SECHSTER TEIL Ann in der Wildnis

Schau, es ist Selbstmord, nicht die Langlebigkeitsbehandlung zu wählen.

So?

Gut. Selbstmord wird gewöhnlich als Ausdruck einer psychologischen Fehlfunktion angesehen.

Gewöhnlich.

Ich denke, du wirst bemerken, daß das in der Mehrheit der Fälle zutrifft. Du bist zumindest unglücklich.

Zugegeben.

Und warum? Was fehlt jetzt?

Die Welt.

Du kannst jeden Tag hinausgehen und den Sonnenuntergang betrachten.

Gewohnheit.

Du behauptest, die Zerstörung des ursprünglichen Mars sei die Quelle deiner Depression. Ich denke, daß die philosophischen Gründe, die von Leuten angeführt werden, die unter Depressionen leiden, Masken sind, die sie vor größeren, persönlicheren Schäden schützen.

Es kann alles echt sein.

Du meinst, all die Gründe?

Ja. Was wirfst du Sax vor? Monocausotaxophilie?

Touche. Aber es gibt gewöhnlich einen Anfang für all diese Dinge, unter allen realen Gründen den ersten, der dich auf den Weg nach unten geführt hat. Du mußt auf deiner Wanderung oft zu diesem Punkt zurückkehren, um auf einem neuen Weg anzufangen.

Zeit ist nicht Raum. Die Metapher des Raums lügt, was das anbelangt, was in der Zeit wirklich möglich ist. Es ist nicht möglich, zurück zu gehen.

Nein, nein. Metaphorisch kannst du zurück gehen. In deinen mentalen Reisen kannst du in die Vergangenheit reisen, deine Schritte zurückverfolgen und sehen, wo du eine Wendung gemacht hast und warum, und dann in einer Richtung weitergehen, die anders ist, weil sie diese Schleifen des Verstehens einschließt. Größeres Verständnis ergibt größeren Sinn. Wenn du weiter darauf bestehst, daß es das Schicksal des Mars ist, das dir am meisten am Herzen liegt, dann halte ich dasfür eine Verlagerung, die so stark ist, daß sie dich verwirrt hat. Auch das ist eine Metapher. Vielleicht sogar eine echte. Es sollten aber beide Seiten dieser Metapher erkannt werden.

Ich sehe, was ich sehe.

Aber wie es wirklich ist, siehst du nicht. Es gibt noch so viel vom roten Mars, das übrig bleibt. Du solltest hinausgehen und dich umsehen! Geh hinaus, leere deinen Geist und sieh einfach das, was da draußen ist! Geh auf einer geringen Höhe hinaus und wandere frei in der Luft umher, nur mit einer einfachen Staubmaske! Das wäre gut für dich — gut auf physiologischer Ebene. Und es würde dir auch die Vorteile des Terraformens zeigen. Die Freiheit, die es uns gibt, zu erleben, die Verbindung mit dieser Welt, daß wir nackt auf ihrer Oberfläche gehen können und überleben. Das ist erstaunlich! Es macht uns zum Teil einer Ökologie. Es ist es wert, daß man noch einmal darüber nachdenkt, über diesen Prozeß. Du solltest hinausgehen und diesen Prozeß als Areoformung überdenken.

Das ist bloß ein Wort. Wir haben uns diesen Planeten genommen und ihn untergepflügt. Er schmilzt unter unseren Füßen.

Er schmilzt im eigenen Wasser. Nicht vom Saturn importiert oder dergleichen. Es ist von Anfang an hier gewesen, als ein Teil der ursprünglichen Zusammenballung, der Akkretion. Richtig? Ausgegast von dem ersten Klumpen, der Mars war. Jetzt ein Teil unserer Körper. Unsere Körper sind im Wasser des Mars gebildet worden. Ohne die Spurenmineralien wären wir transparent. Wir bestehen aus Marswasser. Und es hat früher Wasser auf der Oberfläche des Mars gegeben, nicht wahr? Ausgebrochen in einer artesischen Apokalypse. Diese Kanäle sind so riesig!

Es waren zwei Milliarden Jahre Permafrost.

Dann haben wir ihm wieder auf die Oberfläche geholfen. Die Majestät der großen ausbrechenden Fluten. Wir sind dort gewesen, wir haben einen solchen Ausbruch mit eigenen Augen gesehen. Wir sindfast darin umgekommen.

Ja, ja!

Du hast den Wagen gefühlt, als das Wasser ihn wegschwemmte, während du am Steuer saßt.

Ja! Aber es hat statt dessen Frank fortgespült.

Ja.

Es hat die Welt weggeschwemmt. Und uns am Strand zurückgelassen.

Die Welt ist noch da. Du könntest hinausgehen und sie dir ansehen.

Ich will nicht. Ich habe es schon gesehen!

Nicht du. Jemand vor dir. Jetzt bist du derjenige, der lebt.

Ja, ja.

Ich denke, du hast Angst. Angst davor, eine Umwandlung zu versuchen, eine Metamorphose in etwas Neues. Die Retorte steht da draußen, sie ist rings um dich her. Das Feuer ist heiß. Du wirst geschmolzen und wiedergeboren werden. Wer weiß, ob du nachher noch da bist?

Ich will mich nicht ändern.

Du möchtest nicht aufhören, den Mars zu lieben.

Ja. Nein.

Du wirst nie aufhören, den Mars zu lieben. Nach der Metamorphose gibt es den Stein noch immer. Er ist gewöhnlich härter als der ursprüngliche Fels, ja? Du wirst den Mars immer lieben. Es ist deine Aufgabe, den dauerhaften Mars zu sehen, dick oder dünn, heiß oder kalt, feucht oder trocken. Das ist kurzlebig; aber der Mars bleibt. Solche Fluten hat es schon früher gegeben, nicht wahr?

Ja.

Das eigene Wasser des Mars. All diese flüchtigen Substanzen kommen vom Mars selbst.

Außer dem Stickstoff von Titan.

Ja, ja. Du hörst dich an wie Sax.

Oho.

Ihr beide seid einander ähnlicher, als du denkst. Und wir Vergänglichen gehören alle dem Mars.

Aber die Zerstörung der Oberfläche. Die ist kaputt. Alles hat sich verändert.

Das ist Areologie. Oder die Areophanie.

Es ist Vernichtung. Wir hätten versuchen sollen, hier so mit ihm zu leben, wie er war.

Aber das taten wir nicht. Und so bedeutet Rot zu sein, daß man daran arbeitet, die Bedingungen den ursprünglichen so ähnlich zu halten wie möglich, innerhalb des Rahmens der Areophanie, des Projekts der Schaffung einer Biosphäre, die den Menschen die Freiheit der Oberfläche erlaubt, unterhalb einer bestimmten Höhe. Das ist alles, was es jetzt bedeuten kann, Rot zu sein. Und es gibt eine Menge solcher Roten. Ich denke, du machst dir Sorgen, daß es das Ende jeden Rotseins überall wäre, wenn du dich jemals im geringsten Grade ändern würdest. Aber das Rote ist größer als du. Du hast geholfen, es zu starten und zu definieren, bist aber nie die einzige gewesen. Sonst hätte niemals jemand auf dich gehört.

Sie haben es nicht getan!

Manche taten es. Viele taten es. Die Rote Bewegung wird weitergehen, ganz gleich, was du machst. Du könntest dich zurückziehen und ein gänzlich anderer werden, du könntest limonengrün werden; und das Rote würde immer existieren. Es könnte sogar ein noch stärkeres Rot werden, als du dir je vorgestellt hast.

Ich habe es mir so rot vorgestellt, wie es werden kann.

All diese Alternativen. Wir leben damit und machen weiter. Der Prozeß der Co-Adaptation mit diesem Planeten wird noch Jahrtausende lang weiter gehen. Aber wir sind jetzt hier. In jedem Moment könntest du fragen: Was fehlt jetzt? Und an irgendeiner Akzeptanz deiner derzeitigen Realität arbeiten. Das ist gesunder Menschenverstand, das ist Leben. Du mußt dir dein Leben von hier aus vorstellen.

Ich kann nicht. Ich habe es versucht und kann es nicht.

Du solltest dich wirklich einmal umsehen. Einen Rundgang machen. Sehr genau hinschauen. Selbst die Eismeere genau betrachten. Aber nicht bloß das. Das liegt in der Natur einer Konfrontation. Konfrontation muß nicht immer schlecht sein; aber erst hinsehen, eh? Eine Rekognoszierung. Dann solltest du darüber nachdenken, ins Gebirge zu gehen. Tharsis, Elysium. Wenn man sich in die Höhe begibt, ist das wie eine Reise in die Vergangenheit. Deine Aufgabe ist es, den Mars zu finden, der alles überdauert. Das ist wirklich wundervoll. Viele Leute haben keine so schöne Aufgabe. Du kannst es dir gar nicht vorstellen. Du hast Glück, daß du sie hast.

Und du?

Was?

Was ist deine Aufgabe?

Meine Aufgabe?

Ja, deine Aufgabe.

... Ich bin mir nicht sicher. Wie ich dir sagte, beneide ich dich um deine. Meine Aufgaben sind... konfus. Maya zu helfen und mir. Und dem Rest von uns. Versöhnung... Möchte gern Hiroko finden...

Du bist lange Zeit unser Psychiater gewesen.

Ja.

Mehr als hundert Jahre lang.

Ja.

Und niemals irgendwelche Ergebnisse.

Nun, ich denke, ich kann sagen, daß ich ein wenig geholfen habe.

Aber es kommt nicht von Natur aus zu dir.

Vielleicht nicht.

Glaubst du, daß Leute deshalb daran interessiert sind, Psychologie zu studieren, weil sie geistig verwirrt sind?

Das ist eine verbreitete Theorie.

Aber du bist nie einer solchen Behandlung unterzogen worden.

Oh, ich habe meine Therapeuten gehabt.

Hat es geholfen?

Ja! Durchaus. Ziemlich hilfreich. Ich meine, sie haben getan, was sie konnten.

Aber du kennst deine Aufgabe nicht.

Nein. Oder... ich will nach Hause gehen.

In welches Haus?

Das ist das Problem. Es ist hart, wenn man nicht weiß, wo man zu Hause ist.

Ja. Ich dachte, du würdest in der Provence bleiben.

Nein, nein. Ich meine, die Provence ist meine Heimat, aber...

Aber jetzt bist du unterwegs zurück zum Mars.

Ja.

Du hast dich entschlossen zurückzukommen.

...Ja.

Du weißt nicht, was du tust. Oder doch?

Nein. Aber du weißt es. Du weißt, wo du zu Hause bist. Du hast das; und es ist kostbar! Du solltest das bedenken. Du solltest ein solches Geschenk nicht verwerfen oder esfür eine Last halten! Du bist ein Narr, wenn du so denkst! Es ist ein Geschenk, verdammt noch mal, ein wirklich wertvolles Geschenk. Verstehst du mich?

Ich muß darüber nachdenken.


Sie verließ das Refugium in einem meteorologischen Rover aus dem vorigen Jahrhundert, einem großen plumpen Ding mit einem luxuriösen Fensterkasten oben drauf. Er war der vorderen Hälfte des Expeditionsrovers, in dem sie mit Nadia, Phyllis, Edmund und George zum Nordpol gefahren war, nicht unähnlich. Und weil sie seither Tausende von Tagen in solchen Fahrzeugen verbracht hatte, hatte sie zunächst den Eindruck, daß das, was sie tat, ganz gewöhnlich wäre und in Einklang mit dem Rest ihres Lebens stünde.

Aber sie fuhr nach Nordosten, den Canyon hinunter, bis sie im Bett des kleinen namenlosen Kanals bei 60° Länge und 52° nördlicher Breite war. Dieses Tal war durch einen kleinen Wasserlagerausbruch eingetieft worden, der in einer früheren Grabenfalte die niedrigeren Hänge der Großen Böschung hinunter verlief. Die einkerbenden Wirkungen der Flut waren noch an den Rändern der Canyonwände erkennbar genau wie in den linsenförmigen Inseln aus Muttergestein auf dem Boden des Kanals.

Und der verlief nach Norden in ein Meer aus Eis.


Sie stieg aus dem Wagen und trug einen mit Fasern gepolsterten Windanzug, eine CO2-Maske, Schutzbrille und geheizte Stiefel. Die Luft war dünn und kalt, obwohl jetzt im Norden Frühling war — Ls 10, m-33. Kalt und stürmisch. Fetzen niedriger Wolken rasten vor Böen nach Osten. Es würde entweder eine Eiszeit geben oder, falls die Manipulationen der Grünen das verhinderten, ein Jahr ohne Sommer wie 1810 auf der Erde, als die Explosion des Vulkans Tambori die Welt in Asche gehüllt und abgekühlt hatte.



Sie ging zum Ufer des neuen Meeres. Es lag am Fuße der Großen Böschung in Tempe Terra, einem Vorsprung alter Gebirge, der sich nach Norden erstreckte. Tempe war wahrscheinlich der allgemeinen Entblößung der nördlichen Hemisphäre entgangen, weil es dem Aufschlagpunkt des Großen Treffers ungefähr entgegengesetzt lag, von dem die meisten Areologen jetzt annahmen, daß er nahe Hrad Vallis über Elysium gelegen hatte. Also abgenutzte Hügel mit Blick über ein von Eis bedecktes Meer. Das Gestein sah aus wie die Oberfläche eines roten Meeres in einem wilden Strudel und das Eis wie eine Prärie im tiefen Winter. Einheimisches Wasser, das, wie Michel gesagt hatte, von Anfang an dort und früher an der Oberfläche gewesen war. Das war schwer zu verstehen. Ihre Gedanken waren zerstreut und verwirrt, sprangen hin und her zugleich. Es war wie Wahnsinn, aber doch nicht ganz. Sie kannte den Unterschied. Das Brummen und Klagen des Windes sprach nicht in den Tönen des Dozenten vom MIT zu ihr. Sie erlebte keine schockierenden Sinneseindrücke, wenn sie versuchte zu atmen. So war es nicht. Ihr Denken war vielmehr beschleunigt, gebrochen und unvorhersehbar wie der Vogelschwarm über dem Eis, der in einem scharfen Westwind im Zickzack über den Himmel flog. Ah, das Gefühl dieses gleichen Windes, der gegen ihren Körper drückte, und die neue dichte Luft wie die Tatze eines großen Tieres...

Die Vögel kämpften darin mit sorgloser Geschicklichkeit. Sie stand eine Weile da und sah zu. Es waren Raubmöwen, die über dunklen Streifen offenen Wassers jagten. Diese eisfreien Stellen waren an der Oberfläche nur die Anzeichen für immense Taschen flüssigen Wassers unter dem Eis. Sie hatte gehört, daß ein Wasserkanal unter dem Eis jetzt den Globus umspannte. Er wand sich nach Osten über das alte Vastitas und riß häufig freie Stellen in die Oberfläche, die dann eine Stunde oder eine Woche lang offen blieben. Selbst bei so kalter Luft wurden die Unterwassertemperaturen durch die überfluteten Moholes von Vastitas erwärmt und durch die aufsteigende Hitze aus den Tausenden thermonuklearer Explosionen, welche die Metanats um die Jahrhundertwende ausgelöst hatten. Diese Bomben waren tief genug im Megaregolith angebracht worden, um, wie man meinte, ihre radioaktive Ausschüttung abzufangen, aber nicht ihre Wärme, die als thermischer Puls durch das Gestein drang, in einem Puls, der viele Jahre anhalten würde. Nein. Michel konnte reden, daß es Marswasser war, aber sonst war an diesem neuen Meer kaum noch etwas Natürliches.

Ann erkletterte einen Grat, um weitere Sicht zu haben. Da lag es: Eis, meistens flach, bisweilen zertrümmert. Alles so ruhig wie ein Schmetterling auf einem Zweig, als ob sich das Weiße plötzlich erheben und davonfliegen könnte. Die Kreise der Vögel und das Treiben der Wolken zeigten, wie scharf der Wind blies und alles in der Luft nach Osten jagte. Aber das Eis blieb still. Die Stimme des Windes war tief und kräftig. Er fegte über eine Milliarde kalter Kanten. Ein Streifen grauen Wassers war durch Windstöße zerhackt. Die Stärke jeder Bö wurde genau von den kahlen Katzenkrallen registriert. Jeder schärfere Windstoß zerflederte die größeren Wellen mit außerordentlicher Empfindlichkeit. Wasser. Und unter dieser gepeitschten Oberfläche Plankton, Krill, Fische, Kalmare. Sie hatte gehört, daß man in Brutanstalten alle Kreaturen der äußerst kurzen Nahrungskette der Antarktis produzierte und dann ins Meer freisetzte. Das Wasser wimmelte.

Die Möwen kurvten über ihrem Kopf. Eine Wolke von ihnen wirbelte auf etwas längs der Küste herunter, hinter einigen Felsen. Ann kletterte dorthin. Plötzlich erblickte sie das Ziel der Vögel, das in einer Spalte am Rande des Eises lag: Die Reste einer Robbe. Robben! Der halb aufgefressene Kadaver lag auf Tundragras im Windschatten einiger Sanddünen, abgeschirmt durch einen weiteren Felsgrat, der hinunter ins Eis verlief. Das weiße Skelett ragte aus dunkelrotem Fleisch hervor, umgeben von weißem Speck und dunklem Fell. Alles zum Himmel hinaufgerissen. Die Augen ausgehackt.

Sie kletterte an dem Kadaver vorbei auf einen anderen kleinen Grat. Dieser bildete eine Art von Kap ins Eis hinein. Dahinter war eine Bucht. Eine runde Bucht, ein Krater, mit Eis gefüllt. Der hatte zufällig auf Meeresniveau gelegen und eine Scharte in seinem der See zugewandten Rand gehabt, so daß Wasser und Eis eingedrungen waren und ihn gefüllt hatten. Jetzt eine runde Bucht, perfekt für einen Hafen. Eines Tages würde es ein Hafen sein. Ungefähr drei Kilometer Durchmesser.

Ann setzte sich auf einen Stein am Kap und blickte auf die neue Bucht hinaus. Ihr Atem strömte unfreiwillig schwer ein und aus, und ihr Brustkorb bewegte sich heftig wie bei schwerer körperlicher Arbeit. Seufzer, ja. Sie zog ihre Gesichtsmaske zur Seite, putzte sich mit dem Finger die Nase, wischte sich die Augen und weinte dabei wütend vor sich hin. Dies war ihr Körper. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie auf einer einsamen Wanderung vor Jahren auf die Überschwemmung von Vastitas gestoßen war. Damals hatte sie nicht geschrien, aber Michel hatte gesagt, daß das nur der Schock wäre, die Benommenheit des Schocks wie bei jedem Mißgeschick. Ein sich Zurückziehen von ihrem Körper und ihren Gefühlen. Michel würde diese Reaktion zweifellos gesünder nennen. Aber warum? Es tat weh. Ihr Körper war zitternd verkrampft. Aber Michel würde sagen, wenn es vorbei wäre, würde sie sich besser fühlen. Eine Spannung war fort. Die Tektonik des limbischen Systems. Sie haßte die vereinfachten Analogien, wie Michel sie anbot. Die Frau als Planet. Das war absurd. Nichtsdestoweniger saß sie da, schniefte und schaute auf die Eisbucht unter jagenden Wolken. Sie fühlte sich erschöpft.


Es bewegte sich nichts außer den Wolken über ihr und Katzenkrallen auf einem Stück offenen Wassers, Stoß auf Stoß, grau, malvenfarben, grau schimmernd. Wasser bewegte sich, aber das Land blieb reglos.

Endlich stand Ann auf und ging auf einer Rippe aus hartem altem Shishovit, die jetzt eine schmale Trennung zwischen zwei langen Stränden bildete, nach unten. Um die Wahrheit zu sagen — über dem Eis hatte sich an dem urtümlichen Zustand nicht sehr viel verändert. Unten an der Wasserlinie war es anders. Hier hatten die täglichen Winde über dem offenen Wasser Wellen erzeugt, die groß genug waren, um die restlichen Eisstücke zu Packeis zu brechen. In großen Reihen war es jetzt über dem regulären Eisniveau ans Ufer gedrückt worden, und wie Skulpturen aus Strandgut blieb es liegen. Im Sommer hatte dieses Eis geholfen, den Sand der neuen Strände aufzureißen und in ein Gemisch aus Eis, Schlamm und Sand zu verwandeln, das jetzt an Ort und Stelle gefroren war wie brauner Kuchen mit Zuckerguß.

Ann ging langsam durch diesen Schmutz. Dahinter war eine schmale Bucht voller Eisblöcke, die in der Untiefe auf Grund geraten und in der Meeresoberfläche festgefroren waren. Dadurch, daß sie der Sonne und dem Wind ausgesetzt waren, waren diese Blöcke zu barocken Phantasiegebilden aus klarem blauem und undurchsichtigem rotem Eis geworden, wie Artefakte aus Saphir und Hämatit. Die Südseiten der Blöcke waren immer wieder geschmolzen, und das Schmelzwasser war zu Eiszapfen, Eisbärten, Eisflächen und Eissäulen gefroren.

Beim Blick zurück auf die Küste bemerkte sie wieder, wie gefurcht und zerrissen der Sand war. Der Schaden war enorm, die Vertiefungen manchmal zwei Meter tief. Eine unglaubliche Kraft mußte diese Gräben gepflügt haben! Bei dem Flugsand mußte es sich um Löß handeln. Löß bestehend aus lockeren leicht äolischen Ablagerungen. Jetzt war es ein Niemandsland aus gefrorenem Schlamm und schmutzigem Eis, als ob Bomben die Schützengräben einer bedauernswerten Armee verwüstet hätten.

Sie ging weiter und schritt über opakes Eis. Auf der Oberfläche der Bucht.

Wie eine in Samen gepackte Welt. Einmal knackte das Eis unter ihrem Fuß.

Als sie ein gutes Stück auf der Bucht draußen war, blieb sie stehen und schaute sich um. Der Horizont war wirklich eng. Sie stieg auf einen Eisberg mit flachem Gipfel, der ihr eine weitere Sicht über die Eisfläche verschaffte, bis hinaus zu dem Kreis des Kraterrandes, direkt unter den ziehenden Wolken. Obwohl das Eis zerbrochen, verwirrend angeordnet und von Druckspalten gezeichnet war, ließ es dennoch die Flachheit des Wassers darunter erkennen. Nach Norden hin war die Lücke zum Meer augenfällig. Tafelförmige Eisberge ragten wie entstellte Burgen aus dem Eis. Eine weiße Wildnis.

Nach langem vergeblichem Bemühen, die Szene zu verstehen, kletterte sie den Berg hinunter und stapfte wieder zur Küste zurück und dann auf ihren Wagen zu. Als sie die kleine Landzunge überquerte, fiel ihr eine Bewegung unten am Rande des Eises ins Auge. Da bewegte sich etwas Weißes — eine Person in einem weißen Overall — nein. Ein Bär. Ein Eisbär, der an der Eiskante entlangging.

Er erblickte den Wirbel von Möwen über der toten Robbe. Ann duckte sich hinter einem Felsblock und kroch auf eine Stelle mit reifbedecktem Sand. Ihr war auf der ganzen Vorderseite ihres Körpers kalt. Sie blickte über den Stein.

Der elfenbeinfarbene Pelz des Bären war an Flanken und Beinen gelblich. Das Tier hob den schweren Kopf, schnupperte wie ein Hund und schaute sich neugierig um. Es watschelte zum Kadaver der Robbe, ohne die Säule kreischender Vögel zu beachten. Es fraß von der Robbe wie ein Hund aus einem Napf. Dann hob es den Kopf mit dunkelroter Schnauze. Ann hatte Herzklopfen. Der Bär setzte sich auf die Hinterkeulen, leckte eine Pfote und rieb sich das Gesicht, bis es sauber war, gründlich wie eine Katze. Dann ließ er sich auf alle viere nieder und machte sich auf, den Hügel aus Fels und Sand hinaufzusteigen, auf Anns Versteck hinter dem Felsblock zu. Er trottete dahin und bewegte immer beide Beine auf einer Seite zugleich — links, rechts, links.

Ann rollte die andere Seite der kleinen Landzunge hinunter, stand auf und lief durch den Trog einer flachen Bruchstelle nach Südwesten. Sie vermutete, daß sich ihr Rover ziemlich genau westlich von ihr befand; aber der Bär kam aus Nordwesten. Sie kletterte die kurze steile Flanke des nach Südwesten verlaufenden Canyons hoch und lief über ein Stück hohen Geländes zu einem anderen kleinen Bruchcanyon, der etwas mehr nach Westen führte als der vorige. Wieder hinauf zu dem nächsten Stück hohen Geländes zwischen diesen flachen Gräben. Sie blickte zurück. Sie keuchte schon, und ihr Rover befand sich noch mindestens zwei Kilometer westlich und etwas südlich von ihr. Er war noch hinter felsigen Buckeln außer Sicht. Der Bär befand sich nordwestlich von ihr. Falls er sich direkt auf den Rover zu bewegte, würde er ihm fast ebenso nahe sein wie sie jetzt. Jagte er auf Sicht oder auf Geruch? Konnte er den Kurs seiner Beute abschätzen und sich so bewegen, daß er ihn abschnitt?

Ohne Zweifel konnte er das. Ann schwitzte in ihrem Windschutzanzug. Sie eilte in die nächste Rinne hinunter und lief einige Zeit darin nach Westsüdwesten. Dann erblickte sie eine leichte Rampe und lief zum nächsten höheren Gelände, einer Art breiter, hoher Straße zwischen den flachen Rinnen zu beiden Seiten. Sie blickte zurück und sah den Eisbären. Er stand auf allen vieren hinter ihr, zwei Canyons entfernt, und sah aus wie ein sehr großer Hund oder eine Kreuzung zwischen einem Hund und einem Menschen, gekleidet in strohfarbenen Pelz. Sie war überrascht, eine solche Kreatur hier draußen zu sehen. Die Nahrungskette konnte doch wohl kaum ein so großes Raubtier tragen. Man mußte es sicher an Futterstellen ernähren. Hoffentlich, sonst wäre es sehr hungrig. Dann kam er in dem übernächsten Canyon außer Sicht, und Ann lief los, um über das Gelände zu ihrem Rover zu rennen. Trotz des Umwegs und dem engen durchfurchten Horizont traute sie ihrem Gefühl hinsichtlich des Standorts ihres Rovers.

Sie hielt ein Tempo, das sie, wie sie glaubte, über die ganze Distanz durchhalten würde. Es war schwer, nicht einfach loszulegen und mit voller Geschwindigkeit zu sprinten; aber nein, nein, das würde rasch zum Zusammenbruch führen. Halt dein Tempo — dachte sie und atmete in kurzen, kräftigen Stößen. Halte die Richtung! Kommst du südlich vom Rover vorbei? Zurück auf höheres Gelände, bloß um dich einen Moment umzuschauen. Dort hinter dem niedrigen Hügel mit dem flachen Gipfel, der ein kleiner Krater war, mit einem Buckel auf dem Südende des Randes, mußte ihr Rover sein, dessen war sie sich sicher, obwohl der Rover immer noch nicht zu sehen war und man sich bei dem zerrissenen Land leicht irren konnte. Tausendmal hatte sie kurzfristig halb die Orientierung verloren, da sie nicht ihre genaue Richtung zu einem Fixpunkt kannte. Gewöhnlich war das ihr geparkter Rover. Eigentlich keine große Sache, da das Peilgerät an ihrem Handgelenk sie immer zurückführen konnte. Das könnte es auch jetzt; aber sie war sich sicher, daß der Rover drüben hinter diesem Kraterbuckel stand.

Die kalte Luft brannte in ihren Lungen. Sie erinnerte sich an die Gesichtsmaske für den Notfall, die in ihrem Rucksack steckte, hielt an, öffnete den Rucksack und wühlte, zog die CGvMaske heraus und legte sie an. Sie enthielt auch einen kleinen Vorrat an komprimiertem Sauerstoff. Nachdem sie sie über Mund und Nase gezogen und eingeschaltet hatte, war sie plötzlich stärker und konnte ein schnelleres Tempo halten. Sie lief auf einem hochgelegenen Geländestreifen zwischen zwei Rissen dahin und hoffte, den Rover hinter dem Hang des nächsten Kraters zu erblicken. Ah, da war er! Triumphierend sog sie den kühlen Sauerstoff ein. Er schmeckte angenehm, reichte aber nicht aus, um ihr Keuchen zu verhindern. Wenn sie die Senke zu ihrer Rechten schräg durchquerte, mußte sie direkt auf den Rover treffen.

Sie schaute zurück und sah, daß der Eisbär auch rannte. Seine Beine bewegten sich in einer Art watschelndem Galopp. Aber er gewann mit diesem Laufen an Boden; und die niedrigen Canyonwände schienen für ihn kein Hindernis zu sein. Er huschte darüber wie ein weißer Alptraum, etwas Schönes und Erschreckendes zugleich. Die flüssige Bewegung seiner Muskeln spielte locker unter dichtem weißem Pelz mit gelben Spitzen. All das sah sie in einem Augenblick mit höchster Deutlichkeit. In ihrem Gesichtsfeld war alles klar, scharf und hell, wie von innen her erleuchtet. Selbst wenn sie so schnell lief, wie sie konnte, und scharf auf den Boden achtete, um nicht über etwas zu stolpern, sah sie immer noch wie ein Nachbild den Bären über den roten Abhang gleiten.

Stampfen, rennen, ein Felsenballett. Der Bär war schnell, und das Terrain machte ihm nichts aus. Aber auch sie war ein Tier. Auch sie hatte Jahre im Outback des Mars verbracht, tatsächlich viel mehr Jahre als dieser junge Bär; und sie konnte wie ein Steinbock über das Gelände laufen, von Urgestein zu Felsen, zu Sand und zu Geröll. Mit festen, aber wohl ausgeglichenen Schritten, mit Beherrschung des Dahinstürmens und um ihr Leben rennend. Und außerdem war der Rover nah. Nur noch eine letzte Canyonflanke hinauf und den Abhang der Moräne, und da war er. Sie rannte fast dagegen, richtete sich auf und schlug auf die runde Metallflanke mit einem festem triumphierenden Bum, als ob es die Schnauze des Bären wäre. Dann, mit einem zweiten, besser kontrollierten Schlag auf die Konsole der Schleusentür, war sie drinnen, und die äußere Schleusentür schloß sich hinter ihr.

Sie eilte die Stufen hinauf in den Ausguck des Fahrers, um zurück zu blicken. Durch das Glas sah sie unten den Bären, wie er ihr Fahrzeug aus respektvoller Distanz beäugte. Er war außer Reichweite einer Pfeilwaffe und schnaufte nachdenklich. Ann schwitzte stark, schnappte immer noch heftig nach Luft — ein, aus; ein, aus. Was für Strapazen der Brustkorb doch aushalten konnte! Und da war sie nun im Fahrersitz. Sie brauchte nur die Augen zu schließen, dann sah sie wieder das heraldische Bild des Bären über den Fels gleiten. Wenn sie sie aber öffnete, dann leuchtete vor ihr das Instrumentenbrett, hell, künstlich und vertraut. Ah, so seltsam!

Noch Tage danach befand sie sich in einer Art Schock und konnte den Eisbären sehen, wenn sie nur die Augen schloß und daran dachte. Bei Nacht dröhnte und grunzte das Eis in der Bucht. Manchmal krachte es explosionsartig, so daß sie von dem Angriff auf Sheffield träumte und selbst stöhnte. Bei Tag fuhr sie so sorglos, daß sie den Rover auf Autopilot schalten konnte und ihn anwies, seinen Weg längs der Küste der Kraterbucht zu finden.

Während er dahinrollte, ging sie in ausgelassener Stimmung im Fahrerabteil umher. Ohne Kontrolle. Nichts zu tun als zu lachen und es zu ertragen. An die Wände schlagen, aus den Fenstern blicken. Ursus maritimus, Ozeanbär. Die Inuit nannten ihn Tornassuk, ›der, welcher Kraft verleiht‹. Es war wie mit dem Erdrutsch, der sie in Melas Chasma fast erwischt hatte — jetzt für immer ein Teil ihres Lebens. Als sie mit dem Erdrutsch konfrontiert war, hatte sie keinen Muskel gerührt. Diesmal war sie gerannt wie der Teufel. Der Mars könnte sie töten. Ohne Zweifel würde er sie töten; aber kein großes Zoo-Tier von der Erde würde sie töten, sofern sie es verhindern könnte. Sie war keineswegs so sehr in das Leben verliebt — weit gefehlt. Aber man sollte die Freiheit haben, sich seinen Tod auszusuchen. Wie sie es in der Vergangenheit mindestens zweimal getan hatte. Aber Simon und dann Sax — wie kleine Braunbären — hatten sie dem Tod weggeschnappt. Sie wußte noch nicht, was sie davon halten sollte und wie sie sich deswegen fühlen sollte. Ihre Gedanken eilten zu schnell dahin. Sie hielt sich an der Lehne des Fahrersitzes fest. Schließlich griff sie nach vorn und tastete die alte Nummer von Sax als einem der Ersten Hundert auf dem Armaturenbrett ein, XY23, und wartete darauf, daß der Computer den Ruf zu dem Shuttle weiterleiten würde, mit dem Sax und die anderen zum Mars zurückkehrten. Und nach einer Weile war er da und schaute mit seinem neuen Gesicht aus dem Bildschirm.

»Warum hast du das getan?« rief sie. »Ich kann mir meinen Tod aussuchen, wie es mir gefällt!«

Sie wartete, bis die Mitteilung ihn erreichte. Dann war es so weit, und er sprang auf. Sein Abbild wackelte. »Weil...«, sagte er und hielt inne.

Ann fühlte Kälte. Genau das hatte Simon auch gesagt, nachdem er sie aus dem Chaos hereingezogen hatte. Sie hatten nie einen Grund gehabt — nur das dämliche Weil des Lebens.

Sax fuhr fort: »Ich wollte nicht... es schien so eine Vergeudung zu sein... was für eine Überraschung, von dir zu hören. Ich freue mich.«

»Zur Hölle damit!« sagte Ann.

Sie wollte schon die Verbindung trennen, als er wieder zu sprechen anfing. Sie hatten jetzt Gegensprechverkehr. »Ann, es war so, daß ich zu dir sprechen konnte. Ich meine für mich selbst — ich wollte dich nicht vermissen. Ich wollte, daß du mir verzeihst. Ich wollte mit dir darüber diskutieren und wünsche mir, daß du verstehst, warum ich das getan habe, was ich tat.«

Sein Geplapper hörte so plötzlich auf, wie es angefangen hatte; und dann sah er verwirrt, sogar erschrocken drein. Vielleicht hatte er gerade gehört: »Zur Hölle damit!« Sie konnte ihm zweifellos Angst machen.

»Was für ein Quatsch!« sagte sie.

Nach einer Weile: »Ja. Hm... was machst du? Du sieht aus... «

Sie trennte die Verbindung. Im Geiste schrie sie: »Ich bin gerade einem Eisbären entwischt! Ich wurde wegen eurer blöden Spiele beinahe gefressen!«

Nein. Sie würde es ihm nicht sagen. Dem Naseweisen. Er hatte einen guten Unparteiischen für seine Einsendungen an das Metajournal ofMartian History, darauf lief es hinaus. Sich vergewissern, daß seine Forschungen korrekt von zuständiger Stelle besprochen wurden. Dafür würde er in den innersten Wünschen einer Person herumtoben, in ihrer essentiellen Freiheit, Leben oder Tod zu wählen, ein freies menschliches Wesen zu sein!

Wenigstens hatte er nicht versucht, es zu leugnen.

Und nun — war sie hier. Wut. Reue ohne Grund. Unerklärliche Besorgnis. Eine seltsam schmerzliche Heiterkeit. All das erfüllte sie plötzlich. Das wild vibrierende limbische System stieß mit konträren wilden Emotionen in jeden Gedanken, abgetrennt vom Inhalt der Gedanken. Sax hatte sie gerettet; sie haßte ihn, sie empfand eine tolle Freude. Kasei war tot, Peter nicht. Kein Bär konnte sie töten etc. — immer weiter und weiter. Oh, wie seltsam!

Sie sichtete einen kleinen grünen Rover, der sich auf einem Absatz über der Eisbucht befand. Impulsiv faßte sie das Lenkrad fester und fuhr zu ihm hinauf. Ein kleines Gesicht schaute heraus. Sie winkte ihm durch die Frontscheibe zu. Schwarze Augen, Brille, kahl. Wie ihr Stiefvater. Sie parkte ihren Rover neben seinem. Der Mann machte ihr ein Zeichen, herüber zu kommen, und hielt einen Holzlöffel hoch. Er sah unsicher aus, nur halb aus seinen Gedanken gerissen.

Ann zog eine gepolsterte Jacke an, ging durch die Schleusentüren und trat zwischen die Wagen. Den Schock der kalten Luft empfand sie wie eine kalte Dusche. Es war angenehm, von einem Rover zum anderen zu gehen, ja überhaupt sich ohne Schutzanzug ins Freie zu wagen, ohne das Leben zu riskieren. Es war ohnehin erstaunlich, daß nicht mehr Leute durch Sorglosigkeit oder defekte Schleusen umgekommen waren. Einigen war das natürlich passiert. Vielleicht Dutzenden, wenn man alle zusammenzählte. Jetzt war es nur noch ein Schuß kalter Luft.

Der kahle Mann öffnete seine innere Schleusentür, sagte »Hallo!« und strecke ihr die Hand entgegen.

Ann sagte »Hallo!« und schüttelte sie. »Ich bin Ann.«

»Ich bin Harry. Harry Whitebook.«!

»Ah! Ich habe von dir gehört. Du malst Tiere.«

Er lächelte höflich. »Ja.« Keine Scheu, keine Abwehr.

»Ich bin heute gerade von einem eurer Eisbären gejagt worden.«

»Wirklich?« Er machte runde Augen. »Die sind flink.«

»Allerdings. Aber es sind eigentlich keine Eisbären, nicht wahr?«

»Sie haben einige Grizzly-Gene wegen der Höhe. Aber größtenteils ist es einfach Ursus maritimus. Das sind zähe Biester.«

»Es gibt viele Tiere.«

»Ja, ist das nicht wundervoll? Oh, entschuldige, hast du gegessen? Möchtest du etwas Suppe haben? Ich bereitete gerade Suppe zu. Lauchsuppe. Ich meine, das muß man ja riechen.«

Das stimmte. »Ja, man riecht’s«, sagte Ann.


Bei Suppe und Brot stellte sie ihm Fragen über den Eisbären. »Sicher kann es für etwas so Großes hier keine ganze Nahrungskette geben?«

»O doch. In dieser Gegend ist das der Fall. Dafür ist sie bekannt. Die erste Bioregio’n, die Bären verträgt. Die Bucht ist bis zum Grund flüssig, wie du siehst. Das Ap-Mohole befindet sich im Zentrum des Kraters; darum hat der See keinen Boden. Im Winter natürlich überfroren; aber die Bären sind das von der Arktis her gewohnt.«

»Die Winter sind lang.«

»Ja. Die Bärinnen graben sich einen Bau im Schnee, nahe einigen Höhlen in zutage liegenden Stellen des Deichs im Westen. Sie halten keinen richtigen Winterschlaf. Ihre Körpertemperatur sinkt nur um wenige Grade; und sie können in ein paar Minuten aufwachen, wenn sie den Bau wegen der Wärme anpassen müssen. So verbringen sie darin so viel vom Winter, wie sie können, leben darin und suchen Nahrung bis zum Frühling. Dann im Frühling schleppen wir einige Eisschollen durch die Mündung der Bucht hinaus auf See; und von da aus entwickeln sich die Dinge, von unten nach oben. Die Basis der Nahrungskette ist im Wasser antarktisch und auf dem Lande arktisch. Plankton, Krill, Fische und Kalmare, Weddelrobben und an Land Kaninchen und Hasen, Lemminge, Murmeltiere, Mäuse, Luchse und Rotluchse. Und die Bären. Wir machen Versuche mit Karibus, Rentieren und Wölfen; aber für Huftiere gibt es noch kein Futter. Die Bären sind erst seit ein paar Jahren draußen. Bis vor kurzem war der Luftdruck noch nicht ausreichend. Aber jetzt ist es hier wie auf viertausend Metern, und es sieht so aus, als ob die Bären ganz gut damit zurecht kämen. Sie passen sich sehr rasch an.«

»Menschen auch.«

»Nun, auf viertausend Metern haben wir noch nicht sehr viele gesehen.« Er meinte viertausend Meter über dem Meer auf der Erde. Höher als jede ständige menschliche Siedlung, wie sie sich erinnerte.

Er fuhr fort: »...Am Ende erleben wir eine Expansion des Thoraxraums, zu der muß es ja kommen...« Ein Mann, der Selbstgespräche führte. Groß, stämmig. Weißes Gelb in einem Kranz um seine kahle Platte. Schwarze Augen, die hinter runden Brillengläsern verschwammen.

»Bist du jemals Hiroko begegnet?« fragte sie.

»Hiroko Ai? Ja, einmal. Eine sympathische Frau. Ich höre, sie ist wieder auf die Erde gegangen, um ihnen zu helfen, sich der Flut anzupassen. Hast du sie gekannt?«

»Ja. Ich bin Ann Clayborne.«

»Das habe ich mir gedacht. Die Mutter von Peter Clayborne, richtig?«

»Ja.«

»Er war vor kurzem in Boone.«

»Boone?«

»Das ist die kleine Station gegenüber der Bucht. Dies hier ist Botany Bay, und die Station ist Boone Harbor. Eine Art Scherz. Offenbar gab es in Australien ein ähnliches Paar.«

»Ja.« Sie schüttelte den Kopf. John würde für immer mit ihnen sein. Und er war keineswegs der schlechteste der Geister, die sie verfolgten.

Wie zum Beispiel dieser Mann, der berühmte Tiermaler. Er klapperte und fuhrwerkte kurzsichtig in der Küche herum, setzte ihr die Suppe vor, und sie aß, wobei sie ihn verstohlen beobachtete. Er wußte, wer sie war, schien sich aber wohl zu fühlen. Er machte keinen Versuch, sich zu rechtfertigen. Sie war eine rote Areologin, und er malte die neuen Tiere des Mars. Sie arbeiteten auf dem gleichen Planeten. Aber das bedeutete nicht, daß sie Feinde waren, nicht für ihn. Er konnte ihre Existenz ohne Bosheit verkraften. Darin lag etwas Erregendes, das trotz seiner freundlichen Art durchschlug. Es war so brutal, vergessen zu sein. Trotzdem gefiel er ihr. Diese leidenschaftslose Kraft und Unbestimmtheit — irgend etwas war da. Er trödelte in seiner Küche herum, setzte sich dann hin und aß mit ihr, rasch und geräuschvoll, den Mund feucht von der klaren Brühe. Danach brachen sie von einem langen Laib Brot Stücke ab. Ann stellte Fragen über Boone Harbor.

Whitebook zeigte auf das Brot und sagte: »Es gibt dort eine gute Bäckerei und ein gutes Labor. Der Rest ist ein ganz gewöhnlicher Außenposten. Aber wir haben letztes Jahr die Kuppel abgenommen, und jetzt ist es sehr kalt, besonders im Winter. Eigentlich ist es nur der sechsundvierzigste Breitengrad; aber wir empfinden es als einen nordischen Ort. So sehr, daß man davon spricht, die Kuppel zumindest im Winter wieder aufzuspannen. Es gibt auch Leute, die sagen, wir sollten verschwinden, bis es wärmer wird.«

»Bis die Eiszeit vorüber ist?«

»Ich glaube nicht, daß es eine Eiszeit geben wird.

Dieses erste Jahr ohne die Soletta war natürlich schlimm; aber es sollten unterschiedliche Kompensationen möglich sein. Ein paar kalte Jahre, das wird alles sein.«

Er schüttelte eine seiner bekrallten Tatzen. Es könnte auch anders sein. Ann warf ihm fast ihr Stück Brot vor die Füße. Aber sie wollte ihn lieber nicht aufregen. Sie beherrschte sich zitternd.

Sie fragte: »Ist Peter noch in Boone?«

»Ich nehme es an. Vor ein paar Tagen war er noch da.«

Sie sprachen weiter über das Ökosystem Botany Bay. Ohne eine größere Fülle pflanzlichen Lebens waren Tiermaler sehr eingeschränkt. Die Gegend ähnelte in dieser Hinsicht eher der Antarktis als der Arktis. Möglicherweise könnten neue Verfahren zur Fixierung des Bodens die Ansiedlung höher entwickelter Pflanzen beschleunigen. Eben jetzt war das Land größtenteils von Flechten bewachsen. Die Tundrapflanzen würden folgen.

»Aber dies mißfällt dir«, bemerkte er.

»Mir hat es gefallen, wie es vorher war. Vastitas Borealis bestand aus Barchan-Dünen aus schwarzem und granatrotem Sand.«

»Werden nicht oben bei der Polkappe einige übrig bleiben?«

»Die Eiskappe wird an den meisten Stellen bis zum Meer herunterreichen. Ähnlich wie in der Antarktis, wie du sagst. Nein, die Dünen und das geschichtete Terrain werden unter Wasser stehen — so oder so. Die ganze nördliche Hemisphäre wird dahin sein.«

»Aber hier ist ja die nördliche Hemisphäre.«

»Eine Halbinsel im Gebirge. Und die ist irgendwie auch hinüber. Botany Bay war einst Arcadia Krater Ap.«

Er sah sie lauernd durch die Brille an. »Vielleicht könnte es, wenn man in großer Höhe lebt, so wirken wie in den alten Tagen. Die alten Tage, aber mit Luft.«

»Vielleicht«, sagte sie zurückhaltend. Er ging in der Kammer herum, stampfte mit schweren Schritten und säuberte große Küchenmesser über dem Ausguß. Seine Finger endeten in kurzen stumpfen Krallen. Selbst wenn sie beschnitten waren, ließ es sich damit an kleinen Objekten schwer arbeiten.

Sie stand vorsichtig auf und sagte: »Vielen Dank für das Essen!« Dabei zog sie sich zur Schleusentür zurück. Sie ergriff ihre Jacke auf dem Weg nach draußen und schlug die Tür vor seiner überraschten Nase zu. Hinaus in den scharfen Ansturm der Kälte und in die Jacke. Niemals vor einem Raubtier davonlaufen. Sie ging zu ihrem Wagen zurück und stieg ein, ohne sich umzuschauen.

Das alte Hochland von Tempe Terra war mit einer Anzahl kleiner Vulkane besetzt. Darum gab es überall Lavaflächen und Kanäle, sowie heimtückische Rutschstellen infolge des Grundeises und den gelegentlichen kleinen Abflußkänalen, in denen an der Großen Böschung Wasser heruntergeströmt war. All dies zusammen mit der üblichen Sammlung vorzeitlicher Aufprall- und Verformungsrelikte war so vielfältig, daß auf areologischen Karten Tempe wie die Palette eines Malers aussah, auf der überall Farben hingeklatscht waren, um die verschiedenen Aspekte der langen Geschichte der Region anzuzeigen. Nach Anns Meinung zu viele Farben; denn für sie waren die kleinsten Einteilungen in unterschiedliche areologische Einheiten künstlich — Reste der Himmelsareologie, die zwischen Gebieten, die bekraterter, zerklüfteter oder zerfressener waren als der Rest, zu unterscheiden suchten, während doch alles eins war, mit den bezeichnenden Merkmalen, die überall sichtbar waren. Es war einfach eine rohe Landschaft, die Welt der Vorzeit und keineswegs rauher.

Sogar die Böden der langen geraden Canyons, genannt Tempe Fossae, waren zu zerklüftet, als daß man darüber hätte fahren können. Darum nahm Ann einen indirekten höhergelegenen Weg. Die jüngsten Lavaströme (eine Milliarde Jahre alt) waren härter als die zerfallenen Auswurfreste, über die sie geflossen waren, und standen jetzt als lange Deiche oder Bermen auf dem Land. Auf den weicheren Stellen dazwischen gab es eine Menge von Ergußkratern, deren Moränen deutlich die Reste einer flüssigen Strömung zeigten, wie Tropfburgen am Strand. Gelegentliche Inseln aus abgewetztem Muttergestein ragten aus all diesem Schutt hervor; aber im großen und ganzen war es Regolith, der überall Spuren von Wasser und von Permafrost unter der Oberfläche erkennen ließ, der langsames Einsinken und Rutschen bewirkte. Und jetzt bei zunehmenden Temperaturen und vielleicht auch infolge der aus den unterirdischen Explosionen in Vastitas dringenden Wärme hatten sich alle diese Gleitvorgänge beschleunigt. Es gab lediglich ein paar neue Erdrutsche. Ein wohlbekannter roter Weg war weggefegt worden, als sich eine Rampe in Tempe 12 eingegraben hatte. Die Wände von Tempe 18 waren auf beiden Seiten eingestürzt, wodurch aus einem U-förmigen Canyon ein V-förmiger geworden war. Tempe 21 war verschwunden und durch den Zusammenbruch seiner hohen Westwand verschüttet. Überall war das Land im Schmelzen begriffen. Ann sah sogar einige Taliks, aufgetaute Gebiete über dem Permafrost, die im Grunde nichts anderes als eisige Sümpfe waren. Und viele der ovalen Gruben der großen Alas-Depressionen waren mit Teichen gefüllt, die bei Tag schmolzen und bei Nacht gefroren, wodurch das Land noch schneller zerrissen wurde.

Sie passierte die lappige Moräne des Timoschenko- Kraters, dessen Nordflanke unter den südlichsten Lavawellen des Vulkans Coriolanus begraben war, des größten der vielen kleinen Vulkane in Tempe. Hier war das Land sehr zernarbt; und es war Schnee gefallen, der dann geschmolzen und in unzähligen kleinen Sammelbecken wieder gefroren war. Das Land brach mit allen charakteristischen Merkmalen von Permafrost ein: Polygonale Kiesgrate, konzentrische Kraterfüllung, Pingos, Spalten oder Hügel durch Solifluction. In jeder Senke ein von Eis bedeckter Teich oder Pfuhl. Das Land schmolz.

Aber an den sonnigen Südhängen wuchsen, wo immer etwas Schutz vor dem Wind war, Bäume über Moos, Gras und Gestrüpp. In den von der Sonne beschienenen Löchern gab es über verfilzten Nadeln gebogenes Krummholz. In den schattigen Löchern war schmutziger Schnee und Firn. Der totale Ruin von so viel Land. Zerbrochenes Land, leer und doch nicht. Fels, Eis und morastige Wiesen, und alles umrahmt von verfallenen niedrigen Bodenwellen. In der Hitze des Nachmittags blähten sich jähe Wolken; und deren Schatten bildeten ein weiteres Fleckenmuster, eine verrückte schwarzrote und grünweiße Steppdecke. Auf Tempe Terra würde sich niemand über Gleichförmigkeit beklagen können. Das alles lag vollkommen still unter den rasch dahinziehenden Wolkenschatten. Und trotzdem war da eines Abends in der Dämmerung eine weiße Masse, die hinter einen Felsblock schlüpfte. Anns Herz klopfte, aber es war nichts weiter zu sehen.

Aber sie hatte etwas gesehen; denn kurz bevor die volle Dunkelheit das Land bedeckte, klopfte etwas an die Tür. Ihr Herz bebte wie der Rover auf seinen Stoßdämpfern. Sie lief zu einem Fenster und schaute hinaus. Gestalten von der Farbe der Steine, winkende Hände. Menschliche Wesen.

Es war eine kleine Gruppe Roter Guerilleros. Sie hatten ihren Rover auf Grund der im Tempe-Stützpunkt gegebenen Beschreibung erkannt, sagten sie, nachdem Ann sie hereingelassen hatte. Sie hatten gehofft, sie zu finden, und waren hoch erfreut darüber. Sie lachten, schwatzten und gingen in der Kabine umher, kamen zu ihr, um sie zu berühren. Junge hochgewachsene Eingeborene mit Eckzähnen aus Stein und strahlenden jungen Augen. Manche waren Orientalen, manche weiß, manche schwarz. Alle glücklich. Sie erinnerte sich von Pavonis Mons an sie, nicht individuell, sondern als Gruppe. Die jungen Fanatiker. Wieder empfand sie ein Schaudern.

»Wohin geht ihr?« fragte sie.

Eine junge Frau antwortete: «Nach Botany Bay. Wir werden die Whitebook-Labors beseitigen.«

»Und Boone Station«, fügte ein anderer hinzu.

»O nein!« sagte Ann.

Sie verstummten und sahen einander vorsichtig an. Wie Kasei und Dao in Lastflow.

»Was meinst du?« fragte die junge Frau.

Ann holte Luft und versuchte, das zu erläutern. Sie beobachteten sie scharf.

»Seid ihr in Sheffield gewesen?« fragte sie.

Sie nickten. Sie wußten, was sie meinte.

»Dann solltet ihr wissen, daß es unmöglich ist, einen roten Mars ohne Blutvergießen auf dem ganzen Planeten zu schaffen«, sagte sie nachdrücklich. »Wir müssen einen anderen Weg finden. Wir können das nicht machen, indem wir Menschen töten. Nicht einmal, wenn wir nur Tiere oder, Pflanzen umbringen oder Maschinen in die Luft jagen. Das würde nicht funktionieren. Es ist destruktiv. Es spricht die Leute nicht an, versteht ihr? Damit gewinnt man niemanden. Sie sind abgestoßen davon. Je mehr gewaltvolle Aktionen wir ausführen, desto grüner werden sie. Damit schaden wir unserer Sache. Versteht ihr? Wir tun es nicht für irgend etwas Beliebiges, sondern für unsere eigenen Gefühle. Denn wir sind wütend. Oder weil es aufregend ist. Wir müssen einen anderen Weg finden.«

Sie starrten sie an — verständnislos, mißmutig, schockiert.

Ann fuhr fort: »Ich weiß nicht sicher, welches der andere Weg ist. Ich kann euch das nicht sagen. Ich denke... wir müssen versuchen weiterzumachen. Es muß so etwas wie eine rote Areophanie werden. Die Areophanie wurde immer als eine Sache der Grünen verstanden, von Anfang an. Ich nehme an, wegen Hiroko, weil sie an der Definition maßgeblich beteiligt war. Und sie ins Leben gerufen hat. Damit war Areophanie immer mit Viriditas vermischt. Aber es gibt keinen Grund, warum das so sein muß. Wir müssen das ändern, sonst bringen wie nie etwas zustande. Es muß eine Art Ehrfurcht vor dieser roten Welt entstehen, damit die Menschen lernen, es zu fühlen. Das Rot des jungfräulichen Planeten muß eine Gegenkraft für die Viriditas werden. Wir müssen dieses Grün beschmieren, bis es eine andere Farbe annimmt. Eine Farbe, wie ihr sie in gewissen Steinen seht, in Jaspis oder Serpentin. Ihr wißt, was ich meine. Es bedeutet, daß man vielleicht Leute hinaus und ins Hochland schafft, damit sie sehen können, um was es überhaupt geht. Es bedeutet, daß man sich überallhin bewegen kann und Besitz- und Betreuungsrechte einführt, damit wir für dieses Land sprechen können. Und sie werden zuhören müssen. Rechte für Wanderer, Areologen und Nomaden. Das könnte Areoformierung bedeuten. Versteht ihr?«

Sie hielt inne. Die jungen Eingeborenen waren noch aufmerksam. Sie sahen jetzt besorgt um sie aus oder besorgt wegen dem, was sie gesagt hatte.

Ein junger Mann sagte: »Wir haben diese Diskussion schon oft geführt. Und es gibt Leute, die machen das so. Manchmal tun auch wir es. Aber wir halten den aktiven Widerstand für einen notwendigen Teil des Kampfes. Wir werden sonst einfach plattgewalzt. Die werden alles grün machen.«

»Nicht, wenn es uns gelingt, die Grüne Sache zu diskreditieren. Direkt von innen her und auch von ihren Herzen aus. Aber Sabotage und Mord — aus all dem entspringt Grün. Glaubt mir, ich habe das gesehen. Ich kämpfe schon so lange wie ihr und habe es erlebt. Wenn ihr versucht, das Leben zu schädigen, kommt es nur stärker zurück.«

Der junge Mann war nicht überzeugt. »Sie haben uns das Sechs-Kilometer-Limit gegeben, weil sie Angst vor uns hatten, da wir die treibende Kraft hinter der Revolution waren. Hätten wir nicht gekämpft, so würden die Metanats hier immer noch alles beherrschen.«

»Das war ein anderer Gegner. Als wir gegen die Terraner gekämpft haben, waren die Grünen des Mars beeindruckt. Wenn wir aber gegen die Grünen des Mars kämpfen, sind sie nicht beeindruckt, sondern wütend. Und die Grünen gewinnen mehr Macht denn je.«

Die Gruppe saß schweigend da, in Gedanken versunken, vielleicht entmutigt.

»Aber was sollen wir tun?« fragte eine grauhaarige Frau.

»Geht zu einem Land, das gefährdet ist«, schlug Ann vor. Sie zeigte aus dem Fenster. »Gerade hier wäre nicht schlecht. Oder irgendwo nahe der Sechskilometergrenze. Siedelt euch an, gründet eine Stadt, macht sie zu einer erstklassigen Zufluchtsstätte und zu einem schönen Ort! Wir werden wieder vom Hochland herunterkriechen.«

Sie erwogen das in trüber Stimmung.

»Oder geht in die Städte und bildet eine Gruppe, die Tours anbietet, und einen legalen Fonds! Zeigt den Leuten das Land! Setzt jede Änderung durch, die sie vorschlagen!«

»Mist!« sagte der junge Mann kopfschüttelnd. »Das klingt fürchterlich.«

»Allerdings«, sagte Ann. »Es gibt viel zu tun, das nicht angenehm ist. Aber wir müssen auch diese Leute von innen her anpacken. Und das funktioniert nur dort, wo sie leben.«

Lange Gesichter. Sie saßen herum und diskutierten weiter. Über ihre jetzige Lebensweise und wie sie zu leben wünschten. Was sie tun könnten, um von dem einen zum anderen überzugehen. Die Unmöglichkeit des Guerillalebens nach dem Ende des Krieges. Und so weiter. Es gab viele tiefe Seufzer, einige Tränen, Beschuldigungen und Ermutigungen.

»Kommt morgen mit mir«, schlug Ann vor, »und werft einen direkten Blick auf dieses Eismeer!«

Am nächsten Tag fuhr die Guerillagruppe mit ihr auf dem sechzigsten Längengrad nach Süden, einen schwierigen Kilometer nach dem anderen. Die Araber nannten dieses leere Land Khala. Auf der einen Seite war es schön. Eine vorzeitliche Einöde von Steingebilden, die ihre Herzen erfüllte. Dennoch waren die Guerilleros still und bedrückt, wie auf einer Pilgerreise mit Ungewissem Begräbnischarakter. Sie kamen zu dem großen Canyon namens Nilokeras Scopulus und fuhren über eine breite natürliche Rampe hinein. Im Osten lag Chryse Planitia, eisbedeckt, ein weiterer Arm des Nordmeeres. Dem waren sie nicht entkommen. Vor ihnen im Süden lagen die Nilokeras Fossae, das Ende eines Canyonkomplexes, der im Süden, in der enormen Senke von Hebes Plasma, seinen Ursprung hatte. Hebes Plasma hatte keinen Ausgang, aber man nahm an, daß der Canyon durch den Ausbruch des Wasserreservoirs auf der Höhe von Echus Chasma entstanden war. Eine sehr große Wassermenge war von Echus gegen die harte Westseite von Lunae Planum heruntergebrochen und hatte die hohe steile Klippe bei Echus Overlook unterhöhlt. Dann war die riesige Klippe in den Canyon gestürzt; und das Wasser war hinab- und hindurchgerauscht und hatte dabei die große Biegung von Kasei Vallis zerrissen und einen tiefen Kanal zu den Tiefländern von Chryse gegraben. Das war einer der größten Wasserreservoirausbrüche in der Geschichte des Mars gewesen.

Jetzt war das nördliche Meer nach Chryse zurückgeströmt; und es ergoß sich wieder Wasser in das untere Ende von Nilokeras und Kasei. Der Berg mit dem flachen Gipfel, der Sharanow-Krater, stand wie ein gigantisches Schloß auf dem hohen Vorgebirge über der Mündung dieses neuen Fjords. Draußen, mitten im Fjordwasser, lag eine lange, schmale Insel, eine der geschweiften Inseln der alten Flut, die jetzt wieder zur Insel geworden hartnäckig rot in dem Meer aus weißem Eis lag. Dieser Fjord würde schließlich einen noch besseren Hafen abgeben als die Botany Bay. Er hatte steile Wände, aber hier und da gab es Terrassen, die zu Hafenstädten werden könnten. Man würde sich natürlich wegen des Westwindes, der von Kasei wie durch einen Trichter hereinströmte, genau wie über katabatische Angriffe, die die Schiffe im Chryse-Golf draußen festhielten, Gedanken machen müssen...

Sehr merkwürdig. Ann brachte die Gruppe schweigender Roter zu einer Rampe, und leitete sie hinunter auf eine breite Bank westlich des Eisfjords. Inzwischen war es Abend; sie verließen die Rover, und sie führte sie zu einem Spaziergang bei Sonnenuntergang hinaus ins Freie.

Genau im Moment des Sonnenuntergangs standen sie in einem dichten mürrischen Haufen vor einem einzelnen Eisblock von etwa vier Metern Höhe. Dessen geschmolzene Einbuchtungen waren so glatt wie Muskeln. Sie standen so, daß die Sonne hinter dem Eisblock stand und durch ihn hindurchschien. Zu beiden Seiten des Blocks wurde das Licht von dem glasigen feuchten Sand zurückgeworfen. Eine Mahnung aus Licht. Unbestreitbar und blendend real. Was sollten sie damit machen? Sie standen unbewegt und schauten schweigend hin.

Als die Sonne über dem schwarzen Horizont verschwand, entfernte sich Ann von der Gruppe und ging allein zu ihrem Rover hinüber. Sie schaute zurück auf den Abhang. Die Roten waren noch bei dem Eisberg am Strand. Er wirkte zwischen ihnen wie ein weißer Gott, orange getönt wie das runzlige Eisfeld der Bucht. Weißer Gott, Bär, Bucht, ein Dolmen aus Mars-Eis. Der Ozean würde für immer mit ihnen sein, so real wie dieser Fels.

Am nächsten Tage fuhr sie Kasei Vallis nach Westen empor, auf Echus Chasma zu. Sie fuhr immer weiter aufwärts, ließ eine breite Bank nach der anderen hinter sich und kam leicht voran bis zu dem Punkt, wo Kasei nach links und auf den Boden von Echus abbog. Diese Biegung war eines der größten von Wasser ausgetieften Gebilde auf dem Planeten. Jetzt entdeckte Ann, daß der flache Boden des Arroyos von Zwergbäumen bedeckt war, so klein, daß sie wie Gestrüpp wirkten. Schwarze Rinde, dornig, die dunkelgrünen Blätter so glänzend und messerscharf wie die von Stechpalmen. Moos bedeckte den Boden unter diesen schwarzen Bäumen, sonst aber fast nichts. Es war ein monokultureller Wald, der Kasei Vallis von Wand zu Wand der Canyons bedeckte und die große Biegung ausfüllte wie ein übergroßer Schmutzfleck.

Notwendigerweise fuhr Ann direkt durch die niedrigen Bäume, und der Rover kippte hin und her, wenn die Zweige, zäh wie Bärentrauben, unter den Rädern nachgaben und dann wieder zurückwippten, wenn sie freigelassen wurden. Es war unmöglich geworden, diesen Canyon zu Fuß zu begehen, dachte Ann, diesen Canyon mit den tiefen Wänden, so rund und eng wie eine Art von Phantasie Utah; zumindest war er das gewesen, jetzt wirkte er eher wie der schwarze Wald im Märchen, unentrinnbar, voll fliegender schwarzer Wesen und mit einer weißen Gestalt, die gesehen wurde, wie sie im Dunkel durch die Gegend rannte. Es gab keine Spur mehr von dem UNTA-Sicherheitskomplex, der früher die Biegung des Tales besetzt gehalten hatte. Ein Fluch über dein Haus bis in die siebte Generation und auch ein Fluch für das unschuldige Land. Sax war hier gefoltert worden und hatte damals Feuer in den Boden gesät und die Stelle verbrannt; dadurch war ein Dornenwald gewachsen und sie bedeckt. Und sie bezeichneten Wissenschaftler als rationale Kreaturen! Ein Fluch auch auf ihr Haus, dachte Ann mit zusammengebissenen Zähnen. Bis in die siebte Generation und noch sieben danach!

Sie zischte zwischen den Zähnen und fuhr weiter, Echus hinauf, zu dem steilen Vulkankegel von Tharsis Solis. Dort war eine Stadt. An die Seite des Vulkans geklebt, wo der Abhang flacher wurde. Der Bär hatte ihr gesagt, daß Peter dorthin wollte, und darum mied sie sie. Peter, das Land überschwemmt; Sax, das Land verbrannt. Einst hatte er ihr gehört. Auf diesen Felsen will ich bauen. Peter Tempe Terra — der Fels im Land der Zeit. Der neue Mensen, der homo martialis. Der sie verraten hatte. Denk dran!

Sie fuhr weiter nach Süden, den Hang des Tharsis- Buckels hinauf, bis der Kegel von Ascraeus in Sicht kam. Ein Gebirgskontinent, der den Horizont markierte. Pavonis war wegen seiner äquatorialen Lage und des kleinen Vorteils, den ihm das Aufzugskabel gab, überschwemmt und zu groß geworden. Aber Ascraeus, nur fünfhundert Kilometer nordöstlich von Pavonis, war in Ruhe gelassen worden. Niemand wohnte dort. Nur ab und zu ein paar Areologen, um seine Lava und pyroklastischen Aschenflüsse zu studieren, die beide das Rot fast schwarz färbten.

Sie fuhr auf die niedrigeren Hänge zu, die sanft gewunden in der Sonne lagen. Ascraeus war wegen der Albedo einer der klassischen Namen gewesen, da er so groß war, daß man ihn leicht von der Erde aus sehen konnte. Ascraeus Lacus. Das war während der Kanalmanie gewesen, und darum hatten man ihn für einen See gehalten. Pavonis hatte man Phoenicus Lacus, Phönix-See, genannt. Ascra war, wie sie gelesen hatte, die Geburtsstätte von Hesiod gewesen, »gelegen rechts von Mount Helicon auf einer hohen und rauhen Stelle«. Obwohl man ihn also für einen See gehalten hatte, wurde er nach einem Berg benannt. Vielleicht hatten sie im Unterbewußtsein die teleskopischen Bilder letztlich doch richtig verstanden. Ascraeus war im allgemeinen ein poetischer Name für das Hirtengedicht. Helicon war der Berg in Böotien, der dem Apollo und seinen Musen gewidmet war. Hesiod hatte einstmals von seinem Pflug aufgeschaut und das Gefühl gehabt, eine Geschichte erzählen zu müssen. Seltsam ist die Geburt von Mythen, seltsam sind die alten Namen, die lange gelebt hatten und vergessen wurden, während man die alten Geschichten immer wieder erzählte.

Er war der steilste der vier großen Vulkane; aber es gab keine ihn umgebende Böschung wie bei Olympus Mons. Darum konnte Ann den Rover in einen kleinen Gang schalten und hochjagen, als ob sie in Zeitlupe in den Weltraum starten wollte. Sie lehnte sich zurück und machte ein Nickerchen. Den Kopf auf der Kopfstütze, entspannen. Aufwachen bei Ankunft in 27 Kilometern über Meereshöhe, der gleichen Höhe, die die anderen drei Großen hatten. Das war so hoch, wie ein Berg auf dem Mars im Grunde werden konnte. Es war die isostatische Grenze, an der die Lithosphäre unter dem Gewicht des aufgetürmten Gesteins abzusacken begann. Die vier Großen hatten das Maximum erschöpft. Sie hatten nicht höher werden können. Ein Zeichen ihrer Größe und ihres hohen Alters.

Sehr alt, gewiß, aber gleichzeitig war die Oberflächenlava von Ascraeus eine der jüngsten vulkanischen Gesteinsanhäufungen auf dem Mars und durch Wind und Sonne nur leicht verwittert. Bei ihrer Abkühlung waren die Lavamassen langsamer heruntergeglitten und hatten flache krumme Buckel gebildet, an denen sie hochstiegen oder vorbeiflossen. Eine alte Piste von Roverspuren zog sich im Zickzack den Hang hinauf und vermied die steilen Abschnitte am Boden dieser Flüsse, und nutzte statt dessen ein großes Netz von Rampen und Rückstaustellen. Überall, wo ständig Schatten herrschte, hatten sich anfängliche Nebelschwaden zu Bänken aus schmutzigem dichtgepacktem Schnee abgesetzt. Die Schatten zeigten jetzt ein zartes geschwärztes Weiß, als ob sie durch ein fotografisches Negativ führe. Ihre Stimmung sank unerklärbar, während sie immer höher hinaufkam. Hinter sich konnte sie immer mehr von der konischen Nordflanke des Vulkans erkennen und dahinter im Norden Tharsis bis hin zum Echus-Wall, einer niedrigen Linie in mehr als hundert Kilometern Entfernung. Vieles von dem, was sie sehen konnte, war fleckig durch Schneedriften, Windtafeln und Firn. Weiß gesprenkelt. Die schattigen Seiten von Vulkankegeln waren oft schwer vereist.


Dort auf einer Steinfläche hell smaragdenes Moos. Alles wurde grün.


Aber als sie Tag für Tag weiter und schließlich über alle Vorstellung aufstieg, wurden die Schneeflecken dünner und seltener. Schließlich befand sie sich zwanzig Kilometer über der Bezugshöhe — über Meeresniveau — fast siebzigtausend Fuß über dem Eis! Mehr als doppelt so hoch wie der Everest über den Ozeanen der Erde. Und immer noch ragte der Kegel des Vulkans über ihr auf, noch volle siebentausend Meter mehr! Direkt hinauf in den dunkler werdenden Himmel, direkt in den Weltraum.

Weit unten breitete sich eine glatte flache Wolkenschicht aus und verdeckte Tharsis. Als ob die weiße See sie hier den Hang hinaufjagen würde. Bis zu dieser Höhe gab es keine Wolken, wenigstens an diesem Tag. Manchmal türmten sich Gewitterköpfe neben dem Berg auf, und an anderen Tagen konnte man über sich Cirruswolken sehen, die den Himmel mit einem Dutzend schmaler Sichern zerteilten. Heute war der Himmel ein klares purpurnes mit Schwarz durchsetztes Indigo und gespickt mit einigen Tageslichtsternen im Zenit. Orion stand schwach und allein da. Fern östlich vom Vulkangipfel zog eine dünne Wolkenschicht dahin, ein Gipfelbanner, so schwach, daß man durch sie hindurch den schwarzen Himmel sehen konnte. Es gab hier oben weder viel Feuchtigkeit noch eine brauchbar dichte Atmosphäre. Es würde immer eine zehnfache Differenz zwischen dem Luftdruck auf Meereshöhe und hier oben auf den großen Vulkanen bestehen. Der Druck hier oben mußte deshalb bei 35 Millibar liegen, nur ganz wenig mehr, als er bei ihrer Ankunft gewesen war.

Nichtsdestoweniger erspähte sie winzige Flechtenflecken in kleinen Vertiefungen auf der Oberseite der Steine und in Höhlungen, die etwas Schnee eingefangen und dann viel Sonne abbekommen hatten. Sie waren fast zu klein, um entdeckt zu werden. Flechten sind ein symbiotisches Team von Algen und Pilzen, die gemeinsam um ihr Überleben kämpfen, selbst bei dreißig Millibar. Es war kaum zu glauben, was das Leben ertragen konnte. Wieder einmal seltsam.

Tatsächlich erschien es ihr so eigenartig, daß sie den Schutzanzug anlegte und hinausging, um sie sich anzusehen. Hier oben mußte man all die alten Vorsichtsmaßnahmen beachten: Den Anzug sichern, die Türen verschließen. Dann hinaus in den hellen Glanz eines niedrigen Raums.

Die Felsen, die die Flechten beherbergten, waren jene Art flacher Veranden, auf denen Murmeltiere Sonnenbäder genommen hätten, wenn sie so hoch oben hätten leben können. Statt dessen nur kleine gelbgrüne oder schlachtschiffgraue Stecknadelköpfe. Flockenflechten, sagte der Führer am Armband. Stücke davon in Stürmen abgerissen, hier hochgeschleudert, auf Steine gefallen und wie kleine pflanzliche Napfschnecken festgeklebt. Etwas, das nur Hiroko erklären konnte.

Lebewesen. Michel hatte gesagt, daß sie Steine liebte und nicht Menschen, weil sie mißhandelt und ihr Geist geschädigt worden war. Der Hippocampus war wesentlich kleiner, starke Schreckreaktion, Tendenz zur Dissoziation. Und so hatte sie einen Mann gefunden, der ebenso einem Stein glich, wie sie einer sein konnte. Auch Michel hatte diese Eigenschaft bei Simon geschätzt, wie er ihr sagte. Es war in den Jahren von Underhill eine große Erleichterung gewesen, einen solchen Mann zu haben, ruhig und solide, dem man Vertrauen schenken konnte und dessen Händedruck Erleichterung bewirkte.

Aber Simon war nicht der einzige auf der Welt von dieser Art, wie Michel erklärt hatte. Diese Qualität schlummerte auch in den anderen, gemischt und weniger rein, aber immerhin vorhanden. Warum konnte sie diese Eigenschaft hartnäckiger Ausdauer nicht auch bei anderen Leuten lieben, in jedem Lebewesen? Alle versuchten sie nur zu existieren, wie jeder Fels oder Planet. In ihnen allen war diese mineralische Beharrlichkeit.

Der Wind fuhr beißend an ihrem Helm vorbei und über die Lavabrocken. Er brummte in ihrem Luftschlauch und übertönte das Atemgeräusch. Der Himmel war hier eher schwarz als Indigo, abgesehen von dem Bereich tief am Horizont, wo er ein dunstiges Purpurviolett zeigte und darüber ein klares hellblaues Band... Oh, wer konnte glauben, daß sich das jemals ändern würde, hier auf dem Hang von Ascraeus Mons! Warum hatten sie sich nicht hier oben niedergelassen, um sich daran zu erinnern, wohin sie gekommen waren und was ihnen vom Mars gegeben wurde, das sie dann so verschwenderisch weggeworfen hatten! Zurück zum Rover. Sie fuhr weiter nach oben.


Sie befand sich über den Cirruswolken, geflau westlich von dem durchscheinenden Gipfelbanner des Vulkans. Im Lee des Strahlstroms. Sich in die Höhe zu begeben war wie eine Reise in die Vergangenheit, oberhalb aller Flechten und Bakterien. Obwohl sie keinen Zweifel hatte, daß es sie hier gab und sie sich in den ersten Schichten des Gesteins verbargen. Ein chasmoendolithisches Leben wie das Kleine Rote Volk, die mikroskopischen Götter, die zu John Boone gesprochen hatten, ihrem lokalen Hesiod. So erzählten es sich die Leute.

Leben überall. Die Welt wurde grün. Aber wenn man das Grün nicht sehen konnte, machte das für das Land keinen Unterschied. Sicher begrüßte es das Vorhaben?

Lebende Kreaturen. Michel hatte zu ihr gesagt: Du liebst Steine wegen der mineralischen Qualität, die das Leben hat! Es läuft alles auf Leben hinaus. Simon Petrus, auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen. Warum sollte sie nicht die Eigenschaft von Stein in allen Dingen lieben?

Der Rover rollte die letzten konzentrischen Lavaterrassen hinauf und arbeitete jetzt weniger angestrengt, als er über die asymptotische Abflachung des breiten runden Randes kurvte. Nur noch leicht bergauf und mit jedem Meter weniger. Und dann auf den Rand selbst. Danach zur Innenkante des Vulkans.Blick auf die Caldera. Sie stieg aus dem Wagen. Ihre Gedanken flatterten umher wie Skuas.

Der zusammenhängende Caldera-Komplex von Ascraeus bestand aus sechs sich überlappenden Kratern, wobei die jüngeren an den Peripherien der älteren eingestürzt waren. Die größte und jüngste Caldera lag nahe dem Zentrum des Komplexes; und die älteren Calderas, deren Boden höher lag, umgaben ihren Umkreis wie die Blütenblätter eines Blumenarrangements. Jeder Calderaboden war auf etwas unterschiedlicher Höhenlage und wurde durch ein Muster kreisförmiger Brüche markiert. Wenn man um den Rand ging, änderte sich die Perspektive, so daß sich die Distanzen verschoben. Und die Höhen der Böden schienen wie in einem Traum zu wechseln. Alles in allem ein schöner Anblick, den man erlebte. In achtzig Kilometern Durchmesser.

Es war eine Lektion über die Mechanik von Vulkanschlunden. Eruptionen tief in den äußeren Flanken des Vulkans hatten das Magma aus dem aktiven Schlund der Caldera abgezogen, und so hatte sich der Calderaboden gesenkt. Daher kamen all die kreisförmigen Bildungen, als der aktive Schlund im Laufe der Äonen die Runde machte. Bogenförmige Klippen. Wenige Orte auf dem Mars boten so vertikale Hänge. Sie verliefen fast genau senkrecht. Ringwelten aus Basalt. Es hätte das Mekka der Bergsteiger und Kletterer sein können, war es aber ihres Wissens nicht. Eines Tages würden sie schon kommen.

Die Komplexität von Ascraeus war so völlig anders als die einzige große Vertiefung von Pavonis. Warum war die Caldera von Pavonis jedesmal auf der gleichen Peripherie zusammengebrochen? Könnte es sein, daß ihr letzter Niedergang alle anderen Ringe ausradiert und getilgt hatte? War die Magmakammer kleiner gewesen, oder hatte sie weniger Seitenausgänge gehabt? War der Schlund von Ascraeus mehr gewandert? Ann hob an der Kante des Randes lockere Steine auf und sah sie sich an. Lavabomben, späte Meteorauswürfe, Windprodukte in den unablässigen Stürmen... Das waren alles Fragen, die noch untersucht werden mußten. Nichts, was die Menschen taten, würde jemals die Vulkanologie hier oben stören. Es würde nicht reichen, um die Studie zu behindern. Tatsächlich hatte das Journal ofAreological Studies viele Artikel über diese Themen veröffentlicht, wie sie gelegentlich gesehen hatte. Es war so, wie Michel es ihr erklärt hatte. Die hohen Orte würden immer gleich aussehen. Das Erklettern der großen Hänge würde wie eine Reise in die Vergangenheit vor der Ankunft des Menschen sein, in reine Areologie, vielleicht in die Areophanie selbst, Hiroko oder nicht. Mit den Flechten oder ohne sie. Man hatte davon gesprochen, über diesen Calderas eine Kuppel zu errichten, um sie völlig steril zu halten. Aber das würde sie nur zu Zoos machen, zu Wildparks und Gärten mit Mauern und Dächern. Leere Gewächshäuser. Nein! Sie richtete sich auf, schaute über die weite runde Landschaft, die sich gleichsam aufgerichtet dem Raum darbot. Jenem chasmoendolithischen Leben, das dort vielleicht kämpfte, winkte sie mit der Hand. Leben. Sie sprach das Wort aus, und es klang seltsam: »Leben.«

Mars in alle Ewigkeit, steinig im Sonnenlicht. Aber dann erhaschte sie im Augenwinkel den weißen Bären, der hinter einem schroffen Felsblock verschwand. Sie sprang drauf zu, aber da war nichts. Sie ging zum Rover zurück, fühlte, daß sie seinen Schutz brauchte. Sie kletterte hinein. Aber dann schienen den ganzen Nachmittag auf dem Computerschirm ihres Rovers die vagen bebrillten Augen nach ihr Ausschau zu halten, bereit, sie jeden Augenblick anzurufen. Ein freundlicher Bär von einem Mann, obwohl er sie fressen würde, wenn er sie erwischen könnte. Wenn er sie fangen könnte: Aber keiner von denen konnte sie fangen. Sie könnte sich für immer in diesen hohen Felsfestungen verstecken. Sie war frei und würde frei sein zum Sein oder Nichtsein, falls sie sich dafür entschied, so lange, wie der Fels hielt. Aber dann wieder, genau an der Schleusentür, dieses weiße Aufblitzen in ihrem Augenwinkel. Ah, so hart!

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