»Was ist?« Caramon drehte sich um und sah Tolpan so merkwürdig an, daß der Kender spürte, wie sich sein inneres Erstaunen auch nach außen ausdehnte. Am ganzen Körper bebte er.
»N...nichts«, stammelte Tolpan. »Nur meine Phantasie! Caramon«, fügte er drängend hinzu, »laß uns aufbrechen! Jetzt sofort. Wir können doch gehen, wohin wir wollen! Wir können zurück in die Vergangenheit reisen, als wir noch alle zusammen waren, als wir alle glücklich waren! Wir können in die Zeit zurückreisen, wo Flint und Sturm noch gelebt haben, wo Raistlin noch die roten Roben trug und Tika...«
»Halt den Mund, Tolpan«, fauchte Caramon warnend, und seine Worte wurden von einem Blitz untermalt, bei dem sogar der Kender zusammenzuckte.
Der Wind war stärker geworden und pfiff unheimlich durch die toten Baumstümpfe, als ob jemand durch zusammengebissene Zähne einen bebenden Atemzug holt. Der warme, glitschige Regen hatte sich gelegt. Die Wolken über ihnen wirbelten vorbei und enthüllten die blasse Sonne, die am grauen Himmel schimmerte. Aber am Horizont ballten sich die Wolken immer noch zusammen und wurden schwärzer und schwärzer. Vielfarbene Blitze flackerten zwischen ihnen auf und erfüllten sie mit tödlicher Schönheit.
Caramon biß die Zähne vor Schmerz zusammen, den ihm sein verletztes Bein bereitete, und setzte den Weg auf dem Schlammpfad fort. Aber Tolpan, der auf den Pfad herabschaute, den er doch so gut kannte – obwohl er jetzt erschreckend anders aussah —, konnte sehen, wo er eine Biegung machte. Er wußte, was sich dahinter befand, und darum rührte er sich jetzt nicht vom Fleck, sondern baute sich entschlossen mitten auf dem Weg auf und starrte Caramon nach.
Nach einigen ungewöhnlichen Momenten voll Schweigen erkannte Caramon, daß etwas nicht stimmte, und sah sich um. Er hielt an. Sein Gesicht war von Schmerz und Erschöpfung gezeichnet. »Nun komm, Tolpan« rief er gereizt.
Tolpan wickelte seinen Haarzopf um die Finger und schüttelte den Kopf.
Caramon funkelte ihn an.
Schließlich platzte Tolpan heraus: »Das sind Vallenholzbäume, Caramon!«
Der strenge Ausdruck auf dem Gesicht des großen Mannes glättete sich. »Ich weiß, Tolpan«, murmelte er müde. »Wir sind tatsächlich in Solace.«
»Nein, das stimmt nicht!« schrie Tolpan. »Es... es ist einfach eine Gegend mit Vallenholzbäumen! Es gibt doch viele Gegenden mit Vallenholzbäumen...«
»Dann gibt es auch viele Gegenden mit dem Krystalmirsee, Tolpan, oder mit den Kharolisbergen oder jenem Findling dort oben, wo wir beide Flint haben sitzen sehen, wenn er Holz schnitzte, oder diese Straße, die nach...«
»Du weißt es nicht!« kreischte Tolpan wütend. »Es ist möglich!« Plötzlich lief er nach vorne, zumindest versuchte er es, und zog seine Füße so schnell wie möglich durch den sickernden, klebrigen Schlamm. Er stolperte gegen Caramon, ergriff dessen Hand und zog ihn mit sich. »Laß uns gehen! Laß uns hier verschwinden!« Wieder hielt er das magische Gerät hoch. »Wir... wir können nach Tarsis zurückgehen! Wo die Drachen ein Haus auf mich geworfen haben! Das war eine lustige Zeit, wirklich toll. Erinnerst du dich?« Seine schrille Stimme gellte durch die verbrannten Bäume.
Mit grimmigem Gesicht nahm ihm Caramon das magische Gerät aus der Hand. Ohne auf Tolpans hektische Proteste zu achten, drehte und wendete er die Juwelen und verwandelte das funkelnde Zepter in einen schlichten, nichtssagenden Anhänger. Tolpan beobachtete ihn und fühlte sich elend.
»Warum gehen wir denn nicht, Caramon? Dieser Ort ist entsetzlich. Bisher haben wir nichts zu essen oder zu trinken gefunden, und nach allem, was ich bisher gesehen habe, ist es auch so gut wie ausgeschlossen, daß wir etwas finden werden. Außerdem werden wir direkt in unseren Schuhen zerfetzt werden, falls einer dieser Blitze auf uns einschlägt, und dieser Sturm kommt näher und näher, und du weißt, daß dies hier nicht Solace ist...«
»Ich weiß es nicht, Tolpan«, unterbrach Caramon ruhig. »Aber ich werde es herausfinden. Was ist eigentlich los mit dir? Bist du auf einmal nicht mehr neugierig? Seit wann verzichtet ein Kender auf die Chance, Abenteuer zu erleben?« Er fuhr fort, den Pfad hinunterzuhinken.
»Ich bin genauso neugierig wie jeder andere Kender«, murmelte Tolpan, ließ den Kopf hängen und trottete hinter Caramon her. »Aber es ist eine Sache, auf einen Ort neugierig zu sein, an dem man noch nie gewesen ist, und eine ganz andere Sache, neugierig auf sein Zuhause zu sein. Auf sein Zuhause soll man nämlich nicht neugierig sein! Das Zuhause darf sich einfach nicht verändern. Es bleibt nämlich hier und wartet auf dich, bis du zurückkommst. Zuhause ist ein Ort, von dem man sagt: ›Du meine Güte, es sieht ja genauso aus wie damals, als ich es verlassen habe!‹ und nicht: ›Meine Güte, es sieht hier aus, als ob sechs Millionen Drachen eingeflogen wären und den Laden zertrümmert hätten!‹ Das Zuhause ist wirklich kein Ort für Abenteuer, Caramon!«
Tolpan warf einen Blick in Caramons Gesicht, um zu sehen, ob sein Argument Eindruck auf ihn gemacht hatte. Wenn das der Fall war, verriet es sich nicht in seinem Gesicht. Denn dort war außer Schmerz ein Ausdruck ernster Entschlossenheit erschienen, der Tolpan ziemlich überraschte, ja nicht nur überraschte, sondern gleichzeitig erschreckte.
Caramon hat sich verändert, erkannte Tolpan plötzlich. Und das liegt nicht nur daran, daß er keinen Zwergenspiritus mehr trinkt. Da ist noch etwas anderes – er ist ernster und... nun ja, er sieht verantwortlich aus, denke ich. Aber da ist noch etwas. Tolpan grübelte. Stolz, das ist es, entschied er nach einer Minute tiefen Nachdenkens, Stolz auf sich selbst, Stolz und Entschlossenheit.
Das ist kein Caramon, der schnell nachgibt, dachte Tolpan mit wehem Herzen. Das ist kein Caramon mehr, der einen Kender braucht, damit der ihn aus vielerlei Ärger und etlichen Tavernen herausholt. Tolpan seufzte düster. Auf einmal vermißte er den alten Caramon sehr.
Sie erreichten die Wegbiegung. Beide erkannten sie sie wieder, obgleich beide schwiegen – Caramon, weil es nichts zu sagen gab, und Tolpan, weil er sich standhaft weigerte, zuzugeben, daß er sie erkannte. Aber ihre Schritte wurden schleppend.
Wenn man diese Kurve erreicht hatte, konnte man auf das im Licht erstrahlende Wirtshaus zur Letzten Bleibe schauen. Man konnte Otiks Würzkartoffeln riechen und Gelächter und Lieder hören, wenn sich die Tür öffnete, um einen Wanderer oder einen Bewohner von Solace einzulassen. Caramon und Tolpan hielten in unausgesprochenem Einverständnis an, bevor sie um diese letzte Wegkrümmung bogen.
Sie sagten immer noch nichts, aber beide sahen die Verwüstung entsetzt an, sahen auf die verbrannten und gesprengten Baumstümpfe, auf den aschebedeckten Boden, auf die geschwärzten Steine. In ihren Ohren wurde das Schweigen lauter und beängstigender als dröhnender Donner. Denn beide wußten, sie hätten Solace hören müssen, noch bevor sie es sehen konnten. Sie hätten die Geräusche der Stadt hören müssen – die Geräusche der Schmiede, den Lärm des Markttages, die Geräusche der Hausierer und der Kinder und der Händler, die Geräusche des Wirtshauses.
Aber es gab nichts dergleichen, nur Schweigen. Und weit, weit entfernt das unheilvolle Rollen des Donners.
Schließlich seufzte Caramon tief auf. »Laß uns gehen«, sagte er und hinkte weiter.
Tolpan folgte langsam. Seine Schuhe waren so stark mit Schlamm überzogen, daß er glaubte, eisenbesohlte Zwergenstiefel zu tragen. Aber seine Schuhe waren bei weitem nicht so schwer wie sein Herz. Immer wieder murmelte er sich zu: »Das ist nicht Solace, das ist nicht Solace, das ist nicht Solace«, bis es sich wie eine magische Zauberformel von Raistlin anhörte.
Als Tolpan endlich die Biegung hinter sich gebracht hatte, hob er ängstlich seine Augen und stieß einen riesigen Seufzer der Erleichterung aus. »Was habe ich dir gesagt, Caramon?« schrie er durch den jammernden Wind. »Schau doch, hier ist nichts, überhaupt nichts. Kein Wirtshaus, keine Stadt, nichts.« Er ließ seine kleine Hand in Caramons Riesenpranken gleiten und versuchte ihn zurückzuziehen. »Jetzt laß uns gehen. Ich habe eine Idee. Wir können doch einfach in die Zeit zurückreisen, als Fizban die goldene Brücke aus dem Himmel kommen ließ...«
Aber Caramon schüttelte den Kender ab und hinkte mit grimmigem Gesicht weiter. Dann blieb er plötzlich stehen und starrte auf den Boden. »Und was ist das da, Tolpan?« herrschte er ihn mit einer Stimme an, die vor Angst angespannt war.
Nervös kaute der Kender am Ende seines Haarzopfes, als er bei Caramon anlangte. »Was ist was?« fragte er dickköpfig.
Caramons Hand beschrieb einen Bogen.
Tolpan zog die Nase hoch. »Also, dieser Platz ist gerodet. Na schön, vielleicht war hier mal etwas. Vielleicht war hier tatsächlich ein großes Gebäude. Aber es ist nicht mehr da, warum soll man sich also Gedanken machen? Ich... O Caramon!«
Das verletzte Knie des großen Mannes gab plötzlich nach. Er taumelte und wäre gefallen, wenn Tolpan ihn nicht gestützt hätte. Mit dessen Hilfe schaffte Caramon es, den ungewöhnlich großen Stumpf eines Vallenholzbaumes am Rand des leeren, schlammbedeckten Platzes zu erreichen. Er lehnte sich dagegen, das Gesicht war blaß vor Schmerzen und triefend vor Schweiß, und er rieb sein verletztes Knie.
»Wie kann ich dir bloß helfen?« fragte Tolpan eifrig und rang seine Hände. »Ich weiß! Ich suche dir eine Krücke! Hier müssen massenweise zerbrochene Äste herumliegen. Ich schaue mich schnell mal um.«
Caramon sagte nichts, sondern nickte nur erschöpft.
Tolpan flitzte davon. Seine scharfen Augen stöberten über den grauen, glitschigen Boden, voller Erleichterung, beschäftigt zu sein und keine Fragen über dumme gerodete Plätze beantworten zu müssen. Er fand bald, wonach er gesucht hatte – das Ende eines Astes, das aus dem Schlamm aufragte. Er bekam ihn zu fassen und zog daran. Seine Hände glitten an dem nassen Ast ab, und er stolperte nach hinten. Sofort rappelte er sich wieder auf, starrte gequält auf die klebrige Masse an seiner blauen Hose und versuchte erfolglos, sie wegzuwischen. Dann seufzte er auf und griff grimmig wieder nach dem Ast. Dieses Mal gab der ein wenig nach.
»Ich habe ihn fast, Caramon!« rief er. »Ich...«
Ein ganz ungewöhnlicher Kenderschrei ertönte durch den kreischenden Wind. Caramon schaute besorgt auf und sah Tolpans Haarzopf in einem riesigen, klaffenden Loch verschwinden, das sich offenbar eben erst unter seinen Füßen geöffnet hatte.
»Ich komme, Tolpan!« rief Caramon und stolperte zu ihm hinüber. »Halt durch...«
Aber beim Anblick von Tolpan, der aus dem Loch zurückkroch, blieb er abrupt stehen. So hatte Caramon das Gesicht des Kenders noch nie gesehen. Es war aschgrau, die Lippen weiß, die Augen weit aufgerissen und starr vor Schrecken.
»Komm nicht näher, Caramon«, flüsterte Tolpan und winkte ihn mit einer kleinen, schmuddeligen Hand zurück. »Bitte, bleib da, wo du bist!«
Aber es war zu spät. Caramon hatte den Rand des Loches schon erreicht und starrte hinab. Tolpan, der neben ihm am Boden kauerte, begann zu beben und zu schluchzen. »Sie sind alle tot«, wimmerte er. »Alle tot.« Er vergrub das Gesicht in den Armen, schaukelte hin und her und weinte bitterlich.
Am Boden des steinumsäumten Loches, das mit einer dicken Schlammschicht bedeckt gewesen war, lagen Leichen, Berge von Leichen, Leichen von Männern, Frauen und Kindern. Vom Schlamm konserviert, waren sie immer noch erschreckend erkennbar – so schien es zumindest Caramons fiebrigem Blick. Seine Gedanken wanderten zum letzten Massengrab, das er gesehen hatte – in dem von der Pest heimgesuchten Dorf, das Crysania gefunden hatte. Er erinnerte sich auch an das zornige, kummervolle Gesicht seines Bruders. Er erinnerte sich, daß Raistlin Blitze herbeibeschworen hatte, die alles vernichteten und das ganze Dorf zu Asche verbrannten.
Caramon biß seine Zähne zusammen und zwang sich, in dieses Grab zu schauen – zwang sich, nach roten Locken zu suchen...
Er wandte sich bebend mit einem Schluchzen der Erleichterung ab. Als er sich verstört umgeschaut hatte, begann er dorthin zurückzulaufen, wo das Wirtshaus gestanden hatte. »Tika!« schrie er.
Tolpan hob seinen Kopf und sprang beunruhigt auf. »Caramon!« kreischte er, rutschte im Schlamm aus und stürzte.
»Tika!« Caramons Stimme gellte heiser über den heulenden Wind und den entfernten Donner. Offenbar hatte er den Schmerz in seinem verletzten Bein vergessen, denn er taumelte zu einer großen, gerodeten, von Baumstümpfen freien Fläche an dem Weg. Dort hat die Straße an dem Wirtshaus vorbeigeführt, fiel Tolpan ein, obgleich er nicht klar denken konnte. Er hatte sich wieder aufgerappelt und eilte Caramon nach, aber der große Mann bewegte sich schnell. Hastig stolperte er durch den Schlamm, und Angst und Hoffnung verliehen ihm neue Kräfte.
Tolpan verlor ihn zwischen den geschwärzten Stümpfen bald aus den Augen, aber er konnte seine Stimme hören. Immer noch schrie er Tikas Namen. Auf einmal wußte Tolpan, worauf der große Mann zusteuerte. Seine eigenen Schritte verlangsamten sich. Sein Kopf schmerzte von der Hitze und den widerlichen Gerüchen des Ortes, sein Herz schmerzte von dem, was er gerade gesehen hatte. Er schleppte sich weiter, voller Angst, auf was er stoßen würde.
Tatsächlich stand Caramon auf einer öden Fläche neben einem Vallenholzstumpf. In seiner Hand hielt er etwas. Und der Blick, mit dem er darauf starrte, verriet, daß er schließlich doch besiegt war.
Schlammüberzogen, verdreckt, verzweifelt trat der Kender zu ihm. »Was hast du da?« fragte er mit zitternden Lippen und zeigte auf den Gegenstand in der Hand des großen Mannes.
»Einen Hammer«, sagte Caramon mit erstickter Stimme. »Meinen Hammer.«
Tolpan sah genau hin. Es war ein Hammer, das stimmte. Oder zumindest schien es einmal einer gewesen zu sein. Ungefähr drei Viertel des Holzgriffs waren abgebrannt. Lediglich ein verkohltes Stück Holz und der geschwärzte Metallkopf waren übriggeblieben.
»Wieso... wieso bist du dir sicher?« stammelte er. Immer noch rang er mit sich und weigerte sich zu glauben, was er sah.
»Ich bin sicher«, sagte Caramon bitter. »Sieh dir das an.« Bei seiner Berührung wackelte der Kopf am Griff. »Ich habe ihn hergestellt, als ich... ich noch getrunken habe.« Er wischte sich mit einer Hand über die Augen. »Er ist nicht gut geworden. Der Kopf ist ungefähr jedes zweite Mal abgefallen. Aber andererseits« – er würgte – »habe ich auch nicht viel damit gearbeitet.«
Vom Laufen geschwächt, gab Caramons verletztes Bein plötzlich nach. Diesmal versuchte er nicht einmal, sich selbst aufzufangen, sondern ließ sich einfach in den Schlamm fallen. Er saß auf der gerodeten Fläche, wo einst sein Haus gestanden hatte, hielt den Hammer krampfhaft in seiner Hand und begann zu weinen.
Tolpan wandte seinen Kopf ab. Die Trauer des großen Mannes war heilig, zu privat selbst für seine Augen. Auf seine eigenen Tränen, die an seiner Nase herabtröpfelten, achtete er nicht, sondern starrte düster um sich. Er hatte sich noch nie so hilflos, so verloren und einsam gefühlt. Was war geschehen? Was war schiefgelaufen? Es mußte doch irgendwo einen Hinweis, eine Antwort geben.
»Ich... ich sehe mich mal um«, murmelte er zu Caramon, der ihn aber gar nicht hörte.
Mit einem Seufzer trottete Tolpan davon. Er wußte jetzt natürlich, wo er sich befand. Er konnte sich nicht länger weigern, diese Tatsache abzustreiten. Caramons Haus hatte in der Nähe der Stadtmitte gestanden, nicht weit vom Wirtshaus entfernt. Tolpan stolperte dort entlang, wo einst eine Straße zwischen den Häuserreihen verlaufen war. Obgleich nichts mehr übriggeblieben war – keine Häuser, keine Straße, keine Vallenholzbäume, auf denen die Häuser ruhten —, wußte er genau, wo er war. Er wünschte nur, er müßte es nicht wissen. Hier und dort sah er Zweige aus dem Schlamm emporragen, und er zitterte. Denn sonst gab es nichts. Nichts außer...
»Caramon!« rief Tolpan, dankbar, etwas zum Untersuchen gefunden zu haben, das vielleicht auch Caramon von seiner Trauer ablenken würde. »Caramon, ich meine, du solltest dir das ansehen!«
Aber der große Mann hörte nicht auf ihn, so daß Tolpan allein weitergehen mußte, um den Gegenstand zu untersuchen. Am Ende der Straße, wo einst ein kleiner Park gewesen war, erhob sich ein Steinobelisk. Tolpan erinnerte sich an den Park, aber er erinnerte sich nicht an den Obelisken. Bei seinem letzten Besuch in Solace hatte der jedenfalls nicht dort gestanden, erinnerte er sich, als er ihn näher betrachtete.
Hoch, grob gemeißelt, hatte er die Verheerungen durch Feuer und Wind und Sturm überstanden. Seine Oberfläche war geschwärzt und verkohlt, aber Tolpan erkannte eingemeißelte Buchstaben, Buchstaben, die er glaubte lesen zu können, wenn er erst den Schmutz entfernt hätte.
Tolpan wischte den Ruß und den schmuddeligen Film weg, der über dem Stein lag, starrte einen langen Moment darauf und rief dann leise: »Caramon.«
Der merkwürdige Ton in der Stimme des Kenders drang durch Caramons Schleier der Trauer. Er hob den Kopf. Als er den seltsamen Obelisken und Tolpans ungewöhnlich ernstes Gesicht sah, schob sich der große Mann schmerzgequält hoch und hinkte auf ihn zu. »Was ist denn?« fragte er.
Tolpan konnte nicht antworten, sondern nur mit dem Kopf schütteln und mit dem Finger auf etwas zeigen.
Caramon kam zu ihm und stand da. Schweigend las er die grob eingemeißelten Buchstaben der unfertigen Inschrift: »Heldin der Lanze Tika Waylan Majere. Todesjahr 358. Dein Lebensbaum wurde zu früh gefällt. Ich fürchte, in meinen Händen wird die Axt gefunden.«
»Es... es tut mir leid, Caramon«, murmelte Tolpan und ließ seine Hand in die schlaffen, kraftlosen Finger des großen Mannes gleiten.
Caramons Kopf neigte sich. Er legte seine Hand auf den Obelisken und strich über dessen kalte, nasse Oberfläche, während der Wind um sie peitschte. Einige Regentropfen klatschten gegen den Stein. »Sie ist allein gestorben«, sagte er. Er ballte seine Faust und schlug damit gegen den Stein. An den scharfen Ecken schnitt er sich die Hand auf. »Ich habe sie allein gelassen! Ich hätte hier sein sollen! Verdammt, ich hätte hier sein sollen!«
Er schluchzte. Tolpan, der zu den Sturmwolken aufsah und erkannte, daß sie sich wieder bewegten und näher rückten, hielt Caramons Hand fest.
»Ich glaube nicht, daß du etwas hättest tun können, Caramon, wenn du hier gewesen wärst...«, begann der Kender aufrichtig.
Plötzlich brach er ab, dabei biß er sich fast auf die Zunge. Er zog seine Hand aus Caramons Faust – der große Mann bemerkte es nicht einmal – und kniete sich in den Schlamm. Seine flinken Augen hatten etwas erhascht, das in den krankhaften Strahlen der blassen Sonne glänzte. Er griff mit einer zitternden Hand nach unten und schaufelte den Schlamm beiseite.
»Im Namen der Götter«, murmelte er voller Ehrfurcht und lehnte sich auf seine Fersen zurück. »Caramon, du warst hier!«
»Was?« knurrte der andere.
Tolpan zeigte es ihm.
Caramon hob den Kopf und sah nach unten.
Dort, vor seinen Füßen, lag seine eigene Leiche.