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Raistlin hob den Zeltvorhang und ging hinaus. Die Wache zuckte zusammen und scharrte verlegen mit den Füßen. Das Erscheinen des Erzmagiers war stets zermürbend, selbst für seine persönliche Wache. Niemand hörte jemals sein Kommen. Er schien sich immer aus der Luft zu materialisieren. Der erste Hinweis auf seine Gegenwart war die Berührung seiner glühenden Finger auf einem nackten Arm, sanft geflüsterte Worte oder das Rascheln seiner schwarzen Roben.

Das Zelt des Zauberers wurde mit Staunen und Ehrfurcht betrachtet, auch wenn niemand etwas Seltsames bemerkte. Natürlich beobachteten es viele, insbesondere die Kinder, die insgeheim hofften, ein entsetzliches Monster sich der Kontrolle des Erzmagiers entziehen zu sehen, das durch das Lager donnerte und jeden, den es erblickte, verschlang, bis sie es mit einem Stück Pfefferkuchen zähmten. Aber nichts dergleichen trat ein. Der Erzmagier pflegte und erhielt sorgfältig seine Energien. Doch das würde sich heute abend ändern, sinnierte Raistlin. Es blieb ihm keine andere Wahl. »Wache«, murmelte er.

»Herr?« rief der Wächter verwirrt. Der Erzmagier sprach selten jemanden an, geschweige denn eine einfache Wache.

»Wo ist Crysania?«

Der Wächter konnte ein verächtliches Schürzen seiner Lippen bei der Antwort nicht unterdrücken, daß sich die »Hexe« für den Abend seiner Meinung nach in General Caramons Zelt zurückgezogen habe.

»Soll ich jemand nach ihr schicken?« fragte er Raistlin mit so offensichtlicher Abneigung, daß der Magier ein Lächeln nicht unterlassen konnte, das jedoch im Schatten seiner schwarzen Kapuze verborgen blieb.

»Nein«, erwiderte Raistlin, als wäre er über diese Information erfreut. »Und mein Bruder, hast du etwas von ihm gehört? Wann wird seine Rückkehr erwartet?«

»General Caramon hat die Nachricht übermitteln lassen, daß er morgen eintreffen wird«, fuhr der Wächter in verblüfftem Ton fort, überzeugt, daß der Magier bereits Bescheid wußte. »Wir sollen seine Ankunft erwarten und gleichzeitig dafür sorgen, daß uns die Nachschubkolonne einholen kann. Die ersten Wagen sind heute nachmittag eingetroffen.« Ein plötzlicher Gedanke fiel dem Wächter ein. »Wenn... wenn du daran denkst, diese Befehle zu ändern, Herr, sollte ich den Hauptmann der Wache rufen...«

»Nein, nein, nichts dergleichen«, unterbrach ihn Raistlin beruhigend. »Ich wollte lediglich sicherstellen, daß ich heute abend nicht gestört werde – von etwas oder von jemandem. Ist das klar? Und wie ist dein Name?«

»Michael«, antwortete der Wächter. »Wenn dies deine Befehle sind, werde ich sie befolgen.«

»Gut«, antwortete Raistlin. Er schwieg einen Augenblick und starrte in die Nacht hinaus, die zwar kalt, aber von Lunitari und den Sternen hell erleuchtet war.

Solinari nahm ab und bildete nichts weiter als einen silbernen Splitter am Himmel. Wichtiger für Raistlins Augen war der Mond, den nur er allein sehen konnte. Nuitari, der Schwarze Mond, war voll und rund, ein dunkles Loch zwischen den Sternen.

Raistlin trat einen Schritt näher zu dem Wächter. Er schob seine Kapuze aus dem Gesicht, ließ das Licht des roten Mondes auf seine Augen fallen.

Der Wächter schrak zusammen und trat unwillkürlich zurück, aber seine Ausbildung zum Ritter von Solamnia ließ ihn schnell die Fassung wiedergewinnen.

Raistlin spürte, wie sich der Mann versteifte. Er sah die Reaktion und lächelte wieder. Er hob eine schlanke Hand und legte sie auf die gepanzerte Brust des Wächters. »Niemand darf mein Zelt betreten«, wiederholte er in dem sanften Flüsterton, den er wirksam einzusetzen wußte. »Gleichgültig, was passiert! Niemand – Crysania, mein Bruder, du... niemand!«

»Ich verstehe, Herr«, sagte Michael.

»Möglicherweise wirst du in dieser Nacht seltsame Dinge hören oder sehen«, fuhr Raistlin fort. »Ignoriere es. Wenn jemand dieses Zelt betritt, so geschieht das auf die Gefahr seines eigenen Lebens... und meines!«

»Ja, Herr!« antwortete Michael und schluckte. Schweiß lief über sein Gesicht, obwohl die Nachtluft ungewöhnlich kalt war.

»Du bist – oder warst – ein Ritter von Solamnia?« fragte Raistlin plötzlich.

Michael wirkte nervös, sein Blick schwankte. Er öffnete den Mund, aber Raistlin schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Gedanken. Du brauchst es mir nicht zu erzählen. Du hast zwar deinen Bart abrasiert, aber ich kann es an deinem Gesicht erkennen. Ich kannte einmal einen Ritter, verstehst du? Darum schwöre, daß du meinen Wunsch befolgst.«

»Ich schwöre«, flüsterte Michael.

Der Magier nickte, offensichtlich zufrieden, und drehte sich zu seinem Zelt um. Michael, befreit von den Augen, in denen er nur sich selbst sah, ging zu seinem Posten zurück.

Im letzten Augenblick hielt Raistlin inne, seine Roben raschelten leise um ihn. »Ritter«, flüsterte er.

Michael wandte sich um.

»Falls jemand mein Zelt betritt«, sagte der Magier mit freundlicher, angenehmer Stimme, »und meine Zauberei stört, will ich nichts anderes erwarten – falls ich überlebe —, als deine Leiche auf dem Boden vorzufinden. Das ist die einzige Entschuldigung, die ich für Versagen akzeptiere.«

»Ja, Herr«, antwortete Michael. »Die Ehre ist mein Leben.«

»Ja.« Raistlin zuckte die Achseln. »So endet das im allgemeinen.« Er trat in sein Zelt und ließ Michael in der Dunkelheit zurück, der darauf wartete, was hinter seinem Rücken im Zelt passieren würde.

Er wünschte, sein Vetter Garik wäre hier, um diese seltsame und unheilvolle Wache mit ihm zu teilen. Aber Garik war bei Caramon. Michael sah sich sehnsüchtig im Lager um. Feuer brannten, es wurde warmer, gewürzter Wein gereicht, und es herrschte gute Kameradschaft und Gelächter.

Raistlin überquerte den Zeltboden und blieb vor einer großen Holztruhe stehen, die neben seinem Bett stand. Die mit magischen Runen versehene Truhe war der einzige Besitz Raistlins – außer dem Stab des Magus —, den er niemandem zu berühren erlaubte.

Als Raistlin den Deckel der Truhe hob, studierte er gelassen ihren Inhalt – die nachtblauen Zauberbücher, die Gefäße und Flaschen und Beutel mit Zauberzutaten, seine eigenen schwarzgebundenen Zauberbücher, eine Sammlung von Schriftrollen und mehrere schwarze Roben, die ganz unten zusammengefaltet lagen. Er besaß keine magischen Ringe oder Anhänger, wie sie sich im Besitz geringerer Magier befinden würden. Diese verschmähte Raistlin als für Schwächlinge angemessen.

Sein Blick flog schnell über all diese Gegenstände einschließlich eines dünnen, verschlissenen Buches, das einen zufälligen Beobachter zum Staunen verleitet hätte. Der Titel, in auffälligen Buchstaben geschrieben, um das Interesse des Käufers zu erregen, lautete: »Taschenspielertechniken zum Überraschen und Erfreuen!«

Raistlin griff nach unten zwischen seine Roben und holte eine kleine Dose hervor. Auch diese Dose wurde von Runen beschützt, die auf ihrer Oberfläche eingeschnitzt waren. Magische Worte murmelnd, um ihre Wirkung aufzuheben, öffnete der Magier ehrfürchtig die Dose. Darin befand sich nur ein kleiner Gegenstand – ein verzierter, silberner Ständer. Sorgfältig nahm Raistlin den Ständer heraus, erhob sich und trug ihn zu dem Tisch, der mitten im Zelt stand.

Der Magier setzte sich auf einen Stuhl, griff in eine der vielen Geheimtaschen seiner Robe und holte einen kleinen Kristallgegenstand hervor. In Farben aufwirbelnd, glich er auf den ersten Blick einer Spielmurmel. Wenn man jedoch den Gegenstand näher betrachtete, erkannte man, daß die Farben lebendig waren. Sie bewegten und verschoben sich ständig, als ob sie zu entkommen versuchten.

Raistlin legte die Murmel auf den Ständer. Sie wirkte dort lächerlich, viel zu klein. Und dann plötzlich, wie immer, hatte sie die richtige Größe angenommen. Die Murmel hatte sich vergrößert, der Ständer war geschrumpft – vielleicht war Raistlin selbst geschrumpft, denn jetzt hatte der Magier das Gefühl, selbst lächerlich zu wirken.

Es war für ihn ein vertrautes Gefühl zu wissen, daß die Kugel der Drachen – denn das war diese schimmernde, farbenaufwirbelnde Kristallkugel – stets versuchte, ihren Anwender in Nachteil zu setzen. Aber vor langer Zeit – nein, in zukünftigen Zeiten – hatte Raistlin die Kugel der Drachen zu beherrschen gelernt. Er hatte gelernt, die Essenz der Drachen, die in ihr wohnte, zu kontrollieren.

Raistlin entspannte seinen Körper, schloß die Augen und gab sich seiner Magie hin. Er legte seine Finger auf das kalte Kristall der Kugel der Drachen und sprach die uralten Worte: »Ast bilak moiparalan/Suh akvlar tantangusar.«

Die Eiseskälte der Kugel begann sich über seine Finger auszubreiten und ließ seine Knochen schmerzen. Raistlin biß die Zähne zusammen und wiederholte die Worte.

Die wirbelnden Farben in der Kugel begannen wild zu kreisen. Raistlin starrte in den verwirrenden Strudel, bekämpfte den Schwindel, der ihn ergriff, und hielt standhaft seine Hände auf der Kugel. Langsam flüsterte er noch einmal die Worte.

Die Farben hörten mit ihren Wirbelbewegungen auf, und in der Mitte erglühte ein Licht. Raistlin blinzelte, runzelte dann die Stirn. Das Licht sollte weder schwarz noch weiß sein, sondern von allen Farben und doch von keiner, die Mischung des Guten und des Bösen und der Neutralität symbolisierend, mit der die Essenz der Drachen in der Kugel verbunden war. So war es auch immer der Fall gewesen, seitdem er zum ersten Mal in die Kugel geschaut und um ihre Kontrolle gerungen hatte.

Aber das Licht schien jetzt von dunklen Schatten durchzogen zu sein. Er untersuchte es eingehender, nüchtern, jegliche eingebildeten Phantasievorstellungen verbannend. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. Da waren Schatten, die an den Rändern schwebten, Schatten von... Flügeln!

Aus dem Licht traten zwei Hände hervor. Raistlin ergriff sie und keuchte.

Die Hände zerrten an ihm mit solcher Kraft, daß Raistlin, völlig unvorbereitet, fast die Beherrschung verlor. Erst als er spürte, daß er von den Händen in das mit Schatten überzogene Licht der Kugel hineingezogen wurde, brachte er seine ganze Willenskraft auf und riß die Hände wieder in seine Richtung.

»Was soll das bedeuten?« verlangte Raistlin streng zu erfahren. »Warum forderst du mich heraus? Vor langer Zeit bin ich dein Meister geworden.«

»Sie ruft... Sie ruft, und wir müssen gehorchen!«

»Wer ruft, wer ist wichtiger als ich?« fragte Raistlin mit einer höhnischen Grimasse, obwohl sein Blut plötzlich kälter war als die Kugel.

»Unsere Königin! Wir hören ihre Stimme, die sich in unsere Träume einschleicht, unseren Schlaf stört. Komm, Meister, wir nehmen dich mit! Komm, schnell!«

Die Königin! Raistlin erbebte unwillkürlich. Die Hände, die seine Schwäche spürten, begannen ihn wieder hineinzuziehen. Wütend stärkte Raistlin seinen Griff um sie und hielt inne, um seine Gedanken zu ordnen, die genauso wild wirbelten wie die Farben in der Kugel.

Die Königin! Natürlich, das hätte er voraussehen müssen. Sie hatte – teilweise – die Welt betreten und befand sich jetzt bei den bösen Drachen. Vor Urzeiten durch das Opfer des solamnischen Ritters Huma aus Krynn verbannt, hatten die guten und die bösen Drachen an geheimen Orten geschlafen.

Die guten Drachen ungestört weiterschlafen lassend, hatte die Dunkle Königin, Takhisis, der fünfköpfige Drache, die bösen Drachen geweckt, sie für ihre Sache, nämlich ihren Versuch, die Macht über die Welt zu erlangen, um sich geschart.

Die Kugel der Drachen, die sich zwar aus den Essenzen aller Drachen – der guten, bösen und neutralen – zusammensetzte, reagierte natürlich besonders intensiv auf die Befehle der Königin, zumal gegenwärtig ihre böse Seite vorherrschend war, verstärkt durch das Wesen ihres Meisters.

Sind diese Schatten, die ich sehe, die Flügel der Drachen oder die Schatten meiner eigenen Seele? fragte sich Raistlin, während er in die Kugel starrte.

Jedoch blieb ihm keine Zeit zum Grübeln. Die Gedanken schossen so schnell durch seinen Kopf, daß er nach einem Atemzug die Gefahr erkannte. Wenn er nur eine Sekunde die Kontrolle verlieren würde, hätte Takhisis ihn erobert.

»Nein, meine Königin«, murmelte er und behielt den festen Griff um die Hände in der Kugel bei. »Nein, das wird für dich nicht so einfach sein.« Zu der Kugel sprach er leise, aber bestimmt: »Ich bin immer noch dein Meister. Ich bin derjenige, der dich von Silvanesti und Lorac, dem verrückten Elfenkönig, befreit hat. Ich bin derjenige, der dich sicher vom Blutmeer von Istar weggetragen hat. Ich bin Rai...« Er zögerte, schluckte den bitteren Geschmack in seinem Mund hinunter und sagte mit zusammengepreßten Zähnen: »Ich bin... Fistandantilus, Herr über Vergangenheit und Gegenwart, und ich befehle dir, mir zu gehorchen!«

Das Licht der Kugel trübte sich. Raistlin spürte, wie die Hände zitterten und im Begriff waren wegzugleiten. Zorn und Angst wallten in ihm hoch, aber er unterdrückte diese Gefühle und hielt weiterhin die Hände fest. Das Zittern hörte auf, die Hände entspannten sich.

»Wir gehorchen, Meister.«

Raistlin wagte einen Seufzer der Erleichterung auszustoßen. »Sehr gut«, sagte er, hielt aber seine Stimme weiterhin streng wie ein Vater zu einem bestraften Kind. Kalt fuhr er fort: »Ich muß mit meinem Lehrling im Turm der Erzmagier in Palanthas Kontakt aufnehmen. Befolge meinen Befehl. Trage meine Stimme durch den Äther der Zeit. Trage meine Worte zu Dalamar.«

»Sprich die Worte, Meister. Er wird sie hören, so wie er seinen Herzschlag hört, und so wirst du auch seine Antwort hören.«

Raistlin nickte.

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