licht geöffnet. Zuletzt hat sie verstanden, was du in deiner Weisheit versucht hast sie zu lehren. Höre ihr Gebet, Strahlender. Sei bei ihr. Öffne dieses Portal, damit sie es durchschreiten und mit deiner Fackel in der Hand vorwärtsgehen kann. Gehe mit ihr, während sie darum ringt, die Dunkelheit für alle Ewigkeit zu bannen!«

Raistlin hielt den Atem an. Alles hing davon ab! Hatte er sie richtig eingeschätzt? Verfügte sie über die Stärke, die Weisheit, den Glauben? War sie wirklich Paladins Auserwählte?

Ein reines und heiliges Licht begann von Crysania auszugehen. Ihr dunkles Haar leuchtete, ihre weißen Roben glänzten wie Wolken im Sonnenlicht, ihre Augen strahlten wie der silberne Mond. Ihre Schönheit war in diesem Augenblick vollkommen.

»Ich danke dir, daß du mein Gebet erhört hast, Gott des Lichtes«, murmelte Crysania und neigte den Kopf. Tränen glänzten wie Sterne auf ihrem blassen Gesicht. »Ich werde mich deiner würdig erweisen!«

Von ihrer Schönheit verzaubert, vergaß Raistlin sein großes Ziel. Er konnte sie nur wie in Trance ansehen. Selbst die Gedanken an seine Magie entwichen ihm einen Herzschlag lang. Dann frohlockte er. Nichts! Nichts konnte ihn nun aufhalten..

»Caramon!« flüsterte Tolpan ehrfürchtig.

»Wir kommen zu spät«, sagte Caramon.

Die zwei waren durch die Verliese auf der untersten Ebene der magischen Festung gegangen und blieben plötzlich stehen. Eingehüllt in silbernes Licht, stand Crysania mitten im Portal, die Arme ausgestreckt, das Gesicht zum Himmel erhoben. Ihre unirdische Schönheit traf Caramon mitten ins Herz.

»Zu spät? Nein!« schrie Tolpan. »Das kann nicht sein!«

»Tolpan«, sagte Caramon traurig, »sieh dir ihre Augen an. Sie ist blind. Genauso blind, wie ich im Turm der Erzmagier gewesen bin. Sie kann nicht durch das Licht sehen...«

»Wir müssen versuchen, mit ihr zu reden, Caramon!« Tolpan klammerte sich an ihn. »Wir dürfen sie nicht gehen lassen. Es... es ist meine Schuld! Ich bin es, der ihr von Bupu erzählt hat! Sie wäre nicht gegangen, wenn ich nicht gewesen wäre! Ich spreche mit ihr!«

Der Kender sprang vorwärts, aber er wurde von Caramon zurückgerissen, der ihn am Haarzopf zu fassen bekommen hatte. Tolpan schrie vor Schmerz und Protest auf, und Raistlin drehte sich um.

Der Erzmagier starrte seinen Bruder und den Kender einen Augenblick an, anscheinend, ohne sie wiederzuerkennen. Dann dämmerte in seinen Augen das Erkennen.

»Pst, Tolpan«, flüsterte Caramon. »Es ist nicht deine Schuld. Bleib ruhig!« Er schob den Kender hinter eine dicke Granitsäule. »Bleib hier«, befahl er. »Paß auf den Anhänger auf – und auf dich.«

Tolpan öffnete den Mund, um Einwände zu erheben. Dann sah er Caramon ins Gesicht. Als sein Blick in den Korridor glitt, sah er Raistlin. Etwas beschlich den Kender. Er hatte das gleiche Gefühl, wie er es in der Hölle erlebt hatte – jämmerlich und verängstigt. »Ja, Caramon«, sagte er leise. »Ich bleibe hier. Ich verspreche es...« Er sah vor seinem geistigen Auge den armen Gnimsch, der wie zerknittert auf dem Zellenboden lag.

Caramon wandte sich ab und hinkte auf seinen Bruder zu.

Raistlin musterte ihn wachsam; er hielt den Stab des Magus in der Hand. »Du hast also überlebt«, bemerkte er.

»Dank den Göttern, nicht dank dir«, erwiderte Caramon.

»Dank einer Göttin, mein teurer Bruder«, berichtigte Raistlin mit einem leicht verzerrten Lächeln. »Dank der Königin der Finsternis. Sie hat den Kender hierher geschickt, und er hat vermutlich die Zeit verändert, so daß dein Leben verschont blieb. Ärgert es dich, Caramon, zu wissen, daß du der Dunklen Königin dein Leben verdankst?«

»Ärgert es dich zu wissen, daß du ihr deine Seele verdankst?«

Raistlins Augen blitzten auf, ihre spiegelgleiche Oberfläche zersprang eine Sekunde. Dann drehte er sich mit einem boshaften Lächeln zum Portal um. Er hob die rechte Hand und hielt sie mit der Handfläche nach außen; sein Blick war auf den Drachenkopf rechts unten an dem ovalen Eingang gerichtet.

»Schwarzer Drache.« Seine Stimme war sanft, liebkosend. »Von Dunkelheit zu Dunkelheit hallt meine Stimme in der Leere wider.«

Als Raistlin diese Worte sprach, begann sich um Crysania eine Aura der Dunkelheit zu bilden, eine Aura, die so schwarz wie das Nachtjuwel war, so schwarz wie das Licht des dunklen Mondes...

Raistlin spürte Caramons Hand auf seinem Arm. Wütend versuchte er, seinen Bruder abzuschütteln, aber Caramons Griff war zu stark.

»Bring uns nach Hause, Raistlin...«

Raistlin drehte sich um und starrte ihn an; er hatte seinen Zorn vor Verblüffung vergessen. »Was?«

»Bring uns nach Hause«, wiederholte Caramon bestimmt.

Raistlin lachte verächtlich. »Du bist ein schwacher, wehleidiger Narr, Caramon!« höhnte er. Verärgert versuchte er noch einmal den Griff seines Bruders abzuschütteln. Er hätte genauso gut versuchen können, den Tod abzuschütteln. »Du mußt doch inzwischen wissen, was ich getan habe! Der Kender muß dir doch von dem Gnom erzählt haben. Du weißt, daß ich dich verraten habe. Ich wollte dich an diesem erbärmlichen Ort deinem Tod überlassen. Und immer noch hängst du an mir!«

»Ich hänge an dir, weil die Wasser über deinem Kopf zusammenschlagen«, entgegnete Caramon. Sein Blick glitt zu seiner starken, sonnengebräunten Hand, die das magere Handgelenk seines Bruders hielt.

»Meine Hand auf deinem Arm. Das ist alles, was wir gemeinsam haben.« Caramon holte tief Atem. Dann fuhr er mit einer Stimme, die von Kummer erfüllt war, fort: »Nichts kann auslöschen, was du getan hast, Raist. Es kann zwischen uns niemals wieder so wie früher sein. Meine Augen wurden geöffnet. Ich erkenne jetzt, wer du bist.«

»Und dennoch bittest du mich, mit dir zu kommen!« höhnte Raistlin.

»Ich kann lernen, mit dem Wissen zu leben, wer du bist und was du getan hast.« Caramon sah aufmerksam in die Augen seines Bruders und sagte leise: »Aber du wirst allein leben müssen, Raistlin. Und es werden Nächte kommen, in denen das unerträglich sein wird.«

Raistlin antwortete nicht. Sein Gesicht war wie eine Maske, undurchdringlich.

Caramons Griff um den Arm seines Bruders festigte sich. »Denk darüber nach. Du hast in deinem Leben Gutes getan, Raistlin – es gibt anderes Gutes, das du tun könntest... Komm nach Hause.«

Komm nach Hause... komm nach Hause...

Raistlin schloß die Augen, der Schmerz in seinem Herzen war fast unerträglich. Weit entfernt konnte er Crysanias leise Stimme hören, die zu Paladin betete. Das weiße Licht flackerte über seinen Augenlidern.

Komm nach Hause...

Als Raistlin sprach, war seine Stimme ganz weich. »Die finsteren Verbrechen, die meine Seele beflecken, Bruder, kannst du dir nicht vorstellen. Wenn du sie wüßtest, würdest du dich von mir in Entsetzen und Ekel abwenden.« Er seufzte und zitterte leicht. »Du hast recht. In der Nacht wende ich mich manchmal von mir selbst ab.« Er öffnete die Augen und starrte aufmerksam in die seines Bruders. »Aber wisse, Caramon, ich habe diese Verbrechen bewußt begangen. Wisse auch dies: Es liegen noch andere Verbrechen vor mir, und ich werde sie begehen, bewußt...« Sein Blick glitt zu Crysania, die im Portal stand, betete, in ihrer Schönheit leuchtete.

Caramon sah sie an, und sein Gesicht drückte Bitterkeit aus.

Raistlin beobachtete ihn; er lächelte. »Ja, mein Bruder, sie wird die Hölle mit mir betreten. Sie wird vor mir gehen und meine Schlachten austragen. Sie wird dunklen Klerikern gegenübertreten, Zauberern, Geistern der Toten, die verdammt sind, in diesem verfluchten Land herumzuwandern und die unglaublichsten Foltern auf sich nehmen, die sich meine Königin nur ausdenken kann. All dies wird ihren Körper verletzen, ihren Geist verschlingen und ihre Seele zerstören. Schließlich, wenn sie es nicht mehr ertragen kann, wird sie auf den Boden sinken und vor meinen Füßen liegen... blutend, erbärmlich, sterbend. Sie wird mit letzter Kraft ihre Hand nach mir ausstrecken. Sie wird mich nicht bitten, sie zu retten. Dafür ist sie zu stark. Sie wird mir ihr Leben freiwillig, freudig geben. Sie wird lediglich darum bitten, daß ich bei ihr bleibe, wenn sie stirbt.« Er holte tief Atem, dann zuckte er die Schultern. »Aber ich werde an ihr vorbeigehen, Caramon. Ich werde an ihr vorbeigehen, ohne sie eines Blickes zu würdigen, ohne ein Wort zu verlieren. Warum? Weil ich dann keine Verwendung mehr für sie habe. Ich werde weiter auf mein Ziel zugehen, und meine Kraft wird wachsen, noch während das Blut aus ihrem gebrochenen Herzen fließt.« Er wandte sich halb um und hob die linke Hand mit der Handfläche nach außen. Er sah auf den Drachenkopf oben am Portal und sagte leise den zweiten Zauber auf: »Weißer Drache, von dieser Welt zur nächsten ruft meine Stimme voll von Leben.«

Caramons Blick richtete sich auf das Portal, dann auf Crysania; er war von Entsetzen und Abscheu erfüllt. Und dennoch hielt er an seinem Bruder fest. Dennoch dachte er daran, ihn ein letztes Mal zu bitten. Dann spürte er, wie der magere Arm in seiner Hand eine scharfe, drehende Bewegung machte.

Etwas blitzte auf, eine schnelle Bewegung, und die glänzende Klinge eines silbernen Dolches drückte sich gegen seine Kehle.

»Laß mich los, mein Bruder«, sagte Raistlin.

Schnell und sauber schnitt das Messer durch die letzte seelische Verbindung der Zwillinge. Caramon zuckte bei dem plötzlichen, stechenden Schmerz in seinem Herzen leicht zusammen. Aber der Schmerz währte nicht lange. Das Band war durchgetrennt.

Caramon ließ den Arm seines Bruders los. Er wandte sich um und wollte zu Tolpan zurückhinken, der sich immer noch hinter der Säule versteckt hielt.

»Ein letzter warnender Hinweis, mein Bruder«, sagte Raistlin kalt und steckte den Dolch wieder in den Riemen an seinem Handgelenk.

Caramon antwortete nicht, er blieb auch nicht stehen oder drehte sich um.

»Sei vorsichtig mit dem magischen Zeitgerät«, fuhr Raistlin fort. »Ihre Dunkle Majestät hat es repariert. Sie war es, die den Kender zurückschickte. Wenn du es benutzt, könntet ihr euch an einem höchst unangenehmen Ort wiederfinden!«

»Nein, sie hat es nicht repariert!« schrie Tolpan, der hinter der Säule hervorsprang. »Gnimsch hat es getan! Gnimsch hat es repariert! Gnimsch, mein freund. Der Gnom, den du umgebracht hast. Ich...«

»Dann benutz es, Caramon«, erwiderte Raistlin kühl. »Bring ihn und dich von hier fort! Aber vergiß nicht, daß ich dich gewarnt habe.«

Caramon ergriff den zornigen Kender. »Beruhige dich, Tolpan. Es spielt jetzt keine Rolle mehr.« Er drehte sich um, strich besänftigend über Tolpans Haarzopf und sagte: »Komm, Tolpan. Laß uns nach Hause gehen. Leb wohl, mein Bruder.«

Raistlin hörte es nicht. Sein Blick war wieder auf das Portal gerichtet, und er war wieder in seine Magie vertieft. Als er jedoch zum dritten Zauberspruch ansetzte, sah er aus dem Augenwinkel, wie sein Bruder den Anhänger von Tolpan nahm und sich anschickte, ihn in ein magisches Zeitreisegerät zu verwandeln.

Laß sie gehen. Die bin ich los, dachte Raistlin. Endlich bin ich von diesem großen Idioten befreit! Er blickte wieder zum Portal und lächelte. Ein kreisförmiges goldenes Licht, wie der Strahl der Sonne auf Schnee, umgab Crysania. Das Gebot des Erzmagiers an den Weißen Drachen war also erhört worden.

Raistlin hob die Hand, blickte den Drachenkopf im unteren linken Teil des Portals an und sprach seinen Zauber. »Roter Drache, von Dunkelheit zu Dunkelheit rufe ich: Unter meinen Füßen ist alles fest.«

Rote Linien schossen aus Crysanias Körper durch das weiße Licht und durch die schwarze Aura. Rot und brennend wie Blut überbrückten sie die Kluft von Raistlin zum Portal – eine Brücke ins Jenseits.

Raistlin hob die Stimme. Er wandte sich zur Rechten und rief den vierten Drachen an. »Blauer Drache. Zeit, die fließt, halte in deinem Lauf an.«

Blaue Lichtstrahlen flossen über Crysania. Als ob sie in Wasser glitte, neigte sie den Kopf zurück; ihre Arme blieben ausgestreckt, ihre Roben trieben um sie in den wirbelnden Lichtblitzen, ihr Haar schwamm schwarz auf den Strömungen der Zeit. Raistlin spürte das Portal erbeben. Das magische Feld begann sich zu aktivieren und auf seine Befehle zu reagieren! Seine Seele erzitterte vor Freude, die Crysania mit ihm teilte. Ihre Augen leuchteten, ihre Lippen teilten sich zu einem Seufzer. Ihre Hände spreizten sich, und sie berührten das Portal, das sich öffnete.

Raistlin blieb der Atem in der Kehle stecken. Die Welle der Macht und Ekstase, die durch seinen Körper strömte, erstickte ihn fast. Er konnte jetzt durch das Portal sehen. Er konnte kurze Eindrücke von der dahinter liegenden Ebene erhaschen, die für Sterbliche verboten ist.

Von irgendwoher hörte er schwach die Stimme seines Bruders, der das magische Gerät aktivierte: »Deine Zeit gehört dir allein, auch wenn du quer durch sie reist... Ergreife fest den Anfang und das Ende... Das Schicksal wird über deinem Kopf sein...«

Nach Hause. Komm nach Hause...

Raistlin begann mit dem fünften Zauberspruch. »Grüner Drache, weil durch Schicksalsbestimmung selbst die Götter niedergeschlagen sind, weine du mit mir.« Seine Stimme schnappte über. Irgend etwas stimmte nicht! Das Pulsieren der Magie in seinem Körper verlangsamte sich, wurde träge. Er stotterte die letzten Worte heraus, aber jeder Atemzug war eine Anstrengung. Sein Herz hörte einen Augenblick zu schlagen auf, dann setzte es seine Tätigkeit mit einem Sprung fort.

Verwirrt starrte Raistlin auf das Portal. Hatte der letzte Zauber funktioniert? Nein! Das Licht um Crysania begann zu schwanken. Das Feld verschob sich!

Verzweifelt schrie Raistlin die Worte des letzten Zaubers noch einmal. Aber er spürte, wie die Magie ihm entglitt.

Komm nach Hause...

Die Stimme seiner Königin war lachend und höhnend, die Stimme seines Bruders flehend, voller Kummer... Und dann eine andere Stimme, eine schrille Kenderstimme – jetzt raste sie wie ein blendendes Licht durch sein Gehirn: »Gnimsch hat es repariert... Der Gnom, mein Freund.«

Die Worte aus Astinus’ Chronik fielen ihm ein: »Im gleichen Augenblick aktivierte ein Gnom, der von den Zwergen von Thorbadin gefangengehalten wurde, ein Zeitreisegerät... Das Gerät des Gnoms wirkte auf die mächtigen Zaubersprüche, die von Fistandantilus gewebt wurden... Eine Explosion solchen Ausmaßes erfolgte, daß die Ebene von Dergod völlig zerstört wurde...«

Raistlin ballte vor Zorn die Fäuste. Der Mord an dem Gnom war zwecklos gewesen! Diese erbärmliche Kreatur hatte an dem Gerät vor ihrem Tod herumgepfuscht. Die Geschichte würde sich wiederholen! Fußstapfen im Sand...

Als Raistlin in das Portal blickte, sah er den Scharfrichter hervortreten. Er sah seine eigene Hand seine eigene schwarze Kapuze hochheben, er sah die blitzende Axt niedersausen; seine eigenen Hände führten sie!

Das magische Feld begann sich heftig zu verschieben. Die Drachenköpfe, die das Portal umgaben, kreischten im Triumph auf. Ein Krampf des Schmerzes und des Entsetzens verzerrte Crysanias Gesicht. Als Raistlin in ihre Augen sah, erkannte er den gleichen Blick, den er in den Augen seiner Mutter gesehen hatte, die blind in eine weit entfernte Ebene gestarrt harten.

Komm nach Hause...

Im Portal begannen die wirbelnden Lichter wie verrückt zu kreisen. Crysania schrie vor Schmerz auf. Ihr Fleisch begann in dem tödlichen Feuer unbeherrschter Magie zu zerfallen.

Tränen liefen aus Raistlins Augen, als er in den wirbelnden Strudel starrte. Und dann sah er, wie sich das Portal schloß. Er schleuderte seinen magischen Stab auf den Boden und stieß einen bitteren, unzusammenhängenden Schrei aus.

Aus dem Portal ertönte als Antwort ein spöttisches Gelächter.

Komm nach Hause...

Ruhe überkam Raistlin, die nüchterne Ruhe der Verzweiflung. Er hatte versagt. Aber sie würde niemals erleben, daß er vor ihr zu Kreuze kroch. Wenn er sterben mußte, dann in seiner Magie...

Er blickte auf. Seine ganze gewaltige Macht nutzend – Mächte der Uralten, seine eigenen Mächte, Mächte, von denen er nicht wußte, daß er über sie verfügte, Mächte, die sich aus düsteren und verborgenen Nischen in seinem Inneren erhoben – , streckte Raistlin seine Arme empor, und seine Stimme schrie noch einmal auf. Aber diesmal war es nicht das zusammenhanglose Kreischen eines Hilflosen. Diesmal waren seine Worte klar und deutlich. Diesmal schrie er die Worte eines Befehls, die niemals zuvor auf dieser Welt ausgesprochen worden waren.

Diesmal wurden seine Worte gehört und verstanden.

Das Feld hielt. Er hielt es! Er konnte spüren, wie er es hielt. Auf seinen Befehl erbebte das Portal und hörte auf, sich zu schließen.

Raistlin holte tief Luft. Dann bemerkte er aus dem Augenwinkel irgendwo zu seiner Rechten einen Blitz. Das magische Zeitreisegerät war aktiviert worden!

Das Feld neigte sich wild empor. Die Magie des Gerätes verstärkte sich und breitete sich aus, seine mächtigen Schwingungen brachten die Steine der Festung zum Singen. In einer verheerenden Woge stürzten ihre Lieder auf Raistlin ein. Die Drachen antworteten kreischend vor Zorn. Die zeitlosen Stimmen der Felsen und der Drachen kämpften miteinander, flossen zusammen und vereinigten sich schließlich zu einem den Geist zermürbenden Mißklang.

Die Musik war betäubend, ohrenzerreißend. Die Macht der zwei gewaltigen Zauber riß den Boden entzwei. Die Erde unter Raistlins Füßen erbebte. Die singenden Felsen spalteten sich. Die metallischen Drachenköpfe zerbarsten...

Das Portal begann einzustürzen.

Raistlin fiel auf die Knie. Das magische Feld riß entzwei, und weil Raistlin es immer noch festhielt, drohte auch er entzweigerissen zu werden.

Schmerz schoß durch seinen Kopf. Sein Körper zuckte. Er krümmte sich vor Qualen.

Es war eine schreckliche Entscheidung, der er gegenüberstand. Wenn er losließ, würde er ins Nichts stürzen, wogegen die dunkelste Finsternis zu bevorzugen war. Wenn er das Feld festhielt, würde er entzweigerissen, durch die Kräfte der Magie zerstückelt werden, die er hervorgerufen hatte und nicht länger beherrschen konnte.

»Caramon!« stöhnte Raistlin, aber Caramon und Tolpan waren verschwunden. Das magische Gerät hatte tatsächlich funktioniert. Sie waren gegangen. Es gab keine Hilfe.

Raistlin blieben noch Sekunden zum Leben, Augenblicke zum Handeln. Aber der Schmerz war so qualvoll, daß er nicht denken konnte. Er konnte sich selbst schreien hören, und er wußte, es war sein Todesschrei. Dennoch kämpfte er weiter, so wie er sein ganzes Leben lang gekämpft hatte.

»Ich will Macht.«

Die Worte kamen blutbefleckt aus seinem Mund.

Er streckte die Hand aus, und sie schloß sich um den Stab des Magus.

»Ich will!«

Und dann wurde er in eine blendende, wirbelnde, zerschmetternde Woge vielfarbiger Lichter geschleudert.

Komm nach Hause... Komm nach Hause...

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