6

Der Turm der Erzmagier ragte undeutlich vor ihnen auf – eine düstere Erscheinung, die sich als Silhouette gegen das Licht der Monde und der Sterne abhob, so unwirklich, als wäre sie von der Nacht selbst geschaffen. Seit Jahrhunderten stand er da, ein Bollwerk der Magie, ein Bewahrer der seit Jahren gesammelten Bücher und Kunstwerke.

Hierher waren die Magier gezogen, als der Königspriester sie aus dem Turm der Erzmagier in Palanthas vertrieben hatte, hierher hatten sie ihre wertvollsten Gegenstände gebracht, die sie vor den angreifenden Heeren retten konnten. Hier lebten sie in Frieden, bewacht von dem Wald von Wayreth. Junge Zauberkundige in der Ausbildung unterwarfen sich hier ihren Prüfungen, jenen greulichen Prüfungen, die für denjenigen, der versagte, den Tod bedeutete.

Hier war Raistlin gewesen und hatte seine Seele an Fistandantilus verloren. Hier hatte Caramon zusehen müssen, wie Raistlin eine Illusion von ihm, seinem Zwillingsbruder, umgebracht hatte.

Hierhin waren Caramon und Tolpan mit der Gossenzwergin Bupu zurückgekehrt, als sie die ohnmächtige Crysania in Sicherheit bringen mußten. Hier hatten sie der Versammlung der Drei Roben beigewohnt – der Schwarzen, Roten und Weißen. Hier hatten sie von Raistlins Ehrgeiz erfahren, die Königin der Finsternis herauszufordern. Hier hatten sie seinen Lehrling und den Spion der Versammlung kennengelernt – Dalamar. Hier hatte der große Erzmagier Par-Salian einen Zeitreisezauber auf Caramon und Crysania geworfen, um sie in die Vergangenheit nach Istar zu schicken, bevor dort das Gebirge zusammengestürzt war.

Hier hatte Tolpan ohne Absicht den Zauber gestört, indem er hinzugesprungen war, um Caramon zu begleiten. Durch die Anwesenheit eines Kenders – die in allen Gesetzen der Magie streng verboten war – wurde es folglich möglich, die Zeit zu verändern.

Jetzt waren Caramon und Tolpan wieder zurückgekehrt – und was würden sie finden?

Caramon starrte auf den Turm. Sein Herz war schwer von Vorahnungen und Entsetzen. Sein Mut verließ ihn auf einmal. Er konnte nicht eintreten, nicht zu diesem mitleiderregenden, unaufhörlichen Schrei, der in seinen Ohren hallte. Lieber zurückgehen, lieber einen schnellen Tod im Wald auf sich nehmen. Außerdem hatte er die Tore aus Silber und Gold vergessen. Standhaft blockierten sie noch immer den Zutritt zum Turm. Sie schienen dünn wie Spinnweben und sahen aus wie schwarze Streifen, die aus dem sternenbeleuchteten Himmel gemalt worden waren. Eine kleine Kenderhand hätte sie öffnen können. Dennoch waren magische Zaubersprüche in ihnen verwoben, so mächtige Zaubersprüche, daß sich eine ganze Ogerarmee an diesen so zerbrechlich wirkenden Toren hätte verletzen können, ohne weiter etwas auszurichten.

Und immer noch dieser Schrei, der lauter wurde und aus der Nähe zu kommen schien. Von so nah, als ob er aus...

Mit gerunzelter Stirn trat Caramon einen weiteren Schritt nach vorne. Und jetzt sah er das Tor deutlich vor sich.

Und erkannte den Ursprung des Schreis...

Die Tore waren weder verschlossen noch verriegelt. Ein Tor stand unbeweglich, als ob es noch verzaubert wäre. Aber das andere war zerbrochen und schwang an einer Angel hin und her, hin und her im heißen, unablässigen Wind. Und wie es langsam von der Brise vor und zurück geschlagen wurde, gab es ein schrilles, hohes Kreischen von sich.

»Er ist nicht verschlossen«, stellte Tolpan enttäuscht fest. Seine kleine Hand hatte bereits seinen Dietrich ertastet.

»Nein«, sagte Caramon und starrte auf die quietschende Angel. »Und das ist die Stimme, die wir gehört haben – nur eine Stimme von rostigem Metall.« Er dachte, er müßte eigentlich erleichtert sein, aber all das verstärkte nur noch die Rätselhaftigkeit. »Wenn es nicht Par-Salian war oder ein anderer« – seine Augen glitten am Turm hoch, der sich schwarz und offenbar leer vor ihnen erhob – »wer hat uns durch den Wald geführt, wer war es dann?«

»Vielleicht keiner«, antwortete Tolpan hoffnungsvoll. »Wenn keiner hier ist, Caramon, können wir dann gehen?«

»Jemand muß hier sein«, murmelte Caramon. »Etwas hat diesen Bäumen befohlen, uns passieren zu lassen.«

Tolpan seufzte, das kleine Gesicht blaß und schmutzig. Unter seinen Augen lagen dunkle Ränder, seine Unterlippe bebte, und eine Träne schlich sich an seiner kleinen Nase entlang.

Caramon tätschelte ihn an der Schulter. »Nur noch ein wenig«, sagte er sanft. »Halt nur noch ein wenig länger aus, bitte, Tolpan!«

Tolpan sah schnell auf, verschluckte ein paar verräterische Tränen, die gerade in seinen Mund getröpfelt waren, und grinste fröhlich. »Sicher, Caramon«, sagte er. Nicht einmal die Tatsache, daß seine Kehle vor Durst brannte und ausgetrocknet war, konnte ihn abhalten, seine Wünsche zu äußern. »Du kennst mich doch – immer für Abenteuer bereit. Es gibt doch sicherlich viele magische, wunderschöne Dinge hier, nicht wahr?« fragte er mit einem Blick auf den stummen Turm. »Dinge, die niemand vermissen wird. Keine magischen Ringe natürlich. Mit magischen Ringen bin ich fertig. Der erste brachte mich in das Schloß eines Zauberers, wo ich auf einen ekelhaften, bösartigen Dämon traf, und der zweite verwandelte mich in eine Maus. Ich...«

Caramon ließ Tolpan weiterreden, erleichtert, daß der Kender sich offensichtlich wieder wohl fühlte. Er hinkte weiter und wollte das schwingende Tor aufschieben. Zu seiner Verwunderung brach es ab – die geschwächte Angel gab schließlich nach. Das Tor klapperte mit einem Klirren auf die grauen Pflastersteine, so daß Tolpan und Caramon zusammenzuckten. Das Echo prallte gegen die schwarzpolierten Turmmauern, hallte durch die heiße Nacht und zerschlug die Stille.

»Also, jetzt wissen wenigstens alle, daß wir angekommen sind«, sagte Tolpan.

Caramons Hand schloß sich wieder um seinen Schwertknauf, aber er zog die Waffe noch nicht. Das Echo verhallte. Das Schweigen setzte wieder ein. Nichts geschah. Niemand kam. Keine Stimme ließ sich hören.

Tolpan wandte sich zu Caramon, um ihm beim Laufen zu helfen. »Zumindest brauchen wir dieses schreckliche Geräusch nicht mehr zu hören«, sagte er und trat über das zerbrochene Tor. »Jetzt kann ich es ja ruhig sagen, aber dieses Gekreische ist mir ganz schön auf den Nerv gegangen. Es klang auf jeden Fall sehr untormäßig, wenn du verstehst, was ich meine. Es klang genau wie... genau wie...«

»Wie das«, flüsterte Caramon.

Der Schrei zerriß die Luft, zerschlug die mondbeleuchtete Dunkelheit, aber dieses Mal war er anders. In diesem Schrei waren Worte enthalten – Worte, die man hören, aber nicht verstehen konnte.

Caramon wandte unwillkürlich seinen Kopf um, obwohl er wußte, was er sehen würde, und starrte auf das Tor. Es lag auf den Steinen – tot, stumm.

»Caramon«, murmelte Tolpan schluckend. »Es... es kommt von dort... der Turm...«

»Mach ein Ende damit!« schrie Par-Salian. »Mach ein Ende mit dieser Folter! Zwinge mich nicht, es länger zu ertragen!«

»Wieviel hast du mich gezwungen zu ertragen, Großer der Weißen Roben?« ertönte eine leise, höhnische Stimme in Par-Salians Denken.

Der Zauberer krümmte sich vor Qualen, aber die Stimme war hartnäckig und schonungslos und peitschte seine Seele wie eine Geißel.

»Du hast mich hierhergebracht und mich ihm übergeben – Fistandantilus! Du hast da gesessen und zugesehen, wie er die Lebenskraft aus mir gerissen und sie entleert hat, so daß er wieder auf dieser Ebene leben konnte.«

»Du warst es, der auf diesen Handel eingegangen ist«, schrie Par-Salian, und seine uralte Stimme hallte durch die leeren Korridore des Turmes. »Du hättest dich ihm verweigern können...«

»Und dann? Ehrenhaft sterben?« Die Stimme lachte. »Welche Wahl blieb mir denn? Ich wollte leben! In meiner Kunst wachsen! Und ich habe gelebt. Und du in deiner Verbitterung hast mir diese Stundenglasaugen gegeben – diese Augen, die nichts als den Tod und den Verfall um mich herum sehen. Jetzt schau, Par-Salian! Was siehst du um dich? Nichts als den Tod... Tod und Zerfall... Jetzt sind wir quitt.«

Par-Salian stöhnte.

Die Stimme fuhr fort, gnadenlos, mitleidlos: »Quitt, ja. Und jetzt will ich dich zu Staub zermahlen. Denn in deinen letzten qualvollen Momenten wirst du, Par-Salian, meinen Triumph miterleben. Meine Konstellation strahlt bereits am Himmel. Die Königin schwindet. Bald wird sie schwächer werden und dann für immer verschwinden. Mein letzter Feind, Paladin, erwartet mich jetzt. Ich sehe ihn näher kommen. Aber er ist keine Herausforderung – ein alter Mann, gebückt, sein Gesicht voller Trauer und Kummer, und das wird sein Untergang sein. Denn er ist schwach, schwach und verletzt jenseits aller Heilung, so wie Crysania, seine arme Klerikerin, die auf den wechselnden Ebenen der Hölle gestorben ist. Du wirst zusehen, wie ich ihn zerstöre, Par-Salian, und wenn diese Schlacht beendet ist, wenn die Konstellation des Platindrachen vom Himmel fällt, wenn Solinaris Licht ausgelöscht ist, wenn du die Macht des Schwarzen Mondes gesehen hast und sie anerkennst und mir als dem neuen und einzigen Gott deine Huldigung erwiesen hast, dann werde ich dich freigeben, Par-Salian, damit du deinen Trost im Tod finden magst, was immer er sein mag.«

Astinus von Palanthas zeichnete diese Worte auf, so wie er Par-Salians Schrei aufgezeichnet hatte: in einer klaren, schwarzen, kühnen Handschrift, langsam und gemächlich. Er saß vor dem großen Portal im Turm der Erzmagier und starrte in die schattigen Tiefen des Portals, wo er in den Tiefen eine Gestalt sah, die noch schwärzer war als die ihn umgebende Dunkelheit. Nur zwei goldene Augen waren erkennbar, ihre Pupillen hatten die Form von Stundengläsern, die zu ihm und dem weißgekleideten Zauberer, der neben ihm gefangen war, hinaufstarrten.

Denn Par-Salian war ein Gefangener in seinem eigenen Turm. Von der Hüfte aufwärts war er ein lebender Mensch – sein weißes Haar floß über seine Schultern, seine weißen Roben bedeckten einen dünnen, ausgemergelten Körper, seine dunklen Augen waren auf das Portal gerichtet. Was er gesehen hatte, war fürchterlich gewesen und hatte vor langer Zeit fast seine geistige Gesundheit zerstört. Aber er konnte seinen Blick nicht abwenden. Von der Hüfte aufwärts war Par-Salian ein lebender Mensch. Von der Hüfte abwärts war er eine Marmorsäule. Von Raistlin verflucht, war Par-Salian gezwungen, im obersten Raum seines Turmes zu stehen und in bitterem Schmerz das Ende der Welt zu beobachten.

Neben ihm saß Astinus, Historiker der Welt, jener Chronist, der das letzte Kapitel über Krynns kurze, glänzende Geschichte schrieb. Von Palanthas der Schönen, wo Astinus gelebt und wo die Große Bibliothek gestanden hatte, waren nur noch ein Haufen Asche und verkohlte Leichen übriggeblieben. Astinus war zu diesem Ort gekommen, dem einzigen und letzten Ort mit Leben auf Krynn, um die endgültigen entsetzlichen Stunden der Welt zu bezeugen und aufzuzeichnen. Wenn alles vorbei war, würde er das geschlossene Buch nehmen und auf den Altar von Gilean legen, dem Gott der Neutralität. Und das wäre dann das Ende.

Astinus spürte, wie sich der Blick der schwarzgekleideten Gestalt im Portal auf ihn richtete, als er die Sätze niedergeschrieben hatte. Er hob seinen Blick, um den goldenen Augen der Gestalt zu begegnen.

»So wie du der erste warst, Astinus«, sagte die Gestalt, »wirst du auch der letzte sein. Wenn du meinen endgültigen Sieg aufgezeichnet hast, wird das Buch geschlossen werden. Dann werde ich unangefochten herrschen.«

»Das ist wahr, du wirst unangefochten herrschen. Du wirst über eine tote Welt herrschen. Eine Welt, die deine Magie zerstört hat. Du wirst allein herrschen. Und du wirst allein sein, allein in dieser formlosen, ewigen Leere«, erwiderte Astinus sachlich und schrieb weiter, noch während er sprach. Neben ihm stöhnte Par-Salian und riß an seinen weißen Haaren.

Sehend, so wie er alles sah – scheinbar ohne zu sehen —, beobachtete Astinus, wie die schwarzgekleidete Gestalt ihre Hände zusammenballte.

»Das ist eine Lüge, alter Freund! Ich werde erschaffen! Neue Welten werden mir gehören. Neue Völker werde ich erzeugen – neue Rassen, die mich ehren werden!«

»Das Böse kann nichts erschaffen«, erklärte Astinus ruhig, »es kann nur zerstören. Es wendet sich gegen sich selbst und zernagt sich selbst. Du spürst doch bereits, wie es dich verschlingt. Du spürst bereit, wie deine Seele schrumpft. Sieh in Paladins Gesicht, Raistlin. Sieh es so an, wie du es damals in der Ebene von Dergod gesehen hast, als du von der Schwertwunde des Zwergs im Sterben gelegen hast und Crysania ihre heilenden Hände auf dich legte. Du hast die Trauer und den Kummer des Gottes gesehen, so wie du ihn jetzt siehst, Raistlin. Und du wußtest damals wie auch jetzt, auch wenn du dich weigerst, das zuzugeben, daß Paladin nicht um sich selbst trauert, sondern um dich.

Für uns wird es leicht sein, in unseren traumlosen Schlaf zurückzugleiten. Für dich, Raistlin, wird es keinen Schlaf geben. Nur endloses Wachsein, endloses Lauschen nach Geräuschen, die niemals ertönen werden. Endlos wirst du in die Leere starren, die weder Licht noch Dunkelheit enthält, endlos kreischende Worte wirst du hören, die niemand sonst hören kann, die niemand beantworten wird, endloses Planen, das keine Früchte tragen wird, so daß du dich immer wieder um dich selbst drehen wirst. Schließlich wirst du in deinem Wahnsinn und deiner Verzweiflung den Schwanz deiner Existenz ergreifen, und wie eine verhungernde Schlange wirst du dich selbst vollständig verschlingen in dem Versuch, Nahrung für deine Seele zu finden.

Aber du wirst nichts als Leere finden. Und du wirst für alle Ewigkeit innerhalb dieser Leere weiterexistieren – ein winziger Fleck im Nichts, das alles um sich einsaugt, um deinen endlosen Hunger zu stillen...«

Das Portal schimmerte. Astinus sah von seinem Schreiben auf und spürte den Willen hinter diesen goldenen Augen schwanken. An ihren spiegelgleichen Oberflächen sah er vorbei, schaute tief in ihre Abgründe und sah – für den Moment eines Herzschlags – die Qual und die Folter, die er beschrieben hatte. Er sah eine Seele, verängstigt, einsam, gefangen in ihrer eigenen Falle, die einen Ausweg suchte. Zum ersten Mal in seiner Existenz spürte Astinus Mitgefühl in sich. Seine Hand markierte die Stelle in seinem Buch, als er sich von seinem Platz halb erhob, seine andere Hand griff in das Portal...

Dann Gelächter... unheimliches, höhnisches, bitteres Gelächter, das nicht ihm galt, sondern der Person, die lachte.

Die schwarzgekleidete Gestalt im Portal war verschwunden.

Mit einem Seufzer nahm Astinus seinen Platz wieder ein, und fast im gleichen Moment flackerten im Portal magische Blitze auf. Sie wurden von einem lodernden weißen Licht beantwortet – die letzte Begegnung zwischen Paladin und dem jungen Mann, der die Königin der Finsternis besiegt und ihren Platz eingenommen hatte.

Auch draußen flackerten Blitze auf, stachen mit blendender Helligkeit in die Augen der beiden Männer, die den Kampf beobachteten. Donner rollte, die Steine des Turmes wackelten, die Grundmauern des Turmes erbebten. Der Wind heulte, und sein Jammern übertönte Par-Salians Stöhnen.

Der uralte Zauberer hob sein angespanntes, hageres Gesicht, wandte den Kopf und starrte mit entsetztem Ausdruck aus den Fenstern. »Das ist das Ende«, murmelte er, und seine schwieligen, abgezehrten Hände griffen schwach in die Luft. »Das Ende aller Dinge.«

»Ja«, stimmte Astinus zu, der verärgert seine Stirn runzelte, weil er wegen des plötzlichen Schlingerns des Turmes einen Fehler gemacht hatte. Er griff fester um sein Buch, seine Augen auf das Portal gerichtet, und schrieb und zeichnete die letzte Schlacht auf, so wie sie sich ereignete.

Innerhalb weniger Augenblicke war alles vorüber. Das weiße Licht flackerte eine Sekunde wunderschön auf. Dann erstarb es. Das Portal war wieder mit Dunkelheit erfüllt.

Par-Salian weinte. Seine Tränen fielen auf den Steinboden, und unter ihrer Berührung erbebte der Turm wie ein Lebewesen, als ob auch er seinen Untergang voraussähe und vor Entsetzen schauderte.

Ohne auf die herabfallenden Steine und die sich aufbäumenden Felsen zu achten, schrieb Astinus kühl die letzten Worte: »Am vierten Tag im fünften Monat des Jahres 358 endet die Welt.«

Dann wollte Astinus mit einem Seufzer das Buch schließen.

Doch eine Hand schlug die Seiten wieder auf.

»Nein«, sagte eine entschlossene Stimme, »sie wird jetzt nicht enden.«

Astinus’ Hände zitterten, und sein Federhalter ließ einen Tintenklecks auf das Papier fallen, der die letzten Worte auslöschte.

»Caramon... Caramon Majere!« schrie Par-Salian und streckte mitleiderregend seine schwachen Hände dem Mann entgegen. »Du also warst es, den ich im Wald gehört habe!«

»Hast du an mir gezweifelt?« knurrte Caramon. Obgleich er schockiert und entsetzt war über den Anblick des erbarmungswürdigen Zauberers und seiner Qual, fand er es schwierig, Mitgefühl für den Erzmagier zu empfinden. Als er Par-Salian ansah, dessen untere Hälfte in Marmor verwandelt war, erinnerte er sich nur allzu deutlich an die Qualen seines Bruders im Turm und an seine eigenen Qualen, als er mit Crysania nach Istar zurückgeschickt wurde.

»Nein, ich habe nicht an dir gezweifelt!« Par-Salian rang seine Hände. »Ich habe an meiner eigenen geistigen Gesundheit gezweifelt! Kannst du das nicht verstehen? Wie kannst du überhaupt hier sein? Wie kannst du die magischen Schlachten überlebt haben, die die Welt zerstörten?«

»Er hat sie nicht überlebt«, erklärte Astinus streng. Nachdem er seine Beherrschung wiedergewonnen hatte, legte er das offene Buch vor seinen Füßen auf den Boden und erhob sich. Wütend funkelte er Caramon an und zeigte mit anklagendem Finger auf ihn. »Was ist das für ein Trick? Du bist gestorben! Was soll das bedeuten...«

Ohne ein Wort zu sagen, zog Caramon Tolpan hinter sich hervor. Tief beeindruckt von der Feierlichkeit und dem Ernst der Situation, kuschelte sich Tolpan eng an ihn, seine aufgerissenen Augen mit flehendem Blick auf Par-Salian gerichtet.

»Möchtest... möchtest du, daß ich es erkläre, Caramon?« fragte Tolpan mit leiser, höflicher Stimme, kaum hörbar über dem Donner. »Ich... ich habe wirklich das Gefühl, daß ich erklären sollte, warum ich den Zeitreisezauber beeinträchtigt habe, und dann ist da noch die Sache, daß mir Raistlin die falschen Anweisungen gab und mich das magische Gerät zerbrechen ließ, obgleich es teilweise meine Schuld war, vermute ich, und wie ich in der Hölle geendet habe, wo ich den armen Gnimsch kennenlernte.« Tolpans Augen füllten sich mit Tränen. »Und wie Raistlin ihn getötet hat...«

»All das ist mir bekannt«, unterbrach ihn Astinus. »Wegen des Kenders warst du also in der Lage, hierher zu gelangen. Unsere Zeit ist knapp. Was ist dein Begehr, Caramon Majere?«

Der große Mann wandte sich an Par-Salian. »Ich empfinde keine Liebe für dich, Zauberer. In dieser Hinsicht bin ich eins mit meinem Zwillingsbruder. Vielleicht hattest du deine Gründe dafür, was du mir und Crysania angetan hast, als du uns nach Istar schicktest. Wenn ja« – Caramon hob seine Hand, um Par-Salian aufzuhalten, der anscheinend etwas erwidern wollte – »wenn ja, dann bist du es, der damit leben muß, nicht ich. Denn wisse, daß ich jetzt über die Macht verfüge, die Zeit zu ändern. So wie Raistlin mir sagte, wegen des Kenders können wir alles verändern, was geschehen ist... Ich habe das magische Gerät. Ich kann zu jedem Punkt in der Zeit zurückreisen. Sage mir, wann und was geschehen ist und wie es zu dieser Zerstörung gekommen ist, und ich werde es in die Hand nehmen, sie zu verhindern, wenn mir das möglich ist.«

Caramons Blick glitt von Par-Salian zu Astinus. Der Historiker schüttelte den Kopf. »Sieh mich nicht an, Caramon Majere. Ich bin darin wie auch in allen anderen Dingen neutral. Ich kann dir keine Hilfe geben. Ich kann dir nur diese Warnung geben: Du kannst wohl zurückkehren, aber vielleicht findest du lediglich heraus, daß du nichts verändern kannst. Ein Kieselstein in einem schnell fließenden Fluß, das ist vielleicht alles, was du bist.«

Caramon nickte. »Wenn das alles ist, dann werde ich zumindest mit dem Wissen sterben, daß ich versucht habe, mein Versagen wiedergutzumachen.«

Astinus musterte Caramon mit einem scharfen, durchdringenden Blick. »Welches Versagen meinst du, Krieger? Du hast dein Leben riskiert, um deinem Bruder zu folgen. Du hast dein Bestes getan, du hast dich bemüht, ihn zu überzeugen, daß dieser Weg der Dunkelheit, den er gewählt hat, nur zu seinem eigenen Untergang führen wird.« Astinus zeigte zum Portal. »Hast du gehört, wie ich zu ihm gesprochen habe? Du weißt, was ihn erwartet?«

Caramon nickte wieder wortlos, sein Gesicht war blaß und gequält.

»Dann sag es mir«, sagte Astinus kühl.

Der Turm schwankte. Wind schlug gegen die Mauern, Blitze verwandelten die schwindende Nacht der Welt in einen grellen, blendenden Tag. Das kleine, kahle Turmzimmer, in dem sie standen, erbebte und zitterte. Obwohl sie allein in diesem Raum waren, glaubte Caramon, ein Weinen zu hören, und allmählich wurde ihm bewußt, daß es die Steine des Turmes selbst waren. Er sah sich um.

»Du hast Zeit«, sagte Astinus. Er setzte sich wieder auf seinen Schemel und nahm sein Buch in die Hände. Aber er schloß es nicht. »Vielleicht nicht lange, aber du hast noch Zeit. Wobei hast du versagt?«

Caramon holte zitternd Luft. Dann zogen sich seine Brauen zusammen. Zorn verfinsterte seinen Blick, als er sich an Par-Salian wandte: »Ein Trick, nicht wahr, Zauberer? Ein Trick, um mich dazu zu bringen, was ihr Magier nicht vermochtet – Raistlin in seinem entsetzlichen Vorhaben aufhalten. Aber ihr habt versagt. Du hast Crysania zum Sterben zurückgeschickt, weil ihr Angst vor ihr hattet. Aber ihr Wille und ihre Liebe waren stärker, als ihr angenommen habt. Sie blieb am Leben, und blind durch ihre Liebe und ihre Wünsche folgte sie Raistlin in die Hölle. Ich verstehe Paladin nicht, der ihre Gebete erhörte und ihr die Macht verliehen hatte, dorthin zu gehen...«

»Es ist dir nicht bestimmt, die Wege der Götter zu verstehen, Caramon Majere«, unterbrach ihn Astinus nüchtern. »Wer bist du, daß du über sie urteilen willst? Es mag wohl sein, daß auch sie zuweilen versagen. Oder daß sie sich entscheiden, das Beste zu riskieren, getrieben von der Hoffnung, daß es noch besser wird.«

»Auf jeden Fall«, fuhr Caramon fort, das Gesicht düster und kummervoll, »haben die Magier Crysania zurückgeschickt und gaben somit meinem Bruder einen der Schlüssel, die er zum Betreten des Portals benötigte. Sie haben versagt. Die Götter haben versagt. Und ich habe versagt!« Caramon fuhr mit einer zitternden Hand durch sein Haar.

»Ich dachte, ich könnte Raistlin mit Worten überzeugen, sich von dem tödlichen Weg abzuwenden, auf dem er sich befand. Ich hätte es besser wissen müssen.« Der große Mann lachte bitter. »Haben meine Worte jemals etwas bei ihm bewirkt? Als er vor dem Portal stand und bereit war, die Hölle zu betreten, als er mir sagte, was er beabsichtigte, verließ ich ihn. Es war alles so einfach. Ich habe mich einfach umgedreht und bin weggegangen.«

»Pah!« schnaufte Astinus. »Was hättest du denn tun wollen? Er war damals stark, mächtiger, als einer von uns sich überhaupt vorstellen kann. Er hielt das magische Feld mit der bloßen Kraft seines Willens und seiner Stärke zusammen. Du hättest ihn nicht töten können...«

»Nein«, sagte Caramon, und sein Blick bewegte sich von den Anwesenden im Zimmer fort, hinaus in den Sturm, der immer heftiger wütete, »aber ich hätte ihm folgen können – ihm in die Dunkelheit folgen —, auch wenn es meinen Tod bedeutet hätte. Um ihm zu zeigen, daß ich bereit war, mich aus Liebe zu opfern, so wie er bereit war, sich für seine Magie und seine Pläne zu opfern.« Caramon richtete wieder seinen Blick auf die Anwesenden im Zimmer. »Dann hätte er mich respektieren müssen. Dann hätte er zugehört. Und darum will ich zurück. Ich will die Hölle betreten« – Caramon ignorierte Tolpans entsetzten Aufschrei – »und dort will ich tun, was getan werden muß.«

»Was getan werden muß«, wiederholte Par-Salian fieberhaft. »Dir ist nicht klar, was das bedeutet! Dalamar...«

Ein lodernder, blendender Blitz explodierte im Raum und schleuderte die Anwesenden gegen die Steinmauern. Keiner konnte etwas sehen oder hören, als der Donner über sie stürzte. Dann ertönte über dem Rollen des Donners ein gequälter Aufschrei.

Erschüttert von dem abgerissenen, schmerzerfüllten Schrei, öffnete Caramon seine Augen, nur um sich zu wünschen, daß er sie für ewig vor diesem schauerlichen Anblick verschlossen hätte.

Par-Salian hatte sich von einer Marmorsäule in eine Flammensäule verwandelt! Gefangen in Raistlins Zauber, war der Magier hilflos. Er konnte nur noch schreien, während die Flammen langsam an seinem unbeweglichen Körper hochkrochen.

Voller Entsetzen bedeckte Tolpan sein Gesicht mit beiden Händen und kauerte sich wimmernd in eine Ecke. Astinus erhob sich von der Stelle, wo er auf den Boden geschleudert wurde. Seine Hände hielten immer noch das Buch. Er wollte schreiben, aber seine Hand wurde schlaff, und der Federhalter glitt aus seinen Fingern. Und wieder wollte er das Buch schließen...

»Nein!« schrie Caramon. Er streckte die Hände aus und legte sie auf die Blätter.

Astinus sah ihn an, und Caramon zögerte unter dem Blick dieser unsterblichen Augen. Seine Hände zitterten, aber sie blieben entschlossen auf das weiße Pergament des ledergebundenen Bandes gepreßt. Der sterbende Zauberer jammerte in entsetzlichem Todeskampf.

Astinus ließ das offene Buch los.

»Halt das«, befahl Caramon, schloß den wertvollen Band und warf ihn in Tolpans Hände. Betäubt nickte der Kender und klammerte seine Arme um das Buch, das fast so groß war wie er selbst. So blieb er zusammengekauert in seiner Ecke und starrte entsetzt um sich, als Caramon durch den Raum zu dem sterbenden Zauberer eilte.

»Nein!« kreischte Par-Salian. »Komm mir nicht näher!« Seine weißen, fließenden Haare und sein langer Bart knisterten, seine Haut warf Blasen und zischte, der schreckliche, süßliche Gestank brennenden Fleisches vermischte sich mit dem Schwefelgeruch.

»Sag es mir!« schrie Caramon, hob seinen Arm schützend gegen die Hitze und ging so dicht wie möglich zu dem sterbenden Magier. »Sag es mir, Par-Salian! Was muß ich tun? Wie kann ich es verhindern?«

Die Augen des Zauberers schmolzen. Sein Mund war ein klaffendes Loch in einer schwarzen, formlosen Masse, die sein Gesicht gewesen war. Aber seine Worte trafen Caramon wie ein Blitz, der sich für ewig in seinen Geist einbrannte.

»Raistlin darf niemals erlaubt werden, die Hölle wieder zu verlassen!«

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