12

Seit Jahrhunderten hatte niemand seinen Fuß in die magische Festung Zaman gesetzt. Die Zwerge betrachteten sie aus verschiedenen Gründen mit Argwohn. Erstens hatte sie Zauberern gehört. Zweitens war sie weder von Zwergen geschaffen noch überhaupt natürlichen Ursprungs. Die Festung war, so hieß es in der Legende, mit Magie aus dem Boden emporgehoben worden, und es war Magie, die sie zusammenhielt.

»Muß wirklich Magie sein«, sagte Regar zu Caramon, während er den hohen, schmalen Türmen der Festung einen scharfen Blick zuwarf. »Sonst wäre sie nämlich schon vor langer Zeit umgestürzt.«

Die Hügelzwerge, die sich weigerten, die Festung zu betreten, hatten draußen in der Ebene ein Lager aufgeschlagen. Die Barbaren ebenfalls, aber das lag nicht daran, daß sie das magische Gebäude fürchteten, sondern daran, daß sie sich in jedem Gebäude unbehaglich fühlten.

Die Menschen, über diesen Aberglauben spottend, betraten die uralte Festung und lachten lauthals über Geister und Gespenster. Sie blieben eine Nacht. Am nächsten Morgen errichteten sie ihr Lager im Freien und murmelten etwas von frischer Luft und einem besseren Schlaf unter den Sternen.

»Was war hier früher?« fragte Caramon seinen Bruder nervös, als sie durch die Festung gingen. »Du hast gesagt, es sei hier kein Turm der Erzmagier, aber offensichtlich haben Zauberer sie gebaut. Und es gibt mir ein seltsames Gefühl. Nicht unheimlich wie in den Türmen. Aber ein Gefühl der...« Er brach ab.

»Der Gewalt«, murmelte Raistlin, »der Gewalt und des Todes, mein Bruder. Denn dies war ein Ort des Experimentierens. Die Magier bauten diese Festung weit entfernt von zivilisierten Ländern, weil sie wußten, daß die Magie, die sie anwendeten, leicht ihrer Kontrolle entgleiten konnte. Und so geschah es häufig. Aber hier entstanden auch großartige Dinge – Magie, die der Welt weiterhalf.«

»Warum wurde die Festung aufgegeben?« fragte Crysania und zog sich ihren wärmenden Pelzumhang enger um die Schultern. Die Luft, die durch die engen Steinkorridore strömte, war eisig.

Raistlin schwieg lange Zeit. Langsam wanderten sie durch die verzweigten Korridore. Crysanias weiche Lederstiefel gaben keine Geräusche von sich, während Caramons schwere Stiefel durch die leeren Kammern hallten und der Stab des Magus, auf den sich Raistlin stützte, auf den Boden aufschlug.

»Obgleich es immer die drei Roben – die guten, die neutralen und die bösen – unter den Zauberkundigen gab, haben wir unglücklicherweise nicht immer das Gleichgewicht bewahrt«, erklärte Raistlin. »Als sich die Bevölkerung gegen uns wandte, zogen sich die Weißen Roben in ihre Türme zurück und traten für den Frieden ein. Die Schwarzen Roben versuchten anfangs zurückzuschlagen. Sie übernahmen diese Festung und experimentierten mit dem Ziel, Soldaten zu erschaffen.« Er hielt inne. »Experimente, die damals nicht erfolgreich verliefen, aber zur Erschaffung der Drakonier in unserer eigenen Zeit führten. Aufgrund ihres Versagens sahen die Schwarzen Roben die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation ein. Sie verließen Zaman und beteiligten sich mit ihren Kollegen an der sogenannten Verlorenen Schlacht, wie sie später bezeichnet wurde.«

»Du scheinst dich hier auszukeimen«, bemerkte Caramon.

Raistlin warf seinem Bruder einen scharfen Blick zu. »Verstehst du immer noch nicht?« fragte er barsch und blieb in einem zugigen, düsteren Korridor stehen. »Ich bin niemals hier gewesen, aber dennoch bin ich durch diese Gänge gelaufen. In dem Raum, in dem ich schlafen werde, habe ich schon viele Nächte zuvor geschlafen, aber trotzdem habe ich in dieser Festung niemals eine Nacht verbracht. Ich bin ein Fremder hier, aber dennoch kenne ich jedes einzelne Zimmer, von den Meditationsräumen und Arbeitszimmern ganz oben bis zu den Speisesälen im ersten Stock.«

Caramon war ebenfalls stehengeblieben. Sein Blick begegnete dem seines Bruders. »Dann, Fistandantilus«, sagte er mit schwerer Stimme, »weißt du auch, daß dies hier dein Grab werden wird.«

Kurz gewahrte Caramon einen winzigen Spalt in Raistlins gläsernen Augen; es war in ihnen kein Zorn, sondern Belustigung und Triumph. Dann waren sie wieder glänzende Spiegel, in denen sich Caramon in schwachem, winterlichem Sonnenlicht stehen sah.

Crysania trat zu Raistlin. Sie legte die Hände auf seinen Arm und musterte Caramon mit kalten grauen Augen. »Die Götter sind mit uns«, sagte sie. »Sie waren nicht mit Fistandantilus. Dein Bruder ist stark in seiner Kunst, ich bin stark in meinem Glauben. Wir werden nicht versagen!«

Raistlin lächelte. »Ja«, flüsterte er, und in seinen Worten lag ein leichtes Zischen, »die Götter sind mit uns!«

Im ersten Stock der magischen Festung Zaman befanden sich große, steingemeißelte Hallen, die in vergangenen Zeiten Orte der Zusammenkünfte und der Festlichkeiten gewesen waren. Dort lagen auch Räume, die einst mit Büchern gefüllt und für ein ruhiges Studium und Meditationen gedacht waren. Am hinteren Ende waren Küchen und Lagerräume, seit langem unbenutzt und mit dem Staub der Jahre bedeckt.

In den oberen Stockwerken befanden sich große, mit altmodischen Möbeln eingerichtete Schlafzimmer. Die Betten waren mit Leinen bezogen, die sich durch die trockene Wüstenluft gut erhalten hatten. Caramon, Crysania und die Offiziere von Caramons Stab schliefen in diesen Räumen. Wenn sie nicht gut schliefen, wenn sie zuweilen mitten in der Nacht aufwachten und dachten, Stimmen gehört oder geisterhafte Gestalten gesehen zu haben, erwähnte das niemand bei Tageslicht. Nach einigen Nächten waren diese Vorkommnisse ohnehin vergessen, verdrängt von größeren Sorgen wegen des Nachschubs und der Kämpfe, die zwischen Menschen und Zwergen ausbrachen, von Berichten von Spionen, daß die Zwerge von Thorbadin sich zu einer riesigen Streitmacht sammelten.

In Zaman befand sich, ebenfalls im ersten Stock, ein Korridor, der wie ein Versehen wirkte. Jeder, der sich hierhin wagte, fand heraus, daß er von einem kurzen Gang abging und dann in einer Wand endete.

Aber der Korridor war kein Versehen. Wenn sich die richtigen Hände auf die Wand legten, wenn die richtigen Worte gesprochen wurden, wenn die richtigen Runen in der Wand nachgezeichnet wurden, dann erschien eine Tür, die zu einer großen Treppe führte.

Diese Treppe hinunter, immer tiefer und tiefer hinunter in die Dunkelheit, hinunter – so schien es – in das Herz der Welt selbst, konnte die richtige Person steigen. Hinunter in die Verliese von Zaman...

»Noch einmal.« Die Stimme war sanft, geduldig, und sie bewegte sich vor Tolpan wie eine Schlange. Sich um ihn windend, grub sie ihre gekrümmten Zähne in sein Fleisch.

»Wir werden es noch einmal erörtern. Erzähl mir von der Hölle«, sagte die Stimme. »Sag mir alles, woran du dich erinnern kannst. Wie du eingetreten bist. Wie die Landschaft aussah. Wen und was du gesehen hast. Die Königin selbst, wie sie ausgesehen hat, ihre Worte...«

»Ich versuche es doch, Raistlin, wirklich!« wimmerte Tolpan. »Aber... wir haben es in den vergangenen Tagen immer wieder durchgesprochen. Ich kann an nichts anderes mehr denken! Und mein Kopf ist so heiß, und meine Füße und meine Hände sind kalt, und das Zimmer dreht sich im Kreis. Wenn... wenn du das Zimmer aufhalten kannst, daß es sich nicht mehr dreht, Raistlin, könnte ich mich erinnern...«

Als Tolpan Raistlins Hand auf seiner Brust spürte, fiel er auf das Bett zurück. »Nein!« stöhnte er. »Ich werde es schaffen, Raistlin! Ich werde mich erinnern. Verletz mich nicht wie den armen Gnimsch!«

»Bleib still liegen«, befahl Raistlin. Dann hob er Tolpan an den Armen hoch und starrte in die Augen des Kenders. Schließlich ließ er Tolpan auf sein Bett zurücksinken und erhob sich, einen bitteren Fluch murmelnd.

Auf einem schweißdurchnäßten Kissen liegend, sah Tolpan die schwarzgekleidete Gestalt kurz über sich schweben, dann wandte sie sich mit einem Rascheln um und ging aus dem Zimmer. Tolpan versuchte den Kopf zu heben, um zu sehen, wohin Raistlin ging, aber die Anstrengung war zu groß. Er fiel schlaff zurück.

Warum bin ich so schwach? fragte er sich. Was ist los? Ich will schlafen. Vielleicht habe ich dann keine Schmerzen mehr. Er schloß die Augen, Nein, ich darf nicht schlafen, dachte er ängstlich. Da lauern Dinge in der Dunkelheit, entsetzliche Dinge, die nur darauf warten, daß ich einschlafe! Ich habe sie gesehen, sie sind da draußen! Sie werden hervorspringen und...

Wie aus der Ferne hörte er Raistlins Stimme. Als Tolpan sich umwandte, sah er die schwarzgekleidete Gestalt im Gespräch mit einer untersetzten, dunklen Gestalt. Und sie diskutierten wirklich über ihn. Er versuchte zu lauschen, aber seine Gedanken trieben seltsame Dinge – sie wanderten fort, um irgendwo zu spielen, ohne seinen Körper mitzunehmen. Darum war Tolpan sich nicht sicher, ob er hörte, was er hörte, oder ob er träumte.

»Gib ihm mehr von dem Heiltrunk. Das sollte ihn ruhig halten«, sagte Raistlins Stimme zu der kleinen dunklen Gestalt. »Die Chance ist zwar gering, daß ihn jemand hier unten hört, aber ich will kein Risiko eingehen.«

Die kleine dunkle Gestalt antwortete etwas. Tolpan schloß die Augen und ließ das kühle Wasser eines blauen Sees über seine glühende Haut fließen. Vielleicht hatte sein Geist inzwischen beschlossen, seinen Körper doch noch mitzunehmen.

»Wenn ich gegangen bin«, ertönte Raistlins Stimme aus dem Wasser hervor, »verschließ die Tür hinter mir und lösche das Licht aus. Mein Bruder ist in letzter Zeit sehr argwöhnisch.

Sollte er die magische Tür entdecken, wird er zweifellos hier herunterkommen. Er darf nichts finden. Alle diese Zellen müssen leer erscheinen.«

Die Gestalt murmelte etwas, und die Tür quietschte in ihren Angern.

Das Wasser des Sees begann plötzlich um Tolpan zu kochen. Tentakel schlängelten sich plötzlich hervor, ergriffen ihn. »Raistlin!« bettelte er. »Laß mich nicht allein. Hilf mir!«

Aber die Tür schlug zu. Die kleine dunkle Gestalt schlurfte an Tolpans Seite. Tolpan starrte sie in traumähnlichem Entsetzen an und erkannte, daß es ein Zwerg war.

»Flint?« murmelte er. »Nein! Arak!« Er versuchte zu laufen, aber die Wassertentakel griffen nach seinen Füßen. »Raistlin!« schrie er und versuchte fortzukriechen. Aber seine Füße machten nicht mit. Etwas ergriff ihn! Die Tentakel! Tolpan kreischte vor Panik.

»Halt den Mund, du Bastard. Trink das.« Die Tentakel ergriffen ihn am Haarzopf und hielten eine Tasse an seine Lippen. »Trink das, oder ich reiße dir die Haare mit den Wurzeln aus!«

Verstört nahm Tolpan einen Schluck. Die Flüssigkeit war bitter, aber kühl und lindernd. Er war durstig, so durstig! Schluchzend nahm er dem Zwerg die Tasse weg und schluckte den Inhalt hinunter. Dann legte er sich auf sein Kissen zurück. Innerhalb von Sekunden glitten die Tentakel fort, der Schmerz in seinen Gliedern ging zurück, und das klare, süße Wasser des Sees schloß sich über seinem Kopf.

Crysania erwachte aus einem Traum mit dem entschiedenen Eindruck, daß jemand ihren Namen gerufen hatte. Obwohl sie sich nicht erinnerte, das Wort gehört zu haben, war das Gefühl so stark, daß sie sofort hellwach war und sich im Bett aufrichtete, bevor ihr eigentlich bewußt war, was sie geweckt hatte.

War es ein Teil ihres Traumes gewesen? Nein. Der Eindruck blieb und verstärkte sich.

Jemand war in ihrem Zimmer! Sie sah sich schnell um. Solinaris Licht, das durch ein kleines Fenster am anderen Ende des Zimmers schien, tat wenig, um es zu beleuchten. Crysania öffnete den Mund, um die Wache zu rufen, aber sie spürte eine Hand auf ihren Lippen.

Dann materialisierte sich Raistlin aus der dunklen Nacht und setzte sich an ihr Bett. »Verzeih mir, daß ich dich geängstigt habe, Verehrte Tochter«, sagte er flüsternd. »Ich brauche deine Hilfe, und ich wollte nicht die Aufmerksamkeit der Wachen erregen.«

Langsam entfernte er seine Hand.

»Ich war nicht verängstigt«, protestierte Crysania. Er lächelte, und sie errötete. Er war so nah bei ihr, daß er ihr Zittern spüren konnte. »Du hast mich... nur erschreckt, das ist alles. Ich habe geträumt. Du schienst ein Teil des Traumes zu sein.«

»Natürlich«, erwiderte Raistlin gelassen. »Das Portal ist hier, und folglich sind wir den Göttern sehr nahe.«

Es ist nicht die Nähe der Götter, die mich zittern läßt, dachte Crysania mit einem Seufzer, als sie die glühende Wärme des Körpers neben sich spürte, seine geheimnisvollen, berauschenden Düfte roch. Wütend bewegte sie sich von ihm fort, unterdrückte ihre Wünsche und Sehnsüchte. Er steht über solchen Dingen. Sollte sie zeigen, daß sie schwächer war? Sie fuhr fort: »Du hast gesagt, du brauchtest meine Hufe. Warum?« Plötzlich wurde sie von Angst gepackt. Sie ergriff seine Hand. »Dir geht es gut, oder nicht? Deine Wunde...«

Ein schmerzlicher Krampf verzerrte Raistlins Gesicht, dann wurde sein Ausdruck hart und bitter. »Nein, mir geht es gut«, sagte er kurz.

»Dank Paladin«, sagte Crysania lächelnd und ließ ihre Hand in seiner verweilen.

Raistlins Augen verengten sich. »Der Gott erhält von mir keinen Dank!« murmelte er.

Crysania erbebte. Sie versuchte ihre Hand aus seiner zu ziehen, aber Raistlin, durch ihre Bewegung aus seinem Tagtraum herausgeholt, wandte ihr sein Gesicht zu.

»Verzeih mir, Verehrte Tochter«, sagte er und ließ sie los. »Der Schmerz war unerträglich. Ich betete um den Tod. Er wurde mir versagt.«

»Du kennst den Grund«, erwiderte Crysania; ihre Angst verlor sich in ihrem Mitgefühl. Sie ließ ihre Hand auf die Decke neben seine zitternde Hand fallen, berührte sie aber nicht.

»Ja, und ich akzeptiere es. Dennoch kann ich ihm nicht verzeihen. Aber das ist eine Angelegenheit zwischen deinem Gott und mir«, sagte Raistlin tadelnd.

Crysania biß sich auf die Lippen. »Ich akzeptiere meine Zurechtweisung. Sie war verdient.« Sie schwieg einen Augenblick. Auch Raistlin war nicht zum Sprechen geneigt; die Linien in seinem Gesicht vertieften sich.

»Du hast Caramon gesagt, daß die Götter mit uns seien. Dann hast du also mit meinem Gott geredet... mit Paladin?« wagte Crysania zu fragen.

»Natürlich.« Raistlin lächelte sein verzerrtes Lächeln. »Überrascht dich das?«

Crysania seufzte. Sie ließ den Kopf sinken. Das schwache Mondlicht ließ ihr schwarzes Haar in einem sanften blauen Glanz, ihre Haut in reinstem Weiß erstrahlen. Ihr Duft erfüllte den Raum, erfüllte die Nacht. Sie spürte eine Berührung an ihrem Haar. Als sie den Kopf hob, sah sie Raistlins Augen vor Leidenschaft brennen. Sie hielt den Atem an, aber in diesem Augenblick erhob sich Raistlin.

Crysania seufzte. »Du hast also mit beiden Göttern geredet?« fragte sie sehnsüchtig.

»Ich habe mit allen dreien geredet«, erwiderte Raistlin.

»Drei?« fragte sie verblüfft. »Gilean?«

»Wer ist denn Astinus, wenn nicht Gileans Sprachrohr?« fragte Raistlin verächtlich. »Falls er nicht Gilean persönlich ist, wie einige spekulieren. Aber dies ist sicherlich nichts Neues für dich...«

»Ich habe niemals mit der Dunklen Königin geredet«, sagte Crysania.

»Wirklich?« fragte Raistlin mit einem durchdringenden Blick. »Weiß sie nichts von deinen Herzenswünschen? Hat sie dir nichts angeboten?«

Als Crysania in seine Augen sah, seine Nähe spürte und von Sehnsucht überflutet wurde, konnte sie nicht antworten. Sie schüttelte den Kopf. »Wenn sie das hat«, antwortete sie fast unhörbar, »hat sie nur mit einer Hand etwas angeboten und es mir mit der anderen versagt.«

»Ich bin nicht hierher gekommen, um theologische Fragen zu erörtern«, sagte Raistlin. »Ich habe andere, unmittelbarere Sorgen.«

»Natürlich.« Crysania errötete und strich ihr wirres Haar aus dem Gesicht. »Ich entschuldige mich. Du brauchtest mich, hast du gesagt...«

»Tolpan ist hier.«

»Tolpan?« wiederholte Crysania in blanker Verblüffung.

»Ja, und er ist sehr krank. In der Tat liegt er im Sterben. Ich brauche deine Heilkräfte.«

»Aber ich verstehe nicht. Wie ist er hierhergekommen?« stammelte Crysania verwirrt. »Du hast gesagt, er sei in unsere eigene Zeit zurückgekehrt.«

»Das habe ich auch geglaubt«, gab Raistlin ernst zurück. »Aber offensichtlich habe ich mich geirrt. Das magische Gerät brachte ihn hierher. Er ist auf Kendermanier durch die Welt gezogen, hat sich nur vergnügt. Schließlich hörte er von dem Krieg und kam hier an, um am Abenteuer teilzunehmen. Unglücklicherweise hat er sich bei seinen Wanderungen mit der Pest angesteckt.«

»Das ist ja schrecklich! Natürlich komme ich.« Sie griff nach ihrem Fellumhang am Ende des Bettes, hüllte ihn sich um die Schultern und bemerkte gleichzeitig, daß sich Raistlin von ihr abgewandt hatte.

»Ich bin fertig«, sagte Crysania, während sie ihren Umhang befestigte. Raistlin drehte sich um und hielt ihr seine Hand entgegen. Crysania sah ihn verwirrt an.

»Wir müssen auf den Wegen der Nacht reisen«, sagte er ruhig. »Wie ich dir bereits sagte, will ich nicht die Wachen alarmieren.«

»Aber warum nicht?« fragte sie.

»Was soll ich meinem Bruder sagen? Verstehst du mein Dilemma?« fragte Raistlin, während er sie aufmerksam musterte. »Wenn ich es ihm sage, wird er sich Sorgen machen, in einer Zeit, in der er zusätzliche Bürden nicht auf sich nehmen kann. Tolpan hat das magische Gerät zerbrochen. Auch darüber wird sich Caramon aufregen, selbst wenn er weiß, daß ich beabsichtige, ihn nach Hause zu schicken. Aber trotzdem – ich sollte ihm sagen, daß der Kender hier ist.«

»Caramon hat in den vergangenen Tagen unglücklich ausgesehen«, sagte Crysania nachdenklich.

»Der Krieg läuft nicht gut«, informierte Raistlin sie schonungslos. »Die Armee zerfällt. Die Barbaren reden tagtäglich davon zu verschwinden. Sie sind vielleicht sogar schon aufgebrochen. Die Zwerge unter Feuerschmied sind ein unzuverlässiges Volk; sie bedrängen Caramon zuzuschlagen, noch bevor er bereit ist. Die Nachschubwagen sind verschwunden, niemand weiß, was aus ihnen geworden ist. Seine eigene Truppe ist unruhig, aufgebracht. Und der Gipfel wäre es, einen Kender zu haben, der umherstreift, ziellos plappert, ihn ablenkt...« Er seufzte. »Dennoch kann ich Caramon diese Information nicht vorenthalten.«

Crysanias Lippen zogen sich zusammen. »Ich halte es nicht für klug, ihn zu informieren.« Als sie Raistlins zweifelnden Blick sah, fuhr sie fort: »Caramon kann nichts tun. Wenn der Kender wirklich krank ist, wie du vermutest, kann ich ihn heilen, aber er wird noch einige Tage geschwächt sein. Er wäre nur eine zusätzliche Bürde für deinen Bruder. Caramon plant, in einigen Tagen zu marschieren. Wir werden uns um den Kender kümmern, und wenn er sich völlig erholt hat, kann er zu seinem Freund, wenn das sein Wunsch ist.«

Der Erzmagier seufzte wieder, widerstrebend und zweifelnd. Dann zuckte er die Schultern. »Nun gut, Verehrte Tochter«, sagte er. »Ich werde mich in dieser Hinsicht von dir leiten lassen. Deine Worte sind klug. Wir werden Caramon nicht erzählen, daß der Kender zurückgekehrt ist.«

Er trat zu ihr, und Crysania, die aufsah, erhaschte ein seltsames Lächeln auf seinem Gesicht. Er legte den Arm um sie und hielt sie fest.

Sie schloß die Augen. Eingehüllt in seine Wärme, lauschte sie seinem pochenden Herzschlag...

»Du hältst ihn hier? In den Verliesen?« fragte Crysania, in der eisigen, feuchten Luft zitternd.

»Shirak.« Raistlin ließ den Kristall am Stab des Magus erglühen. »Er liegt dort drüben«, sagte er.

Ein primitives Bett stand an einer Wand. Crysania eilte hin. Als sie neben dem Kender kniete und ihre Hand auf seine fiebernde Stirn legte, schrie Tolpan auf. Seine Augen öffneten sich, aber er starrte sie an, ohne sie zu sehen.

Raistlin, der ihr gefolgt war, deutete auf den Dunkelzwerg, der in einer Ecke hockte. »Laß uns allein«, wies er ihn an, dann trat er an das Bett. Hinter sich hörte er die Zellentür zuschlagen.

»Wie kannst du ihn in dieser Dunkelheit eingesperrt halten?« herrschte Crysania ihn an.

»Hast du jemals zuvor Pestopfer behandelt, Crysania?« fragte Raistlin. Bitter lächelnd beantwortete er seine eigene Frage. »Nein, natürlich nicht. Die Pest ist ja niemals nach Palanthas gekommen. Sie hat niemals diese wunderschöne, reiche Stadt heimgesucht...« Er gab sich keine Mühe, seinen Abscheu zu verbergen. »Nun, sie ist zu uns gekommen«, fuhr Raistlin fort. »Die ärmeren Viertel von Haven wurden heimgesucht. Natürlich gab es keine Heiler. Selbst die Verwandten flohen vor ihnen. Ich tat, was ich konnte. Wenn ich sie nicht heilen konnte, habe ich zumindest ihren Schmerz gelindert. Mein Meister mißbilligte das.« Raistlin sprach mit gedämpfter Stimme, und Crysania erkannte, daß er ihre Gegenwart vergessen hatte. »Auch Caramon – er fürchtet um meine Gesundheit, sagte er. Pah!« Raistlin lachte ohne Heiterkeit. »Er fürchtete um sich selbst. Der Gedanke an Pest ängstigt ihn mehr als eine Goblinarmee. Aber wie hätte ich ihnen den Rücken zuwenden können? Sie hatten niemand, sie waren allein im Sterben.«

Ein verängstigtes Kreischen des Kenders unterbrach ihn. Tolpan starrte ihn verstört an. »Bitte, Raistlin! Bring mich nicht zur Dunklen Königin zurück...«

»Still, Tolpan«, sagte Crysania leise. »Beruhige dich. Ich bin Crysania. Du kennst mich doch! Ich werde dir helfen.«

Tolpan richtete seine weit aufgerissenen, fiebrigen Augen auf die Klerikerin und musterte sie einen Augenblick verständnislos. Dann klammerte er sich mit einem Schluchzen an sie. »Laß nicht zu, daß er mich zurück in die Hölle bringt, Crysania! Laß nicht zu, daß er dich mitnimmt! Es ist entsetzlich. Wir werden alle sterben, wie der arme Gnimsch. Die Dunkle Königin hat es mir gesagt!«

»Er phantasiert«, murmelte Crysania und versuchte, sich von Tolpans klammernden Händen zu lösen und ihn wieder hinzulegen. »Welch seltsame Wahnideen! Ist das normal bei Pestopfern?«

»Ja«, erwiderte Raistlin. Er musterte Tolpan aufmerksam und kniete sich dann an seine Seite. »Manchmal ist es am besten, sie aufzumuntern. Es beruhigt ihn vielleicht. Tolpan...« Er legte seine Hand auf die Brust des Kenders.

Tolpan brach auf dem Bett zusammen. Er schrak vor dem Magier zurück, erbebte und starrte ihn entsetzt an. »Ich werde gut sein, Raistlin«, wimmerte er. »Verletz mich nicht, nicht wie den armen Gnimsch. Blitz, Blitz!«

»Tolpan«, sagte Raistlin mit fester Stimme.

In ihr lag ein Hauch von Zorn und Verärgerung, der Crysania veranlaßte, ihn tadelnd anzusehen. Aber als sie lediglich den Ausdruck kühler Sorge auf seinem Gesicht sah, glaubte sie sich verhört zu haben. Sie schloß die Augen, berührte das Medaillon von Paladin und begann ein Heilgebet zu murmeln.

»Ich werde dich nicht verletzen, Tolpan. Lieg still.« Als Raistlin sah, daß Crysania ins Gebet vertieft war, zischte er: »Sag es mir, Tolpan. Sag mir, was die Dunkle Königin gesagt hat.«

Das Gesicht des Kenders verlor seine leuchtende, fiebrige Röte, als Crysanias gemurmelte Worte über ihn strömten, süßer und kühler als das Wasser seiner Fieberphantasien. Das weichende Fieber ließ Tolpans Gesicht aschgrau zurück.

»Sie sagte mir... bevor wir aufbrachen...« Tolpan würgte.

»Aufbrachen?« Raistlin beugte sich vor. »Ich dachte, du sagtest, ihr seid entkommen!«

Tolpan erbleichte und leckte seine trockenen, aufgesprungenen Lippen. Er versuchte, sich von dem Blick des Magiers zu lösen, aber Raistlins Augen, die im Licht des Stabes glitzerten, hielten den Kender fest. Tolpan schluckte. Seine Kehle schmerzte. »Wasser«, flehte er.

»Wenn du es mir gesagt hast!« fauchte Raistlin mit einem Seitenblick auf Crysania, die immer noch niederkniete, ihren Kopf in den Händen hielt und zu Paladin betete.

Tolpan schluckte schmerzhaft. »Ich... ich dachte, wir würden... entkommen. Wir benutzten... das Gerät und begannen... zu steigen. Ich sah... die Hölle, die Ebene, flach, leer, unter meinen Füßen. Und sie war überhaupt nicht leer! Da... da waren Schatten und...« Er warf den Kopf zur Seite und stöhnte. »O Raistlin, laß mich nicht daran denken! Laß mich nicht dorthin zurückkehren!«

»Pst!« flüsterte Raistlin und legte die Hand auf Tolpans Mund.

Als Crysania Tolpans verängstigtes und blasses Gesicht sah, runzelte sie die Stirn und schüttelte den Kopf. »Es geht ihm besser«, sagte sie. »Er wird nicht sterben. Aber dunkle Schatten schweben um ihn, halten Paladins heilendes Licht von ihm ab. Es sind die Schatten dieser Fieberphantasien. Kannst du damit etwas anfangen?« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. »Was es auch ist, es scheint für ihn sehr real zu sein. Es muß etwas Fürchterliches sein, wenn es einen Kender dermaßen aus der Fassung bringt.«

»Vielleicht fühlt er sich freier, mir davon zu erzählen, wenn du nicht dabei bist«, schlug Raistlin vor. »Wir sind alte Freunde.«

»Das stimmt.« Crysania lächelte und wollte aufstehen. Zu ihrer Verwunderung ergriff Tolpan ihre Hände.

»Laß mich nicht mit ihm allein!« keuchte er. »Er hat Gnimsch getötet! Armer Gnimsch, ich habe ihn sterben sehen!« Er begann zu weinen. »Brennende Blitze...«

»Nun, nun, Tolpan«, sagte Crysania mit sanfter, aber entschlossener Stimme und zwang den Kender, sich zurückzulegen. »Niemand wird dich verletzen. Wer diesen Gnimsch auch getötet hat, er wird dir jetzt nicht schaden. Du bist mit Freunden zusammen. Nicht wahr, Raistlin?«

»Meine Magie ist mächtig«, sagte Raistlin. »Vergiß das nicht, Tolpan. Vergiß nicht die Macht meiner Magie.«

»Ja, Raistlin«, erwiderte Tolpan. Er lag ganz still da, wie festgenagelt von dem starren Blick des Magiers.

»Ich glaube, es wäre klug, wenn du hier bleibst, um mit ihm zu reden«, sagte Crysania gedämpft. »Diese finsteren Ängste werden ihn heimsuchen und den Heilprozeß beeinträchtigen. Ich werde in mein Zimmer zurückkehren.«

»Wir werden also Caramon nichts sagen?« Raistlin sah Crysania aus dem Augenwinkel an.

»Nein«, antwortete Crysania bestimmt. »Das würde ihn nur unnötig beunruhigen.« Sie blickte wieder ihren Patienten an. »Ich werde morgen zurückkommen, Tolpan. Sprich mit Raistlin. Erleichtere deine Seele. Dann schlaf.« Sie legte ihre kühle Hand auf Tolpans schweißnasse Stirn, dann fügte sie hinzu: »Möge Paladin bei dir sein.«

»Caramon?« fragte Tolpan hoffnungsvoll. »Ist er hier?«

»Ja, und wenn du geschlafen und gegessen und dich ausgeruht hast, werde ich dich zu ihm bringen.«

»Kann ich ihn nicht jetzt sehen?« schrie Tolpan aufgeregt, dann warf er einen ängstlichen Seitenblick auf Raistlin. »Falls... falls das nicht zu viel Aufwand ist, meine ich...«

»Er ist sehr beschäftigt«, unterbrach ihn Raistlin kühl. »Er ist jetzt ein General, Tolpan. Er hat Armeen zu befehligen, einen Krieg zu fuhren. Er hat keine Zeit für Kender.«

»Nein, vermutlich nicht«, sagte Tolpan mit einem Seufzer und legte sich auf sein Kissen zurück.

Crysania erhob sich. Das Medaillon von Paladin in der Hand haltend, flüsterte sie ein Gebet und war auf einmal verschwunden, von der Nacht verschluckt.

»Und jetzt, Tolpan«, sagte Raistlin mit sanfter Stimme, die Tolpan erzittern ließ, »sind wir allein.«

Er zog die Decken über den Körper des Kenders und richtete das Kissen unter seinem Kopf. »Nun, liegst du bequem?«

Tolpan konnte nicht antworten. Er konnte den Erzmagier nur mit wachsendem Entsetzen anstarren.

Raistlin setzte sich zu ihm. Er legte eine schlanke Hand auf Tolpans Stirn, streichelte sie und strich sein feuchtes Haar zurück. »Erinnerst du dich an Dalamar, meinen Lehrling?« fragte er. »Du hast ihn, glaube ich, im Turm der Erzmagier gesehen. Erinnerst du dich, daß Dalamar irgendwann seine schwarzen Roben aufriß und fünf Wunden auf seiner Brust entblößte? Ja, ich sehe, du erinnerst dich. Das war seine Bestrafung, Tolpan. Die Bestrafung, weil er gewisse Dinge vor mir geheimgehalten hat.« Seine Finger hörten auf, den Kender zu kraulen, und blieben auf einer Stelle liegen.

Tolpan zitterte. »Ich... ich erinnere mich, Raistlin.«

»Ich kann mit einer Berührung dein Fleisch verbrennen«, fuhr Raistlin fort, »so wie ich Butter mit einem heißen Messer schmelzen lassen kann. Kender lieben doch interessante Erfahrungen, nicht wahr?«

»Nein, lieber nicht«, flüsterte Tolpan. »Ich sage es dir, Raistlin! Ich sage dir alles, was geschehen ist.« Er schloß kurz die Augen, dann begann er zu sprechen. »Wir... wir schienen nicht von der Hölle aufzusteigen, sondern eher... eher schien die Hölle unter uns davonzustürzen. Und dann konnte ich Schatten sehen und dachte... Ich dachte, es wären Täler und Berge...«

Er schlug die Augen auf und starrte den Magier ehrfürchtig an. »Das war es nicht! Diese Schatten waren ihre Augen, Raistlin! Und die Hügel und Täler waren ihre Nase und ihr Mund. Wir stiegen aus ihrem Gesicht hervor. Sie sah mich mit Augen an, die hell waren und feurig glänzten, und sie öffnete den Mund, und ich... ich dachte, sie wolle uns verschlingen! Aber wir stiegen nur höher und höher, und sie stürzte unter uns davon, und dann sah sie zu mir auf, und sie sagte... sie sagte...«

»Was hat sie gesagt?« drängte Raistlin. »Die Botschaft war für mich! Darum hat sie dich geschickt! Was hat die Königin gesagt?«

Tolpans Stimme wurde leise. »Sie sagte: ›Komm nach Hause...‹«

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