»Das kommt also bei seinen mutigen Worten und Versprechungen heraus«, sagte Kitiara mit leiser Stimme.
»Hast du wirklich etwas anderes erwartet?« fragte Lord Soth. Die Worte, begleitet von einem Schulterzucken der uralten Rüstung, klangen lässig und hohl. Aber es lag auch etwas in seinem Ton, das Kitiara zu einem scharfen Blick auf den toten Ritter veranlaßte.
Als sie sah, wie er sie anstarrte und seine orangefarbenen Augen in seltsamer Intensität brannten, errötete Kitiara. Die Erkenntnis, daß sie gerade mehr Gefühle offenbart hatte, als ihr lieb war, machte sie wütend, und ihr Gesicht lief noch dunkler an. Abrupt wandte sie sich von Soth ab.
Kitiara schritt durch das Zimmer, das mit einer merkwürdigen Mischung aus Rüstungen, Waffen, parfümierten Seidenlaken und dicken Fellteppichen eingerichtet war, und hielt mit zitternder Hand die Falten ihres hauchdünnen Nachthemdes an ihre Brust gedrückt. Es war eine Geste, die wenig Schamhaftigkeit bewies, und Kitiara war sich dessen bewußt, noch während sie sich fragte, warum sie es tat. Gewiß hatte sie sich zuvor noch niemals um Schamhaftigkeit Gedanken gemacht, schon gar nicht bei einem Wesen, das vor dreihundert Jahren zu einem Aschenhaufen zusammengefallen war. Aber plötzlich empfand sie Unbehagen unter diesen glühenden Augen, die sie aus einem Gesicht anstarrten, das es nicht geben durfte. Sie fühlte sich nackt und bloßgestellt.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Kitiara kühl.
»Er ist immerhin ein Dunkelelf«, fuhr Soth gelangweilt im gleichen Ton fort. »Und er macht auch aus der Tatsache kein Geheimnis, daß er deinen Bruder mehr als den Tod fürchtet. Ist es also ein Wunder, daß er sich nun entschieden hat, auf Raistlins Seite zu kämpfen statt auf der Seite dieses Haufens von schwachen, alten Zauberern, die in ihren Stiefeln schlottern?«
»Aber er hätte soviel gewinnen können!« widerspach Kitiara und versuchte ihr Bestes, ihren Tonfall dem von Soth anzugleichen. Fröstelnd nahm sie einen Fellumhang, der am Ende ihres Bettes lag, und legte ihn über ihre Schultern. »Sie haben ihm die Führerschaft über die Schwarzen Roben versprochen. Er sollte Par-Salians Platz als Oberhaupt der Versammlung einnehmen – unbestrittener Meister der Magie auf Krynn.«
Und du wußtest auch noch von anderen Belohnungen, Dunkelelf, fügte Kitiara stumm hinzu und goß sich ein Glas Rotwein ein. Wenn einmal mein wahnsinniger Bruder besiegt wäre, hätte dich keiner mehr aufhalten können. Was ist denn mit unseren Plänen? Du würdest mit dem Stab und ich mit dem Schwert herrschen. Wir hätten die Ritter auf ihre Knie zwingen können! Die Elfen aus ihrer Heimat vertreiben können – aus deiner Heimat! Du hättest im Triumph zurückkehren können, mein Liebling, und ich hätte an deiner Seite gestanden!
Das Weinglas glitt aus ihrer Hand. Sie versuchte es aufzufangen – doch ihr Griff war zu hastig, ihr Druck zu stark. Das zierliche Glas zerbrach in ihrer Hand und schnitt in ihr Fleisch. Blut vermischte sich mit dem Wein, der auf den Teppich tropfte.
Narben aus Schlachten liefen über Kitiaras Körper wie die Hände ihrer Liebhaber. Sie hatte ihre Wunden ertragen, ohne auch nur zusammenzuzucken, die meisten ohne einen einzigen Laut. Jetzt aber füllten sich ihre Augen mit Tränen. Der Schmerz schien unerträglich.
Eine Waschschüssel stand in der Nähe. Kitiara tauchte ihre Hand in das kalte Wasser und biß sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien. Das Wasser färbte sich sofort rot.
»Hol einen der Kleriker!« knurrte sie Lord Soth an, der stehengeblieben war und sie mit seinen flackernden Augen anstarrte. Der tote Ritter ging zur Tür und rief einen Diener, der unverzüglich davoneilte. Leise fluchend blinzelte Kitiara ihre Tränen weg, ergriff ein Handtuch und band es sich um die Hand. Als der Kleriker erschien, wobei er in seiner Hast über die schwarzen Roben stolperte, war das Handtuch bereits blutdurchtränkt und Kitiaras Gesicht aschgrau unter ihrer sonnengebräunten Haut.
Das Medaillon des Fünfköpfigen Drachen strich gegen Kitiaras Hand, als der Kleriker sich über sie beugte und Gebete zur Königin der Finsternis murmelte. Bald schloß sich die Wunde, und die Blutung hörte auf.
»Die Schnitte waren nicht tief. Es dürfte kein dauernder Schaden zurückbleiben«, sagte der Kleriker beruhigend.
»Gut für dich!« schnappte Kitiara, immer noch die unvernünftige Schwäche bekämpfend, die sie fast übermannt hätte. »Das ist meine Schwerthand!«
»Du wirst mit deiner gewohnten Leichtigkeit und Geschicklichkeit die Klinge schwingen, das versichere ich dir, Fürstin«, erwiderte der Kleriker. »Wenn es noch...«
»Nein! Verschwinde!«
»Meine Fürstin.« Der Kleriker verbeugte sich. »Herr Ritter.« Hastig verließ er das Zimmer.
Nicht gewillt, noch einmal dem Blick von Soths flammenden Augen zu begegnen, hielt Kitiara den Kopf von dem toten Ritter abgewandt und warf den entschwindenden, flatternden Roben des Klerikers einen finsteren Blick nach. »Was für Narren! Ich verabscheue es, sie um mich herum zu haben. Aber offenbar sind sie zuweilen ganz praktisch.« Obgleich sie vollständig geheilt schien, schmerzte die Hand noch immer. Allein eine Sache des Bewußtseins, sagte sie sich bitter. »Nun, was schlägst du vor, was ich tun sollte... wegen des Dunkelelfen?« Bevor Soth jedoch antworten konnte, war Kitiara schon auf den Füßen und schrie nach dem Diener.
»Mach diesen Dreck weg. Und bring mir ein neues Glas.« Sie schlug dem unterwürfig gebeugten Mann übers Gesicht. »Dieses Mal nimm einen Goldkelch. Du weißt, daß ich diese zerbrechlichen Elfen-Dinger verabscheue! Entferne sie aus meinem Blickfeld! Wirf alle weg!«
»Sie wegwerfen!« wagte der Diener zu protestieren. »Aber sie sind wertvoll, Fürstin. Sie stammen vom Turm der Erzmagier in Palanthas, ein Geschenk von...«
»Ich sagte, entferne sie alle!« Kitiara packte die Gläser und schleuderte sie gegen die Wand ihres Zimmers. Der Diener krümmte und duckte sich, als das Glas über seinen Kopf flog und an der Steinwand zerschmetterte. Nachdem das letzte Glas aus ihren Fingern geflogen war, setzte sie sich auf einen Stuhl in eine Ecke und starrte geradeaus. Weder bewegte sie sich noch sagte sie etwas.
Der Diener fegte eilig die Scherben zusammen, leerte das blutige Wasser in der Waschschüssel und ging. Als er mit neuem Wein zurückkehrte, hatte sich Kitiara immer noch nicht gerührt. Und auch Lord Soth nicht. Der tote Ritter war mitten im Raum stehengeblieben, und seine Augen glühten in der zunehmenden Düsternis der Nacht.
»Soll ich die Kerzen anzünden, Fürstin?« fragte der Diener leise und setzte die Weinflasche und einen goldenen Kelch ab.
»Verschwinde«, murmelte Kitiara durch steife Lippen.
Der Diener verbeugte sich und verließ das Zimmer. Die Tür schloß sich hinter ihm.
Der tote Ritter bewegte sich mit lautlosen Schritten durch das Zimmer. Er trat zu der immer noch unbeweglichen und scheinbar blinden Kitiara und legte eine Hand auf ihre Schulter.
Sie zuckte bei der Berührung der unsichtbaren Finger zusammen, und Eiseskälte drang bis in ihr Herz. Aber sie zog sich nicht zurück. »Nun«, sagte sie wieder und starrte in das Zimmer, dessen einzige Lichtquelle von den flammenden Augen des toten Ritters herrührte. »Ich habe dir eine Frage gestellt. Was können wir tun, um Dalamar und meinen Bruder in diesem Wahnsinn aufzuhalten? Was unternehmen wir, bevor die Dunkle Königin uns alle zerstört?«
»Du mußt Palanthas angreifen«, sagte Lord Soth.
»Ich glaube, es kann gelingen!« murmelte Kitiara und schlug nachdenklich den Knauf ihres Dolches gegen den Oberschenkel.
»Wahrhaft genial, meine Fürstin«, sagte der Befehlshaber ihrer Streitkräfte mit unverhohlener, echter Bewunderung in der Stimme.
Der Befehlshaber – ein Mann von ungefähr vierzig Jahren – hatte sich seinen Weg durch die Ränge gekratzt und gekrallt und gemordet, um seine derzeitige Stellung als General der Drachenarmee zu erringen. Mit krummem Rücken und häßlich, entstellt von einer Narbe, die quer über sein Gesicht lief, hatte der Befehlshaber niemals Kitiaras Gunst genossen, wie so viele ihrer Generäle in der Vergangenheit. Aber er war nicht ohne Hoffnung. Als er ihr einen flüchtigen Blick zuwarf, sah er ihr Gesicht – ungewöhnlich kalt und ernst in den vergangenen Tagen —, das über sein Lob vor Freude aufstrahlte. Sie ließ sich sogar zu einem Lächeln herab – ihrem verschmitzten Lächeln, das sie so gut einzubringen wußte. Das Herz des Befehlshabers schlug schneller.
»Es ist gut zu sehen, daß du deinen Schwung nicht verloren hast«, sagte Lord Soth, und seine hohle Stimme echote durch den Kartenraum.
Der Befehlshaber erschauerte. Er hätte sich eigentlich an den toten Ritter gewöhnt haben müssen. Die Dunkle Königin wußte, daß er genügend Schlachten mit ihm und seiner Armee von Skelettkriegern ausgetragen hatte. Aber die Eiseskälte des Grabes umgab den Ritter, so wie sein schwarzer Umhang seine verkohlte und blutverschmierte Rüstung einhüllte.
Wie kann sie ihn ertragen? fragte sich der Befehlshaber. Man erzählte sich, daß er sogar ihr Schlafzimmer heimsuchte! Der Gedanke ließ das Herz des Befehlshabers rasch wieder normal schlagen. Vielleicht waren die Sklavinnen doch nicht so schlecht. Wenn man allein mit ihnen in der Dunkelheit war, dann war man allein in der Dunkelheit!
»Natürlich habe ich meinen Schwung nicht verloren!« gab Kitiara voll heftigem Zorn zurück, so daß ihr Befehlshaber sich unbehaglich umschaute und sich eilig eine Entschuldigung zum Verschwinden überlegte. Glücklicherweise bereitete sich die ganze Stadt Sanction auf den Krieg vor. Ausreden waren nicht schwer zu finden.
»Wenn Ihr mich mich nicht länger benötigt, meine Fürstin«, sagte er also und verbeugte sich, »ich muß die Arbeiten in der Waffenschmiede überprüfen. Es gibt viel zu tun, und die Zeit ist knapp.«
»Ja, geh schon«, murmelte Kitiara geistesabwesend. Ihre Augen waren auf die riesige Karte gerichtet, die vor ihren Füßen in die Kacheln des Bodens eingelegt war. Der Befehlshaber drehte sich um, um das Zimmer zu verlassen. Sein Breitschwert klirrte gegen seine Rüstung. An der Tür hielt ihn jedoch Kitiaras Stimme auf. »Befehlshaber?«
Er drehte sich um. »Meine Fürstin?«
Kitiara wollte etwas sagen, hielt inne, biß sich auf die Lippen und fuhr dann fort: »Ich... ich habe mich gefragt, ob du mir heute abend nicht Gesellschaft beim Essen leisten möchtest.« Sie zuckte die Achseln. »Aber für diese Frage ist es zu spät. Ich vermute, daß du schon Pläne gemacht hast.«
Der Befehlshaber zögerte verwirrt. Seine Handflächen begannen zu schwitzen. »Tatsache ist, Fürstin, daß ich schon eine Verabredung habe, aber das kann problemlos geändert werden...«
»Nein«, unterbrach ihn Kitiara, ein Ausdruck der Erleichterung flog über ihr Gesicht. »Nein, das ist nicht notwendig. An einem anderen Abend. Du bist entlassen.«
Der Befehlshaber, immer noch verwirrt, drehte sich langsam um und wollte wieder das Zimmer verlassen. Dabei streifte er mit einem flüchtigen Blick die orangenen, glühenden Augen des toten Ritters, die direkt durch ihn starrten.
Jetzt muß ich mich um eine Verabredung zum Abendessen kümmern, dachte er, während er durch den Korridor eilte. Leicht genug. Und er würde heute nacht eines der Sklavenmädchen kommen lassen – seine Lieblingssklavin...
»Du solltest dich entspannen. Gönne dir einen angenehmen Abend«, schlug Lord Soth vor, als die Schritte des Befehlshabers im Korridor von Kitiaras Hauptquartier verhallt waren.
»Es gibt viel zu tun, und die Zeit ist knapp«, erwiderte Kitiara und gab vor, völlig in die Karte zu ihren Füßen vertieft zu sein. Sie stand auf der Stelle, die mit »Sanction« beschriftet war, und sah in die weit entlegene nordwestliche Ecke des Raumes, wo Palanthas lag, in die beschützenden Klüfte seines Gebirges gebettet.
Soth folgte ihrem Blick und schritt langsam durch den Raum. An dem einzigen Paß blieb er stehen, der durch das zerklüftete Gebirge verlief, an einer Stelle, die mit »Turm des Oberklerikers« beschriftet war.
»Die Ritter werden natürlich versuchen, dich hier aufzuhalten«, sagte Soth. »Wo sie dich ja auch während des vergangenen Krieges aufhielten.«
Kitiara grinste, schüttelte ihr lockiges Haar und ging auf Soth zu. Ihr Gang war wieder geschmeidig. »Nun, wäre das kein toller Anblick? All die hübschen Ritter, in einer Linie aufgestellt.« Plötzlich fühlte sie sich seit Monaten wieder besser und begann zu lachen. »Weißt du, der Ausdruck auf ihren Gesichtern, wenn sie sehen, was wir für sie auf Lager haben, wird schon fast diesen ganzen Feldzug wert sein.«
Sie stand jetzt auf dem Turm des Oberklerikers und zermalmte dort die Karte mit ihrem Absatz. Dann machte sie einige wenige Schritte, um sich neben Palanthas zu stellen.
»Endlich«, murmelte sie, »wird diese feine, prächtige Dame das Schwert des Krieges spüren, wie es ihr sanftes, reifes Fleisch aufschlitzt.« Lächelnd wandte sie sich wieder an Lord Soth. »Ich glaube, ich will doch diesen Befehlshaber zum Abendessen bei mir haben. Laß ihn zu mir schicken.« Soth verneigte sich ergeben, und seine orangefarbenen Augen flammten vor Belustigung auf. »Wir werden viele militärische Probleme zu besprechen haben.« Kitiara lachte wieder und begann, die Schnallen ihrer Rüstung zu lösen. »Probleme wie unbewachte Flanken, das Durchbrechen von Mauern, Vorstöße...«
»Nun, beruhige dich, Tanis«, sagte Fürst Gunther freundlich, »du bist erschöpft und nervös.«
Tanis, der Halb-Elf, murmelte etwas.
»Was hast du gesagt?« Gunther drehte sich um; in der Hand hielt er einen Krug seines besten Biers (gezapft von dem Faß in der dunklen Ecke unter den Kellerstufen). Er reichte Tanis den Krug.
»Ich sagte nur, daß du verdammt recht hast, ich bin erschöpft und nervös!« gab der Halb-Elf barsch zurück. Das hatte er zwar gar nicht gesagt, aber es war sicherlich angemessener, wenn man mit dem Großmeister der Ritter von Solamnia sprach, als das, was er tatsächlich vor sich hin geknurrt hatte.
Fürst Gunther Uth Wistan strich über seinen langen Schnurrbart – das jahrhundertealte Symbol der Ritter, das jetzt wieder in Mode kam —, um sein Lächeln zu verbergen. Natürlich hatte er Tanis’ Gemurmel verstanden. Gunther schüttelte den Kopf. Warum war diese Angelegenheit nicht gleich dem Militär übergeben worden? Nun, außer daß man sich gegen diesen unbedeutenden Ausbruch zweifellos frustrierter Feinde rüsten mußte, hatte er es auch noch mit Lehrlingen schwarzgekleideter Zauberer, weißgekleideten Klerikern, nervösen Helden und einem Bibliothekar zu tun! Gunther seufzte und zupfte düster an seinem Schnurrbart. Jetzt fehlte ihm nur noch ein Kender...
»Tanis, mein Freund, setz dich. Wärme dich am Kamin. Du hast eine lange Reise hinter dir, und für den Spätfrühling ist es recht kalt. Die Seeleute reden von starken Winden und ähnlichem Unsinn. Ich hoffe, deine Reise ist gut verlaufen. Dir kann ich es ja ruhig sagen, aber ich ziehe Greife den Drachen vor...«
»Fürst Gunther«, unterbrach ihn Tanis angespannt. Er blieb stehen. »Ich bin nicht den ganzen Weg nach Sankrist geflogen, um über starke Winde oder die Vorteile von Greifen gegenüber Drachen zu diskutieren! Wir sind in Gefahr! Nicht nur Palanthas, sondern die ganze Welt! Wenn Raistlin erfolgreich...« Tanis ballte seine Fäuste zusammen. Ihm fehlten die Worte.
Gunther füllte sein eigenes Glas aus dem Krug, den Wills, sein alter Gefolgsmann, aus dem Keller geholt hatte, ging zu Tanis hinüber und stellte sich zu ihm. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und drehte den Mann zu sich, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
»Sturm Feuerklinge hatte eine hohe Meinung von dir, Tanis. Du und Laurana, ihr wart seine engsten Freunde.«
Tanis senkte bei diesen Worten den Kopf. Selbst jetzt, mehr als zwei Jahre nach Sturms Tod, konnte er an den Verlust seines Freundes nicht ohne Kummer denken.
»Allein aufgrund dieser Empfehlung würde ich dich hochschätzen, denn ich liebte und achtete Sturm wie einen eigenen Sohn«, fuhr Fürst Gunther aufrichtig fort. »Aber im Laufe der Zeit bin ich auch ohne dies dazu gekommen, dich zu bewundern und gern zu haben, Tanis. Dein Mut in der Schlacht war unbestritten, deine Ehre, deine Würde gleicht der eines Ritters.« Tanis schüttelte gereizt den Kopf über dieses Gerede von Ehre und Würde, aber Gunther bemerkte es nicht. »Die Auszeichnungen, die dir nach Kriegsende verliehen worden sind, hast du mehr als verdient. Deine Arbeit seit dem Ende des Krieges ist hervorragend. Du hast mit Laurana Nationen zusammengeführt, die Jahrhunderte gespalten waren. Porthios hat den Vertrag unterzeichnet, und sobald die Zwerge von Thorbadin einen neuen König gewählt haben, werden auch sie unterzeichnen.«
»Ich danke dir, Fürst Gunther«, sagte Tanis. Den Krug mit Bier hielt er unberührt in seiner Hand und starrte auf das Feuer. »Ich danke dir für dein Lob. Ich wünschte, ich könnte glauben, es verdient zu haben. Also, wenn du mir jetzt sagen würdest, wohin diese Zuckerspur verlaufen soll...«
»Ich sehe, deine menschliche Hälfte beherrscht noch immer deine Elfennatur«, sagte Gunther mit einem leichten Lächeln. »Na schön, Tanis. Ich will alle Elfenliebenswürdigkeiten beseite lassen und direkt zum Punkt kommen. Ich glaube, deine früheren Erlebnisse haben dich nervös gemacht – dich und auch Elistan. Laß uns ehrlich sein, mein Freund. Du bist kein Krieger. Du hast niemals eine entsprechende Ausbildung genossen. Du bist in den letzten Krieg zufällig hineingestolpert. Nun komm mit mir. Ich will dir etwas zeigen. Komm, komm...«
Tanis stellte den vollen Krug auf dem Kaminsims ab und ließ sich von Gunthers starker Hand führen. Sie gingen durch eine Raum, der mit soliden, schlichten, aber gemütlichen Möbeln eingerichtet war, wie es bei den Rittern beliebt war. Das war Gunthers Kriegszimmer. Schilde und Schwerter und die Banner der drei Ritterorden – die Rose, das Schwert und die Krone – waren an den Wänden angebracht. Trophäen aus Schlachten, die im Laufe der Jahre geschlagen worden waren, glänzten in den Glasschränken, wo sie sorgfältig aufbewahrt wurden. An einem Ehrenplatz, der die ganze Länge einer Wand einnahm, befand sich eine Drachenlanze – die erste, die Theros Eisenfeld geschmiedet hatte. Um sie herum hingen zahlreiche Goblinschwerter, eine Drakonierklinge mit Sägezähnen, ein riesiges zweischneidiges Ogerschwert und ein zerbrochenes Schwert, das einst dem unglücklichen Ritter Derek Kronenhüter gehört hatte.
Es war eine beeindruckende Sammlung, die ein Leben ehrenvollen Dienstes für die Ritterschaft bezeugte. Gunther ging jedoch an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und steuerte auf eine Ecke im Zimmer zu, wo ein großer Tisch stand. Aufgerollte Karten steckten ordentlich in kleinen Fächern unter dem Tisch, und jedes Fach war beschriftet. Nachdem er sie eine Zeitlang studiert hatte, griff Gunther nach unten und zog eine Karte hervor. Sorgfältig breitete er sie auf dem Tisch aus. Dann winkte er Tanis zu sich. Der Halb-Elf trat näher, kratzte sich am Bart und bemühte sich, interessiert auszusehen.
Gunther rieb sich zufrieden die Hände. Er war jetzt in seinem Element. »Es ist einfach eine Angelegenheit der Logistik, Tanis. Einfach und klar. Schau, hier steht die Armee der Drachenfürstin, eingeschlossen in Sanction. Ich gebe zu, daß die Fürstin jetzt stark ist. Sie verfügt über eine riesige Anzahl von Drakoniern, Goblins und Menschen, denen nichts lieber wäre, als den Krieg wieder aufleben zu lassen. Außerdem muß ich zugeben, daß unsere Spione von vermehrten Aktivitäten in Sanction berichtet haben. Die Drachenfürstin plant etwas. Aber Palanthas angreifen! Im Namen der Hölle, Tanis, sieh dir doch das Gebiet an, durch das sie marschieren müßte! Und der größte Teil wird von den Rittern kontrolliert! Und selbst wenn sie das Menschenpotential hat, um sich durchzukämpfen, sieh nur, wie weit sie ihre Versorgungslinien ausdehnen muß! Es würde ihre gesamte Armee in Anspruch nehmen, allein ihre Linien zu bewachen! Wir könnten sie mühelos durchbrechen, egal, an wie vielen Stellen.«
Gunther zupfte wieder an seinem Schnurrbart. »Tanis, wenn ich je einen Drachenfürsten in dieser Armee respektiert habe, dann Kitiara. Sie ist skrupellos und ehrgeizig, aber auch intelligent, und sie nimmt gewiß keine unnötigen Risiken auf sich. Sie hat zwei Jahre gewartet, ihre Armee aufgebaut und sich an einem Ort eingeigelt, von dem sie weiß, daß wir ihn nicht anzugreifen wagen. Sie hat zuviel gewonnen, um es in solch einem wahnsinnigen Plan wegzuwerfen.«
»Angenommen, es ist gar nicht ihr Plan«, murmelte Tanis.
»Welchen anderen Plan könnte sie denn wohl haben?« fragte Gunther geduldig.
»Ich weiß es nicht«, schnappte Tanis. »Du sagst, du respektierst sie, aber respektierst du sie genug? Fürchtest du sie genug? Ich kenne sie, und ich habe das Gefühl, daß sie irgend etwas vorhat...« Seine Stimme brach ab, und er blickte mit finsterem Blick auf die Karte.
Gunther schwieg. Er hatte seltsame Gerüchte über Tanis, den Halb-Elfen, und Kitiara gehört. Er hatte sie natürlich nicht geglaubt, aber er hielt es für angebracht, nicht weiter zu ergründen, wie gut der Halb-Elf diese Frau kannte.
»Du glaubst das nicht, oder?« fragte Tanis abrupt. »Kein bißchen davon?«
Gunther bewegte sich unbehaglich, glättete seinen langen grauen Schnurrbart und beugte sich nach vorne. Erst einmal rollte er die Karte mit äußerster Sorgfalt zusammen. »Tanis, mein Sohn, du weißt, daß ich dich achte...«
»Das haben wir bereits abgehandelt.«
Gunther ignorierte die Unterbrechung. »Und du weißt, daß es auf der ganzen Welt keinen anderen gibt, den ich tiefer verehre als Elistan. Aber wenn ihr beide mir eine Geschichte erzählt, die von einer Schwarzen Robe stammt – und dazu noch von einem Dunkelelf —, eine Geschichte über diesen Zauberer, Raistlin, der die Hölle betreten und die Königin der Finsternis herausgefordert haben soll! Nun, es tut mir leid, Tanis. Ich bin kein junger Mann mehr. Ich habe in meinem Leben viele seltsame Dinge gesehen. Aber dies klingt wirklich wie eine Gutenachtgeschichte für Kinder!«
»So hat man auch schon einmal über Drachen geredet«, murmelte Tanis, und sein Gesicht lief unter seinem Bart rot an. Er stand einen Moment mit gebeugtem Kopf da, dann kratzte er sich am Bart und musterte Gunther aufmerksam. »Mein Fürst, ich kenne Raistlin seit seiner Kindheit. Ich bin mit ihm gereist, habe ihn in vielen Situationen erlebt, habe mit ihm und gegen ihn gekämpft. Ich weiß, wozu dieser Mann fähig ist!« Tanis ergriff Gunthers Arm. »Wenn du meinen Rat nicht akzeptierst, dann akzeptiere Elistans Rat! Wir brauchen dich, Fürst Gunther! Wir brauchen dich, wir brauchen die Ritter. Du mußt den Turm des Oberklerikers verstärken. Uns bleibt wenig Zeit. Dalamar hat uns gesagt, daß die Zeit auf den Existenzebenen der Dunklen Königin keine Bedeutung hat. Raistlin kann sie monatelang oder sogar jahrelang dort bekämpfen, aber für uns sind es nur Tage. Dalamar glaubt, daß die Rückkehr seines Herrn kurz bevorsteht. Ich glaube ihm, und auch Elistan tut das. Warum wir ihm glauben, Fürst Gunther? Weil Dalamar Angst hat. Er hat Angst – so wie wir alle... Deine Spione berichten doch auch von ungewöhnlichen Aktivitäten in Sanction. Ist das denn nicht Beweis genug? Glaub mir, Fürst Gunther, Kitiara wird ihrem Bruder zu Hilfe kommen. Sie weiß, er wird sie als Herrscherin auf dieser Welt einsetzen, wenn er erfolgreich ist. Und sie ist Spielerin genug, um für diese Chance alles auf eine Karte zu setzen! Bitte, Fürst Gunther, wenn du mir schon nicht glauben willst, dann komm wenigstens nach Palanthas! Sprich mit Elistan!«
Fürst Gunther musterte aufmerksam den Mann, der vor ihm stand. Er war in die Position eines Großmeisters der Ritter aufgestiegen, weil er ein gerechter, ehrlicher Mann war. Zudem war er ein guter Menschenkenner. Er mochte und bewunderte den Halb-Elfen, seitdem er ihn am Ende des Krieges kennengelernt hatte. Aber niemals war es ihm möglich gewesen, ihm näher zu kommen. Es war etwas um Tanis, ein reserviertes, in sich gekehrtes Auftreten, das nur wenigen erlaubte, die unsichtbaren Grenzen, die er errichtet hatte, zu durchdringen.
Als Gunther ihn nun musterte, fühlte er sich ihm näher als je zuvor. Er sah Weisheit in den leicht schrägen Augen, eine Weisheit, die ihm nicht mühelos zugeflogen war, eine Weisheit, die sich durch inneren Schmerz und Leiden entwickelt hatte. Er sah Angst, die Angst eines Mannes, dessen Mut einen so großen Teil seiner Persönlichkeit ausmachte, daß er bereitwillig seine Angst zugeben konnte. Er sah in ihm einen Führer. Keinen Führer, der einfach ein Schwert schwingt und eine Armee in die Schlacht führt, sondern einen Führer, der im stillen arbeitet, indem er das Beste aus seinen Leuten herausholt, indem er ihnen hilft, Leistungen zu erzielen, die sie sich selbst niemals zugetraut hätten.
Und schließlich verstand Gunther etwas, was er vorher niemals begreifen konnte. Er wußte nun, warum Sturm Feuerklinge, dessen Abstammungslinie sich makellos über Generationen zurückverfolgen ließ, sich entschieden hatte, diesem Mischling zu folgen, der – wenn die Gerüchte stimmten – einer brutalen Vergewaltigung entstammte. Er wußte nun, warum Laurana, eine Elfenprinzessin und eine der stärksten und schönsten Frauen, die er je kennengelernt hatte, alles – selbst ihr Leben – aus Liebe zu diesem Mann riskiert hatte.
»Na schön, Tanis.« Fürst Gunthers strenges Gesicht entspannte sich, und der kühle, höfliche Ton in seiner Stimme wurde herzlicher. »Ich werde mit dir nach Palanthas reisen. Ich werde die Ritter mobilisieren und unsere Verteidigung am Turm des Oberklerikers verstärken. Wie ich bereits erwähnte, haben unsere Spione uns über ungewöhnliche Aktivitäten in Sanction informiert. Es wird den Rittern nicht weh tun, wieder einmal anzutreten. Ist schon lange Zeit her, daß wir eine Feldübung hatten.«
Nach dieser Entscheidung ging Gunther unverzüglich daran, seinen Haushalt auf den Kopf zu stellen, rief nach Wills, seinem Gefolgsmann, verlangte nach seiner Rüstung und befahl, daß sein Schwert geschärft und sein Greif bereitgestellt werden sollte. Bald eilten die Diener hin und her. Seine Gattin kam hinzu und bestand mit einem resignierten Blick darauf, daß er seinen schweren, fellumsäumten Umhang einpackte, auch wenn das Frühlingsfest kurz bevorstand.
In der allgemeinen Verwirrung wurde Tanis völlig vergessen. Der Halb-Elf ging zurück zum Kamin, nahm seinen Krug Bier und setzte sich, um zu trinken. Aber eigentlich schmeckte es ihm nicht. Er starrte in die Flammen und sah wieder und wieder ein bezauberndes, verschmitztes Lächeln, dunkles, lockiges Haar...