18

Seine kraftvollen Hinterbeine trieben ihn an, und so erhob sich Khirsah mit anmutiger Leichtigkeit in die Lüfte und schwebte über die Mauern des Turms des Oberklerikers. Schon bald holten der Drache und sein Reiter mit energischen Flügelschlägen die langsam dahingleitende Zitadelle ein. Und trotzdem, bemerkte Tanis grimmig, bewegte sich die Festung noch schnell genug, um bereits am nächsten Tag in der Dämmerung Palanthas zu erreichen.

»Nicht zu dicht«, warnte er Khirsah.

Ein schwarzer Drache flog näher, kreiste in großen, gemächlichen Spiralen über ihnen und hatte ein wachsames Auge auf sie. Andere schwarze Drachen hielten sich weiter entfernt, und jetzt, wo er sich auf gleicher Höhe mit der Zitadelle befand, konnte Tanis auch die blauen Drachen sehen, die um die grauen Türme des schwebenden Schlosses flogen. In einem besonders großen blauen Drachen erkannte Tanis Kitiaras eigenes Reittier, Skie, wieder.

Aber wo ist Kitiara? fragte sich Tanis und versuchte erfolglos, in die Fenster zu spähen, die von einer wogenden Drakoniermenge bevölkert waren, die auf ihn zeigte und höhnisch grinste. Plötzliche Angst erfaßte ihn, daß sie ihn erkennen könnte, falls sie ihn beobachtete, und er zog die Kapuze seines Umhangs über seinen Kopf. Lächelnd kratzte er sich dann an seinem Bart. Auf diese Entfernung würde Kitiara nichts weiter ausmachen können als einen einzelner Reiter auf einem Drachen, der wahrscheinlich als Bote der Ritter abgesandt war.

Er konnte sich deutlich ausmalen, was in der Zitadelle vor sich ging.

»Wir könnten ihn vom Himmel abschießen, Fürstin Kitiara«, würde ein Befehlshaber vorschlagen.

Tanis konnte sogar Kitiaras Lachen hören. »Nein, laß ihn ruhig die Neuigkeiten nach Palanthas bringen und ihnen mitteilen, was ihnen bevorsteht. Gib ihnen Zeit zum Schwitzen.«

Zeit zum Schwitzen. Tanis wischte über sein Gesicht. Selbst in der eisigen Luft über dem Gebirge war sein Hemd unter der Ledertunika und der Rüstung feucht und klebrig. Er zitterte vor Kälte und zog seinen Umhang dichter um sich. Seine Muskeln schmerzten; denn er war gewohnt, in Kutschen zu reisen, nicht auf Drachen, und voller Sehnsucht dachte er kurz an sein warmes Gefährt. Dann schüttelte er den Kopf über sich selbst. Um klar denken zu können, zwang er sich, seine Gedanken von seinen Beschwerden abzuwenden, um sich auf dies kaum lösbare Problem, mit dem er konfrontiert war, zu konzentrieren.

Khirsah versuchte sein Bestes, den schwarzen Drachen zu ignorieren, der immer noch in ihrer Nähe flog. Der bronzene Drache beschleunigte sein Tempo, und schließlich drehte auch der schwarze ab, der lediglich zu ihrer Beobachtung geschickt worden war. Die Zitadelle blieb hinter ihnen zurück und glitt langsam und mühelos über Berggipfel, die jede Armee abrupt zum Stehenbleiben veranlaßt hätten.

Tanis versuchte Pläne zu schmieden, aber alles, woran er denken konnte, setzte wichtigere Dinge voraus, die er zuvor hätte erledigen müssen, bis er sich wie eine Maus in einem Laufrad vorkam, die trotz aller Hektik niemals von der Stelle kommt. Zumindest hatte Fürst Gunther tatsächlich die Generäle von Amothud (ein Ehrentitel in Palanthas, der für außerordentliche Dienste um das Gemeinwohl verliehen wurde, doch nicht ein einziger General hatte jemals an einer Schlacht teilgenommen) zusammengestaucht und ihnen zugesetzt, bis sie die ansässige Bürgerwehr zu mobilisieren versprachen. Unglücklicherweise wurde die Mobilisierung lediglich als Vorwand für einen Feiertag betrachtet.

Gunther und seine Ritter hatten dabeigestanden, gelacht und sich angestoßen, als sie die Bürger bei ihrer Wehrübung gesehen hatten. Danach hatte Herrscher Amothud eine zweistündige Ansprache gehalten, und die Bürgerwehr – stolz auf ihre Heldentaten – hatte sich sinnlos betrunken, und alle hatten sich gut amüsiert.

Als Tanis sich jetzt die rundlichen Tavernenbesitzer, die schwitzenden Händler, die adretten Schneider und tolpatschigen Schmiede wieder vorstellte, wie sie über ihre Waffen stolperten und sich gegenseitig anrempelten, Befehle befolgten, die niemals gegeben wurden, und jene, die gegeben wurden, ignorierten, hätte er aus Enttäuschung über die Sinnlosigkeit all ihrer Anstrengungen weinen können. Und diese Bürgerwehr, dachte er grimmig, wird morgen einem toten Ritter und seiner Armee von Skelettkriegern an den Toren von Palanthas gegenüberstehen.

»Wo ist Herrscher Amothud?« fragte Tanis und schob sich schon durch die riesigen Türen des Palastes, bevor sie noch ganz geöffnet waren. Fast stieß er einen erstaunten Lakaien um.

»Er schläft, Herr«, begann der Lakai, »es ist erst Vormittag...«

»Weck ihn. Wer hat das Kommando über die Ritter?«

Der Lakai stotterte, die Augen weit aufgerissen.

»Verdammt!« knurrte Tanis. »Wer ist der höchststehende Ritter, Blödmann?«

»Das müßte Sir Markham sein, Herr, Ritter der Rose«, antwortete Charles, der aus einer der Vorkammern erschienen war, mit seiner ruhigen, würdevollen Stimme. »Soll ich ihn rufen lassen?«

»Ja!« schrie Tanis. Als ihm dann bewußt wurde, daß ihn alle in der großen Eingangshalle des Palastes anstarrten, als wäre er wahnsinnig, und er sich erinnerte, daß in dieser Situation Panik auf keinen Fall angebracht war, legte der Halb-Elf seine Hand über die Augen, holte tief Luft und zwang sich, vernünftig zu denken.

»Ja«, wiederholte er in ruhigem Ton, »laß Sir Markham rufen und auch den Magier Dalamar.«

Die letzte Bitte schien selbst Charles durcheinanderzubringen. Er überlegte einen Moment mit angestrengtem Gesichtsausdruck, dann wagte er zu protestieren. »Es tut mir äußerst leid, mein Herr, aber ich habe keine Möglichkeit, eine Nachricht zum... zum Turm der Erzmagier bringen zu lassen. Kein Lebewesen kann seinen Fuß in diesen verfluchten Eichenwald setzen, nicht einmal ein Kender!«

»Verdammt!« Tanis kochte vor Wut. »Ich muß mit ihm sprechen!« Ideen tobten durch sein Gehirn. »Ihr habt doch im Gefängnis sicherlich Goblins? Einer von dieser Art könnte es durch den Wald schaffen. Hol eine dieser Kreaturen, versprich Freiheit, Geld, das halbe Königreich, Amothud persönlich, alles! Nur damit er in diesen verdammten Wald geht...«

»Das wird nicht nötig sein, Halb-Elf«, ertönte eine gelassene Stimme. Eine schwarzgekleidete Gestalt tauchte im Korridor des Palastes auf, überraschte Tanis, erschreckte den Lakaien zu Tode und ließ sogar Charles seine Augenbrauen hochziehen.

»Du bist mächtig«, bemerkte Tanis und trat dem Dunkelelfen entgegen. Charles erteilte verschiedenen Dienern Befehle, von denen einer Herrscher Amothud wecken und ein anderer Sir Markham ausfindig machen sollte. »Ich muß mit dir ungestört reden. Laß uns hineingehen.«

Während Dalamar Tanis folgte, lächelte er kühl. »Ich wünschte, ich könnte das Kompliment annehmen, Halb-Elf, aber ich habe durch Beobachtung deine Ankunft festgestellt und nicht durch magisches Gedankenlesen. Vom Laboratoriumsfenster aus habe ich den bronzenen Drachen im Palasthof landen gesehen. Ich sah dich absteigen und den Palast betreten. Ich muß dringend mit dir sprechen, so wie du mit mir. Folglich bin ich hier.«

Tanis schloß die Tür. »Schnell, bevor die anderen kommen. Du weißt, was sich in Richtung auf die Stadt bewegt?«

»Ich habe es in der vergangenen Nacht erfahren. Ich wollte dich benachrichtigen, aber du warst bereits aufgebrochen.« Dalamars Lächeln verzerrte sich. »Meine Spione fliegen auf schnellen Flügeln.«

»Falls sie überhaupt auf Flügeln fliegen«, murmelte Tanis. Mit einem Seufzer kratzte er sich am Bart, hob dann den Kopf und musterte Dalamar aufmerksam. Der Dunkelelf hatte seine Hände in den schwarzen Roben gefaltet und stand ruhig und beherrscht da. Der junge Elf wirkte auf alle Fälle wie einer, auf den man sich verlassen konnte, in einer angespannten Situation mit nüchternem Mut zu handeln. Aber für wen er handeln würde, war unglücklicherweise zweifelhaft.

Tanis rieb sich die Stirn. Wie verwirrend das war! Wieviel einfacher war es damals in den alten Zeiten – er hörte sich schon an wie ein Großvater! —, als das Gute und Böse klar definiert war und jeder wußte, auf welcher Seite jeder stand. Jetzt war er mit dem Bösen verbündet, um gegen das Böse zu kämpfen. Wie war das möglich? Das Böse wendet sich gegen sich selbst, das hatte Elistan den Scheiben der Mishakal entnommen. Er schüttelte wütend seinen Kopf und stellte fest, daß er Zeit verschwendete. Er mußte diesem Dalamar vertrauen – zumindest mußte er seinen Absichten trauen.

»Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, Lord Soth aufzuhalten?«

Dalamar nickte langsam. »Du denkst schnell, Halb-Elf. Du glaubst also auch, daß der tote Ritter ebenfalls Palanthas angreifen wird?«

»Das ist doch offensichtlich, oder nicht?« rief Tanis ungeduldig. »Das muß Kitiaras Plan sein. Damit wird das Ungleichgewicht ausgeglichen.«

Der Dunkelelf zuckte die Achseln. »Um deine Frage zu beantworten: Nein, man kann dagegen nichts unternehmen. Jedenfalls nicht jetzt.«

»Und du? Kannst du ihn aufhalten?«

»Ich wage nicht, meinen Posten neben dem Portal zu verlassen. Ich bin jetzt gekommen, weil ich weiß, daß Raistlin noch weit entfernt ist. Aber jeder unserer Atemzüge bringt ihn näher. Das ist das letztemal, daß ich mich vom Turm entfernen kann. Darum kam ich, um mit dir zu sprechen – um dich zu warnen. Es bleibt nur wenig Zeit.«

»Er wird gewinnen?« Tanis starrte Dalamar ungläubig an.

»Du hast ihn immer unterschätzt«, antwortete Dalamar höhnisch. »Ich sagte dir, er ist jetzt sehr stark und mächtig, der größte Zauberer, der je gelebt hat. Natürlich wird er gewinnen! Aber zu welchem Preis... zu welch hohem Preis!«

Tanis runzelte die Stirn. Ihm mißfiel der stolze Ton, den er Dalamars Stimme entnommen hatte, als er über Raistlin gesprochen hatte.

»Aber, um auf Lord Soth zurückzukommen«, sagte Dalamar kühl, der mehr von Tanis’ Gedanken in seinem Gesicht sah, als dem Halb-Elfen lieb war. »Als mir zum ersten Mal bewußt wurde, daß er diese Gelegenheit zweifellos nutzen würde, um seine eigene Rache an einer Stadt und einem Volk zu nehmen, das ihm seit langem verhaßt ist – wenn man den alten Legenden über seinen Sturz glaubt —, habe ich den Turm der Erzmagier im Wald von Wayreth kontaktiert...«

»Natürlich!« Erleichtert atmete Tanis auf. »Par-Salian! Die Versammlung. Sie könnten...«

»Auf meine Botschaft erfolgte keine Antwort«, fuhr Dalamar fort, ohne weiter auf die Unterbrechung einzugehen. »Etwas Seltsames geht dort vor sich. Ich weiß nicht was. Mein Bote fand den Weg versperrt vor, und für sein – sagen wir – leichtes und luftiges Wesen ist das nicht einfach.«

»Aber...«

»Oh« – Dalamar zuckte seine schwarzgekleideten Achseln – »ich werde es weiterhin versuchen. Aber wir können nicht auf sie zählen, und sie sind die einzigen ausreichend mächtigen Zauberkundigen, um einen toten Ritter aufzuhalten.«

»Die Kleriker von Paladin...«

»... sind frisch in ihrem Glauben. Es heißt, in Humas Zeiten konnten die wahrhaft mächtigen Kleriker Paladins Hilfe herbeirufen und gewisse heilige Worte gegen tote Ritter anwenden, aber falls das stimmt, lebt heutzutage keiner mehr auf Krynn, der über diese Macht verfügt.«

Tanis dachte einen Moment nach.

»Kitiaras Ziel wird der Turm der Erzmagier sein, weil sie dort ihren Bruder treffen und ihm helfen kann, nicht wahr?«

»Und sie kann versuchen, mich aufzuhalten«, ergänzte Dalamar mit angespannter Stimme, und sein Gesicht wurde blaß.

»Kann Kitiara denn durch den Eichenwald von Shoikan gelangen?«

Dalamar zuckte wieder die Achseln, aber trotz seiner kühlen Art wirkte er auf Tanis plötzlich angespannt und gezwungen. »Der Eichenwald untersteht seiner Kontrolle. Er hält alle Eindringlinge fern, lebend oder tot.« Dalamar lächelte wieder, aber dieses Mal ohne Freude. »Was deine Idee mit dem Goblin betrifft: Der hätte keine fünf Sekunden überlebt. Kitiara hat jedoch einen Zauber, den Raistlin ihr gegeben hat. Wenn sie ihn noch hat und dazu den Mut, ihn auch anzuwenden, und wenn Lord Soth bei ihr ist, ja, dann könnte sie es schaffen. Wenn sie im Innern ist, hat sie es jedoch auch noch mit den Wächtern des Turms zu tun, die nicht weniger mächtig sind als jene im Eichenwald. Aber das ist meine Sorge – nicht deine...«

»Zuviel ist deine Sorge!« schnappte Tanis. »Gib mir einen Zauber! Laß mich in den Turm! Ich kann mit ihr umgehen...«

»O ja«, gab Dalamar belustigt zurück. »Ich weiß, wie gut du in der Vergangenheit mit ihr umgehen konntest. Hör mir zu, Halb-Elf, du wirst ausreichend mit dem Versuch beschäftigt sein, die Macht über die Stadt zu behalten. Außerdem hast du eine Sache vergessen – Soths wahres Anliegen. Er will Kitiara tot. Er will sie für sich. Das sagte er mir jedenfalls. Natürlich muß er es gut aussehen lassen. Wenn er ihren Tod zustande gebracht hat und sich an Palanthas rächen kann, wird er sein Ziel erreicht haben. Er wird sich weniger um Raistlin kümmern.«

Tanis spürte eine plötzliche Eiseskälte in seiner Seele und konnte nicht antworten. Er hatte tatsächlich Soths Ziel vergessen. Der Halb-Elf erschauerte. Kitiara hatte viel Böses getan. Sturm war durch sie gestorben, Unzählige waren auf ihren Befehl hin gestorben, andere hatten gelitten und litten immer noch. Aber hatte sie das verdient? Ein ewiges Leben voll kalter und finsterer Qual, für ewig verbunden in einer unheiligen Ehe mit dieser Kreatur der Hölle?

Ein Vorhang von Dunkelheit legte sich über Tanis’ Augen. Benommen und schwach sah er sich selbst am Rande eines gähnenden Abgrundes und spürte, wie er fiel...

Er hatte einen verschwommenen Eindruck, in weichen schwarzen Stoff eingehüllt zu werden, er spürte starke Hände, die ihn stützten, ihn führten...

Dann nichts mehr.

Der kühle, glatte Rand eines Glases berührte Tanis’ Lippen, Brandy brannte auf seiner Zunge und wärmte seine Kehle. Benommen sah er zu Charles auf, dessen Gesicht über ihm schwebte.

»Du hattest einen weiten Ritt hinter dir, ohne zu essen und zu trinken, sagte mir Dalamar.« Hinter Charles tauchte das blasse, besorgte Gesicht von Herrscher Amothud auf. Eingewickelt in einen weißen Morgenmantel, sah er einem verwirrten Geist sehr ähnlich.

»Ja«, murmelte Tanis, schob das Glas von sich und versuchte aufzustehen. Als er jedoch den Raum unter seinen Füßen schwanken spürte, beschloß er, lieber sitzen zu bleiben. »Du hast recht – ich hätte etwas essen sollen.« Er sah sich nach dem Dunkelelfen um. »Wo ist Dalamar?«

Charles’ Gesicht wurde ernst. »Wer weiß, mein Fürst? Vermutlich zurück zu seinem Wohnsitz geflohen. Er erklärte, daß seine Unterredung mit Euch abgeschlossen sei. Ich werde mit Eurer Erlaubnis, mein Fürst, den Koch Euer Frühstück bereiten lassen.« Charles verbeugte sich und zog sich zurück, aber zuvor trat er beiseite, um den jungen Sir Markham eintreten zu lassen.

»Hast du schon gefrühstückt, Sir Markham?« fragte Herrscher Amothud zögernd. Er war vollkommen verunsichert, was vor sich ging, und entschieden erregt über die Tatsache, daß ein zauberkundiger Dunkelelf sich frei fühlte, in seinem Haushalt einfach aufzutauchen und wieder zu verschwinden. »Nein? Dann werden wir zu dritt frühstücken. Wie möchtest du deine Eier?«

»Vielleicht sollten wir jetzt nicht über Eier diskutieren, mein Herrscher«, erwiderte Sir Markham und sah mit einem leichten Lächeln zu Tanis. Die Brauen des Halb-Elfs hatten sich beunruhigend zusammengezogen, und sein unordentliches und erschöpftes Aussehen zeigte, daß er einige unheilträchtige Neuigkeiten parat hatte.

Amothud seufzte, und Tanis wurde klar, daß der Herrscher lediglich versucht hatte, das Unvermeidliche hinauszuzögern.

»Ich bin heute morgen vom Turm des Oberklerikers zurückgekehrt...«, begann er.

»Ah«, unterbrach ihn Sir Markham, nahm lässig auf einem Stuhl Platz und schenkte sich ein Glas Brandy ein. »Ich habe vor kurzem eine Botschaft von Fürst Gunther erhalten, daß er davon ausgeht, heute morgen den Feind anzugreifen. Wie läuft die Schlacht?« Markham war ein wohlhabender junger Edelmann, gutaussehend, gutmütig, sorgenfrei und unbeschwert. Er hatte sich im Lanzenkrieg ausgezeichnet, wo er unter Lauranas Kommando kämpfte, und war zum Ritter der Rose geschlagen worden. Aber Tanis erinnerte sich an Lauranas Worte, daß die Haltung des jungen Mannes sehr lässig sei – fast gleichgültig – und daß er daher auch unzuverlässig sei. (»Ich hatte immer den Eindruck«, hatte Laurana nachdenklich gesagt, »daß er in der Schlacht einfach deswegen kämpft, weil es im Moment nichts Interessanteres zu tun gibt.«)

Tanis erinnerte sich an Lauranas Einschätzung des jungen Ritters, als er dessen fröhlichen, unbesorgten Ton hörte, und runzelte die Stirn. »Es gab keine«, sagte er. Ein fast komischer Ausdruck von Hoffnung und Erleichterung strahlte in Herrscher Amothuds Gesicht auf. Tanis mußte darüber fast lachen, aber weil er fürchtete, daß es ein hysterisches Lachen sein könnte, gelang es ihm, sich zu beherrschen. Er sah zu Sir Markham, der eine Braue hochzog.

»Keine Schlacht? Dann ist der Feind nicht erschienen...«

»Oh, erschienen ist er allerdings«, unterbrach Tanis ihn bitter, »er kam und ging. Einfach so.« Er machte in der Luft eine Geste. »Zisch.«

»Zisch?« Amothud erblaßte. »Ich verstehe nichts mehr.«

»Eine fliegende Zitadelle.«

»Im Namen der Hölle!« Sir Markham pfiff leise. »Eine fliegende Zitadelle.« Er wurde nachdenklich, und seine Hand glättete geistesabwesend seine elegante Reitkleidung. »Sie haben den Turm des Oberklerikers nicht angegriffen. Sie fliegen über das Gebirge. Das bedeutet...«

»Sie planen, alles, was sie haben, gegen Palanthas einzusetzen«, beendete Tanis den Satz.

»Aber ich verstehe das nicht!« Herrscher Amothud schaute verwirrt drein. »Die Ritter haben sie nicht aufgehalten?«

»Das wäre unmöglich gewesen, mein Herrscher«, erklärte Sir Markham mit einem lässigen Schulterzucken. »Die einzige Chance, eine fliegende Zitadelle erfolgreich anzugreifen, wäre ein Vorstoß mit Drachenscharen.«

»Und gemäß den Bedingungen des Kapitulationsvertrages dürfen die guten Drachen erst angreifen, wenn sie selbst angegriffen werden. Im Turm des Oberklerikers verfügen wir lediglich über eine kleine Schar von bronzenen Drachen. Eine weit größere Anzahl ist erforderlich – auch silberne und goldene Drachen —, um die Zitadelle aufzuhalten«, ergänzte Tanis erschöpft.

Sir Markham lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und grübelte. »Es gibt hier ein paar silberne Drachen in der Gegend, die sich natürlich sofort erheben, wenn die bösen Drachen gesichtet werden. Aber es sind nicht viele. Vielleicht könnte man nach weiteren schicken...«

»Die Zitadelle ist aber nicht einmal unsere schlimmste Bedrohung«, sagte Tanis. Er schloß die Augen und versuchte, das herumwirbelnde Zimmer festzuhalten. Was ist nur mit mir los? Vermutlich werde ich alt. Zu alt für solche Geschichten.

»Nicht?« Herrscher Amothud wirkte nach diesem zusätzlichen Schlag, als stehe er am Rande eines Zusammenbruchs, aber – Ehrenmann, der er nun einmal war – er tat sein Bestes, um seine angeschlagene Haltung wiederzufinden.

»Mit großer Wahrscheinlichkeit rückt Lord Soth mit der Drachenfürstin Kitiara an.«

»Ein toter Ritter!« murmelte Sir Markham mit einem leichten Lächeln.

Herrscher Amothud erblaßte so heftig, daß Charles, der gerade mit dem Frühstück zurückkehrte, dieses sofort abstellte und an die Seite seines Herrn eilte.

»Danke, Charles«, murmelte Amothud mit steifer, unnatürlicher Stimme. »Vielleicht ein kleiner Brandy.«

»Eine Menge Brandy wäre angebracht«, sagte Sir Markham vergnügt und leerte sein Glas. »Es ist jetzt nämlich genauso gut, sturzbetrunken zu sein. Genauer: Es ist ziemlich zwecklos, nüchtern zu bleiben. Nicht bei einem toten Ritter und seinen Legionen...« Die Stimme des jungen Ritters brach ab.

»Die Herren sollten jetzt essen«, sagte Charles bestimmt, nachdem er seinen Herrn versorgt hatte. Ein Schluck Brandy brachte etwas Farbe in Amothuds Gesicht zurück. Der Geruch des Essens ließ Tanis spüren, wie hungrig er war, und so erhob er keine Einwände, als Charles zügig hin und her eilte, einen Tisch herbeitrug und das Essen servierte.

»Wa...was bedeutet das alles?« stammelte Herrscher Amothud und legte automatisch seine Serviette auf seinen Schoß. »Ich... ich habe zuvor von diesem Ritter gehört. Mein Urururgroßvater war einer der Edelleute, die Soths Verhandlung in Palanthas beigewohnt haben. Dieser Soth war doch derjenige, der Laurana entführt hatte, nicht wahr, Tanis?«

Das Gesicht des Halb-Elfen verfinsterte sich. Er antwortete nicht.

Amothud hob flehend die Hände. »Aber was kann er gegen eine Stadt ausrichten?«

Es antwortete ihm immer noch keiner. Es bestand jedoch auch keine Notwendigkeit. Amothud sah von dem grimmigen, erschöpften Gesicht des Halb-Elfen zu dem jungen Ritter, der bitter lächelte, während er mit seinem Messer methodisch winzige Löcher in das Spitzentischtuch stach. Der Herrscher erhielt kurz seine Antwort.

Herrscher Amothud erhob sich. Sein Frühstück ließ er unberührt, und seine Serviette glitt unbemerkt von seinem Schoß auf den Boden. Dann ging er durch den prächtig eingerichteten Raum und stellte sich vor ein hohes Fenster aus handgeschnittenem Glas, das in einem komplizierten Muster gestaltet war. Eine große ovale Scheibe in der Mitte rahmte eine Ansicht auf die wunderschöne Stadt Palanthas ein. Der Himmel über der Stadt war dunkel und mit seltsamen, schäumenden Wolken überzogen. Aber der Sturm schien nur die Schönheit und offenkundige Gelassenheit der Stadt hervorzuheben.

Herrscher Amothud stand dort, seine Hand ruhte an einem Satinvorhang, und er sah hinaus auf die Stadt. Es war Markttag. Die Leute gingen auf ihrem Weg zum Marktplatz am Palast vorbei, plauderten über den unheilverkündenden Himmel, schleppten ihre Taschen und Körbe und wiesen ihre spielenden Kinder zurecht.

»Ich weiß, was du denkst, Tanis«, sagte Amothud schließlich, und seine Stimme schlug um. »Du denkst an Tarsis und Solace und Silvanesti und Kalaman. Du denkst an deinen Freund, der im Turm des Oberklerikers gestorben ist. Du denkst an all jene, die im vergangenen Krieg gestorben sind und gelitten haben, während wir in Palanthas unberührt blieben und in unserem angenehmen Leben nicht beeinträchtigt wurden.«

Tanis antwortete immer noch nicht. Er aß schweigend weiter.

»Und du, Sir Markham...« Amothud seufzte. »Neulich hörte ich dich und deine Ritter lachen. Ich hörte deine Bemerkungen über die Bewohner von Palanthas, daß sie ihre Geldbeutel mit in die Schlacht tragen und die Niederlage des Feindes planen, indem sie Münzen werfen und schreien: ›Verschwindet! Verschwindet!‹«

»Gegen Lord Soth wird das genauso viel nützen wie Schwerter!« Mit einem Schulterzucken und einem kurzen, spöttischen Lachen hielt Sir Markham Charles seinen Brandyschwenker zum Nachfüllen hin.

Amothud lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. »Wir haben niemals gedacht, daß der Krieg über uns kommen wird! Es war nie der Fall gewesen! Durch all die Jahrhunderte blieb Palanthas eine Stadt des Friedens, eine Stadt der Schönheit und des Lichtes. Die Götter haben uns verschont, selbst während der Umwälzung. Und jetzt, jetzt, wo überall auf der Welt Frieden herrscht, kommt dies zu uns!« Er drehte sich um. Sein blasses Gesicht war angespannt und gequält. »Warum? Ich verstehe das einfach nicht!«

Tanis schob seinen Teller beiseite. Er lehnte sich zurück, streckte sich und versuchte die Krämpfe in seinen Muskeln zu lindern. Ich werde alt, dachte er, alt und weich. Ich vermisse meinen nächtlichen Schlaf. Ich verpasse eine Mahlzeit und werde ohnmächtig. Ich vermisse Zeiten, die längst vorbei sind. Ich vermisse Freunde, die längst tot sind. Und mir wird übel, und ich bin müde, Leute in einem dummen, sinnlosen Krieg sterben zu sehen! Er seufzte schwer, rieb über seine trüben Augen, stützte dann die Ellbogen auf den Tisch und ließ den Kopf in die Hände sinken.

»Du redest von Frieden. Was für ein Friede?« fragte er. »Wir benehmen uns wie Kinder in einem Haus, wo Mutter und Vater sich tagelang ständig gestritten haben, bis sie schließlich ruhig und höflich sind. Wir lächeln viel und versuchen glücklich zu sein, essen unser Gemüse und bewegen uns auf Zehenspitzen. Wir haben Angst davor, ein Geräusch von uns zu geben. Weil wir wissen, wenn wir das tun, wird der Kampf sofort wieder ausbrechen. Und das nennen wir dann Frieden!« Tanis lachte verbittert. »Sag ein falsches Wort, mein Herrscher, und Porthios’ Elfen werden dir an den Hals gehen. Streiche auf eine falsche Weise über deinen Bart, und die Zwerge werden wieder die Tore zum Gebirge verschließen.«

Als er einen flüchtigen Blick auf Herrscher Amothud warf, sah Tanis, daß der Mann seinen Kopf gesenkt hielt. Er sah die zierliche Hand über die Augen streichen und seine Schultern zusammensacken. Tanis’ Zorn verflog. Auf was war er überhaupt zornig? Auf das Schicksal? Die Götter?

Tanis erhob sich müde und ging zum Fenster. Auch er sah auf die friedliche, wunderschöne, zum Untergang verurteilte Stadt hinunter. »Ich habe darauf keine Antwort, mein Herrscher«, sagte er ruhig. »Wenn ich sie hätte, würde ich mir einen Tempel errichten lassen und mich mit einem ganzen Haufen von Klerikern umgeben, glaube ich. Ich weiß lediglich, daß wir nicht zurückstecken dürfen. Wir müssen es versuchen.«

»Noch einen Brandy, Charles«, sagte Sir Markham und hielt wieder sein Glas hin. »Laßt uns darauf trinken, meine Herren.« Er hob sein Glas: »Niemals zurückstecken – drauf reimt sich ›verrecken‹!«

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