9

Kharas’ Konzentration war völlig auf den Mann gerichtet, den er zu töten geschworen hatte. Mit der Zielstrebigkeit militärischen Denkens handelnd, schenkte er also dem verblüffenden Auftauchen der zwei sonderbaren Erscheinungen keine Aufmerksamkeit; er dachte vielleicht kurz, daß sie lediglich von dem Erzmagier herbeigerufen wären.

Kharas sah gleichzeitig die glitzernden Augen des Zauberers ausdruckslos werden. Er sah Raistlins Mund – geöffnet, um die tödlichen Worte auszusprechen – schlaff werden und wußte, daß sein Feind ihm zumindest wenige Sekunden ausgeliefert war. Er sprang nach vorn, stieß sein Kurzschwert durch die schwarzen, fließenden Roben und erhielt das befriedigende Gefühl, getroffen zu haben. Dem verwundeten Magier immer näher rückend, trieb er die Klinge tiefer und tiefer in dessen schlanken Körper. Die seltsame, glühende Hitze des Mannes hüllte ihn wie ein flammendes Inferno ein. Ein Haß und ein Zorn, so intensiv, daß sie Kharas wie ein körperlicher Schlag trafen, ließen ihn nach hinten auf den Boden stürzen.

Aber der Zauberer war verwundet – tödlich. So viel wußte Kharas.

Er starrte hoch und blickte in jene brennenden, haßerfüllten Augen. Er sah sie vor Zorn glühen, aber sie waren auch voller Schmerz. Und er sah bei dem hüpfenden Licht der Laterne den Griff seines Kurzschwertes aus dem Bauch des Magiers ragen. Er sah die schlanken Hände des Zauberers, die sich darum wanden, er hörte ihn in schrecklicher Qual aufschreien. Er wußte, es bestand kein Grund zur Angst. Der Zauberer konnte ihm nichts mehr anhaben.

Kharas rappelte sich auf, streckte seine Hand aus und riß sein Schwert heraus. In bitterer Pein schreiend, die Hände in das eigene Blut getaucht, schlug der Zauberer auf dem Boden auf und lag still da.

Jetzt hatte Kharas Zeit, sich umzusehen. Seine Männer kämpften eine regelrechte Schlacht mit dem General, der, seinen Bruder schreien hörend, vor Angst und Zorn fuchsteufelswild war. Die Hexe war nirgendwo zu sehen, das unheimliche weiße Licht, das von ihr ausgegangen war, brannte nicht mehr.

Als Kharas zu seiner Linken einen erstickten Ton hörte, drehte er sich um und erblickte die zwei Erscheinungen, die der Erzmagier herbeigerufen hatte. Sie starrten voll Entsetzen auf den Zauberer. Bei näherer Betrachtung war er überrascht, daß diese Dämonen von den unteren Ebenen nichts weiter Bedrohliches darstellten als einen Kender in leuchtendblauer Hose und einen dicklichen Gnom in einer Lederschürze.

Kharas blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Er hatte sein Ziel erreicht. Seine Hauptsorge war nun, seine Männer sicher herauszubringen. Er lief durch das Zelt, hob seinen Kriegshammer auf, rief seinen Männern in der Zwergensprache zu, aus dem Weg zu gehen, und schleuderte die Waffe gegen Caramon.

Der Hammer streifte den Mann am Kopf, tötete ihn aber nicht. Caramon stürzte wie ein Ochse zu Boden, und plötzlich war es im Zelt totenstill.

Das alles hatte nur wenige Minuten gedauert.

Als Kharas durch den Zeltvorhang spähte, sah er den jungen Ritter, der Wache gestanden hatte, bewußtlos auf dem Boden liegen. Es gab keine Anzeichen, daß jene, die am weiter entfernten Lagerfeuer saßen, etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört hatten.

Der Zwerg sah sich noch einmal um. Der Zauberer lag in einer Blutlache. Der General lag neben ihm, seine Hand griff nach seinem Bruder, als ob er sein letzter Gedanke gewesen wäre, bevor er das Bewußtsein verloren hatte. In einer Ecke lag die Hexe auf dem Rücken, ihre Augen waren geschlossen.

Als er Blut an ihren Roben sah, funkelte Kharas streng seine Männer an.

Einer von ihnen schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Kharas«, sagte er, sah auf sie hinab und erbebte. »Aber das Licht war so hell! Ich bekam Kopfschmerzen. Ich hatte nur noch einen Gedanken, dem ein Ende zu bereiten. Ich... ich habe sie dann getroffen, aber nicht sehr fest. Sie ist nur leicht verletzt.«

»In Ordnung.« Kharas nickte. »Laßt uns verschwinden.« Als er seinen Hammer zurückholte, blickte er auf den General hinunter, der vor seinen Füßen lag. »Es tut mir leid«, sagte er, fischte das kleine Stück Pergament hervor und legte es in die ausgestreckte Hand des Mannes. »Vielleicht kann ich dir irgendwann alles erklären.« Er erhob sich und sah sich um. »Sind alle in Ordnung? Dann laßt uns verschwinden.«

Seine Männer eilten zum Tunneleingang.

»Was ist mit diesen beiden?« fragte einer, der bei dem Kender und dem Gnom stehen blieb.

»Nimm sie mit«, antwortete Kharas scharf. »Wenn wir sie zurücklassen, werden sie Alarm schlagen.«

Zum ersten Mal schien Leben in den Kender zu kommen. »Nein!« schrie er und sah Kharas mit flehenden, entsetzten Augen an. »Du kannst uns nicht mitnehmen! Wir sind gerade erst angekommen! Wir haben Caramon gefunden, und jetzt können wir endlich nach Hause zurückkehren! Nein, bitte!«

»Nimm sie mit!« befahl Kharas streng.

»Nein!« plärrte der Kender und kämpfte in den Armen seines Ergreifers. »Nein, bitte, du verstehst nicht. Wir waren in der Hölle, und wir sind entkommen...«

»Kneble ihn«, knurrte Kharas und spähte in den Tunnel unterhalb des Zeltes, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung war. Er winkte ihnen zu, sich zu beeilen, während er sich neben dem Loch auf den Boden kniete.

Seine Männer stiegen in den Tunnel und zogen den geknebelten Kender mit sich, der sich immer noch wehrte, so daß sie schließlich gezwungen waren, ihn zu fesseln, bevor sie ihn fortzerren konnten. Mit ihrem anderen Gefangenen hatten sie jedoch keine Probleme. Der arme Gnom war so entsetzt, daß er in einen Schockzustand fiel. Hilflos um sich starrend, befolgte er alles ganz ruhig, was ihm befohlen wurde.

Kharas ging als letzter. Bevor er in den Tunnel sprang, warf er noch einmal einen letzten Blick in das Zelt.

Die Laterne hing nun ruhig und warf ihr sanftes, glühendes Licht auf eine Szene wie in einem Alptraum. Tische waren umgestoßen, Stühle umgeworfen. Eine dünne Blutspur lief unter dem Körper des schwarzgekleideten Zauberers hervor.

Kharas sprang in das Loch und eilte seinen Männern nach.

»General...«

Caramon sprang auf die Beine, seine großen Hände griffen nach der Kehle des Feindes, ein Knurren verzerrte sein Gesicht.

Erschreckt taumelte Garik zurück. »General!« schrie er, »Caramon! Ich bin es!«

Ein stechender Schmerz und der Klang von Gariks vertrauter Stimme drangen durch Caramons Gehirn. Mit einem Stöhnen schlug er seine Hände vors Gesicht. Garik half ihm auf einen Stuhl.

»Mein Bruder?« fragte Caramon undeutlich.

»Caramon... ich...« Garik schluckte.

»Mein Bruder?« schnarrte Caramon.

»Wir haben ihn in sein Zelt gebracht«, erwiderte Garik leise. »Die Wunde ist...«

»Was? Die Wunde ist was?« fauchte Caramon ungeduldig, hob den Kopf und starrte Garik mit blutunterlaufenen, schmerzerfüllten Augen an.

Garik öffnete den Mund und schloß ihn wieder, dann schüttelte er den Kopf. »Mein Vater hat mir von solchen Wunden erzählt«, murmelte er. »Männer verweilen tagelang in einem fürchterlichen Todeskampf...«

»Du meinst, es ist eine Bauchwunde«, unterbrach ihn Caramon.

Garik nickte und vergrub sein Gesicht in beide Hände.

Caramon sah ihn scharf an. Der junge Mann war leichenblaß.

Seufzend schloß Caramon die Augen und machte sich auf den Schwindel gefaßt, der über ihn kommen würde, wenn er sich wieder erhöbe. Dann stand er grimmig auf. Die Dunkelheit wirbelte und hob sich um ihn. Er zwang sich, standhaft stehen zu bleiben, und als sich der Schwindel gelegt hatte, öffnete er die Augen. »Wie geht es dir?« fragte er Garik und musterte ihn aufmerksam.

»Mir geht es gut«, antwortete Garik und errötete vor Scham. »Sie... sie überfielen mich... von hinten.«

»Ja.« Caramon sah das getrocknete Blut im Haar des jungen Mannes. »Das kommt vor. Mach dir keine Gedanken darüber.« Der große Krieger lächelte ohne Heiterkeit. »Sie überfielen mich von vorn.«

Garik nickte wieder, aber in seinem Gesicht war zu lesen, daß seine Niederlage ihm keine Ruhe ließ.

Er wird es überstehen, dachte Caramon erschöpft. Wir müssen das alle mal durchmachen, früher oder später. »Ich sehe jetzt nach seinem Bruder«, sagte er und wollte mit unsicheren Schritten aus dem Zelt gehen. Doch er blieb stehen. »Crysania?«

»Schläft. Ein Messer hat ihre Rippen gestreift. Ich... wir haben sie verbunden, so gut wir konnten. Wir mußten ihre Roben zerreißen.« Garik lief knallrot an. »Und wir gaben ihr Brandy...«

»Weiß sie von Raist... Fistandantilus?«

»Der Zauberer hat es verboten.«

Caramon hob die Augenbrauen. Er sah sich in dem verwüsteten Zelt um und erblickte die Blutspur auf dem Boden. Er holte tief Luft, dann hob er den Vorhang und ging unsicher hinaus.

Garik folgte ihm.

»Die Armee?«

»Sie wissen es. Das hat sich schnell herumgesprochen.« Garik spreizte hilflos die Hände. »Es gab so viel zu tun. Wir haben versucht, die Zwerge zu verfolgen...«

»Pah!« schnaufte Caramon und zuckte zusammen, als der Schmerz durch seinen Kopf schoß. »Sie haben bestimmt den Tunnel einstürzen lassen.«

»Ja. Wir haben zu graben versucht, aber man könnte genausogut die ganze verdammte Wüste umgraben«, erwiderte Garik bitter.

»Was ist mit der Armee?« fragte Caramon hartnäckig und hielt vor Raistlins Zelt an. Von drinnen hörte er leises Stöhnen.

»Die Männer sind aufgebracht«, antwortete Garik mit einem Seufzer. »Reden, sind verwirrt. Ich weiß nicht.«

Caramon verstand. Er sah in das dunkle Zelt seines Bruders. »Ich gehe allein... Ich danke dir für alles, was du getan hast, Garik«, fügte er sanft hinzu. »Jetzt ruh dich aus, bevor du umkippst. Ich brauche dich später, und du wirst mir keine Hilfe sein, wenn du krank bist.«

»Ja, Herr«, sagte Garik. Er wollte davontaumeln, dann blieb er stehen und drehte sich um. Er griff unter den Brustpanzer seiner Rüstung und zog ein blutverschmiertes Stück Pergament hervor. »Wir... wir haben das... in deiner Hand gefunden, Herr. Es ist in der Zwergensprache geschrieben...«

Caramon sah darauf, öffnete es, las es, dann rollte er es ohne Kommentar wieder zusammen und steckte es in seinen Gürtel.

Jetzt waren die Zelte von Wachen umgeben. Caramon winkte einen Mann herbei und wartete, bis Garik in sein Bett gebracht worden war. Dann riß er sich zusammen und trat in Raistlins Zelt.

Eine Kerze brannte auf einem Tisch neben einem geöffneten Zauberbuch – der Erzmagier war offensichtlich davon ausgegangen, nach dem Abendessen sofort zu seinen Studien zurückzukehren. Ein von Schlachten zernarbter Zwerg mittleren Alters – Caramon erkannte ihn als einen aus Regars Stab wieder – hockte im Schatten neben dem Bett. Ein Wächter neben dem Eingang salutierte, als Caramon eintrat.

»Warte draußen«, befahl Caramon, und der Wächter verschwand.

»Er erlaubt uns nicht, ihn zu berühren«, sagte der Zwerg und nickte zu Raistlin hin. »Die Wunde muß verbunden werden. Wird natürlich nicht viel nützen. Aber es könnte ein bißchen seine Eingeweide zusammenhalten.«

»Ich kümmere mich um ihn«, sagte Caramon barsch.

Raistlin lag auf einem Bett, immer noch angekleidet, seine Hände umklammerten die entsetzliche Wunde. Die Roben des Magiers und sein Fleisch waren in einer schauderhaften, blutigen Masse verklebt, und er lag im Todeskampf. Jeder Atemzug, den er ausstieß, war ein leises, unzusammenhängendes Stöhnen.

Aber für Caramon waren der schrecklichste Anblick die glitzernden Augen seines Bruders, die ihn anstarrten, ihn erkannten, als er sich dem Bett näherte. Raistlin war bei Bewußtsein.

Caramon kniete sich neben das Bett seines Bruders und legte eine Hand auf dessen fiebrigen Kopf. »Warum läßt du nicht Crysania kommen?« fragte er leise.

Raistlin schnitt eine Grimasse. Er biß seine Zähne zusammen, zwang aus seinen blutbefleckten Lippen Worte hervor. »Paladin... wird... mich... nicht... heilen!« Das letzte Wort war ein Keuchen, das in einem erstickten Schrei endete.

Caramon starrte ihn verwirrt an. »Aber du kannst nicht sterben! Sie haben gesagt...«

Raistlin rollte die Augen, schüttelte den Kopf. »Zeit... verändert... Alles... anders!«

»Aber...«

»Laß mich in Ruhe! Laß mich sterben!« kreischte Raistlin in Zorn und Schmerz. Sein Körper krümmte sich.

Caramon erschauerte. Er versuchte mit Mitleid auf seinen Bruder zu blicken, aber das verzerrte Gesicht war ein Gesicht, das er nicht kannte.

Die Maske der Weisheit und Intelligenz war abgerissen, enthüllt waren die Linien des Stolzes, des Ehrgeizes, der Habsucht und der gefühllosen Grausamkeit. Es schien Caramon, als ob er seinen Bruder zum ersten Mal sähe.

Vielleicht, dachte Caramon, hat Dalamar dieses Gesicht im Turm der Erzmagier gesehen, als Raistlin mit bloßen Händen die Löcher in sein Fleisch brannte. Vielleicht hat auch Fistandantilus das Gesicht gesehen, bevor er starb...

Caramon löste seinen Blick von diesem entsetzlichen Gesicht. Doch dann streckte er seine Hand aus. »Laß mich die Wunde verbinden.«

Raistlin schüttelte heftig den Kopf. Eine blutverschmierte Hand klammerte sich um Caramons Arm. »Nein! Mach ein Ende! Ich habe versagt! Die Götter lachen! Ich kann... es nicht ertragen...«

Caramon starrte ihn an. Plötzlich wurde der große Mann von Zorn ergriffen – Zorn, der aus Jahren der sarkastischen Bemerkungen hochstieg. Caramon streckte seine Hand aus, packte die schwarzen Roben und hob den Kopf seines Bruders hoch. »Nein, bei den Göttern«, schrie er. »Nein, du wirst nicht sterben! Jetzt hör mir mal zu!« Seine Augen verengten sich. »Du wirst nicht sterben, mein Bruder! Dein ganzes Leben lang hast du nur für dich gelebt. Und selbst jetzt im Sterben suchst du den einfachsten Ausweg. Du läßt mich hier in einer Falle zurück, ohne darüber einen Gedanken zu verlieren. Du läßt Crysania zurück! Nein, Bruder! Du wirst leben, verdammt! Du wirst leben, um mich nach Hause zu schicken. Was du danach machst, ist deine Angelegenheit.«

Raistlin sah Caramon an. Es schien fast, als ob er lachen wollte, aber statt dessen schoß eine Blutblase aus seinem Mund. Caramon lockerte seinen Griff an den Roben seines Bruders und legte ihn zurück. Raistlins Augen verschlangen Caramon. Das einzige Leben in ihnen war bitterer Haß und Zorn.

»Ich werde Crysania informieren«, sagte Caramon, erhob sich und übersah Raistlins zorniges Funkeln. »Zumindest muß sie versuchen, dich zu heilen. Ja, wenn Blicke töten könnten, würde ich jetzt sofort umfallen. Aber hör mir zu, Raistlin oder Fistandantilus oder wer du bist – wenn es Paladins Wille ist, daß du stirbst, bevor du der Welt noch größeren Schaden zufügen kannst, dann soll es so sein. Ich werde das hinnehmen und auch Crysania. Aber falls es sein Wille ist, daß du leben sollst, werden wir das ebenfalls annehmen... und du auch!«

Raistlin, dessen Kräfte fast verbraucht waren, hielt seinen blutigen Griff noch um Caramons Arm, umklammerte ihn mit Fingern, die fast im Tod erstarrt waren.

Entschlossen und mit zusammengepreßten Lippen löste sich Caramon von seinem Bruder. Er erhob sich; hinter sich hörte er ein qualvolles Stöhnen. Er trat in die Nacht hinaus und ging schnell auf Crysanias Zelt zu. Dabei sah er zur Seite und erblickte den Zwerg, der lässig im Schatten stand und mit einem scharfen Messer ein Stück Holz bearbeitete.

Caramon zog das Stück Pergament hervor. Er brauchte es nicht noch einmal zu lesen. Es waren nur wenige Worte.

»Der Zauberer hat dich und die Armee verraten. Schick einen Boten nach Thorbadin, um die Wahrheit zu erfahren.«

Caramon warf das Stück Pergament auf den Boden.

Durch die entsetzlichen Schmerzen konnte Raistlin das Gelächter der Götter hören. Wie sehr sie sich an seiner Niederlage weiden mußten!

Raistlins gepeinigter Körper krümmte sich in Krämpfen, und seine Seele tat es ihm gleich; sie zuckte in ohnmächtiger Wut, brannte im Wissen seines Versagens!

»Schwächlicher, erbärmlicher Mensch!« hörte er die Stimmen der Götter rufen. »Auf diese Weise erinnern wir dich an deine Sterblichkeit!«

Er würde Paladin nicht entgegentreten! Zu sehen, wie der Gott ihn verhöhnte, sich an seinem Untergang weidend – nein! Lieber schnell sterben, seine Seele die dunkle Zuflucht suchen lassen, die sie finden konnte. Aber dieser Bastard von Bruder, diese andere Hälfte von ihm, die Hälfte, die er beneidete und verabscheute, die Hälfte, die er hätte sein sollen – von Rechts wegen. Ihm dies zu versagen... diesen letzten gesegneten Trost...

»Caramon!« schrie Raistlin in die Dunkelheit. »Caramon, ich brauche dich! Caramon, laß mich nicht allein!« Er schluchzte, umklammerte seinen Bauch, rollte sich zu einer Kugel zusammen. »Laß mich nicht allein!«

Und dann verlor er das Bewußtsein. Weißes Licht, rein und kalt und scharf wie ein Schwert, schnitt sich durch den Geist des Magiers. Sich krümmend, versuchte er zu entkommen, versuchte, in die warme und trostspendende Dunkelheit zu tauchen. Er konnte sich selbst hören, wie er Caramon anbettelte, ihn zu töten und den Schmerz zu beenden, das helle und stechende Licht zu löschen.

Das Licht wurde heller und verwandelte sich in ein Gesicht, ein wunderschönes, ruhiges, reines Gesicht mit dunklen grauen Augen. Kühle Hände berührten seine glühende Haut.

»Laß mich dich heilen.«

Das Licht schmerzte schlimmer als der Schmerz des Stahls. Schreiend, sich krümmend, versuchte Raistlin zu entkommen, aber die Hände hielten ihn fest.

»Laß mich dich heilen.«

»Geh... weg!«

»Laß mich dich heilen!«

Erschöpfung, eine unermeßliche Erschöpfung legte sich über Raistlin. Er war des Kämpfens müde – des Kämpfens gegen den Schmerz, des Kämpfens gegen den Spott, des Kämpfens gegen die Qual, mit der er sein ganzes Leben lang gelebt hatte.

Na schön, sollen die Götter doch lachen! Ich habe es schließlich verdient, dachte Raistlin verbittert. Soll er sich doch weigern, mich zu heilen. Und dann ruhe ich mich in der Dunkelheit aus... in der trostspendenden Dunkelheit...

Er schloß die Augen, schloß sie fest gegen das Licht und wartete auf das Lachen – und sah plötzlich das Gesicht des Gottes.

Caramon stand draußen im Schatten des Zeltes seines Bruders, seinen schmerzenden Kopf in den Händen vergraben. Raistlins Sterbewünsche quälten ihn. Schließlich ertrug er es nicht mehr. Die Klerikerin hatte offensichtlich versagt. Seinen Schwertknauf umklammernd, betrat Caramon das Zelt und ging auf das Bett zu.

In diesem Augenblick hörte Raistlin zu schreien auf.

Crysania fiel über seinen Körper, ihr Kopf auf die Brust des Magiers.

Er ist tot, dachte Caramon. Raistlin ist tot. Er empfand keine Trauer. Statt dessen beschlich ihn eine Art Entsetzen bei dem Anblick, und er dachte: Was ist das nur für eine groteske Totenmaske!

Raistlins Gesicht war starr, sein Mund sperrangelweit geöffnet. Die Haut war aschgrau. Die blinden Augen, in eingefallene Wangen gesunken, starrten geradeaus.

Caramon trat einen Schritt näher, so betäubt, daß er weder Trauer noch Kummer noch Erleichterung empfinden konnte, und musterte schärfer den seltsamen Ausdruck im Gesicht des toten Mannes. Aber er erkannte schockartig, daß Raistlin nicht tot war! Die weiten Augen starrten blind in diese Welt, aber nur, weil sie in eine andere sahen.

Ein wimmernder Schrei fuhr durch den Körper des Magiers, der schrecklicher zu ertragen war als seine Schreie in der Todesqual. Sein Kopf bewegte sich leicht, seine Lippen teilten sich, seine Kehle zuckte, aber es kam kein Laut heraus.

Und dann schloß Raistlin die Augen. Sein Kopf rollte zur Seite, seine zuckenden Muskeln entspannten sich. Der schmerzvolle Blick verschwand, ließ sein Gesicht abgespannt, blaß zurück. Er holte tief Luft, atmete sie mit einem Seufzer aus, dann holte er wieder Luft...

Geschockt über das, was er gesehen hatte, unsicher, ob er dankbar sein sollte oder betrübt, daß sein Bruder nun doch lebte, beobachtete Caramon, wie das Leben in den zerrissenen und blutenden Körper seines Bruders zurückkehrte. Er kniete sich neben Crysania und hielt sie sanft, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie starrte ihn an, ohne ihn zu erkennen. Dann ging ihr Blick zu Raistlin. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Die Augen schließend, murmelte sie ein Dankgebet. Dann hielt sie die Hand an ihre Seite und sank gegen Caramon. An ihren weißen Roben war frisches Blut sichtbar.

»Du solltest dich selbst heilen«, sagte Caramon, als er ihr aus dem Zelt half; sein starker Arm unterstützte ihre taumelnden Schritte.

Sie sah zu ihm auf, und ihr Gesicht war wunderschön in ihrem ruhigen Triumph. »Vielleicht morgen«, antwortete sie leise. »In dieser Nacht wurde mir ein größerer Sieg gewährt. Verstehst du nicht? Das ist die Antwort auf meine Gebete.«

Caramon spürte Tränen in seinen Augen aufsteigen. »Das ist also deine Antwort?« fragte er schroff und sah zum Lager hinüber. Die Feuer waren zu Asche heruntergebrannt. Aus dem Augenwinkel konnte er jemanden weglaufen sehen, und er wußte, daß sich die Neuigkeit schnell verbreiten würde, daß der Zauberer und die Hexe es geschafft hatten, von den Toten wieder aufzuerstehen.

Caramon spürte Galle in seinen Mund hochkommen. Er konnte sich das Gerede, die Aufregung, die Fragen, die dunklen Blicke und das Kopfschütteln ausmalen, und seine Seele schrak davor zurück. Er wollte nur noch ins Bett und schlafen und alles vergessen.

Aber Crysania sprach weiter. »Das ist auch deine Antwort, Caramon«, sagte sie leidenschaftlich. »Das ist das Zeichen der Götter, das wir beide gesucht haben.« Sie blieb stehen und sah ihm ins Gesicht. »Bist du immer noch so blind wie damals im Turm? Bist du immer noch nicht überzeugt? Wir haben die Angelegenheit in Paladins Hände gelegt, und der Gott hat gesprochen. Raistlin soll leben. Er soll diese große Tat vollbringen. Gemeinsam, er und ich und du, wenn du uns begleiten wirst, bekämpfen und überwältigen wir das Böse, so wie ich den Tod in dieser Nacht bekämpft und überwältigt habe!«

Caramon starrte sie an. Dann senkte er den Kopf. Ich will nicht das Böse bekämpfen, dachte er müde. Ich will nur nach Hause. Ist das zu viel verlangt?

Er hob die Hand und rieb an seinen pochenden Schläfen. Und dann hielt er inne, sah im langsam heller werdenden Licht der Morgendämmerung die blutigen Fingerspuren seines Bruders an seinem Arm. »Ich stelle eine Wache vor deinem Zelt auf«, sagte er barsch. »Schlaf ein wenig...« Er drehte sich um.

»Caramon«, rief Crysania.

»Was?«

»Du wirst dich morgen besser fühlen. Ich werde heute nacht für dich beten. Gute Nacht, mein Freund. Vergiß nicht, Paladin dafür zu danken, daß er deinem Bruder das Leben erhalten hat.«

»Ja, sicherlich«, murmelte Caramon. Sich unbehaglich fühlend, da sich seine Kopfschmerzen verschlimmerten und ihm bald übel werden würde, verließ er Crysania und taumelte in sein Zelt zurück.

Hier, allein, in der Dunkelheit, erbrach er sich in einer Ecke. Dann fiel er auf sein Bett und gab sich endlich dem Schmerz und der Erschöpfung hin. Über dem Dankgebet an Paladin schlief er ein.

Загрузка...