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»Du willst ihm nachgehen, nicht wahr?« schrie Tolpan und krabbelte aus dem Loch – eine Bewegung, die ihn auf Augenhöhe mit Caramon brachte, der immer noch an dem Ast herumhackte. »Das ist Wahnsinn, einfach Wahnsinn! Wie willst du denn dorthin kommen? Wo ist dorthin überhaupt? Du weißt doch nicht einmal, wohin du gehen mußt! Du weißt doch nicht, wo er ist!«

»Ich kenne eine Möglichkeit, dorthin zu kommen«, antwortete Caramon kühl und steckte sein Schwert wieder in seine Scheide zurück. Er nahm den Zweig in seine kräftigen Hände, zog und drehte daran, und schließlich gelang es ihm, ihn abzubrechen. »Gib mir mal dein Messer«, bat er Tolpan.

Der Kender reichte es ihm seufzend und wollte seinen Protest fortsetzen, während Caramon kleine Zweige abschnitt, aber der große Mann fiel ihm ins Wort.

»Ich habe das magische Gerät. Und was das dort angeht« – er beäugte Tolpan streng – »da kennst du dich doch aus!«

»Die... die Hölle?« stammelte Tolpan.

Ein dumpfes Donnergrollen ließ beide besorgt zu den näherrückenden Sturmwolken hochschauen, dann wandte sich Caramon mit erneuter Energie seiner Arbeit zu, während Tolpan immer neue Einwände hervorstieß. »Das magische Gerät brachte Gnimsch und mich da heraus, Caramon, aber ich bin fest überzeugt, daß es dich nicht hineinbringt. Du wirst dort sowieso nicht sein wollen«, fügte der Kender entschlossen hinzu. »Es ist kein netter Ort.«

»Vielleicht kann es mich nicht hineinbringen«, begann Caramon, dann winkte er Tolpan zu sich. »Bevor der nächste Sturm beginnt, laß uns mal ausprobieren, ob diese Krücke funktioniert. Wir gehen zu Tika hinüber – zu dem Obelisken.«

Der Krieger schnitt ein Stück von seinem schmuddeligen, nassen Umhang mit dem Schwert ab, band es an der Spitze des Astes fest, schob diesen unter seinen Arm und lehnte sein Gewicht versuchsweise darauf. Die grob geschnitzte Krücke versank einige Zentimeter im Schlamm. Caramon riß sie heraus und machte einen weiteren Schritt. Er sank wieder ein, aber er schaffte es, sich mühsam fortzubewegen, und konnte sein Gewicht von seinem verletzten Knie verlagern. Tolpan half ihm, und langsam humpelten sie im Schneckentempo über den nassen, glitschigen Boden.

Wohin gehen wir? hätte Tolpan gerne gefragt, aber er hatte Angst vor der Antwort. Unglücklicherweise schien Caramon seine Gedanken hören zu können, denn er antwortete auf seine unausgesprochene Frage.

»Vielleicht kann mich das Gerät nicht in die Hölle bringen«, erklärte Caramon schwer atmend, »aber ich kenne jemanden, der das kann. Das Gerät wird uns bestimmt zu ihm führen.«

»Wer?« fragte der Kender ungläubig.

»Par-Salian. Er wird in der Lage sein, uns zu erzählen, was geschehen ist. Er wird in der Lage sein, mich dorthin zu schicken... wohin ich auch gehen muß.«

»Par-Salian?« Tolpan sah fast genauso beunruhigt aus, als wenn Caramon von der Königin der Finsternis gesprochen hätte. »Das ist ja noch verrückter!« wollte er sagen, aber statt dessen wurde ihm plötzlich ganz übel. Caramon hielt an, um auf ihn zu warten. Auch er sah im Mondlicht blaß und krank aus.

Überzeugt, daß er aus seinem Inneren vom Haarzopf bis zu seinen Socken alles herausgelassen hatte, fühlte sich Tolpan etwas besser. Er nickte Caramon zu, zu müde, um zu reden. Er konnte kaum noch weiterstolpern.

Mühsam stampften sie durch den glitschigen Schlamm und erreichten schließlich den Obelisken. Hier ließen sie sich auf den Boden fallen und lehnten sich gegen das Denkmal, erschöpft von der anstrengenden Wanderung, obwohl es sich nur um ungefähr zwanzig Schritte gehandelt hatte. Der heiße Wind wurde stärker, und das Rollen des Donners kam näher. Schweiß bedeckte Tolpans Gesicht, und um seine Lippen lag ein grünlicher Schatten, aber er schaffte es trotzdem, Caramon mit einer, wie er hoffte, unschuldigen Miene anzulächeln.

»Wir gehen also Par-Salian besuchen?« fragte er lässig und wischte sich mit seinem Haarzopf über das Gesicht. »Oh, ich glaube nicht, daß das wirklich eine gute Idee ist. Du bist nicht in der Verfassung, den ganzen Weg zu laufen. Wir haben weder Wasser noch Proviant und...«

»Ich werde nicht laufen.« Caramon nahm den Anhänger aus seiner Tasche und begann, ihn in ein wunderschönes, juwelenbesetztes Zepter zu verwandeln.

Als Tolpan das sah, schluckte er leicht und redete schneller.

»Ich bin überzeugt, daß Par-Salian sehr... sehr beschäftigt ist. Beschäftigt! Das ist es!« Er gab ein verzerrtes Grinsen von sich. »Viel zu beschäftigt, um uns jetzt zu empfangen. Hat wahrscheinlich eine Menge zu tun, bei diesem ganzen Chaos, das um ihn passiert. Laß uns das also vergessen und zu einem Ort zurückreisen, wo wir Spaß hatten. Wie wäre es, wenn wir in die Zeit zurückreisen, wo Raistlin den Liebeszauber auf Bupu warf und sie sich in ihn verliebte? Das war doch wirklich lustig! Diese ekelhafte Gossenzwergin folgte ihm...«

Caramon antwortete nicht. Tolpan wickelte das Ende seines Haarzopfes um seinen Finger.

»Tot«, sagte er plötzlich und gab einen trauernden Seufzer von sich. »Armer Par-Salian. Wahrscheinlich tot wie ein Türknopf. Immerhin«, dem Kender fiel schon wieder etwas Erfreuliches ein, »er war alt, als ich ihn damals im Jahr 356 gesehen habe. Er sah auch nicht besonders gesund aus. Das muß für ihn wahrhaftig ein Schock gewesen sein – daß Raistlin ein Gott geworden ist und das alles. Wahrscheinlich zuviel für sein Herz. Peng – das hat ihn wahrscheinlich sofort umgehauen.«

Tolpan spähte zu Caramon hinüber. Auf dessen Lippen lag ein leichtes Lächeln, aber er sagte nichts, sondern drehte und wendete die einzelnen Teile des Anhängers. Ein heller Blitz ließ ihn zusammenzucken. Er sah zu dem Sturm hinauf, und sein Lächeln verschwand.

»Ich wette, der Turm der Erzmagier wird nicht einmal mehr da sein!« schrie Tolpan verzweifelt. »Wenn es stimmt, was du gesagt hast, und die ganze Welt ist... so wie hier...« – er beschrieb mit seiner Hand hastig einen kleinen Kreis, während der stinkende Regen wieder einsetzte – »Bestimmt hat der Turm als erstes daran glauben müssen! Vom Blitz getroffen! Bum! Immerhin war der Turm höher als die meisten Bäume, die ich gesehen habe...«

»Der Turm wird noch stehen«, unterbrach Caramon grimmig und nahm die letzte Einstellung an dem magischen Gerät vor. Er hielt es hoch. Die Juwelen wurden von den Strahlen Solinaris erfaßt, und einen Augenblick glänzten sie auf. Dann fegten Sturmwolken über den Mond und verschlangen ihn. Die Dunkelheit war jetzt undurchdringlich und wurde lediglich von leuchtenden, wunderschönen, tödlichen Blitzen unterbrochen.

Caramon biß voller Schmerz die Zähne zusammen, ergriff die Krücke und rappelte sich auf. Tolpan folgte langsamer und sah immer noch flehend zu Caramon hoch.

»Verstehst du, Tolpan, ich habe Raistlin jetzt erkannt«, fuhr Caramon fort, ohne auf die kummervolle Miene des Kenders zu achten. »Zu spät vielleicht, aber ich habe ihn jetzt durchschaut. Er haßte den Turm, so wie er dessen Magier haßte für alles, was sie ihm angetan haben. Aber so wie er den Turm haßte, so liebte er ihn gleichzeitig – weil der einen Teil seiner Kunst darstellt, Tolpan. Und seine Kunst, seine Magie, bedeutet ihm mehr als das Leben selbst. Nein, der Turm wird noch stehen.«

Caramon hob das Gerät in seinen Händen und begann den Vers aufzusagen: »Deine Zeit gehört dir allein, auch wenn du quer durch sie reist...«

Aber er wurde unterbrochen.

»O Caramon!« plärrte Tolpan und umklammerte ihn. »Bring mich nur nicht zurück zu Par-Salian! Er wird etwas Schreckliches mit mir anstellen! Ich weiß das! Er wird mich in eine... eine Fledermaus verwandeln!« Tolpan hielt inne. »Und selbst wenn ich glauben könnte, daß es interessant ist, eine Fledermaus zu sein, bin ich mir nicht sicher, ob ich mich daran gewöhnen kann, verkehrt herum zu schlafen, nur an meinen Füßen hängend. Und ich bin liebend gern ein Kender, fällt mir jetzt ein, wenn ich darüber nachdenke, und...«

»Was redest du da überhaupt?« Caramon funkelte ihn an und sah hastig zu den Sturmwolken hoch. Der Regen nahm an Stärke zu, und die Blitze schlugen immer näher ein.

»Par-Salian!« schrie Tolpan hektisch. »Ich... ich habe seinen magischen Zeitreisezauber durcheinandergebracht! Ich sollte nicht mitkommen! Und dann habe ich einen magischen Ring gestoh... äh... gefunden, den jemand liegengelassen hatte, und mich damit in eine Maus verwandelt! Ich bin mir sicher, daß er darüber noch immer ziemlich sauer ist! Und dann habe ich... das magische Gerät zerbrochen, Caramon. Erinnerst du dich! Also, es war zwar nicht direkt meine Schuld, Raistlin ließ es mich zerbrechen! Aber eine wirklich strenge Person könnte die unglückselige Einstellung haben, daß das alles nicht passiert wäre, wenn ich von vornherein die Finger davon gelassen hätte – schließlich wußte ich auch, daß ich das hätte tun sollen. Und Par-Salian scheint eine schrecklich strenge Person zu sein, findest du nicht? Und obgleich ich Gnimsch veranlaßt habe, es zu reparieren, hat er es nicht richtig repariert, weißt du...«

»Tolpan«, murmelte Caramon müde, »halt den Mund.«

»Ja, Caramon«, antwortete Tolpan ergeben und begann zu schniefen.

Caramon sah unter den hellen Blitzen auf die kleine Gestalt, die niedergeschlagen neben ihm kauerte, und seufzte. »Sieh mal, Tolpan. Ich werde es doch nicht zulassen, daß Par-Salian dir etwas antut. Das verspreche ich dir. Zuerst muß er mich in eine Fledermaus verwandeln.«

»Wirklich?« fragte Tolpan eifrig.

»Mein Wort«, sagte Caramon mit einem Blick auf den Sturm. »Jetzt gib mir deine Hand und laß uns hier verschwinden.«

»Sicher«, rief Tolpan fröhlich und steckte seine kleine Hand in Caramons Riesenpranke.

»Und, Tolpan...«

»Ja, Caramon?«

»Dieses Mal – denk bitte an den Turm der Erzmagier in Wayreth! Keine Monde!«

»Ja, Caramon«, murmelte Tolpan mit einem tiefen Seufzer. Dann lächelte er wieder. »Weißt du«, flüsterte er, während Caramon schon wieder seinen Vers aufsagte. »Ich wette, Caramon, du wirst eine Mordsfledermaus abgeben...«

Sie fanden sich am Rand eines kleinen Waldes wieder.

»Es ist nicht meine Schuld, Caramon!« kreischte Tolpan. »Ich habe mit meinem ganzen Herzen und meiner ganzen Seele an den Turm gedacht. Ich habe bestimmt keine Sekunde an einen Wald gedacht.«

Caramon musterte aufmerksam die Bäume. Es war immer noch Nacht, aber der Himmel war klar, obgleich noch immer Sturmwolken am Horizont sichtbar waren. Lunitari brannte in einem matten Rot. Solinari ließ sich in den Sturm fallen. Und über ihnen glühte das Stundenglas.

»Naja, die Zeitperiode ist jedenfalls richtig. Aber wo im Namen der Götter sind wir?« brummte Caramon, stützte sich auf seine Krücke und funkelte gereizt das magische Gerät an. Sein Blick glitt zurück zu den dunklen Bäumen, deren Stämme im hellen Mondschein schimmerten. Plötzlich glättete sich sein Gesicht. »Es ist in Ordnung, Tolpan«, sagte er erleichtert. »Erinnerst du dich nicht? Das ist der Wald von Wayreth – der magische Wald, der den Turm der Erzmagier bewacht!«

»Bist du dir sicher?« fragte Tolpan voller Zweifel. »Er sieht aber nicht so aus wie beim letzten Mal, als ich hier war. Damals war alles häßlich, und diese toten Bäume, die da lauerten und mich anstarrten, als ich versuchte hineinzugehen, haben mich nicht durchgelassen, und als ich versuchte, den Wald zu verlassen, haben sie mich auch wieder festgehalten und...«

»Er ist es«, murmelte Caramon, faltete das Zepter zurück in einen unscheinbaren Anhänger.

»Was ist dann aber mit ihm passiert?«

»Das Gleiche, was mit der ganzen Welt passiert ist, Tolpan«, erwiderte Caramon und ließ behutsam den Anhänger in seinen Lederbeutel gleiten.

Tolpans Gedanken wanderten zurück zu jenen Tagen, als er das letzte Mal den magischen Wald von Wayreth gesehen hatte. Es war ein seltsamer und unheimlicher Ort, der die Aufgabe hatte, den Turm der Erzmagier vor unwillkommenen Eindringlingen zu schützen. Erstens fand niemand den magischen Wald – denn dieser fand die Person, die ihn suchte. Und er hatte damals Tolpan und Caramon gefunden, gleich nachdem Lord Soth den Todeszauber auf Crysania geworfen hatte. Tolpan war aus tiefem Schlaf erwacht und hatte festgestellt, daß auf einmal ein Wald dort stand, wo in der Nacht kein Wald gewesen war!

Die Bäume hatten damals tot ausgesehen. Ihre Zweige waren nackt und verdreht, ein eisiger Nebel schwebte an ihren Stämmen hinauf. In seinem Inneren wohnten dunkle und schattige Formen. Aber die Bäume waren nicht tot gewesen. Gewiß hatten sie die unheimliche Angewohnheit, einer Person zu folgen. Tolpan erinnerte sich daran, wie er versucht hatte, aus dem Wald zu entkommen, aber gleichgültig, in welche Richtung er sich bewegt hatte, immer war er wieder in den Wald hineingelaufen.

Das war schon gespenstisch genug gewesen, aber als Caramon in den Wald gelaufen war, hatte der sich von Grund auf verändert. Die toten Bäume hatten zu wachsen begonnen und sich zu Vallenholzbäumen entwickelt! Der Wald hatte sich von einem dunklen und abstoßenden und vom Tod erfüllten Gehölz in einen wunderschönen, grünen und goldenen, mit Leben erfüllten Hain verwandelt. Vögel sangen süß in den Zweigen der Vallenholzbäume und luden zum Eintreten ein.

Und jetzt hatte der Wald schon wieder eine Verwandlung durchgemacht. Tolpan starrte ihn verwirrt an. Die Bilder schienen sich nun vermischt zu haben – und doch fand er keine seiner Erinnerungen vollständig wieder. Die Bäume wirkten tot, ihre verbogenen Zweige waren kahl und nackt. Aber als er sie näher betrachtete, schien es Tolpan, als ob sie sich geheimnisvoll bewegten, als ob sie lebendig wären! Sie langten hinaus wie greifende Arme...

Er drehte dem gespenstischen Wald von Wayreth den Rücken zu und beäugte seine Umgebung. Alles andere war genauso wie in Solace. Hier wuchsen keine Bäume mehr. Er war lediglich von geschwärzten, zerfetzten Stümpfen umgeben. Der Boden war mit dem gleichen glitschigen, grauen Schlamm überzogen. So weit er sehen konnte, gab es nichts weiter als Verwüstung und Tod...

»Caramon«, schrie Tolpan plötzlich und deutete auf einen Baumstumpf.

Caramon wandte sich in die angegebene Richtung. Dort drüben lag eine zusammengekauerte Gestalt.

»Eine Person!« schrie Tolpan in wilder Aufregung. »Hier ist doch noch jemand!«

»Tolpan!« rief Caramon warnend, aber bevor er ihn aufhalten konnte, war der Kender weggeflitzt.

»He!« kreischte er. »Hallo! Schläfst du? Wach auf!« Er griff nach unten und schüttelte die Gestalt. Aber bei seiner Berührung rollte sie zur anderen Seite und blieb steif und starr liegen.

»Oh!« Tolpan trat einen Schritt zurück und hielt dann inne. »O Caramon«, sagte er leise. »Es ist Bupu!«

Vor langer Zeit hatte sich Raistlin der Gossenzwergin angenommen. Jetzt starrte sie mit leeren, blicklosen Augen in den sternenklaren Himmel. Dir kleiner, mitleiderregend dünner Körper war in schmuddelige, zerrissene Lumpen gehüllt, ihr schmutziges Gesicht ausgezehrt und hager. Um den Hals trug sie einen Lederriemen. Und am Ende des Riemens war eine steife, tote Echse befestigt. Mit einer Hand hielt sie eine tote Ratte umklammert, in der anderen ein vertrocknetes Hühnerbein. Als der Tod an sie herangetreten war, hat sie noch sämtliche Magie, über die sie verfügte, aufgerufen, dachte Tolpan traurig, aber es hat ihr nicht geholfen.

»Sie ist noch nicht lange tot«, sagte Caramon. Er hinkte hinüber und kniete sich neben den schäbigen, kleinen Leichnam. »Sieht aus, als wäre sie verhungert.« Er streckte seine Hand aus und schloß behutsam die starren Augen. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich frage mich, wie sie so lange überleben konnte? Die Leichen, die wir in Solace sahen, waren einige Monate alt.«

»Vielleicht hat Raistlin sie beschützt«, sagte Tolpan, ohne nachzudenken.

Caramon schüttelte finster den Kopf. »Pah! Es ist reiner Zufall, sonst nichts«, sagte er barsch. »Du kennst doch Gossenzwerge, Tolpan. Sie können von nichts leben. Ich vermute, daß sie die letzten Überlebenden waren. Bupu, der klügsten in dieser Gesellschaft, muß es gelungen sein, länger als die anderen durchzuhalten. Aber am Ende stirbt selbst ein Gossenzwerg in diesem gottverfluchten Land.« Er zuckte die Schultern. »Hilf mir mal beim Aufstehen.«

»Was... was werden wir mit ihr machen, Caramon?« fragte Tolpan düster. »Wollen... wollen wir sie etwa so liegen lassen?«

»Was könnten wir denn für sie tun?« brummte Caramon mürrisch. Der Anblick der Gossenzwergin und die Nähe des Waldes brachten schmerzhafte Erinnerungen zurück. »Möchtest du sie im Schlamm begraben?« Er bebte und sah sich um.

Die Sturmwolken rasten immer näher; er konnte die Blitze sehen, die den Boden streiften, und das Rollen des Donners hören. »Außerdem haben wir nicht viel Zeit, so wie diese Wolken sich bewegen.«

Tolpan starrte ihn weiter kummervoll an.

»Es gibt kein Lebewesen mehr, das sie stören könnte, Tolpan«, knurrte er gereizt. Als er aber den traurigen Gesichtsausdruck des Kenders sah, zog Caramon langsam seinen Umhang aus und breitete ihn sorgfältig über die ausgemergelte Leiche. »Laß uns jetzt lieber gehen«, sagte er.

»Auf Wiedersehen, Bupu«, murmelte Tolpan leise. Er tätschelte die steife kleine Hand, die so fest die tote Ratte umklammert hielt, und wollte gerade die Ecke des Umhangs darüberziehen, als er etwas in Lunitaris rotem Licht aufleuchten sah. Tolpan hielt den Atem an, weil er glaubte, den Gegenstand wiederzuerkennen. Behutsam öffnete er die starren Finger der Gossenzwergin. Die tote Ratte fiel auf den Boden und – mit ihr – ein Edelstein.

Tolpan hob das Juwel auf. In seinem Geist wanderte er zurück... wo hatte er es gesehen? In Xak Tsaroth?

Sie hatten sich damals in einem Abflußrohr vor den Drakoniersoldaten versteckt. Raistlin war von einem Hustenanfall ergriffen worden...

Bupu sah ihn besorgt an, dann schob sie die Hand in ihren Beutel, suchte eine Zeitlang und hielt dann einen Gegenstand ans Licht. Sie blinzelte, seufzte und schüttelte den Kopf. »Das nicht, was ich will!«

Tolpan hatte den aufblitzenden farbenprächtigen Brillanten erblickt und kroch näher. »Was ist das?« fragte er, obwohl er es bereits wußte. Auch Raistlin starrte mit aufgerissenen, glänzenden Augen auf jenen Gegenstand.

Bupu zuckte mit den Schultern. »Schöner Stein«, murmelte sie uninteressiert und suchte weiter in ihrer Tasche.

»Ein Edelstein!« zischte Raistlin.

Bupu strahlte ihn an. »Du magst?« fragte sie Raistlin.

»Sehr gern!« Der Magier keuchte.

»Du behalten.« Bupu legte das Juwel in Raistlins Hand. Dann holte sie mit einem triumphierenden Aufschrei hervor, was sie eigentlich gesucht hatte. Tolpan, der noch näher gekommen war, um das neue Wunder zu sehen, zog sich voller Ekel zurück. Es war eine tote – sehr tote – Echse. Um den steifen Hals der Echse war ein abgekautes Lederband geschlungen. Bupu hielt sie Raistlin entgegen.

»Du um Hals«, sagte sie. »Gegen Husten.«

»Raistlin ist also hier gewesen«, murmelte Tolpan. »Er gab ihr den Stein zurück, er muß es getan haben! Aber warum? Ein Zauber... ein Geschenk?« Er schüttelte den Kopf, seufzte und erhob sich. »Caramon...«, begann er, dann sah er den großen Mann in den Wald von Wayreth starren. Er sah sein blasses Gesicht und ahnte, woran Caramon dachte, woran er sich erinnerte. Tolpan ließ den Edelstein in die Tasche gleiten.

Der Wald von Wayreth schien so tot und verlassen wie die restliche Welt. Aber für Caramon war er mit lebendigen Erinnerungen erfüllt. Nervös starrte er auf die seltsamen Bäume, ihre nassen Stämme und verfaulenden Äste, die in Lunitaris Licht von Blut zu glitzern schienen.

»Beim ersten Mal, als ich hier war, hatte ich Angst«, sagte Caramon zu sich. Seine Hand ruhte am Knauf seines Schwertes. »Ich wäre nie hineingegangen, wenn ich es nicht wegen Raistlin hätte tun müssen. Beim zweiten Mal hatte ich sogar noch mehr Angst, wie wir Crysania mitgebracht hatten und versuchen wollten, Hilfe für sie zu erhalten. Um nichts auf der Welt wäre ich hineingegangen, wenn diese Vögel mich nicht mit ihrem süßen Lied gelockt hätten.« Er lächelte grimmig, »›friedlich der Wald, friedlich seine vollkommenen Häuser. Wo wir wachsen und nicht länger verfallen‹, haben sie gesungen. Ich dachte, sie würden mir Hufe versprechen. Ich dachte, sie würden mir auf alles eine Antwort versprechen. Aber jetzt erkenne ich, was das Lied wirklich bedeutet. Tod, das ist das einzige vollkommene Haus, der einzige Wohnort, wo wir wachsen und nicht länger verfallen.«

Als er so in den Wald starrte, erbebte Caramon trotz der drückenden Hitze der Nachtluft. »Jetzt habe ich noch mehr Angst als je zuvor«, murmelte er. »Irgend etwas stimmt hier nicht.« Ein strahlender Blitz erleuchtete den Himmel und den Boden taghell, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag und aufspritzendem Regen an seiner Wange. »Aber zumindest steht er noch«, sagte er. »Seine Magie muß stark sein – um diesen Sturm zu überdauern.« Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Plötzlich erinnerte er sich an seinen Durst und leckte die trockenen, aufgesprungenen Lippen. »Friedlich der Wald«, murmelte er.

»Was hast du gesagt?« fragte Tolpan, der neben ihm auftauchte.

»Ich sagte, ein Tod ist so gut wie jeder andere«, antwortete Caramon schulterzuckend.

»Weißt du, ich bin schon dreimal gestorben«, verkündete Tolpan feierlich. »Das erste Mal in Tarsis, als die Drachen ein ganzes Gebäude auf mich schleuderten. Das zweite Mal in Neraka, wo ich mich an einer Falle vergiftet hatte und Raistlin mich rettete. Und das letzte Mal, als die Götter das feurige Gebirge auf mich warfen. Und alles in allem« – er überlegte einen Moment – »kann ich wohl sagen, daß deine Aussage zutrifft. Ein Tod ist genauso gut wie jeder andere. Verstehst du, das Gift war sehr schmerzhaft, aber es ging ziemlich schnell vorbei. Während auf der anderen Seite das Gebäude...«

»O komm« – Caramon grinste erschöpft – »spar dir das für Flint auf.« Er zog sein Schwert. »Bereit?«

»Bereit«, antwortete Tolpan beherzt. »›Spare das Beste immer für den Schluß auf‹, pflegte mein Vater zu sagen. Obwohl« – der Kender hielt inne – »ich glaube, er meinte das in bezug auf das Abendessen, nicht auf das Sterben. Aber vielleicht kann man es in beiden Situationen anwenden.«

Tolpan zog sein kleines Messer und folgte Caramon in den Zauberwald von Wayreth.

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