10

Der Junge lief durch die Straßen von Solace. Er war nicht attraktiv, und das wußte er – so wie er viel über sich wußte, was Kindern nicht häufig gegeben ist. Aber er verbrachte viel Zeit mit sich selbst. Heute jedoch war er nicht allein. Sein Zwillingsbruder, Caramon, war bei ihm. Raistlin blickte finster. Er schlurfte durch die staubigen Dorfstraßen und beobachtete den Staub, wie er in Wolken um ihn aufwirbelte. Er lief dort zwar nicht allein, aber auf eine merkwürdige Art war er mit Caramon eher allein als ohne ihn. Viele Menschen riefen seinem liebenswürdigen, gutaussehenden Zwillingsbruder Grüße zu. Doch niemals galt ihm ein Wort. Alle riefen Caramon, er solle sich zu ihren Spielen gesellen. Niemand lud Raistlin ein. Die Mädchen sahen Caramon auf diese besondere Art aus den Augenwinkeln an, die Mädchen eben eigen ist. Mädchen bemerkten Raistlin niemals.

»He, Caramon, möchtest du König des Schlosses spielen?« gellte eine Stimme.

»Möchtest du, Raist?« fragte Caramon, und sein Gesicht strahlte erwartungsvoll auf. Kräftig und athletisch wie er war, genoß Caramon das rauhe, anstrengende Spiel. Aber Raistlin wußte, daß er sich bald schwach und schwindelig fühlen würde, wenn er sich auf ein Spiel einließ. Und er wußte vorher, daß die anderen Jungen sich streiten würden, welche Mannschaft ihn aufnehmen müßte.

»Nein, aber geh nur.«

Caramon machte ein langes Gesicht. Mit einem Schulterzucken sagte er dann: »Nein, ist schon in Ordnung, Raistlin. Ich bleibe lieber bei dir.«

Raistlin spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog und wie sich sein Magen verkrampfte. »Nein, Caramon«, wiederholte er leise, »es ist in Ordnung. Mach schon und geh spielen.«

»Du siehst aus, als ob du dich nicht gut fühlst, Raist«, sagte Caramon. »Es ist nicht so wichtig. Wirklich. Komm schon, zeig mir den neuen Zaubertrick, den du gelernt hast – den mit den Münzen...«

»Behandel mich nicht so!« hörte Raistlin sich schreien. »Ich brauche dich nicht! Ich will dich nicht in meiner Nähe haben! Geh schon! Geh und spiel mit diesen Narren! Ihr alle zusammen seid ein Haufen Narren! Ich brauche keinen von euch!«

Caramons Gesicht fiel zusammen. Raistlin kam sich vor, als hätte er gerade einen Hund getreten. Dies Gefühl machte ihn nur noch zorniger. Er wandte sich ab.

»Sicher, Raist, wenn du es so möchtest«, murmelte Caramon.

Über seine Schulter sah Raistlin seinen Zwillingsbruder zu den anderen laufen. Mit einem Seufzer setzte er sich an einen schattigen Platz, zog eines seiner Zauberbücher aus seinem Beutel, versuchte, die Rufe, das Lachen und Grüßen zu überhören, und begann zu studieren. Bald schon zog ihn der Reiz der Magie vom Staub und dem Lachen und den verletzten Augen seines Bruders fort. Sie führte ihn in ein verzaubertes Land, in dem er die Elemente kommandierte, in dem er die Wirklichkeit kontrollierte...

Das Zauberbuch fiel aus seinen Händen und landete im Staub zu seinen Füßen. Raistlin sah erschreckt auf. Zwei Jungen hatten sich vor ihm aufgebaut. Einer hielt einen Stock in der Hand. Er stieß damit gegen das Buch, dann hob er den Stock und stieß Raistlin hart gegen die Brust.

Ihr seid Wanzen, teilte Raistlin den Jungen stumm mit. Insekten. Ihr bedeutet mir nichts. Weniger als nichts. Den Schmerz in seiner Brust überging er, das vor ihm stehende Insektenleben übersah er und streckte seine Hand nach dem Buch aus. Einer der Jungen trat auf seine Finger.

Noch ängstlich, wobei inzwischen bereits der Zorn überwog, erhob sich Raistlin. Seine Hände waren sein Lebensunterhalt. Mit ihnen konnte er mit den zerbrechlichen Zauberzutaten hantieren, mit ihnen zeichnete er die Linien der feinen, geheimnisvollen Symbole seiner Kunst in der Luft nach.

»Laßt mich in Ruhe«, sagte er kalt, und die Art, wie er sie anherrschte, und der Blick in seinen Augen ließ die zwei Jungen einen Augenblick verblüfft innehalten. Aber inzwischen hatte sich um sie eine Zuschauermenge geschart. Die anderen Jungen hatten ihr Spiel aufgegeben und traten nun hinzu, um sich den Spaß anzusehen. In dem Bewußtsein, daß die anderen ihn beobachteten, weigerte sich der Junge mit dem Stock, diesen mageren, winselnden, schleichenden Bücherwurm in Ruhe zu lassen.

»Was willst du denn mit mir machen?« höhnte der Junge. »Willst du mich etwa in einen Frosch verwandeln?«

Gelächter folgte. Die Worte eines Zaubers formten sich in Raistlins Gedächtnis. Es war ein Zauberspruch, den er noch nicht gelernt haben durfte, es war ein Angriffszauber, ein verletzender Zauber, ein Zauber, der nur in echter Gefahr anzuwenden war. Sein Meister würde fuchsteufelswild werden. Raistlin lächelte mit schmalen Lippen. Angesichts dieses Lächelns und des Blicks in seinen Augen schreckte einer der Jungen zurück.

»Laß uns gehen«, murmelte er seinem Gefährten zu.

Aber der andere Junge blieb stehen. Hinter ihm konnte Raistlin seinen Bruder mit wütendem Gesicht in der Menge stehen sehen.

Raistlin begann die Worte zu sprechen, und dann erstarrte er. Nein! Irgend etwas stimmte nicht! Er hatte etwas vergessen! Seine Magie würde nicht funktionieren! Nicht hier! Seine Worte kamen als sinnloses Gestammel hervor. Sie ergaben keinen Sinn. Nichts geschah! Die Jungen lachten. Ein Junge hob seinen Stock und stieß ihn Raistlin in den Magen, schlug ihn zu Boden und trieb den Atem aus seinem Körper.

Er kauerte auf Händen und Knien und japste nach Luft. Jemand trat ihn. Ein Stock schlug über seinen Rücken. Ein anderer traf ihn. Er rollte jetzt auf dem Boden, würgte im Staub, und seine dünnen Arme versuchten verzweifelt, seinen Kopf zu schützen. Tritte und Schläge regneten auf ihn herab. »Caramon!« schrie er. »Caramon, hilf mir!«

Aber eine tiefe, strenge Stimme antwortete lediglich: »Du brauchst mich doch nicht, hast du das vergessen?«

Ein Stein traf ihn am Kopf und verletzte ihn schrecklich. Und er wußte, auch wenn er es nicht sehen konnte, daß Caramon ihn geworfen hatte. Er verlor das Bewußtsein.

Hände zogen ihn auf der staubigen Straße entlang, sie zerrten ihn zu einer Grube von unermeßlicher Dunkelheit und Kälte, in Eiseskälte. Sie würden ihn in dieses Loch schleudern, und er würde fallen, endlos fallen, durch die Dunkelheit und die Kälte. Und niemals würde er auf dem Grund aufschlagen, denn es gab keinen Grund...

Crysania starrte um sich. Wo war sie? Wo war Raistlin? Kurz zuvor war er noch bei ihr gewesen und hatte sich geschwächt auf ihren Arm gestützt. Und auf einmal war er verschwunden, und sie hatte sich wiedergefunden, wie sie allein durch ein fremdes Dorf lief.

War es wirklich fremd? Sie glaubte sich zu erinnern, dort schon einmal gewesen zu sein, zumindest an einem ähnlichen Ort. Hohe Vallenholzbäume umgaben sie. Die Häuser im Dorf waren in diese Bäume gebaut. In einen Baum war ein Wirtshaus gebaut. Sie sah ein Schild.

Solace.

Wie seltsam, wunderte sie sich, als sie sich umschaute. Es war Solace, das stimmte. Sie war hier kürzlich mit Tanis, dem Halb-Elfen, gewesen, um Caramon zu suchen. Aber dieses Solace war anders. Alles war rot eingefärbt und ein klein wenig verzerrt. Sie wollte ihre Augen reiben, um besser sehen zu können.

»Raistlin!« schrie sie.

Es kam keine Antwort. Die Leute, die an ihr vorbeigingen, taten so, als ob sie sie weder hörten noch sähen. »Raistlin!« schrie sie und geriet in Panik. Was war mit ihm geschehen? Wohin war er gegangen? Hatte die Dunkle Königin...

Sie vernahm einen Aufruhr, Kinder schrien und kreischten, und über dem Lärm hörte sie einen dünnen, hohen Hilfeschrei.

Crysania wandte sich um und erblickte eine Gruppe von Kindern, die um eine zusammengekauerte Gestalt versammelt waren. Sie sah schlagende Fäuste und tretende Füße, sie sah einen Stock, der gehoben und mit voller Wucht niedergeschlagen wurde. Wieder hörte sie diesen hohen Schrei. Crysania beobachtete die Passanten um sich herum, aber die schienen nicht wahrzunehmen, daß etwas Ungewöhnliches geschah.

Crysania raffte ihre weißen Roben und lief zu den Kindern. Als sie sich näherte, sah sie, daß die Gestalt mitten im Kreis ein Kind war! Ein kleiner Junge! Sie töten ihn, erkannte sie in plötzlichem Entsetzen. Sie erreichte die Menge, packte ein Kind und riß es weg. Bei der Berührung ihrer Hand wirbelte das Kind herum, um sie anzusehen. Crysania wich beunruhigt zurück.

Das Gesicht des Kindes war weiß, leichenblaß, schädelgleich. Die Haut spannte sich straff über die Knochen, die Lippen waren lila gefärbt. Es zeigte ihr seine Zähne, und die Zähne waren schwarz und faulig. Das Kind schlug mit einer Hand nach ihr. Lange Fingernägel rissen an ihrer Haut und jagten einen stechenden, lähmenden Schmerz durch ihren Körper. Keuchend ließ sie los, und das Kind – mit einem Grinsen entstellter Freude auf dem Gesicht – wandte sich ab, um den Jungen auf dem Boden weiter zu quälen.

Crysania starrte benommen und geschwächt vom Schmerz auf die blutenden Wunden an ihrem Arm und hörte wieder den Jungen schreien. »Paladin, hilf mir«, betete sie. »Gib mir Kraft.«

Entschlossen ergriff sie eines der Dämonenkinder und schleuderte es beiseite, dann nahm sie sich das nächste vor. Es gelang ihr, das Kind auf dem Boden zu erreichen. Sie beschützte den blutenden, bewußtlosen Jungen mit ihrem Körper und versuchte verzweifelt, die Kinder zu vertreiben.

Immer wieder spürte sie, wie lange Fingernägel sich in ihre Haut gruben, und das Gift strömte durch ihren Körper. Aber schnell bemerkte sie auch, daß die Kinder sich schmerzerfüllt zurückzogen, sobald sie sie berührt hatten. Schließlich verschwanden sie alle mit düsteren Mienen in ihren Alptraumgesichtern und ließen sie – blutend und krank – mit ihrem Opfer allein zurück.

Sanft drehte sie den zerschlagenen Körper des Jungen zu sich herum. Sie strich sein braunes Haar zurück und sah in sein Gesicht. Ihre Hände begannen zu zittern. Es bestand kein Irrtum über diese feinen Gesichtszüge, die zerbrechlichen Knochen, das hervorstehende Kinn.

»Raistlin!« flüsterte sie und hielt seine kleine Hand in der ihren.

Der Junge öffnete die Augen...

Der Mann, in schwarze Roben gehüllt, richtete sich auf.

Crysania starrte ihn an, während er sich grimmig umschaute. »Was ist geschehen?« fragte sie bebend und spürte die Wirkungen des Giftes inzwischen im ganzen Körper.

Raistlin nickte bestätigend. »Auf diese Weise quält und foltert sie mich«, erklärte er leise. »Auf diese Weise kämpft sie gegen mich und schlägt bewußt dort auf mich ein, wo ich am schwächsten bin.« Die goldenen Stundenglasaugen wandten sich zu Crysania, und seine dünnen Lippen lächelten. »Du kämpfst für mich. Du hast sie besiegt.« Er zog sie an sich und hüllte sie in seine schwarzen Roben. Eng drückte er sie an sich. »Jetzt ruh dich aus. Der Schmerz wird vorbeigehen, und dann reisen wir weiter.«

Immer noch zitternd legte Crysania ihren Kopf an die Brust des Erzmagiers. Sie hörte seinen Atem in seinen Lungen zischen und rasseln, sie roch diesen süßen, schwachen Duft von Rosenblättern und Tod...

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