7

Die Kutsche hielt mit einem Ruck. Die Pferde schnauften und schüttelten sich und ließen dabei das Geschirr klimpern. Mit ihren Hufen stießen sie gegen die glatten Pflastersteine, als ob sie erpicht wären, diese Reise zu beenden und zu ihren behaglichen Ställen zurückzukehren. Ein Kopf erschien am Fenster der Kutsche.

»Guten Morgen, Herr. Willkommen in Palanthas. Bitte nennt mir Euren Namen und den Grund Eures Besuches.« Die Aufforderung wurde mit munterer, amtlicher Stimme von einem munteren, amtlichen jungen Mann vorgetragen, der wohl gerade erst seinen Posten angetreten hatte. Als der Wachmann in die Kutsche spähte, blinzelte er in dem Versuch, seine Augen dem kühlen Schatten in ihrem Inneren anzupassen. Die Spätfrühlingssonne strahlte so munter wie das Gesicht des frühlingssonne strahlte so munter wie das Gesicht des jungen Mannes, auch ihre Dienstzeit hatte wohl gerade erst begonnen.

»Ich bin Tanis, der Halb-Elf«, antwortete der Mann in der Kutsche, »und ich bin hier auf Einladung des Verehrten Sohnes Elistan. Ich habe einen Brief dabei. Wenn du einen Moment warten würdest, kann ich...«

»Lord Tanis!« Das Gesicht im Kutschenfenster nahm die gleiche knallrote Farbe an wie die lächerlich aufgesetzten Schnurbesätze und Schulterstücke seiner Uniform. »Ich bitte um Verzeihung, Herr. Ich... ich habe Euch nicht wiedererkannt... das heißt, ich konnte nicht gut sehen, denn sonst hätte ich Euch sicherlich wiedererkannt...«

»Verdammt, Mann«, erwiderte Tanis gereizt, »entschuldige dich doch nicht für die Ausübung deiner Pflicht. Hier ist der Brief...«

»Das werde ich nicht, Herr. Das heißt, ich werde es doch, Herr. Ich meine, mich entschuldigen. Es tut mir furchtbar leid, Herr. Der Brief? Das ist wirklich nicht notwendig, Herr.«

Der Wachmann stotterte und salutierte, stieß leicht mit seinem Kopf gegen das Kutschenfenster, und der Spitzenärmel seiner Manschette verfing sich an der Tür, er salutierte wieder und taumelte schließlich zu seinem Posten zurück. Er sah aus, als hätte er gerade einen Kampf mit Hobgoblins hinter sich gebracht.

Tanis grinste still vor sich hin, auch wenn es ein gequältes Grinsen war, und lehnte sich wieder zurück, als die Kutsche durch die Tore der alten Stadtmauer fuhr. Diese Wache war seine Idee gewesen. Viele Einwände und Überredungskünste waren vonnöten gewesen, um Amothud, den Herrscher von Palanthas, zu überzeugen, daß diese Stadttore nicht nur verschlossen, sondern auch bewacht sein sollten.

»Aber Besucher könnten das Gefühl bekommen, nicht willkommen zu sein. Sie könnten beleidigt sein«, hatte Amothud matt protestiert. »Und immerhin ist der Krieg vorüber.«

Tanis seufzte wieder. Wann würden sie das je lernen? Niemals, mutmaßte er düster, als er aus dem Fenster die Stadt betrachtete, die wie keine andere auf dem Kontinent Ansalon die Selbstzufriedenheit verkörperte, in die sich die Welt seit dem Ende des Lanzenkrieges vor zwei Jahren hatte zurückfallen lassen. Genaugenommen: seit dem Frühling vor zwei Jahren.

Ein plötzlicher Gedanke ließ Tanis aufseufzen. Verdammt! Er hatte es vergessen! Der Tag des Sieges! Wann fand der statt? In zwei Wochen? Drei? Er würde dieses lächerliche Kostüm anlegen müssen – die zeremonielle Rüstung eines Ritters von Solamnia, die Elfeninsignien, den Zwergenschmuck. Gelage würden stattfinden, und wegen des schweren Essens würde er die halbe Nacht nicht schlafen können, Ansprachen würden ihn nach dem Essen einschläfern, und Laurana...

Tanis seufzte auf. Laurana! Sie hatte daran gedacht! Natürlich! Wie konnte er nur so begriffsstutzig sein? Vor wenigen Wochen erst waren sie von dem Begräbnis Solostarans in Qualinesti in ihr Heim in Solanthus zurückgekehrt – in der Zwischenzeit hatte er außerdem auf der Suche nach Crysania eine erfolglose Reise nach Solace unternommen —, und dort hatte Laurana bald einen Brief in der Elfenhandschrift erhalten.

»Deine Anwesenheit ist in Silvanesti dringend erforderlich!«

»Ich werde in vier Wochen zurück sein, mein Lieber«, hatte sie gesagt und ihn zärtlich geküßt. Doch in ihren Augen hatte der Schalk gelegen. In ihren wunderschönen Augen!

Sie hatte ihn im Stich gelassen! Durch ihr Manöver war er gezwungen, diesen verdammten Zeremonien allein beizuwohnen! Und sie würde in ihrer Elfenheimat sein, wo sich die Einheimischen zwar immer noch plagten, dem Entsetzen zu entrinnen, dem Loracs Alptraum sie überantwortet hatte, was aber doch einem Abend mit Herrscher Amothud entschieden vorzuziehen war...

Plötzlich wurde Tanis bewußt, was er da eben gedacht hatte. Vor seinem inneren Auge erschien ein Bild von Silvanesti – die entsetzlich gepeinigten Bäume, die Blut weinten, die verzerrten, qualvollen Gesichter lange verstorbener Elfenkrieger, die aus den Schatten starrten. Und daneben erschien ein Bild von einer der Abendgesellschaften des Herrschers Amothud...

Tanis begann zu lachen. Sogar die untoten Krieger waren ihm lieber!

Was Laurana betraf, ihr konnte er wahrhaftig keine Schuld geben. Die Zeremonien waren für ihn schon hart genug – aber Laurana war der erklärte Liebling der Palanthianer, ihr Goldener General, diejenige, die diese wunderschöne Stadt vor den Verwüstungen des Krieges bewahrt hatte. Sie erfüllten ihr jeden Wunsch, nur nicht ihren sehnlichsten, daß sie zuweilen in Ruhe gelassen werden wollte. Bei der vorjährigen Siegesfeier hatte Tanis seine Frau nach Hause tragen müssen, da sie erschöpfter war, als wenn sie drei ordentliche Tage in der Schlacht zugebracht hätte.

Er stellte sich Laurana in Silvanesti vor, wie sie die Blumen neu pflanzte, wie sie die Träume der gepeinigten Bäume linderte und sie langsam wieder zum Blühen brachte, wie sie Alhana Sternenwind besuchte, jetzt ihre Schwägerin, die auch wieder in Silvanesti sein würde – aber ohne ihren neuen Ehemann Porthios. Sie führten bisher eine eisige, lieblose Ehe, und Tanis fragte sich, ob Alhana nicht aus einem ähnlichen Grund den Zufluchtsort Silvanesti aufgesucht hatte. Die Erinnerung an jene Tage mußte auch für Alhana schwer zu ertragen sein. Tanis’ Gedanken wanderten zu Sturm Feuerklinge – dem Ritter, den Alhana geliebt hatte und der nun tot im Turm des Oberklerikers lag, und von ihm wanderten Tanis’ Gedanken zu anderen Freunden... und Feinden.

Als hätten seine Erinnerungen ihn heraufbeschworen, strich ein dunkler Schatten über die Kutsche. Tanis sah aus dem Fenster. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf ein schwarzes Stück Land am Ende einer langen, leeren und verlassenen Straße – den Eichenwald von Shoikan, den Wächterwald und den Turm der Erzmagier, in dem Raistlin residierte.

Selbst aus dieser Entfernung konnte Tanis die Eiseskälte spüren, die diese Bäume ausströmten, eine Eiseskälte, die Herz und Seele gefrieren ließ. Sein Blick wanderte zu dem Turm, der sich über den wunderschönen Gebäuden von Palanthas wie ein schwarzer Eisenstift erhob, der durch das weiße Herz der Stadt getrieben worden war.

Seine Gedanken wanderten zu dem Brief, der ihn nach Palanthas gerufen hatte. Sein Blick glitt auf ihn, und er las noch einmal die knappen Sätze: »Tanis, Halb-Elf, wir müssen dich unverzüglich treffen. Höchste Dringlichkeit. Im Tempel Paladins, wenn die Spätwacht auf 12 ansteigt, am vierten Tag im Jahr 356.«

Das war alles. Keine Unterschrift. Tanis wußte, daß es jetzt der vierte Tag war, und da er diese Einladung erst zwei Tage zuvor erhalten hatte, war er gezwungen gewesen, Tag und Nacht zu reisen, um pünktlich in Palanthas einzutreffen. Die Nachricht war in der Elfensprache geschrieben, auch die Handschrift war elfisch. Das war nicht ungewöhnlich. Elistan verfügte über viele Elfenkleriker, aber warum hatte er die Botschaft nicht unterschrieben? Falls sie wirklich von Elistan stammte. Aber wer sonst sollte ihn so zwanglos zum Tempel Paladins laden?

Tanis zuckte die Achseln und steckte den Brief wieder in seinen Beutel zurück. Er hatte sich diese Frage schon mehr als einmal gestellt, und nicht ein einziges Mal war er zu einem zufriedenstellenden Ergebnis gelangt. Sein Blick wanderte unwillkürlich wieder zum Turm der Erzmagier.

»Ich wette, es hat etwas mit dir zu tun, alter Freund«, murmelte er, runzelte die Stirn und dachte wieder über das seltsame Verschwinden der Klerikerin Crysania nach.

Wieder hielt die Kutsche mit einem Ruck an und riß Tanis aus seinen Grübeleien. Er sah aus dem Fenster und erhaschte einen Blick auf den Tempel, zwang sich aber, geduldig sitzen zu bleiben, bis ein Lakai ihm die Tür öffnen würde. Er lächelte in sich hinein. Er konnte Laurana fast sehen, wie sie ihm gegenübersaß und ihn anfunkelte, er solle sich unterstehen, nach dem Türgriff zu greifen. Es hatte sie Monate gekostet, ihm seine alte, voreilige Angewohnheit abzugewöhnen, die Tür aufzureißen, den Lakai zur Seite zu stoßen und seinen Weg fortzusetzen, ohne einen Gedanken an den Kutscher, die Kutsche, die Pferde, all das zu verlieren.

Es war inzwischen ein heimlicher Spaß zwischen ihnen beiden geworden. Tanis beachtete liebend gern, wie sich Lauranas Augen in vorgetäuschtem Alarm verengten, wenn seine Hand neckend zur Tür griff. Aber im Moment erinnerte ihn dieser Gedanke lediglich daran, wie sehr er sie vermißte. Wo blieb überhaupt der verdammte Lakai? Bei den Göttern, er war allein, zur Abwechslung könnte er es wirklich auf seine Weise machen...

Die Tür flog auf. Der Lakai hantierte mit der Stufe, die unter den Wagenboden geklappt war. »Oh, vergiß das«, schnappte Tanis ungeduldig und sprang von der Kutsche. Er ignorierte den zaghaften, betroffenen Blick des Lakaien und holte erleichtert tief Luft, nachdem er endlich dem stickigen Gefängnis der Kutsche entronnen war.

Tanis sah sich um und ließ das wundervolle Gefühl von Frieden und Wohlbefinden, das vom Tempel Paladins ausstrahlte, in seine Seele strömen. Kein Wald bewachte diesen heiligen Ort. Weite, offene Rasenflächen, so sanft und glatt wie Samt, luden den Reisenden zum Betreten ein, sich zu setzen und auszuruhen. Gärten mit leuchtenden, farbenfrohen Blumen entzückten das Auge, und ihr Duft erfüllte die Luft mit Süße. Hier und dort boten Haine mit sorgfältig beschnittenen Bäumen Zuflucht vor dem strahlenden Sonnenlicht. Reines, kühles Wasser ergoß sich aus Springbrunnen. Weißgekleidete Kleriker wandelten mit gesenkten Köpfen in den Gärten, offenbar in ernsthafte Diskussionen vertieft.

Aus diesem Rahmen von Gärten, schattigen Hainen und Grasteppichen erhob sich der Tempel Paladins und strahlte sanft im morgendlichen Sonnenlicht. Er war ein einfaches, schmuckloses Gebäude aus weißem Marmor, das zu dem Eindruck des Friedens und der Ruhe beitrug, der in seiner ganzen Umgebung vorherrschte.

Tore waren vorhanden, aber keine Wachen. Jeder war eingeladen, hier einzutreten, und viele machten davon Gebrauch. Es war eine Zuflucht für alle Trauernden, Erschöpften und Unglücklichen. Als Tanis den Weg über den gepflegten Rasen nehmen wollte, sah er viele Menschen auf dem Gras sitzen oder liegen, mit einem Ausdruck des Friedens auf ihren von Sorgen und Erschöpfung gezeichneten Gesichtern, die diesen Trost nicht oft erlebt hatten.

Tanis hatte nur wenige Schritte zurückgelegt, als er sich – mit einem weiteren Seufzer – an die Kutsche erinnerte. Er hielt ein und drehte sich um. »Warte auf mich«, wollte er gerade sagen, als eine Gestalt aus dem Schatten eines Espenwaldes trat, der sich am äußersten Rand des Tempelgrundstücks erstreckte.

»Tanis, der Halb-Elf?« fragte die Gestalt.

Als die Gestalt ins Licht trat, zuckte Tanis zusammen. Sie war in schwarze Roben gekleidet. Zahlreiche Beutel und magische Hilfsmittel hingen am Gürtel, silberne Runen waren auf die Ärmel und die Kapuze des schwarzen Umhangs gestickt. Raistlin! dachte Tanis unvermittelt, da er sich an den Erzmagier nur kurz zuvor erinnert hatte.

Aber nein. Tanis atmete leichter. Dieser Zauberkundige war zumindest um eine Kopf- und Schulterlänge größer als Raistlin. Seine Haltung war aufrecht und sein Körper gut gebaut und muskulös, sein Schritt war jugendlich und kraftvoll. Als Tanis seine Aufmerksamkeit auf ihn richtete, erkannte er, daß die Stimme des Fremden fest und tief war – und nicht wie Raistlins beunruhigendes Flüstern.

Und außerdem, auch wenn es komisch schien, hätte Tanis schwören können, daß der Mann mit einem leichten Elfenakzent gesprochen hatte. »Ja, ich bin Tanis, der Halb-Elf«, antwortete er etwas verspätet.

Obwohl er das Gesicht des Mannes im Schatten der schwarzen Kapuze nicht sehen konnte, hatte Tanis den Eindruck, daß der andere lächelte.

»Ich war überzeugt, ich würde dich wiedererkennen. Du wurdest mir oft genug beschrieben. Du kannst deine Kutsche wegschicken. Sie wird nicht mehr benötigt. Du wirst viele Tage, vielleicht sogar Wochen hier in Palanthas verbringen.«

Der Mann sprach in der Elfensprache! Die Sprache der Silvanesti! Tanis war einen Moment so sprachlos, daß er sein Gegenüber nur anstarren konnte. Im selben Moment räusperte sich jedoch der Kutscher. Die Reise war lang und anstrengend gewesen, und in Palanthas wurde in vielen guten Wirtshäusern ein Bier serviert, das auf ganz Ansalon einen schon fast legendären Ruf genoß...

Aber Tanis war nicht bereit, auf das Wort eines schwarzgekleideten Magiers seine Kutsche zu entlassen. Er öffnete gerade seinen Mund, um eine Frage zu stellen, als der Zauberkundige die Hände aus den Ärmeln seiner Robe zog, in der er sie gefaltet gehalten hatte, und eine schnelle, abweisende Bewegung mit der einen und gleichzeitig eine einladende mit der anderen machte.

»Bitte«, sagte er wieder in der Elfensprache, »willst du mich nicht begleiten? Denn ich bin auf dem Weg zum gleichen Ort wie du. Elistan erwartet uns.«

Uns! Tanis’ Gedanken irrten verwirrt umher. Seit wann lud Elistan schwarzgekleidete Zauberkundige in Paladins Tempel ein? Und seit wann setzten schwarzgekleidete Zauberkundige freiwillig ihren Fuß auf diesen heiligen Boden?

Der einzige Weg, das herauszufinden, bestand jedoch wohl darin, diese seltsame Person zu begleiten und alle Fragen aufzusparen, bis sie allein waren. Etwas verwirrt erteilte Tanis also dem Kutscher seine Anweisungen. Die schwarzgekleidete Gestalt stand schweigend neben ihm und beobachtete die Kutsche bei ihrer Abfahrt. Dann drehte sich Tanis zu ihm um.

»Ich kenne deinen werten Namen leider nicht, Herr«, sagte der Halb-Elf in holprigem Silvanesti, einer Sprache, die reiner war als das Qualinesti, das er in seiner Kindheit gelernt hatte.

Der Fremde verbeugte sich und warf dann die Kapuze zurück, so daß das Morgenlicht auf sein Gesicht fiel. »Ich heiße Dalamar«, sagte er und vergrub seine Hände wieder in die Ärmel seiner Robe. Kaum jemand auf Krynn würde einem schwarzgekleideten Magier die Hand reichen.

»Ein Dunkelelf!« rief Tanis erstaunt und schneller, als er gewollt hatte. Dann errötete er. »Es tut mir leid«, fügte er unbeholfen hinzu. »Es ist nur so, daß ich noch nie...«

»Einen dieser Art kennengelernt habe?« ergänzte Dalamar gelassen, und ein schwaches Lächeln erschien auf seinem kalten, gutaussehenden, ausdruckslosen Elfengesicht. »Nein, vermutlich nicht. Wir, die ›vom Licht verstoßen sind‹, wie es heißt, wagen nicht oft, die sonnenüberfluteten Existenzebenen aufzusuchen.« Sein Lächeln wurde plötzlich wärmer, und Tanis bemerkte Sehnsucht in den Augen des Dunkelelfen, als seine Blicke zu dem Espenhain glitten, wo er zuvor gestanden hatte. »Obgleich auch wir manchmal von Heimweh ergriffen werden.«

Auch Tanis’ Blick ging zu den Espen – den Bäumen, die die Elfen am meisten liebten. Auch er lächelte und fühlte sich jetzt unbeschwerter. Tanis war auf seinen eigenen dunklen Straßen geschritten und wäre mehrmals beinahe in gähnende Abgründe gestolpert. Er konnte verstehen.

»Die Stunde meiner Verabredung naht«, sagte er. »Und aus dem, was du gesagt hast, schließe ich, daß du etwas damit zu tun hast! Vielleicht sollten wir weitergehen...«

»Gewiß.« Dalamar schien sich wieder gesammelt zu haben. Er folgte Tanis, ohne zu zögern, auf den Rasen. Als Tanis sich zu ihm umwandte, war er daher ziemlich erschrocken, daß ein kurzer Krampf die feinen Gesichtszüge des Elfen vor Schmerz entstellte und er voller Qual zusammenzuckte.

»Was ist los?« Tanis hielt an. »Geht es dir nicht gut? Kann ich helfen...«

Dalamar zwang sein schmerzerfülltes Gesicht zu einem verzerrten Lächeln. »Nein, Halb-Elf«, erwiderte er. »Du kannst mir bestimmt nicht helfen. Ich bin auch nicht krank. Auch du würdest schlimmer aussehen, wenn du den Eichenwald von Shoikan betreten müßtest, der mein Zuhause bewacht.«

Tanis nickte verständnisvoll und sah unwillkürlich in die Ferne, hoch zu dem dunklen, grimmigen Turm, der Palanthas überragte. Als er ihn betrachtete, hatte er auf einmal eine seltsame Vision. Er sah zurück zu dem schlichten weißen Tempel, dann wieder zum Turm. Aber als er sie zusammen sah, schien es ihm, als sähe er beide Gebäude zum ersten Mal. Beide sahen vollständiger, abgeschlossener und ganzheitlicher aus, als wenn man sie einzeln und für sich betrachtete. Dieser Eindruck war flüchtig, und er wollte darüber erst später nachdenken. Jetzt konnte er nur an eins denken...

»Dann lebst du dort? Mit Rai... mit ihm?« Tanis konnte sich noch so sehr anstrengen, aber er wußte, daß er den Namen des Erzmagiers nur mit bitterem Zorn aussprechen konnte, darum vermied er ihn ganz.

»Er ist mein Shalafi«, antwortete Dalamar mit einer Stimme, die vor Schmerzen angespannt war.

»Du bist also sein Lehrling?« fragte Tanis, der sich an dies Elfenwort für »Meister« erinnern konnte. Er runzelte die Stirn. »Was tust du dann hier? Hat er dich geschickt?« Wenn ja, dachte der Halb-Elf, werde ich diesen Ort verlassen, auch wenn ich den ganzen Weg nach Solanthas laufen müßte.

»Nein«, erwiderte Dalamar. Er hatte jetzt jegliche Gesichtsfarbe verloren. »Aber wir werden über ihn sprechen.« Der Dunkelelf zog seine Kapuze über den Kopf. Als er sprach, geschah das offensichtlich nur unter großer Anstrengung. »Und jetzt muß ich dich zur Eile antreiben. Elistan hat mich zwar mit einem Zauber ausgestattet, der mir diese Strapaze erleichtert, aber ich möchte es trotzdem schnell hinter mich bringen.«

Elistan stattete schwarzgekleidete Zauberkundige mit einem Zauber aus? Raistlins Lehrling? In völliger Verwirrung beschleunigte Tanis seinen Schritt.

»Tanis, mein Freund!«

Elistan, Kleriker von Paladin und Oberhaupt der Kirche des Kontinents Ansalon, streckte dem Halb-Elfen die Hand entgegen. Tanis ergriff sie herzlich und versuchte zu übersehen, wie geschwächt und kraftlos der ehemals starke, feste Griff des Klerikers gewesen war. Tanis mußte noch stärker mit sich ringen, sein Gesicht zu kontrollieren und die Gefühle von Schock und das Mitleid zu verbergen, als er auf die zerbrechliche, fast skelettartige Gestalt im Bett schaute, die mit Kissen abgestützt wurde.

»Elistan...«, begann Tanis herzlich.

Einer der weißgekleideten Kleriker, die sich in der Nähe ihres Oberhauptes aufhielten, sah zum Halb-Elfen auf und runzelte die Stirn.

»Ich meine, Verehrter Sohn« – Tanis stolperte über die formelle Anrede – »du siehst gut aus.«

»Und du, Tanis, Halb-Elf, läßt dich neuerdings zu Lügen herab«, bemerkte Elistan und lächelte über den Ausdruck von Betroffenheit, den Tanis verzweifelt aus seinem Gesicht zu verbannen suchte.

Elistan schlug mit seinen mageren weißen Fingern leicht auf Tanis’ sonnengebräunte Hand. »Und albere nicht mit diesem ›Verehrter Sohn‹-Quatsch herum. – Ja, ich weiß, es wäre angemessen und korrekt, Garad, aber dieser Mann kannte mich schon, als ich noch Sklave in den Minen von Pax Tarkas war. Jetzt macht schon, ihr alle«, scheuchte er die herumstehenden Kleriker. »Bringt alles herbei, was wir haben, um es unseren Gästen gemütlich zu machen.«

Sein Blick glitt hinüber zu dem Dunkelelfen, der auf einem Stuhl neben dem Feuer zusammengebrochen war, das in Elistans privatem Zimmer brannte. »Dalamar«, sagte Elistan sanft, »diese Reise war für dich bestimmt nicht angenehm. Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet, daß du es auf dich genommen hast. Aber hier in meinen Räumen, glaube ich, kannst du dich entspannen. Was möchtest du trinken?«

»Wein«, quälte sich der Dunkelelf mit Lippen zu antworten, die steif und aschgrau waren. Tanis sah die Hände des Elfen auf der Stuhllehne zittern.

»Bringt Wein und Essen für unsere Gäste«, befahl Elistan den Klerikern, die nacheinander das Zimmer verließen, wobei einige dem schwarzgekleideten Magier mißbilligende Blicke zuwarfen. »Bringt Astinus sofort bei seiner Ankunft hierher, und dann kümmert euch darum, daß wir nicht gestört werden.«

»Astinus?« Tanis riß vor Erstaunen den Mund auf. »Astinus, der Chronist?«

»Ja, Halb-Elf.« Elistan lächelte wieder. »Das Sterben verleiht einem eine besondere Bedeutung. Die mich sonst keines Blickes gewürdigt haben, stehen jetzt Schlange, um mich zu sehen. Lautete so nicht das Gedicht des alten Mannes? Nun komm, Halb-Elf. Alles ist ausgesprochen. Ja, ich weiß, daß ich im Sterben liege. Ich weiß es seit langer Zeit. Meine Monate schrumpfen zu Wochen. Komm, Tanis. Du hast früher schon Menschen sterben sehen. Du hast mir doch selbst mal erzählt, was dir der Herr der Wälder im Düsterwald sagte: ›Wir betrauern nicht den Verlust derjenigen, deren Schicksal sich erfüllte!‹ Mein Leben hat sich erfüllt, Tanis – mehr, als ich mir jemals vorstellen konnte.« Elistan sah aus dem Fenster auf die weiten Rasenflächen, die blühenden Gärten und – weit in der Ferne – auf den dunklen Turm der Erzmagier.

»Es war mir gegeben, der Welt wieder die Hoffnung zurückzubringen, Halb-Elf«, sagte Elistan leise. »Hoffnung und Heilung. Welcher Mensch kann mehr von sich sagen? Ich gehe in dem Wissen, daß die Kirche wieder fest eingerichtet ist. Es gibt jetzt bei allen Rassen wieder Kleriker. Ja, sogar bei den Kendern.« Elistan fuhr lächelnd mit einer Hand über sein weißes Haar. »Ah«, seufzte er, »welch mühsame Zeit das für unseren Glauben war, Tanis! Und immer noch sind wir nicht in der Lage, genau festzuhalten, was alles fehlt. Aber es sind Leute mit gutem Herzen und guter Seele. Wann immer ich die Geduld zu verlieren begann, habe ich an Fizban gedacht – Paladin, wie er sich uns offenbart hat – und die besondere Liebe, die er für deinen kleinen Freund Tolpan hegte.«

Tanis’ Gesicht verdunkelte sich beim Namen des Kenders, und es schien ihm, als ob Dalamar, der in die tänzelnden Flammen gestarrt hatte, ebenfalls kurz aufblickte. Aber Elistan bemerkte es nicht.

»Ich bedaure lediglich, daß ich von euch gehe, ohne einen wahrhaft fähigen Nachfolger zurückzulassen.« Elistan schüttelte den Kopf. »Garad ist ein guter Mann. Zu gut. Ich sehe, wie er sich zu einem weiteren Königspriester entwickelt. Aber er versteht noch nicht, daß das Gleichgewicht bewahrt werden muß, daß wir alle aufgerufen sind, diese Welt zu vervollständigen. Ist das nicht so, Dalamar?«

Zu Tanis’ Überraschung nickte der Dunkelelf. Er hatte seine Kapuze zurückgezogen und hatte es geschafft, etwas Rotwein zu trinken, den die Kleriker ihm gebracht hatten. Die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, und seine Hände zitterten nicht mehr. »Du bist klug, Elistan«, sagte der Dunkelelf leise. »Ich wünschte, auch andere wären so verständig.«

»Vielleicht ist es nicht Klugheit, sondern eher die Fähigkeit, die Dinge von allen Seiten zu betrachten und nicht nur von einer.« Elistan wandte sich an Tanis. »Du, Tanis, mein Freund, hast du nicht den Anblick bemerkt und geschätzt, als du gekommen bist?« Er zeigte schwach zum Fenster, durch das der Turm der Erzmagier deutlich zu sehen war.

»Ich bin mir nicht sicher, was du meinst«, wich Tanis aus, nervös wie immer, wenn er seine Gefühle mitteilen sollte.

»Du weißt es auch, Halb-Elf«, drängte Elistan, der zu seiner alten Forschheit zurückkehrte. »Du hast auf den Turm gesehen und dann auf den Tempel und gedacht, daß es richtig und passend ist, daß sie so dicht nebeneinander stehen. Oh, es gab viele, die gegen diesen Standort des Tempels Einwände erhoben haben. Garad, und natürlich Crysania...«

Als dieser Name fiel, würgte Dalamar, hustete und setzte eihg sein Weinglas ab. Tanis erhob sich und begann unwillkürlich durch den Raum zu schreiten – wie es seine Angewohnheit war – und setzte sich plötzlich wieder hin, weil ihm der Gedanke kam, daß sein Herumlaufen den sterbenden Mann vielleicht stören könnte. Nervös bewegte er sich auf seinem Sitz.

»Gibt es Neuigkeiten über sie?« fragte er leise.

»Es tut mir leid, Tanis«, antwortete Elistan sanft. »Ich wollte dich nicht beunruhigen. Du mußt endlich aufhören, dir die Schuld zu geben. Was sie tat, entschied sie aus ihrem freien Willen heraus. Ich hätte mich auch nicht anders verhalten. Du hättest sie nicht aufhalten und nicht vor ihrem Schicksal bewahren können – welches auch immer es ist. Nein, es gibt keine Neuigkeiten über sie.«

»Doch«, widersprach Dalamar mit kalter, gefühlloser Stimme und zog sofort die Aufmerksamkeit beider Männer im Zimmer auf sich. »Das ist ein Grund, warum ich euch zusammenrief...«

»Du hast uns zusammengerufen?« wiederholte Tanis und erhob sich wieder. »Ich dachte, Elistan hätte uns hergebeten. Steckt dein Meister dahinter? Ist er für das Verschwinden der Frau verantwortlich?« Er trat einen Schritt vor, und sein Gesicht hinter dem rötlichen Bart lief rot an. Auch Dalamar stand jetzt auf. Seine Augen glitzerten gefährlich, und seine Hand glitt fast unmerklich in einen der Beutel, die er am Gürtel trug. »Bei den Göttern, falls er ihr etwas angetan hat, werde ich seinen goldenen Hals umdrehen...«

»Astinus von Palanthas«, verkündete ein Kleriker an der Tür.

Der Historiker stand im Türrahmen. Sein zeitloses Gesicht war bar jeden Ausdrucks, während seine grauen Augen durch den Raum fuhren und alles und jeden mit peinlich genauer Aufmerksamkeit bis ins kleinste Detail aufnahmen, damit sein Federhalter das alles später festhalten konnte. Sein Blick wanderte zu Tanis’ gerötetem, zornigem Gesicht, zu den stolzen, trotzigen Zügen des Elfen und schließlich zu der erschöpften, geduldigen Miene des sterbenden Klerikers.

»Laßt mich raten«, sagte Astinus, trat gelassen ein und nahm Platz. Er legte ein riesiges Buch auf den Tisch und öffnete es bei einer leeren Seite, nahm dann einen Federhalter aus einer Holzschachtel, die er bei sich trug, untersuchte sorgfältig die Spitze und sah schließlich auf. »Tinte, Freund«, sagte er zu einem eingeschüchterten Kleriker, der – nach einem Nicken von Elistan – eilig das Zimmer verließ. Dann setzte der Historiker seinen Satz fort: »Laßt mich raten. Ihr habt über Raistlin Majere geredet.«

»Das stimmt«, sagte Dalamar. »Ich habe euch hergebeten.«

Der Dunkelelf nahm wieder seinen Platz am Feuer ein. Tanis, immer noch mit finsterem Blick, ging zu seinem Stuhl neben Elistan zurück. Der Kleriker Garad, der mit Tinte für Astinus zurückgekehrt war, fragte nach weiteren Wünschen. Nach einer abschlägigen Antwort verließ er das Zimmer, nachdem er streng darauf hingewiesen hatte, daß Elistan krank sei und nicht lange gestört werden dürfe und Rücksichtnahme auch im Interesse der Anwesenden sei.

»Ich habe euch hergebeten, euch alle«, wiederholte Dalamar, während sein Blick auf das Feuer gerichtet blieb. Dann hob er den Kopf und sah direkt Tanis an. »Dein Kommen war für dich eine kleine Unbequemlichkeit. Aber mein Kommen geschah in dem Wissen, daß ich die Qual meines ganzen Glaubens erleide, wenn ich mich auf diesen heiligen Boden begebe. Aber es ist unumgänglich, daß ich mit euch allen spreche, mit euch allen zusammen. Ich wußte, daß Elistan nicht zu mir kommen konnte. Ich wußte, daß Tanis, der Halb-Elf, nicht zu mir kommen würde. Und so blieb mir keine andere Wahl, als...«

»Fahr fort«, unterbrach Astinus mit seiner tiefen, sachlichen Stimme. »Die Welt geht weiter, während wir hier sitzen. Du hast uns alle zusammengerufen. Das ist geschehen. Aus welchem Grund?«

Dalamar schwieg einen Moment, und sein Blick glitt wieder zum Feuer. Als er wieder sprach, sah er nicht auf.

»Unsere schlimmsten Befürchtungen haben sich bestätigt«, sagte er leise. »Er war erfolgreich.«

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