Zumindest schien es seine Leiche zu sein. Sie trug die Rüstung, die Caramon in Solamnia erworben hatte – die Rüstung, die er während des Zwergentorkrieges getragen hatte, die Rüstung, die er getragen hatte, als er und Tolpan Zaman verlassen hatten, die Rüstung, die er jetzt trug...
Aber darüber hinaus gab es keine weiteren Anhaltspunkte an der Leiche. Anders als die anderen, die unter den Schlammschichten konserviert gewesen waren, lag diese dicht an der Oberfläche und hatte sich zersetzt. Übriggeblieben war nur das Skelett eines offensichtlich großen Mannes, das am Fuß des Obelisken lag. Eine Hand mit einem Meißel ruhte direkt unter dem Steindenkmal, als ob seine letzte Tat das Einschneiden dieses letzten schrecklichen Satzes gewesen wäre.
Es war nicht ersichtlich, wie der Mann gestorben war.
»Was ist hier los, Caramon?« fragte Tolpan mit bebender Stimme. »Wenn du das bist und wenn du tot bist, wie kannst du dann zur gleichen Zeit hier stehen?« Ein neuer Gedanke kam ihm plötzlich in den Sinn. »O nein! Was ist, wenn du nicht hier bist?« Er umklammerte seinen Haarzopf und drehte ihn immer wieder herum. »Wenn du nicht hier bist, dann habe ich dich erfunden. Du meine Güte!« Tolpan schluckte. »Ich habe es nicht für möglich gehalten, daß ich eine derart lebhafte Phantasie habe. Du siehst wirklich real aus.« Er streckte zitternd eine Hand aus und berührte Caramon. »Du fühlst dich real an, und wenn es dich nicht stört, was ich sage: Du riechst sogar real!« Tolpan rang seine Hände. »Caramon! Ich werde verrückt«, schrie er wild. »Wie einer von diesen Dunkelzwergen in Thorbadin!«
»Nein, Tolpan«, murmelte Caramon. »Das ist alles real. Alles ist wirklich real.« Er starrte auf die Leiche, dann auf den Obelisken, der inzwischen im schnell schwindenden Licht kaum noch erkennbar war. »Und allmählich ergibt das alles einen Sinn. Wenn ich nur...« Er hielt inne und musterte eingehend den Obelisken. »Das ist es! Tolpan, sieh dir doch das Datum auf dem Denkmal an!«
Mit einem Seufzer hob Tolpan seinen Kopf. »Dreihundertachtundfünfzig«, las er mit teilnahmsloser Stimme. Dann riß er seine Augen weit auf. »Dreihundertachtundfünfzig?« wiederholte er. »Caramon – es war dreihundertsechsundfünfzig, als wir Solace verlassen haben!«
»Wir sind zu weit gereist, Tolpan«, murmelte Caramon voller Entsetzen. »Wir sind in unsere eigene Zukunft geraten.«
Die brodelnden schwarzen Wolken, die sie beobachtet hatten, ballten sich am Horizont wie eine Armee zusammen, die sich für einen Angriff in voller Stärke sammelt, drängten kurz vor Einbruch der Dunkelheit herein und löschten gnädig die letzten kurzen Strahlen der geschrumpften Sonne aus.
Der Sturm schlug schnell und mit unglaublicher Heftigkeit zu. Eine Explosion aus heißem Wind blies Tolpan vom Boden hoch und warf Caramon gegen den Obelisken. Dann setzte der Regen ein und prasselte mit Tropfen wie geschmolzenes Blei auf sie nieder. Der Hagel schlug schmerzhaft auf ihre Köpfe und Körper.
Doch noch entsetzlicher als Wind oder Regen waren die tödlichen vielfarbigen Blitze, die von den Wolken zum Boden hüpften, auf die Baumstümpfe einschlugen und sie in leuchtenden Flammenkugeln zerfetzten, die meilenweit zu sehen waren. Der Donner grollte dröhnend und unablässig, erschütterte den Boden und betäubte ihre Sinne.
Verzweifelt versuchten sie, Schutz vor dem heftigen Sturm zu finden. Tolpan und Caramon kauerten sich unter einen umgestürzten Vallenholzbaum und krochen dann in ein Loch, das Caramon im grauen, sickernden Schlamm gegraben hatte. Von dieser dürftigen Zuflucht aus beobachteten sie ungläubig, wie der Sturm an dem ohnehin toten Land seine Zerstörungswut ausließ. Feuer fegten über die Gebirgshänge, und sie konnten den Gestank von brennendem Holz riechen. Blitze schlugen in der Nähe ein, Bäume explodierten, große Erdstücke flogen durch die Luft. Der Donner quälte ihre Ohren.
Der einzige Segen, den der Sturm brachte, war das Regenwasser. Caramon hielt seinen Helm auf und sammelte schnell genügend Trinkwasser ein. Aber es roch entsetzlich – wie verfaulte Eier, schrie Tolpan und hielt beim Trinken die Nase zu —, und es half wenig, ihren Durst zu lindern.
Keiner von ihnen sprach aus, woran sie beide dachten, daß sie nämlich keine Möglichkeit hatten, Wasser zu lagern, und daß sie nichts zu essen hatten.
Allmählich fühlte sich Tolpan wieder normal, da er nun wußte, wo er sich befand und in welcher Zeit (auch wenn ihm nicht ganz klar war, warum er hier gelandet oder wie er hierher gekommen war); daher genoß er in der ersten Stunde den Sturm sogar. »Ich habe noch nie Blitze in dieser Farbe gesehen«, schrie er über den dröhnenden Donner und beobachtete sie mit entzücktem Interesse. »Es ist so gut wie die Vorstellung eines Straßenkünstlers!« Aber schon bald begann ihn das Spektakel zu langweilen.
»Wie auch immer«, kreischte er, »sogar die Beobachtung, wie Bäume direkt aus dem Boden zerfetzt werden, ist nach dem fünften Mal nicht mehr so interessant. Wenn du dich nicht zu einsam fühlst, Caramon«, fügte er mit einem kieferkrachenden Gähnen hinzu, »würde ich gern ein kleines Nickerchen halten. Es stört dich doch nicht, Wache zu halten, oder?«
Caramon schüttelte den Kopf und wollte gerade eine Antwort geben, als ihn das Krachen einer erneuten Explosion aufschreckte. Ein Baumstumpf verschwand keine dreißig Meter von ihnen entfernt in einer blaugrünen Flammenkugel.
Das hätten auch wir sein können, dachte Caramon, starrte auf die glühende Asche und zog seine Nase gegen den Schwefelgestank kraus. Wir können die nächsten sein! Ein wilder Wunsch, plötzlich loszurennen, schoß ihm durch den Kopf, ein Wunsch, der so stark war, daß seine Muskeln zuckten und er sich zwingen mußte, zu bleiben, wo er war.
Dort draußen wartete der sichere Tod. Zumindest hier in diesem Loch waren sie unterhalb des Bodens. Aber während er noch darüber nachdachte, sah er einen Blitz ein riesiges Loch in den Boden schlagen und lächelte bitter. Nein, nirgendwo gab es Sicherheit. Sie mußten einfach abwarten und den Göttern vertrauen.
Er warf Tolpan einen flüchtigen Blick zu und wollte dem Kender etwas Tröstendes sagen. Die Worte erstarben ihm auf den Lippen. Seufzend schüttelte er den Kopf. Einige Dinge würden sich niemals verändern – unter anderem Kender. Zu einer Kugel eingerollt, unberührt von dem um ihn tobenden Entsetzen, schlief Tolpan tief und fest.
Caramon kauerte sich tiefer in das Loch und hielt seine Augen auf die aufschäumenden, von Blitzen umränderten Wolken gerichtet. Um sich von seiner Angst abzulenken, begann er, seine Gedanken über das, was geschehen war, zu ordnen und darüber nachzudenken, wie sie in diese mißliche Lage geraten waren. Er schloß die Augen vor den blendenden Blitzen und sah wieder einmal seinen Zwillingsbruder vor dem entsetzlichen Portal stehen. Er konnte Raistlins Stimme hören, wie er die fünf Drachenköpfe anrief, die das Portal bewachten, sie sollten es öffnen und ihm Zugang in die Hölle gewähren. Er sah Crysania, Klerikerin Paladins, wie sie zu ihrem Gott betete, verloren in der Ekstase ihres Glaubens und blind gegenüber dem Bösen in seinem Bruder.
Caramon erschauerte und hörte Raistlins Worte so deutlich, als ob der Erzmagier neben ihm stünde.
»Sie wird die Hölle mit mir betreten. Sie wird vor mir gehen und meine Schlachten austragen. Sie wird dunklen Klerikern gegenübertreten, dunklen Zauberkundigen, Geistern der Toten, die verdammt sind, in diesem verfluchten Land zu streifen, und jeder erdenklichen Folter, die sich meine Königin nur ausdenken kann. All dies wird ihren Körper verletzen, ihren Geist verschlingen und ihre Seele zerstören. Schließlich, wenn sie es nicht mehr ertragen kann, wird sie auf den Boden sinken und vor meinen Füßen liegen... blutend, erbärmlich, sterbend.
Sie wird mit der letzten ihr noch verbleibenden Kraft ihre Hand nach mir ausstrecken, um Trost zu erhalten. Sie wird mich nicht bitten, sie zu retten. Dafür ist sie zu stark. Sie wird mir ihr Leben freiwillig und freudig geben. Sie wird lediglich darum bitten, daß ich bei ihr bleibe, wenn sie stirbt...
Aber ich werde an ihr vorbeigehen, ohne sie eines Blickes zu würdigen und ohne ein Wort zu verlieren. Warum? Weil ich dann keine Verwendung mehr für sie habe...«
Spätestens bei diesen Worten hatte Caramon endlich eingesehen, daß sein Bruder unwiderruflich verloren war. Und endlich hatte er ihn verlassen.
Soll er doch in die Hölle gehen, hatte Caramon bitter gedacht. Soll er doch die Dunkle Königin herausfordern. Soll er doch ein Gott des Bösen werden. Es interessiert mich nicht mehr. Ich kümmere mich nicht mehr darum, was ihm passiert. Endlich bin ich von ihm befreit – so wie er von mir frei ist.
Caramon hatte mit Tolpan das magische Gerät ergriffen und den Vers aufgesagt, den Par-Salian ihn gelehrt hatte. Er hatte die Steine singen hören können, so wie er sie auch während der vorhergehenden zwei Male singen gehört hatte, bei denen er an einem Zeitreisezauber teilgenommen hatte.
Aber dann war irgend etwas Unvorhergesehenes geschehen. Irgend etwas war anders gewesen. Und jetzt, wo er Zeit zum Denken und Überlegen hatte, fiel ihm ein, daß er sich in plötzlicher Panik gefragt hatte, ob irgend etwas nicht in Ordnung war. Aber er wußte nicht mehr, was es gewesen war.
Nicht, daß ich etwas dagegen hätte unternehmen können, dachte er verbittert. Ich habe die Magie niemals verstanden – und ihr auch niemals vertraut.
Ein erneuter Blitz, der ganz in ihrer Nähe einschlug, unterbrach seine Konzentration und ließ sogar Tolpan aus dem Schlaf aufspringen. Gereizt murmelte der Kender etwas Unverständliches, dann legte er die Hände über die Augen und schlief weiter. Er sah aus wie eine in ihrer Höhle eingerollte Schlafmaus.
Mit einem Seufzer zwang sich Caramon, nicht mehr an Stürme und Schlafmäuse zu denken, sondern an die letzten kurzen Augenblicke, bevor sie den Zauber mit dem magischen Gerät begonnen hatten.
Ich erinnere mich, daß ich das Gefühl hatte, ich würde gezogen, aus der Form gezogen, als ob eine Kraft versuchte, mich in eine Richtung zu zerren, während eine andere mich in die entgegengesetzte Richtung zog. Was hatte denn Raistlin in demselben Moment gemacht? Caramon kämpfte um seine Erinnerung. Ein verschwommenes Bild seines Bruders kam ihm in den Sinn. Er sah Raistlin, das Gesicht war vor Entsetzen verzerrt, wie er schockiert auf das Portal starrte. Er sah Crysania im Portal stehen, aber sie betete nicht mehr zu ihrem Gott. Ihr Körper krümmte sich vor Schmerzen, und ihre Augen waren vor schrecklicher Angst weit aufgerissen.
Caramon erschauerte und leckte an seinen Lippen. Das Wasser hatte einen bitteren Geschmack in seinem Mund zurückgelassen, und es kam ihm vor, als hätte er an rostigen Nägeln gekaut. Er spuckte und wischte sich mit einer Hand über den Mund. Erschöpft lehnte er sich zurück. Eine weitere Explosion ließ ihn zusammenzucken. Und auch eine plötzliche Erkenntnis.
Sein Bruder hatte versagt.
Raistlin war das Gleiche widerfahren, was zuvor Fistandantilus widerfahren war. Er hatte die Kontrolle über seine Magie verloren. Das magische Feld ihres Zeitreisegerätes hatte seinen Zauberspruch irregeleitet. Das war die einzige wahrscheinliche Erklärung...
Caramon runzelte die Stirn. Nein, Raistlin mußte diese Möglichkeit doch vorausgesehen haben. Und dann hätte er niemals zugelassen, daß sie das Gerät benutzten, er hätte sie getötet, so wie er zuvor Tolpans Freund, den Gnom, getötet hatte.
Caramon schüttelte den Kopf, um klarer zu sehen, und begann noch einmal von vorne. Er arbeitete sich durch das Problem, so wie er sich durch das verhaßte Alphabet gearbeitet hatte, das seine Mutter ihm als Kind beigebracht hatte. Das magische Feld war beeinträchtigt worden, das war klar. Es hatte ihn und den Kender zu weit voraus in die Zeit geworfen und sie in ihre eigene Zukunft geschickt.
Und das bedeutete sicher auch, daß sie nur das Gerät erneut nutzen mußten, um zurück in die Gegenwart zu gelangen, zurück zu Tika, zurück nach Solace...
Er öffnete die Augen und sah sich um. Aber würden sie dann die Zukunft genauso erleben, wenn sie zurückkehrten?
Caramon erschauerte. Er war von dem sintflutartigen Regenfall völlig durchnäßt. Die Nacht war eisig, aber es war nicht die Kälte, die ihn peinigte. Er wußte, was es bedeutete, mit dem Wissen zu leben, was in der Zukunft geschehen würde. Er wußte, wie quälend es sein würde, ohne Hoffnung zu leben. Würde er zurückgehen und Tika und seinen Freunden in die Augen sehen können, mit dem Wissen, was auf sie alle zukommen würde? Er dachte an die Leiche unter dem Denkmal. Wie nur sollte er mit dem Wissen zurückgehen, was auf ihn zukommen würde?
Wenn er das wirklich gewesen war. Er erinnerte sich an die letzte Unterhaltung mit seinem Bruder. Tolpan hatte die Zeit verändert – hatte Raistlin gesagt. Weil Kender, Zwerge und Gnome zufällig entstanden und nicht vorgesehen waren, fügten sie sich auch nicht in den Fluß der Zeit wie die Menschen, die Elfen und die Oger. Folglich war den Kendern das Reisen in die Vergangenheit nicht erlaubt, denn es lag ja in ihrer Macht, die Zeit zu verändern.
Aber Tolpan war zufällig in die Vergangenheit geraten, weil er in das magische Feld gesprungen war, gerade als Par-Salian, das Oberhaupt des Turmes der Erzmagier, den Zauber geworfen hatte, mit dem Caramon und Crysania zurückgeschickt werden sollten. Tolpan hatte die Zeit verändert. Darum wußte Raistlin auch, daß er nicht das gleiche Schicksal wie Fistandantilus erleiden mußte. Er verfügte über die Macht, das Ergebnis zu ändern. Während Fistandantilus gestorben war, konnte Raistlin leben.
Caramons Schultern sackten zusammen. Ihm war plötzlich übel und schwindelig. Was bedeutete das? Was tat er hier? Wie konnte er gleichzeitig tot und lebendig sein? War das überhaupt seine Leiche? Weil Tolpan die Zeit verändert hatte, konnte es sich auch um eine andere Person handeln. Aber was war mit Solace geschehen? Das mußte er zuerst erfahren.
»Hat Raistlin das verursacht?« murmelte Caramon zu sich, nur um den Klang seiner Stimme inmitten der strahlenden Blitze und dröhnenden Explosionen zu hören. »Hat das etwas mit ihm zu tun? Hat er dies geschehen lassen, weil er versagt hat, oder...«
Caramon hielt seinen Atem an. Neben ihm bewegte sich Tolpan im Schlaf, wimmerte und schrie. Caramon tätschelte ihn geistesabwesend. »Ein böser Traum«, sagte er und spürte den kleinen Körper des Kenders unter seiner Hand zucken. »Ein böser Traum, Tolpan. Schlaf weiter.«
Tolpan rollte sich auf die andere Seite und schmiegte seinen kleinen Körper eng an Caramon. Seine Hände hielten immer noch seine Augen bedeckt. Caramon tätschelte ihn weiter beruhigend.
Ein böser Traum. Er wünschte, daß es wirklich weiter nichts wäre. Er wünschte ganz verzweifelt, daß er in seinem eigenen Bett aufwachen und sein Schädel vom übermäßigen Alkohol brummen würde. Er wünschte, er könnte Tika hören, wie sie die Teller durch die Küche schleuderte und ihn einen faulen, versoffenen Herumtreiber nannte, während sie gleichzeitig sein Lieblingsfrühstück bereitete. Er wünschte, er hätte dieses erbärmliche, alkoholdurchtränkte Leben einfach so weiterführen können, denn dann wäre er gestorben, ohne zu wissen...
O bitte, laß es einen Traum sein! flehte Caramon, senkte seinen Kopf zwischen seine Knie und spürte bittere Tränen unter seinen geschlossenen Augenlidern hervorkriechen.
So saß er da, nicht einmal vom Sturm in Mitleidenschaft gezogen, sondern erschlagen von dem Gewicht seines plötzlichen Verstehens. Tolpan seufzte und bebte, schlief aber ruhig weiter. Caramon rührte sich nicht. Er schlief nicht. Er konnte nicht schlafen. Der Traum, durch den er ging, war ein Wachtraum, ein Alptraum im Wachsein. Ihm fehlte nur noch eins, um seiner Erkenntnis sicher zu sein, eine Bestätigung, die sein Herz nicht mehr nötig hatte.
Der Sturm legte sich allmählich und verzog sich weiter in den Süden. Caramon konnte deutlich spüren, wie er sich entfernte. Der Donner ging wie mit den Füßen eines Riesen durch das Land. Als alles vorbei war, tönte dann das Schweigen lauter in seinen Ohren als die Explosionen der Blitze. Der Himmel würde bald klar sein. Klar bis zum nächsten Sturm. Er würde die Monde sehen und die Sterne...
Die Sterne...
Er mußte nur den Kopf heben und in den Himmel schauen, in den klaren Himmel, dann würde er seine Bestätigung gleich bekommen.
Und wieder ließ er Zeit verstreichen, saß da und wünschte sich, den Geruch von Würzkartoffeln riechen zu können, wünschte sich, Tikas Lachen zu hören, das die Stille vertrieb, wünschte sich, nur Kopfschmerzen von zuviel Alkohol spüren und nicht den entsetzlichen Schmerz in seinem Herzen aushalten zu müssen.
Aber seine Wünsche erfüllten sich nicht. Um ihn war nur die Totenstille des verwüsteten Landes, unterbrochen von dem weit, weit entfernten Rollen des Donners.
Mit einem kleinen Seufzer, den er selbst kaum hören konnte, hob Caramon seinen Kopf und sah in den Himmel hoch.
Er schluckte den bitteren Speichel in seinem Mund hinunter, der ihn fast erstickte. Tränen stachen in seine Augen, aber er drängte sie zurück, damit er deutlich sehen konnte.
Da war sie – die Bestätigung seiner Befürchtungen, das Zeichen seines Untergangs.
Eine neue Konstellation am Himmel.
Ein Stundenglas...
»Was bedeutet das?« fragte Tolpan, rieb sich die Augen und starrte verschlafen zu den Sternen hoch.
»Es bedeutet, daß Raistlin Erfolg hatte«, antwortete Caramon mit einer merkwürdigen Mischung aus Angst, Kummer und Stolz in seiner Stimme. »Es bedeutet, daß er die Hölle betreten und die Königin der Finsternis herausgefordert und – sie besiegt hat!«
»Er hat sie nicht besiegt, Caramon«, widersprach Tolpan, studierte aufmerksam den Himmel und zeigte auf die Sterne. »Da ist ihre Konstellation, aber sie ist am falschen Platz. Sie ist dort drüben, obwohl sie doch hier sein sollte. Und da ist Paladin.« Er seufzte. »Armer Fizban. Ich frage mich bloß, ob er gegen Raistlin kämpfen muß. Ich glaube nicht, daß ihm das gefällt. Ich hatte immer den Eindruck, daß er Raistlin versteht, vielleicht besser als wir alle zusammen.«
»Die Schlacht ist vielleicht noch im vollen Gange«, grübelte Caramon. »Vielleicht ist das der Grund für die Stürme.« Er schwieg einen Moment, starrte hoch zu den glitzernden Umrissen des Stundenglases. Vor seinem inneren Auge sah er die Augen seines Bruders, wie sie sich – es war jetzt schon so lange her – nach den schrecklichen Prüfungen im Turm der Erzmagier verändert hatten – ihre Pupillen hatten die Form von Stundengläsern angenommen.
»Mit ihnen wirst du die Zeit sehen, Raistlin, wie sie auf alle Dinge einwirkt«, hatte Par-Salian ihm erklärt. »Und auf diese Weise wirst du hoffentlich Mitgefühl für alles um dich entwickeln.«
Aber die erhoffte Wirkung war nicht eingetreten.
»Raistlin hat gewonnen«, sagte Caramon mit einem leisen Seufzer. »Er ist geworden, was er immer sein wollte – ein Gott. Und jetzt herrscht er über eine tote Welt.«
»Über eine tote Welt?« fragte Tolpan berunruhigt. »M...meinst du, die ganze Welt sieht so aus? Alles auf Krynn – Palanthas und Haven und Qualinesti? K...kenderheim? Alles?«
»Sieh dich doch mal um«, erwiderte Caramon düster. »Was glaubst du wohl? Hast du denn andere Lebewesen gesehen, seitdem wir hier sind?« Er beschrieb einen weiten Bogen mit seiner Hand, die im blassen Licht von Solinari kaum zu sehen war. Die dahinschwindenden Wolken hatten den Mond freigelegt, der nun wie ein starres Auge am Himmel glänzte. »Du hast das Feuer gesehen, wie es über die Gebirgskette gefegt ist. Du kannst die Blitze immer noch am Horizont sehen.« Er zeigte in den Osten. »Und dort braut sich ein neuer Sturm zusammen. Nein, Tolpan. Hier kann nichts überleben. Und auch wir werden in nicht allzu langer Zeit tot sein – entweder in Stücke zersprengt oder...«
»Oder... oder irgend etwas anderes...«, unterbrach Tolpan klagend. »Ich... ich fühle mich wirklich nicht wohl, Caramon. Und es... es liegt entweder am Wasser, oder ich bekomme wieder die Pest.« Sein Gesicht verzog sich schmerzvoll, und er legte eine Hand auf seinen Bauch. »Mir ist ganz komisch im Bauch, als ob ich eine Schlange verschluckt hätte.«
»Das Wasser«, murmelte Caramon mit einer Grimasse. »Mir geht es genauso. Wahrscheinlich ist in diesen Wolken Gift enthalten.«
»Werden... werden wir dann hier sterben, Caramon?« fragte Tolpan nach einer Minute schweigsamen Nachdenkens. »Denn wenn das der Fall ist, dann glaube ich wirklich, ich würde gerne hinübergehen und mich neben Tika legen, wenn es dich nicht stört. Ich... ich würde mich eher zu Hause fühlen. Bis ich zu Flint und seinem Baum komme.« Seufzend lehnte er seinen Kopf gegen Caramons starken Arm. »Auf alle Fälle habe ich Flint eine Menge zu erzählen, nicht wahr, Caramon? Alles über die Umwälzung und das feurige Gebirge und wie ich dein Leben gerettet habe und Raistlin ein Gott geworden ist. Ich wette, das wird er nicht glauben. Aber vielleicht bist du ja dann bei mir, Caramon, und du kannst ihm ja sagen, daß ich wirklich nicht, nun – äh – übertreibe.«
»Sterben wäre sicherlich am einfachsten«, murmelte Caramon und sah sehnsüchtig zum Obelisken hinüber.
Lunitari ging nun auf, und sein blutrotes Licht vermischte sich mit dem leichenblassen Licht von Solinari, um einen unheimlichen, purpurroten Glanz auf das aschebedeckte Land zu werfen. Der vom Regen benetzte Steinobelisk glitzerte im Mondschein, und seine grob geschnitzten schwarzen Buchstaben waren auf der hellen Oberfläche deutlich sichtbar.
»Sterben wäre sicherlich am einfachsten«, wiederholte Caramon, eher zu sich als zu Tolpan. »Es wäre einfach, wenn ich mich hinlegen und mich der Dunkelheit überlassen könnte.« Dann biß er die Zähne zusammen und kam taumelnd auf die Füße. »Witzig«, fügte er grimmig hinzu, als er sein Schwert zog und begann, einen Zweig des umgestürzten Vallenholzbaumes abzuhacken, unter dem sie Zuflucht gesucht hatten. »Raist hat mich einmal gefragt: ›Würdest du mir in die Dunkelheit folgen?‹«
»Was machst du da?« fragte Tolpan und starrte Caramon neugierig an.
Aber Caramon antwortete nicht. Er hackte einfach an dem Zweig weiter.
»Du machst dir eine Krücke!« stellte Tolpan fest und sprang auf einmal in plötzlicher Berunruhigung auf die Füße. »Caramon! Du kannst das doch nicht wirklich denken! Das... das ist Wahnsinn! Ich erinnere mich, daß Raistlin dir diese Frage gestellt hat, und ich erinnere mich auch an seine Antwort, als du ihm deine Hilfe zugesagt hattest! Er sagte, es würde deinen Tod bedeuten, Caramon! So stark, wie du auch bist, es würde, dich umbringen!«
Caramon antwortete immer noch nicht. Nasse Holzspäne flogen, als er an dem Zweig schnitzte. Gelegentlich warf er einen Blick nach hinten auf die Sturmwolken, die sich langsam näherten, sich vor die neue Konstellation schoben und auf die Monde zukrochen.
»Caramon!« Tolpan ergriff den Arm des großen Mannes. »Selbst wenn du gehen würdest... dorthin« – der Kender wagte das Wort nicht auszusprechen – »was willst du denn dort machen?«
»Etwas, was ich schon vor langer Zeit hätte tun sollen«, antwortete Caramon entschlossen.