17

»Verdammt bewölkt! Falls sich ein Gewitter zusammenbraut, wünsche ich, daß es kommt und damit auch erledigt ist«, murmelte Fürst Gunther.

Etwas viel Wind, dachte Tanis sarkastisch, aber er behielt seine Gedanken für sich. Er behielt auch Dalamars Worte für sich, da er wußte, daß Fürst Gunther ihnen sowieso keinen Glauben schenken würde. Der Halb-Elf war nervös und gereizt. Es fiel ihm schwer, dem anscheinend gelassenen Ritter gegenüber die Ruhe zu bewahren. Teilweise lag es an dem seltsam aussehenden Himmel. Wie Dalamar vorausgesagt hatte, war an diesem Morgen die Sonne nicht aufgegangen. Statt dessen hingen rötlichblaue, grün angehauchte Wolken brodelnd und schäumend am Himmel, zwischen denen schaurige vielfarbene Blitze zuckten. Es war völlig windstill. Kein Regen fiel. Der Tag wurde heiß und drückend. Die mit schweren Plattenpanzern gerüsteten Ritter, die auf den Zinnen des Turms des Oberklerikers ihre Rundgänge machten, wischten sich den Schweiß von der Stirn und murmelten etwas von Frühlingsstürmen.

Noch zwei Stunden zuvor war Tanis in Palanthas gewesen, hatte sich auf den Seidenlaken seines Bettes in Herrscher Amothuds Gästezimmer gedreht und gewälzt und über Dalamars rätselhafte letzte Worte gegrübelt. Der Halb-Elf hatte fast die ganze Nacht damit verbracht, über sie und auch über Elistan nachzudenken.

Kurz vor Mitternacht hatte die Nachricht den Palast erreicht, daß der Kleriker von Paladin aus dieser Welt in ein anderes, strahlenderes Reich getreten war. Er war friedlich gestorben, den Kopf in die Arme eines verwirrten, liebenswerten alten Zauberers gebettet, der auf mysteriöse Weise aufgetaucht und genauso mysteriös wieder verschwunden war. Voller Sorge um Dalamars Warnung, voller Trauer um Elistan, voller Gedanken darüber, daß er schon so viele sterben gesehen hatte, war Tanis gerade erschöpft in den Schlaf gefallen, als ein Bote für ihn ankam.

»Deine Anwesenheit unverzüglich erforderlich. Turm des Oberklerikers – Fürst Gunther Uth Wistan.«

Tanis erfrischte mit kaltem Wasser sein Gesicht, wies die Versuche eines Dieners des Herrschers Amothud ab, sich in seine Lederrüstung helfen zu lassen, zog sich an, lehnte auch Charles’ Angebot zum Frühstück höflich ab und taumelte aus dem Palast. Draußen erwartete ihn ein junger bronzener Drache, der sich als Feuerblitz vorstellte, sein geheimer Name war Khirsah.

»Ich kenne zwei Freunde von dir, Tanis, Halb-Elf«, erzählte der junge Drache, während seine starken Flügel sie mühelos über die Mauern der schlafenden Stadt trugen. »Ich hatte die Ehre, in der Schlacht am Vingaard-Gebirge zu kämpfen, und trug den Zwerg Flint Feuerschmied und den Kender Tolpan Barfuß in den Kampf.«

»Flint ist tot«, sagte Tanis mit schwerer Stimme und rieb sich die Augen. Zu viele hatte er sterben gesehen.

»Das habe ich gehört«, erwiderte der junge Drache respektvoll. »Und es hat mir leid getan. Aber er führte ein reiches, erfülltes Leben. Für solch einen kommt der Tod als letzte Ehre.«

Sicher, dachte Tanis müde. Und was ist mit Tolpan, dem glücklichen, gutmütigen, gutherzigen Kender, der vom Leben nichts weiter erwartete als Abenteuer und einen Beutel voller Wunder? Wenn es stimmte, daß Raistlin ihn getötet hatte, wie Dalamar andeutete – welche Ehre lag dann in seinem Tod? Und Caramon, armer, betrunkener Caramon – erlitt er den Tod durch die Hände seines Zwillingsbruders als letzte Ehre, oder war es der endgültige Messerhieb, um sein Elend zu beenden?

Grübelnd schlief Tanis auf dem Rücken des Drachen ein und wurde erst wach, als Khirsah am Turm des Oberklerikers landete. Als er sich grimmig umschaute, wurde Tanis’ Laune auch nicht besser. Er war mit den Gedanken an Tod geritten, nur um auch hier auf Gedanken an den Tod zu treffen, denn hier war Sturm beerdigt – auch eine letzte Ehre.

Tanis war daher in düsterer Stimmung, als er in die Gemächer von Fürst Gunther geführt wurde, die sich hoch oben im Turm befanden. Sie boten einen hervorragenden Ausblick auf den Himmel und das Land. Als Tanis aus dem Fenster starrte und die Wolken ahnungsvoll als unheilvolles Omen beobachtete, wurde er sich nur allmählich bewußt, daß Fürst Gunther eingetreten war und ihn ansprach.

»Ich bitte um Verzeihung, Fürst«, murmelte er und drehte sich um.

»Tarbäischen Tee?« fragte Fürst Gunther und hielt einen dampfenden Becher mit dem bitter schmeckenden Getränk hoch.

»Ja, danke.« Tanis nahm das Getränk an und schluckte es hinunter. Er begrüßte die Wärme, die sich in seinem Körper ausbreitete, und überging die Tatsache, daß er sich die Zunge verbrannt hatte.

Fürst Gunther hatte sich zu Tanis ans Fenster gestellt, starrte hinaus in den Sturm und nippte mit einer Ruhe an seinem Tee, die den Halb-Elfen zu dem geheimen Wunsch verleitete, den Schnurrbart des Ritters zu packen.

Warum hast du mich rufen lassen? kochte Tanis innerlich. Aber er wußte, daß der Ritter auf dem jahrhundertealten Ritual der Höflichkeit bestehen würde, bevor er zum Punkt kam.

»Hast du von Elistan gehört?« fragte Tanis schließlich.

Gunther nickte . »Ja, wir haben es heute früh erfahren. Die Ritter werden zu seinen Ehren eine Zeremonie hier im Turm abhalten... wenn es uns erlaubt ist.«

Tanis verschluckte sich am Tee. Nur ein Grund konnte die Ritter von einer Zeremonie zu Ehren eines Klerikers des Gottes Paladin abhalten – Krieg. »Erlaubt? Habt ihr Neuigkeiten erhalten? Neuigkeiten aus Sanction? Was ist mit den Spionen...«

»Unsere Spione wurden ermordet«, sagte Lord Gunther.

Tanis wandte sich vom Fenster ab. »Was? Wie...«

»Ihre verstümmelten Leichen wurden gestern abend von schwarzen Drachen zur Festung Solanthas gebracht und in den Hof geworfen. Dann kam dieser seltsame Sturm auf – perfekte Deckung für Drachen und...« Lord Gunther verstummte und starrte mit finsterem Blick aus dem Fenster.

»Drachen und was?« verlangte Tanis zu wissen. Eine Ahnung begann in seinem Geist Gestalt anzunehmen. Heißer Tee ergoß sich über seine zitternde Hand. Hastig stellte er den Becher auf die Fensterbank.

Gunther zog an seinem Schnurrbart, und sein Blick wurde finsterer. »Seltsame Berichte haben uns erreicht, zuerst aus Solanthas, dann aus Vingaard.«

»Was für Berichte. Hat man etwas gesehen? Was?«

»Sie haben nichts gesehen. Es geht darum, was sie gehört haben. Seltsame Geräusche aus den Wolken – oder vielleicht über den Wolken.«

Tanis’ Gedanken glitten zu Flußwinds Beschreibung der Belagerung von Kalaman. »Drachen?«

Gunther schüttelte den Kopf. »Stimmen, Gelächter, Türen, die geöffnet und zugeschlagen werden, Gepolter, Knarren...«

»Ich wußte es!« Tanis’ geballte Faust schlug auf das Fensterbrett. »Ich wußte, daß Kitiara einen Plan hat! Natürlich! Das muß es sein!« Düster starrte er auf die schäumenden Wolken. »Eine fliegende Zitadelle!«

Neben ihm seufzte Gunther schwer auf. »Ich habe dir gesagt, daß ich diese Drachenfürstin hoch schätze, Tanis. Offensichtlich habe ich sie nicht hoch genug eingeschätzt. Mit einem Schlag hat sie ihre Probleme mit Truppenbewegung und Logistik gelöst. An Versorgungslinien hat sie keinen Bedarf, sie führt den Nachschub mit sich. Der Turm des Oberklerikers wurde zur Verteidigung gegen Landangriffe gebaut. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir uns gegen eine fliegende Zitadelle behaupten können. In Kalaman sind Drakonier von der Zitadelle gesprungen, auf ihren Flügeln herabgeschwebt und haben den Tod in die Straßen gebracht. Schwarzgekleidete Zauberkundige schleuderten Flammenkugeln hinab, und bei ihr sind natürlich die bösen Drachen.

Ich hege natürlich keinen Zweifel daran, daß die Ritter die Festung gegen die Zitadelle halten können«, fügte Gunther ernst hinzu. »Aber die Schlacht wird härter, als ich angenommen habe. Ich habe unsere Strategie korrigiert. Kalaman hat den Angriff der Zitadelle überlebt, weil sie abgewartet haben, bis die meisten Soldaten abgesprungen waren, und dann haben die guten Drachen bewaffnete Männer zur Zitadelle geflogen und sie in ihre Gewalt gebracht. Wir werden natürlich die meisten Ritter hier in der Festung lassen, um die Drakonier zu bekämpfen, die sich auf uns herabstürzen werden. Ungefähr hundert Männer mit bronzenen Drachen stehen bereit, um hochzufliegen und den Angriff auf die fliegende Zitadelle zu starten.«

Das war sinnvoll, gestand sich Tanis ein. Die Schlacht in Kalaman war ähnlich verlaufen, wie Flußwind ihm erzählt hatte. Aber Tanis wußte auch, daß sie dort keineswegs in der Lage gewesen waren, die Zitadelle zu halten. Man hatte sie nur vertreiben können. Kitiaras Soldaten hatten die Schlacht in Kalaman aufgegeben und ihre Zitadelle zurückerobert und wieder nach Sanction gebracht, wo Kitiara sie offensichtlich zum erneuten Einsatz in Gang gesetzt hatte.

Er wollte gerade darauf hinweisen, als er von Fürst Gunther unterbrochen wurde.

»Wir erwarten den Angriff der Zitadelle fast jeden Moment«, sagte Gunther, der immer noch ruhig aus dem Fenster blickte. »In der Tat...«

Tanis griff Gunther am Arm. »Dort!« Er wies in eine Richtung.

Gunther nickte. Er wandte sich zu einem Burschen an der Tür und befahl: »Gib Alarm!«

Trompeten schmetterten, Trommeln schlugen. Die Ritter nahmen ihre Stellungen auf den Zinnen zügig und ordnungsgemäß ein. »Wir sind schon fast die ganze Nacht in Alarmbereitschaft«, fügte Gunther unnötigerweise hinzu.

Die Ritter waren diszipliniert, so daß keiner sprach oder aufschrie, als die fliegende Festung die Deckung der Gewitterwolken verließ und in Sichtweite schwebte. Die Hauptleute machten ihre Runden und erteilten mit gedämpfter Stimme Befehle. Trompeten schmetterten trotzig und herausfordernd. Gelegentlich hörte Tanis das Klirren einer Rüstung, wenn sich hier und dort ein Ritter nervös an seinem Platz bewegte. Und dann hörte er hoch oben das Schlagen von Drachenflügeln, als Scharen von bronzenen Drachen – angeführt von Khirsah – sich vom Turm in den Himmel erhoben.

»Ich bin dankbar, daß du mich überredet hast, den Turm des Oberklerikers zu verstärken, Tanis«, sagte Gunther, der immer noch sorgsam um Gelassenheit bemüht war. »Wie die Dinge lagen, habe ich mich aber nur an Ritter wenden können, die praktisch sofort antreten konnten. Trotzdem stehen hier jetzt mehr als zweitausend zur Verfügung. Wir sind mit Proviant gut ausgerüstet. Ja«, wiederholte er nochmals, »wir können den Turm halten – sogar gegen eine Zitadelle, da habe ich keine Zweifel. Kitiara kann nicht mehr als tausend Soldaten in diesem Ding haben...«

Tanis wünschte sich verdrießlich, daß Gunther mit diesen Überlegungen aufhören würde. Es hörte sich an, als ob der Ritter versuchte, sich selbst zu überzeugen. Während er auf die Zitadelle starrte, die immer näher rückte, schrie eine innere Stimme ihn an und kreischte, daß irgend etwas nicht stimmte...

Und trotzdem konnte er sich nicht bewegen. Er konnte nicht denken. Die fliegende Zitadelle war jetzt deutlich sichtbar, war jetzt vollständig aus den Wolken hervorgetreten. Sie nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er erinnerte sich daran, wie er sie das erste Mal in Kalaman gesehen hatte, rief sich den fesselnden Schock ins Gedächtnis zurück, den der Anblick bei ihm ausgelöst hatte, gleichzeitig beängstigend und ehrfurchterregend. Wie zuvor konnte er nur dastehen und sie anstarren.

In den Tiefen der dunklen Tempel der Stadt Sanction war es schwarzgekleideten Magiern und dunklen Klerikern unter der Leitung von Lord Ariakas – dem Befehlshaber der Drachenarmee, dessen bösartige Genialität fast zum Sieg der Dunklen Königin geführt hatte – gelungen, auf magischem Weg ein Schloß aus seinen Grundmauern zu reißen und in den Himmel zu heben. Die fliegende Zitadelle hatte mehrere Städte während des Krieges angegriffen, ihr letztes Ziel war kurz vor Kriegsende Kalaman gewesen. Beinahe wäre die befestigte Stadt trotz guter Verstärkung und aller Vorbereitung auf einen Angriff besiegt worden.

Auf Wolken treibend, die mittels schwarzer Magie erzeugt wurden, beleuchtet von blendenden vielfarbigen Blitzen, schwebte die fliegende Zitadelle immer näher und näher. Tanis konnte die Lichter in den Fenstern ihrer drei Türme sehen, er konnte die Geräusche hören, die auf dem Land nicht ungewöhnlich gewesen wären, aber jetzt unheilvoll und erschreckend schienen, wo sie vom Himmel kamen – die Geräusche von Stimmen, die Befehle riefen, von klirrenden Waffen. Er konnte weiterhin, so meinte er, die Gesänge von schwarzgekleideten Zauberkundigen hören, die ihre mächtigen Zaubersprüche vorbereiteten. Er konnte die bösen Drachen sehen, die gemächlich die Zitadelle umkreisten. Als die fliegende Zitadelle noch näher kam, konnte er an einer Seite einen zerfallenden Hof der Festung erkennen, und wo sie aus ihren Grundmauern gerissen wurde, lagen die zerstörten Mauern in Trümmern.

Tanis beobachtete das alles mit hilfloser Faszination, und immer noch schrie seine innere Stimme auf ihn ein. Zweitausend Ritter! Im letzten Moment zusammengerufen und so schlecht vorbereitet! Nur einige wenige Drachenscharen. Gewiß konnte sich der Turm des Oberklerikers behaupten, aber der Preis wäre sehr hoch. Aber sie mußten doch nur wenige Tage durchhalten. Dann würde Raistlin besiegt sein. Für Kitiara bestände nicht mehr die Notwendigkeit, Palanthas anzugreifen. Bis zu diesem Zeitpunkt hätten auch weitere Ritter und weitere gute Drachen den Turm des Oberklerikers erreicht. Vielleicht konnte Kitiara hier schließlich für alle Zeiten besiegt werden.

Sie hatte den unsicheren Waffenstillstand gebrochen, der zwischen der Drachenfürstin und den freien Völkern auf Ansalon existierte. Sie hatte den Zufluchtsort Sanction verlassen, sie war ins Freie getreten. Das war ihre Gelegenheit. Sie konnten sie besiegen und sie vielleicht auch gefangennehmen. Tanis’ Kehle zog sich schmerzhaft zusammen. Würde sich Kitiara überhaupt lebend gefangennehmen lassen? Nein. Natürlich nicht. Seine Hand schloß sich um den Knauf seines Schwertes. Er würde dabei sein, wenn die Ritter antraten, die Zitadelle zu erobern. Vielleicht könnte er sie überreden, sich zu ergeben. Er würde sich darum kümmern, daß man ihr eine gerechte Behandlung zuteil werden ließ, wie es einem ehrenhaften Feind zustand...

Er konnte sie so deutlich vor seinem geistigen Auge sehen! Wie trotzig sie dastand, umzingelt von ihren Feinden, bereit, ihr Leben teuer zu verkaufen! Und dann würde sie sich umschauen und würde ihn sehen. Vielleicht würden diese glitzernden, harten, dunklen Augen doch weich werden, vielleicht würde sie ihr Schwert fallen lassen und ihre Hände emporrecken...

Was dachte er da eigentlich? Tanis schüttelte den Kopf. Er hatte Tagträume wie ein mondsüchtiger Junge. Dennoch würde er zusehen, daß er mit den Rittern...

Als Tanis die Unruhe auf den Zinnen wahrnahm, sah er schnell aus dem Fenster, obwohl er es schon wußte. Er wußte, was geschah – Drachenangst. Diese Angst, vernichtender als Pfeile, wurde von bösen Drachen ausgelöst, deren schwarze und blaue Flügel sich jetzt deutlich von den Wolken abzeichneten, und sie schlug auf die Ritter ein, die wartend auf den Zinnen standen. Ältere Ritter, Veteranen aus dem Lanzenkrieg, blieben standhaft stehen und hielten grimmig ihre Waffen umklammert. Tapfer bekämpften sie das Entsetzen, das in ihre Herzen kroch. Aber die jüngeren Ritter, die zum ersten Mal in einer Schlacht Drachen gegenüberstanden, schreckten zurück und krümmten sich. Einige waren schamerfüllt, weil sie aufschrien oder sich von diesem schrecklichen Anblick abwandten.

Angesichts der von Panik erfüllten jungen Ritter auf den Zinnen unter sich biß Tanis die Zähne zusammen. Auch er spürte, wie diese Angst über ihn fegte, spürte, wie sich sein Magen zusammenzog und Gallenflüssigkeit in seinen Mund stieg. Als er Fürst Gunther einen kurzen Blick zuwarf, sah er, daß sich der Gesichtsausdruck des Ritter verhärtet hatte, und wußte, daß es auch ihm nicht anders erging.

Tanis sah auf. Die bronzenen Drachen, die den Rittern von Solamnia dienten, flogen in Verbänden und warteten oberhalb des Turmes. Sie würden erst angreifen, wenn sie selbst angegriffen würden – das waren die Bedingungen des Waffenstillstandes, der zwischen den guten und den bösen Drachen nach Kriegsende ausgemacht worden war. Aber Tanis sah Khirsah, den Anführer, stolz seinen Kopf schütteln, und seine scharfen Krallen funkelten im widerspiegelnden Aufflackern der Blitze. Für diesen Drachen gab es zumindest keinen Zweifel, daß der Kampf bald aufgenommen werden würde.

Immer noch nagte die innere Stimme an Tanis. Es war alles zu einfach, schon allzu bekannt. Kitiara plante irgend etwas...

Die Zitadelle flog näher und näher. Sie sieht aus wie das Zuhause einer widerlichen Insektenkolonie, dachte Tanis grimmig. Sie wurde von Drakoniern buchstäblich überwuchert!

Sich an jedem verfügbaren Zentimeter Platz festklammernd, die kurzen, stummelartigen Flügel ausgebreitet, hingen sie an den Mauern und Befestigungsanlagen, hockten auf den Zinnen und baumelten an den Türmen. Ihre boshaften Reptiliengesichter waren in den Fenstern sichtbar und äugten aus Türöffnungen. Im Turm des Oberklerikers herrschte ein ehrfürchtiges Schweigen (abgesehen von dem gelegentlichen rauhen Weinen eines von Angst überwältigten Ritters), so daß man von der Zitadelle das Rascheln der Flügel der Kreaturen vernehmen konnte und darüber einen leisen Singsang – die Stimmen der Zauberer und Kleriker, deren bösartige Macht das entsetzliche Gefährt am Himmel hielt.

Immer näher und näher kam die Gefahr, und die Ritter spannten sich an. Gedämpfte Befehle ertönten, Schwerter glitten aus ihren Scheiden, Speere wurden gesetzt, und Bogenschützen legten ihre Pfeile auf. Wassereimer standen bereit, um Feuer zu löschen, Abteilungen versammelten sich im Hof, um die Drakonier zu bekämpfen, die herabspringen und vom Himmel aus angreifen würden.

Oben stellte Khirsah seine Drachen in Schlachtformation auf und teilte sie in Zweier- und Dreiergruppen ein. Sie hielten sich schwebend im Gleichgewicht.

»Ich werde unten gebraucht«, erklärte Gunther. Er nahm seinen Helm, setzte ihn auf und ging aus der Tür seines Hauptquartiers, um seinen Platz im Beobachtungsturm einzunehmen, von seinen Offizieren und Beratern begleitet.

Aber Tanis blieb stehen und beantwortete nicht einmal Gunthers verspätete Einladung, ihn zu begleiten. Diese innere Stimme wurde lauter und lauter. Er schloß die Augen und wandte sich vom Fenster ab. Die Drachenangst schwächte ihn, und er mußte den Anblick dieser grimmigen Todesfestung auslöschen, wollte er die inneren Warnungen verstehen.

Und schließlich hörte er es. »Im Namen der Götter, nein!« flüsterte er. »Wie dumm! Wie blind waren wir! Wir spielen direkt in ihre Hände!«

Plötzlich war Kitiaras Plan klar und deutlich. Als stände sie neben ihm und erklärte ihm jedes Detail. Seine Brust verkrampfte sich vor Angst, und er öffnete die Augen und sprang zum Fenster. Seine Faust schlug auf die in den Stein gemeißelte Fensterablage, daß er sich schnitt. Er stieß den Teebecher um, so daß der auf dem Boden zerbrach. Aber er bemerkte weder das Blut, das aus seiner verletzten Hand tröpfelte, noch den verschütteten Tee. Er starrte in den unheimlichen, wolkenverdunkelten Himmel und beobachtete die Zitadelle, die immer näher rückte.

Jetzt befand sie sich in Schußweite der Langbogen.

Jetzt befand sie sich in Schußweite der Speere.

Als er aufschaute, wurde er von den Blitzen fast geblendet. Trotzdem konnte Tanis alle Einzelheiten auf den Rüstungen der Drakonier erkennen, er konnte die grimmigen Gesichter der menschlichen Söldner sehen, die sich in den Reihen stritten, er konnte die glänzenden Schuppen der Drachen sehen, die über ihnen flogen.

Und dann war sie verschwunden.

Nicht ein Pfeil war abgeschossen, noch kein Zauber geworfen worden. Khirsah und die bronzenen Drachen kreisten nervös über dem Turm, beäugten zornig ihre bösen Verwandten, hielten sich dennoch zurück. Sie waren durch ihren Schwur gebunden, erst anzugreifen, wenn sie selbst angegriffen wurden. Die Ritter standen auf den Zinnen, verrenkten ihre Hälse, um diese gigantische, furchteinflößende Erfindung zu beobachten, die über ihnen flog. Als sie über die oberste Spitze des Turms des Oberklerikers hinwegglitt, ließ sie noch einige Steine hinunterpurzeln, die unten im Hof zerschmetterten.

Leise fluchend lief Tanis zur Tür und stieß mit Gunther zusammen, der gerade eintreten wollte. Seine Miene spiegelte Verwirrung.

»Ich verstehe es nicht«, sagte Gunther zu seinen Beratern. »Warum hat sie uns nicht angegriffen? Was hat sie vor?«

»Sie wird die Stadt direkt angreifen, Mann!« Tanis packte Gunther an den Armen und schüttelte ihn. »Das hat Dalamar auch die ganze Zeit gesagt! Kitiara plant, Palanthas anzugreifen! Sie wird ihre Zeit nicht mit uns vertrödeln, und sie hat es auch nicht nötig! Sie fliegt über den Turm des Oberklerikers!«

Gunthers Augen, unter den Schlitzen seines Helmes kaum sichtbar, verengten sich. »Das ist Wahnsinn«, entgegnete er kalt und zupfte an seinem Schnurrbart. Schließlich riß er sich gereizt den Helm vom Kopf. »Im Namen der Götter, Halb-Elf, was ist das für eine militärische Strategie? Sie läßt die Nachhut ihrer Armee unbeschützt zurück! Selbst wenn sie Palanthas einnimmt, verfügt sie nicht über genug Stärke, die Stadt zu halten. Sie wird zwischen den Stadtmauern und uns gefangen sein. Nein! Sie muß uns erst hier erledigen, dann die Stadt angreifen! Denn sonst werden wir sie ohne weiteres vernichten. Es gibt kein Entrinnen für sie!«

Gunther wandte sich an seine Berater. »Vielleicht ist das ein Täuschungsmanöver, um uns zu verunsichern. Wir sollten uns lieber gefaßt machen, daß die Zitadelle von der anderen Seite aus zuschlägt...«

»Hör mir zu!« tobte Tanis. »Das ist kein Täuschungsmanöver. Sie rückt gegen Palanthas vor! Und bevor du mit deinen Rittern die Stadt erreicht hast, wird ihr Bruder durch das Portal zurückgekehrt sein! Und mit der Stadt in ihrer Gewalt wird sie auf ihn warten!«

»Unsinn!« knurrte Gunther. »Sie kann Palanthas nicht so schnell einnehmen. Die guten Drachen werden sich zum Kampf erheben. – Verdammt, Tanis, selbst wenn die Palanthianer keine großartigen Soldaten sind, können sie sie schon allein aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit abwehren!« Er schnaufte. »Die Ritter können sich sofort in Marsch setzen. In vier Tagen sind wir da.«

»Du hast eine Sache vergessen«, knurrte Tanis und schob sich entschlossen, aber höflich an dem Ritter vorbei. In der Tür drehte er sich noch einmal um und rief: »Wir haben alle eine Sache vergessen – den Faktor, der diese Schlacht ausgleicht – Lord Soth!«

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