Ein alter Mann sitzt am Krankenbett. Die Krankenhauszimmer sind alle gleich. Sauber, weiß, kühl, summend und fluoreszierend. Auf dem Bett liegt ein Mann — groß, dunkelhäutig und mit dicken schwarzen Augenbrauen. Er schläft fest. Am Kopf hat er einen Buckel. Ein Finger berührt den Schädel hinter dem Ohr. Während des Atmens murmelt der Alte. »Wenn es eine allergische Reaktion ist, dann muß sein Immunsystem überzeugt werden, daß das Allergen kein eigentliches Problem bedeutet. Sie haben kein Allergen identifiziert. Ein Lungen-Ödem ist normalerweise durch die Höhenkrankheit bedingt, könnte aber auch durch ein Gasgemisch verursacht worden sein, oder es kam zu einer Krankheit durch zu geringe Höhe. Du mußtest das Wasser aus deinen Lungen entfernen. Sie sind damit recht gut fertig geworden. Für das Fieber und die Kälteschauer könnte auch das Biofeedback verantwortlich sein. Wirklich hohes Fieber ist gefährlich, das mußt du bedenken. Ich erinnere mich an die Zeit, als du in die Bäder kamst, nachdem du in den See gefallen warst. Du warst blau angelaufen. Jackie sprang gleich hinein — nein, vielleicht blieb sie stehen, um zuzusehen. Du hieltest mich und Hiroko an den Armen; und wir alle sahen, wie du wärmer wurdest. Wärmeerzeugung ohne Zittern; mit Zittern macht das jeder Mensch, aber du hast es willentlich gemacht, und noch dazu sehr kräftig. Ich hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Ich weiß immer noch nicht, wie du das gemacht hast. Du warst ein prächtiger Junge. Es gibt Menschen, die erschauern können, wenn sie wollen. Vielleicht ist das so ähnlich, nur innerlich. Das macht wirklich nichts aus. Du brauchst nicht einmal zu wissen, wie, sondern mußt es nur tun. Ob du es auch in der anderen Richtung machen kannst? Deine Temperatur senken? Mach einen Versuch! Du warst so ein prächtiger Junge.«
Der alte Mann langt hin und packt den jungen Mann am Handgelenk. Er hält es fest und drückt.
»Du pflegtest Fragen zu stellen. Du warst sehr wißbegierig und sehr nett. Du hast nicht aufgehört zu fragen: Warum, Sax, warum? Es hat Spaß gemacht, dir jedesmal zu antworten. Die Welt ist wie ein Baum. Von jedem Blatt kann man bis zu den Wurzeln zurückgehen. Ich bin sicher, daß Hiroko so empfunden hat. Sie hat mir das wahrscheinlich als erste erzählt. Höre, es war nicht schlecht, auf die Suche nach Hiroko zu gehen. Auch ich habe das getan. Und werde es wieder tun. Ich habe sie nämlich einmal gesehen, auf Daedalia. Sie half mir, als ich in einem Sturm fast verreckt bin. Sie hielt mein Handgelenk. Genau so wie ich es jetzt bei dir tue. Nirgal, sie lebt. Hiroko ist am Leben und irgendwo hier draußen. Du wirst sie eines Tages finden. Laß deinen inneren Thermostaten arbeiten, senke die Temperatur; und eines Tages wirst du sie finden...«
Der alte Mann läßt das Handgelenk los. Er kippt nach vorn, im Halbschlaf noch murmelnd. »Du hast immer gefragt: Warum, Sax warum?«
Wenn der Mistral nicht geweht hätte, hätte er weinen können; denn absolut nichts sah noch wie früher aus. Er kam von Marseille in einen Bahnhof, der bei seiner Abreise nicht existiert hatte, nahe einer kleinen Stadt, die es damals nicht gegeben hatte, und die komplett in einer Gaudischen Zwiebelarchitektur gebaut war, die auch gewisse Rundungen nach Bogdanov zeigte. Darum wurde Michel an Christianopolis oder Hiranyagarbha nach deren Verschmelzung erinnert. Nein, nichts sah auch nur im geringsten vertraut aus. Das Land war eigenartig plattgewalzt, grün und seines Gesteins und jenes je ne sais quoi entblößt, das es zur Provence gemacht hatte. Er war seit 102 Jahren nicht mehr hier gewesen.
Über diese ganze ungewohnte Landschaft blies der Mistral vom Zentralmassiv herunter — kühl, trocken, aromatisch und elektrisch, durchsetzt von negativen Ionen, oder was es sonst auch war, das ihm seine charakteristische katabatische Frische verlieh. Der Mistral! Ganz gleich, wie es hier aussah, es mußte die Provence sein.
Einheimische von Praxis sprachen französisch mit ihm, aber er konnte sie kaum verstehen. Er mußte scharf hinhören und hoffte, daß seine heimatliche Zunge wiederkommen würde und daß die Franglaisation und Frarabisation, die er hörte, die Verhältnisse nicht allzu sehr verändert haben würden. Es war ihm peinlich, in seiner Muttersprache unsicher zu sein. Es war auch schockierend, daß die Academie Francaise nicht ihre Pflicht erfüllt und die Sprache im siebzehnten Jahrhundert eingefroren hatte, wie man es von ihr erwartet hatte. Eine junge Frau, die das Hilfspersonal von Praxis leitete, deutete an, daß sie eine Rundfahrt machen und die Region besichtigen könnten, zur neuen Küste hinuntergehen und sich alles ansehen.
»Fein!« sagte Michel.
Er verstand die Leute schon besser. Vielleicht lag es nur an den Akzenten der Provence. Er folgte ihnen bei einem Rundgang durch die konzentrischen Kreise der Gebäude und dann hinaus zu einem ganz gewöhnlichen Parkplatz. Die junge Frau half ihm auf den Beifahrersitz eines kleinen Wagens und setzte sich dann an der anderen Seite hinter das Lenkrad. Ihr Name war Sylvie. Sie war klein, attraktiv, schick und roch angenehm, so daß ihr seltsames Französisch Michel ständig überraschte. Sie startete und fuhr aus dem Flughafen hinaus. Und dann fuhren sie geräuschvoll auf einer schwarzen Straße durch die flache Landschaft, die von Gras und Bäumen begrünt war. Nein, in der Entfernung gab es einige Berge — so klein! Und der Horizont war so weit entfernt!
Sylvie fuhr zur nächsten Küste. Von einer Kehre auf einem Hügel konnten sie weit über das Mittelmeer blicken, das an diesem Tag braun und grau gefleckt war und in der Sonne schimmerte.
Nach einigen Minuten stiller Betrachtung fuhr Sylvie weiter, wieder quer durch flaches Binnenland. Dann wurden sie an einem Deich angehalten und blickten über die Camargue, wie sie sagte. Michel hätte sie nicht wiedererkannt. Das Rhonedelta war ein breiter dreieckiger Fächer von vielen tausend Hektar gewesen, gefüllt mit salzigen Marschen und Gras. Jetzt war es wieder ein Teil des Mittelmeeres. Das Wasser war braun und mit Gebäuden getupft; aber es war trotzdem Wasser, in dessen Mitte der Rhonestrom eine bläuliche Linie bildete. Arles war, wie Sylvie sagte, wieder ein funktionierender Seehafen. Dennoch pflegten sie immer noch den Kanal. Sylvie sagte stolz, daß alles im Delta von Martiques im Osten bis Aigue-Mortes im Westen von Wasser bedeckt war. Aigues- Mortes war jetzt wirklich tot, seine industriellen Gebäude abgesoffen. Seine Hafeneinrichtungen waren laut Sylvie flott gemacht und nach Arles oder Marseille gebracht worden. Man arbeitete angestrengt, um sichere Navigationsrouten für die Schiffe zu markieren. Sowohl die Camargue wie weiter östlich die Plaine de la Crau waren mit allen möglichen Strukturen übersät, von denen viele noch aus dem Wasser ragten, aber nicht alle. Und das Wasser war durch Schlamm so getrübt, daß man nicht tiefblicken konnte. »Sehen Sie, hier ist der Bahnhof. Man kann die Getreidespeicher noch erkennen, aber nicht die Nebengebäude. Und da ist einer von den eingedeichten Kanälen. Die Deiche sind jetzt unsere Riffe. Sehen Sie die Linie aus grauem Wasser? Die Deiche brechen immer noch, wenn die Rhone sie überspült.«
»Ein Glück, daß die Gezeiten hier nicht so stark sind«, sagte Michel.
»Allerdings. Sonst wäre es für Schiffe zu gefährlich, Arles zu erreichen.«
Im Mittelmeer waren die Gezeiten vernachlässigbar; und Fischer wie Küstenfrachter entdeckten tagtäglich, was sicher unternommen werden konnte. Man versuchte, den Hauptkanal der Rhone durch die neue Lagune zu sichern, genau wie die Seitenkanäle, so daß die Boote bei der Rückfahrt stromaufwärts nicht gegen die Strömung der Rhone ankämpfen mußten. Sylvie wies auf Merkmale hin, deren Existenz Michel nicht nachvollziehen konnte, und erzählte ihm von plötzlichen Verlagerungen des Rhonekanals, von auf Grund gelaufenen Schiffen, losen Bojen, angekratzten Rümpfen, Rettungen bei Nacht, Ölverlusten, dem Verwechseln neuer Leuchttürme, falschen Leuchttürmen, die von Schmugglern für die Unvorsichtigen aufgestellt wurden und sogar regelrechter Piraterie auf hoher See. Das Leben an der neuen Rhonemündung schien aufregend zu sein.
Nach einer Weile fuhren sie in dem kleinen Wagen zurück, und Sylvie hielt nach Südosten, bis sie auf die Küste trafen, die richtige Küste, zwischen Marseille und Cassis. Dieser Teil der Mittelmeerküste bestand wie weiter östlich die Cöte d’Azur aus einer großen Reihe steiler Hügel, die jäh zur See hin abfielen. Die Hügel standen noch gut über dem Wasser; und auf den ersten Blick schien es Michel, daß sich dieser Küstenabschnitt viel weniger verändert hatte als die überflutete Camargue. Aber nach ein paar Minuten stiller Beobachtung änderte er seine Meinung. Die Camargue war immer ein Delta gewesen und war jetzt immer noch ein Delta. Da hatte sich nichts Wesentliches geändert. Hier aber hieß es: »Die Strände sind fort.«
»Ja.«
Das war nur zu erwarten gewesen. Aber die Strände hatten das Wesen dieser Küste ausgemacht, die Strände mit ihren langen lohfarbenen Sommern, die von nackten, die Sonne anbetenden menschlichen Lebewesen dicht besetzt gewesen waren, von Schwimmern und Segelbooten, und Karnevalfarben und langen, warmen, aufregenden Nächten. All das war verschwunden. »Sie werden nie wiederkommen.«
Sylvie nickte und sagte sachlich: »Es ist überall dasselbe.«
Michel blickte nach Osten. Die ganze Strecke bis zum fernen Horizont fielen die Hügel steil in das braune Meer ab. Es sah aus, als könnte er bis Cap Sicie schauen. Dahinter lagen all die einstigen großen Fejrienorte: Saint-Tropez, Cannes, Antibes, Nizza, sein altes Villefranche-sur-Mer und die modischen Strandbäder dazwischen, große und kleine, alle überflutet wie der Landstreifen unter ihnen. Die schlammig braune See planschte gegen einen Streifen aus blassem, zerbrochenem Gestein und toten gelben Bäumen. Die Strandwege tauchten in schmutzigweiße Gischt ein. Schmutzige Gischt, die bis in die Straßen verlassener Städte gespült wurde.
Die grünen Bäume oberhalb der neuen Wasserlinie schwankten über weißem Gestein. Michel hatte sich nicht erinnert, wie weiß der Fels war. Das Laub hing niedrig und war staubig. Entwaldung war in den vergangenen Jahren ein ernstes Problem geworden, erklärte Sylvie, als die Leute angefangen hatten, Bäume als Brennholz zu fällen, aber Michel hörte ihr kaum zu. Er starrte auf die ertrunkenen Strände und versuchte, sich an ihre sandige heiße erotische Schönheit zu erinnern. Und als er so in die schmutzige Brandung schaute, stellte er fest, daß er sich nicht sehr gut erinnern konnte, auch nicht an die von ihm dort verbrachten Tage. Diese vielen faulen Stunden waren jetzt verwischt, wie das Gesicht eines toten Freundes. Er konnte sich nicht erinnern.
Marseille hatte natürlich überlebt. Der einzige Teil der Küste, um den man sich keine Sorgen machen mußte, der häßlichste Teil, die City. Natürlich. Die Docks waren überschwemmt und auch deren unmittelbare Nachbarschaft. Aber das Land stieg dort rasch auf, und die höheren Gebiete hatten ihre mühsame, schmutzige Existenz erhalten. Große Schiffe ankerten noch im Hafen, lange Schwimmdocks fuhren zu ihnen hinaus, um ihre Fracht zu entladen, während die Matrosen die Stadt überschwemmten und in einer durch die Tradition geehrten Weise verrückt spielten. Sylvie sagte, daß es in Marseille war, wo sie die meisten haarsträubenden Abenteuergeschichten gehört hatte; von der Rhonemündung und anderswo rund ums Mittelmeer, wo die alten Seekarten nichts mehr bedeuteten. Häuser der Toten zwischen Malta und Tunis, Angriffe von berberischen Korsaren... Sie sagte grinsend: »Marseille ist mehr es selbst, als es seit Jahrhunderten gewesen ist.« Und Michel bekam einen plötzlichen Eindruck von ihrem Nachtleben, wild und vielleicht etwas gefährlich. Sie liebte Marseille. Der Wagen rumpelte in eines der vielen Schlaglöcher; und es fühlte sich an wie sein Pulsschlag; als ob er und der Mistral durch das häßliche alte Marseille tobten, gefesselt von den Gedanken einer wilden jungen Frau.
Mehr es selbst, als es seit Jahrhunderten gewesen ist. Vielleicht traf das auf die ganze Küste zu. Es gab keine Touristen mehr. Nachdem die Strände dahin waren, hatte die ganze Tourismusidee einen Stich ins Herz bekommen. Die großen hellen Hotels und Apartmenthäuser standen jetzt halb versunken in der Brandung wie Kinderspielzeug, das bei Ebbe zurückgelassen worden war. Als sie aus Marseille hinausfuhren, stellte Michel fest, daß viele dieser Häuser in ihren oberen Stockwerken wieder besetzt worden zu sein schienen, von Fischern, wie Sylvie sagte. Ohne Zweifel hatten sie ihre Boote in den unteren Räumen, wie die Pfahlbauleute im vorgeschichtlichen Europa. Das Alte kehrte wieder.
Michel schaute weiter ständig aus dem Fenster und versuchte, sich ein Bild von der neuen Provence zu machen. Er bemühte sich nach Kräften, mit dem Schock, den so viel Veränderung hervorrufen mußte, fertig zu werden. Gewiß war das alles sehr interessant, selbst wenn es nicht seinen Erinnerungen entsprach. Es würden schließlich neue Strände entstehen, versicherte er sich, wenn die Wellen an den Füßen von Meeresklippen nagten und die befrachteten Flüsse und Ströme Boden mit sich führten. Es könnte sogar sein, daß sie sich rasch wieder bildeten, obwohl es zuerst Schmutz oder Steine sein würden. Der braune Sand — nun, die Strömung könnte etwas von dem ertrunkenen Sand auf den neuen Strand befördern. Wer weiß? Aber sicher war das meiste davon endgültig dahin.
Sylvie brachte den Wagen zu einem anderen windigen Wendepunkt mit Blick aufs Meer. Das war bis zum Horizont hin braun. Der ablandige Wind bewirkte, daß sie die vom Strand fortlaufenden Wellen von hinten sahen, ein eigenartiger Effekt. Michel versuchte, sich an das alte, von der Sonne überwältigte Blau zu erinnern. Es hatte mancherlei Arten von mediterranem Blau gegeben. Die klare Reinheit der Adria, die Ägäis mit ihrem homerischen Anflug von Wein... jetzt alles braun. Braunes Meer, Klippen ohne Strände, die blassen Felshügel, wüstenartig, verlassen. Eine Ödnis. Nein, nichts war dasselbe, gar nichts.
Schließlich bemerkte Sylvie sein Schweigen. Sie fuhr ihn nach Westen zu einem kleinen Hotel mitten in Arles. Michel hatte nie in Arles gelebt oder viel zu tun gehabt; aber dicht bei seinem Hotel waren Praxisbüros, und er hatte keine feste Vorstellung, wo er bleiben sollte. Sie stiegen aus. Die Schwere machte sich sehr bemerkbar. Sylvie wartete unten, während er sein Gepäck hinauftrug. Und da war er nun, unsicher in einem kleinen Hotelzimmer stehend, die Reisetasche aufs Bett geworfen, den Körper angespannt von dem Verlangen, sein Land zu finden und wieder heimzukehren. Dies war es nicht.
Er ging hinunter und dann in die nächste Tür, wo Sylvie etwas anderes zu tun hatte.
Er sagte ihr: »Ich möchte mir einen ganz bestimmten Ort ansehen.«
»Was immer Sie wollen.«
»Es ist nahe Vallabrix. Nördlich von Uzes.«
Sie sagte, sie wüßte, wo das lag.
Es war später Nachmittag, als sie die Stelle erreichten. Eine Lichtung neben einer engen alten Straße dicht bei einem Olivenhain auf einem Abhang, über den der Mistral brauste. Michel bat Sylvie, beim Wagen zu bleiben, ging hinaus in den Wind und den zwischen den Bäumen liegenden Abhang hinauf; allein mit der Vergangenheit.
Sein alter Mas lag am nördlichen Ende des Haines am Rande eines Plateaus oberhalb einer Schlucht. Die Olivenbäume waren knorrig vor Alter. Der Hof selbst war eine Holzhütte, fast vergraben unter langen, verflochtenen, dornigen Brombeerranken, die an den Außenwänden wuchsen.
Beim Blick in die Ruine stellte Michel fest, daß er sich eben noch an das Innere erinnern konnte. Oder zumindest an Teile davon. In der Nähe der Tür waren eine Küche und ein Eßtisch gewesen und dann, nachdem man unter einem massiven Holzbalken durchgegangen war, ein Wohnzimmer mit Couches und einem niedrigen Kaffeetisch und hinten eine Tür zum Schlafzimmer. Er hatte hier zwei oder drei Jahre lang mit einer Frau namens Eve gewohnt. Er hatte seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr an diesen Ort gedacht. Er war der Meinung gewesen, daß ihm alles aus dem Kopf entschwunden war. Aber mit den Ruinen vor sich sprangen ihm Fragmente jener Zeit ins Auge. Eine blaue Lampe hatte in der Ecke gestanden, die jetzt mit brüchigem Putz gefüllt war. Ein Druck von van Gogh war an jene Wand genagelt gewesen, wo jetzt nur noch Holzscheite, Dachziegel und verwehtes Laub zu sehen waren. Der massive Dachbalken war verschwunden, ebenso seine Stützen in den Wänden. Jemand mußte sie herausgeschafft haben. Schwer zu glauben, daß sich einer diese Mühe gemacht haben sollte. Das hatte Hunderte von Kilos gewogen. Die Leute machten schon seltsame Dinge. Und ringsum Entwaldung. Es gab nur noch wenige Bäume, die einen so großen Balken abgeben könnten. Jahrhundertelang hatten Menschen auf diesem Land gewohnt.
Am Ende dürfte die Entwaldung kein Problem mehr darstellen. Während der Fahrt hatte Sylvie von dem schweren Winter der Flut gesprochen mit Regen und Wind. Dieser Mistral hatte einen Monat gedauert. Manche sagten, er würde nie enden. Bei dem Blick in das verfallene Haus tat es Michel nicht leid. Er brauchte den Wind, um sich zu orientieren. Es war eigenartig, wie das Gedächtnis funktionierte oder nicht. Er stieg auf die zerbrochene Wand des Mas hinauf und versuchte, sich an mehr von diesem Ort zu erinnern, an sein Leben hier mit Eve. Eine gewollte Erinnerung, eine Jagd nach der Vergangenheit... Statt dessen fielen ihm lebhaft Szenen von dem gemeinsamen Leben mit Maya in Odessa ein, mit Spencer unten im Saal. Wahrscheinlich hatten die zwei Leben genug Aspekte gemeinsam gehabt, um die Konfusion zu bewirken. Eve war heißblütig gewesen wie Maya; und der Rest war la vie quotidienne, das alltägliche Leben, gewesen, zu allen Zeiten und an allen Orten, besonders für ein spezifisches Individuum, das sich mit seinen Gewohnheiten einrichtete wie mit Möbeln, die man von einem Ort zum anderen mitnimmt. Vielleicht.
Die Innenwände dieses Hauses waren sauber in Beige verputzt gewesen und mit Drucken bepinnt. Jetzt waren die Stockflecken roh und verfärbt wie die Außenwände einer alten Kirche. Eve hatte in der Küche gewerkelt wie eine routinierte Tänzerin mit ihrem schönen Rücken und den langen, kräftigen Beinen. Wenn sie über die Schulter blickte, um ihn anzulachen, wogte ihr kastanienbraunes Haar bei jeder Drehung. O ja, er erinnerte sich an diesen sich wiederholenden Moment. Ein Bild ohne Kontext. Er war verliebt gewesen. Obwohl sie ihn wütend machte.
Schließlich hatte sie ihn wegen eines anderen verlassen, ach ja, eines Lehrers in Uzes. Welcher Schmerz! Er erinnerte sich daran; aber das hatte für ihn jetzt nichts mehr zu bedeuten. Er fühlte kein Quentchen mehr davon. Ein vergangenes Leben. Diese Ruinen konnten ihm kein Gefühl dafür vermitteln. Sie brachten kaum die Bilder zurück. Es war erschreckend, als ob Reinkarnation real wäre und er winzige Rückblicke auf ein Leben erlebte, das von ihm durch mehrere aufeinanderfolgende Tode getrennt war. Wie seltsam wäre es, wenn es eine solche Reinkarnation wäre, da man in unbekannten Sprachen redete wie Bridey Murphy und den Wirbel der Vergangenheit durch den Kopf brausen fühlte und frühere Existenzen erlebte... Na schön, es würde sicher ein genau solches Gefühl sein. Aber nichts von diesen vergangenen Gefühlen zu empfinden, nichts außer dem Eindruck, daß man kein Gefühl hatte...
Er verließ die Ruinen und ging zwischen den alten Ölbäumen zurück zum Wagen.
Es sah so aus, als würde der Hain noch von jemandem bearbeitet. Die Zweige über seinem Kopf waren alle bis zu einem gewissen Grad beschnitten, und der Boden unter seinen Füßen war glatt und von kurzem, trockenem, blassem Gras bedeckt, das zwischen Tausenden alter grauer Olivenkerne wuchs. Die Bäume standen in Reih und Glied, sahen aber doch so natürlich aus, als ob sie in dieser Distanz voneinander einfach so gewachsen wären. Der Wind blies mit seinem sanften Zischeln durch die Blätter. Wenn er mitten drin stand, wo er fast nur Olivenbäume und Himmel erblickte, fiel ihm wieder auf, wie die zwei Farben der Blätter im Wind abwechselnd aufblitzten. Grün, dann grau; grau, dann grün...
Er langte hoch, um einen Zweig herunterzuziehen und die Blätter genau anzusehen. Er entsann sich: Aus der Nähe betrachtet, waren die zwei Seiten eines Olivenblattes in ihrer Farbe nicht so verschieden. Ein mittleres Grün und blasses Khaki. Aber eine von ihnen bedeckte Hügelflanke, die vom Wind gepeitscht wurde, hatte diese zwei verschiedenen Farben, die bei Mondschein zu schwarz und silbern wurden. Wenn man sie gegen die Sonne betrachtete, kam es mehr auf die Struktur an, matt oder glänzend.
Er ging zu einem Baum und legte die Hände auf den Stamm. Er fühlte die Borke des Olivenbaums, rohe gebrochene Rechtecke von graugrüner Farbe, etwa wie die Unterseiten der Blätter, aber dunkler und oft von noch einem anderen Grün überdeckt, dem gelblichen Grün von Moos oder dem Schlachtschiffgrau von Flechten. Auf dem Mars gab es kaum Olivenbäume, jedenfalls noch keine vom Mittelmeer. Nein, er merkte, daß er auf der Erde war. Ungefähr zehn Jahre alt. Er trug dieses gewichtige Kind in seinem Innern. Einige Rindenecken blätterten ab. Die Spalten zwischen den Rechtecken waren nicht tief. Die wahre Farbe der Borke, frei von allen Flechten, schien ein blasses holzartiges Beige zu sein. Davon war so wenig zu sehen, daß man es kaum sagen konnte. Bäume, eingehüllt in Flechten. Das war Michel vorher nicht aufgefallen. Die Zweige über seinem Kopf waren glatter, die Risse nur fleischfarbene Linien; auch die Flechten glatter, wie grüner Staub auf den Ästen und Zweigen.
Die Wurzeln waren groß und kräftig. Die Stämme spreizten sich, wenn sie den Boden erreichten, in fingerartige Ausbuchtungen mit Löchern und Lücken dazwischen, wie knorrige, in den Boden gestoßene Fäuste. Kein Mistral würde jemals diese Bäume entwurzeln. Nicht einmal der Wind des Mars könnte einen umwerfen.
Der Boden war bedeckt mit alten Olivenkernen und verschrumpelten schwarzen Oliven auf dem Weg, auch zu Kernen zu werden. Er hob eine auf, deren schwarze Haut noch glatt war und riß mit Daumen und Fingernägeln die Haut weg. Der purpurne Saft befleckte seine Haut; und als er ihn aufleckte, schmeckte er keineswegs nach eingelegten Oliven. Sauer. Er biß in das Fleisch, das Pflaumenfleisch ähnelte; und dessen Geschmack, sauer und bitter, war nicht olivenartig, bis auf eine Andeutung im Nachgeschmack, der ihm durch den Kopf ging — wie Mayas de ja vu, als ob er das schon früher getan hätte. Als Kind hatte er es oft versucht, immer in der Hoffnung, daß der Geschmack wie bei Tisch werden würde und ihnen so Nahrung in ihrem Kinderspielplatz schenken würde, Manna in ihrer Wildnis. Aber das Olivenfleisch (um so blasser, je tiefer man hineinbiß) blieb hartnäckig so unschmackhaft wie je. Es war der ihm wie jedem anderen eingeprägte Geschmack. Bitter und sauer. Jetzt angenehm wegen der heraufbeschworenen Erinnerung. Vielleicht war er geheilt.
Die Blätter flatterten in dem böigen Nordwind. Es roch nach Staub. Ein Schleier aus braunem Licht, der westliche Himmel messingfarben. Die Zweige reichten bis zu seiner doppelten oder dreifachen Körperhöhe. Die unteren Zweige senkten sich, so tief, daß sie sein Gesicht streiften. Menschlicher Maßstab. Der mediterrane Baum, der Baum der Griechen, die so vieles so deutlich gesehen hatten in seiner richtigen Proportion, alles maßstabsgerecht in einer Symmetrie dem menschlichen Maß angepaßt — die Bäume, die Städte, ihre ganze physische Welt, die felsigen Inseln der Ägäis, die steinigen Berge der Peloponnes, ein Universum, das man in ein paar Tagen durchwandern konnte. Vielleicht war die Heimat der Ort des menschliehen Maßstabs, wo immer er sich befand. Gewöhnlich in der Kindheit.
Jeder Baum war wie ein Tier, das sein Gefieder in den Wind hielt und die wulstigen Beine in den Boden gestemmt hatte. Eine Bergflanke voller Gefieder zuckte unter dem Ansturm des Windes, seinen wechselnden Böen und Stößen und unerwarteter Stille. Das war die Provence, das Herz der Provence. Sein ganzes Unterbewußtsein schien bei jedem Moment seiner Kindheit zu verweilen, ein weites presque vu, das ihn erfüllte und überschäumte, ein Leben in einer Landschaft, die von ihrem Gewicht und ihrer Ausgeglichenheit brodelte. Er fühlte sich nicht mehr schwer. Das Himmelblau selbst war eine Stimme aus jener früheren Inkarnation und sagte: Provence, Provence.
Draußen über der Schlucht schwirrte eine Schar schwarzer Krähen und schrie: Ka, ka, ka!
Ka. Wer hatte diese Geschichte erfunden von dem kleinen roten Volk und dessen Namen für den Mars? Er wußte es nicht. Solche Geschichten haben keinen Anfang. Im mediterranen Altertum war Ka das überirdische Double eines Pharaos gewesen, das herabsteigend in Gestalt eines Falkens, einer Taube oder Krähe dargestellt wurde.
Jetzt stieg der Ka des Mars zu ihm herab, hier in der Provence. Schwarze Krähen — auf dem Mars flogen unter den klaren Kuppeln die gleichen Vögel, ebenso sorglos und mächtig in den Böen der Belüftung wie im Mistral. Es kümmerte sie nicht, ob sie auf dem Mars waren. Er war für sie Heimat, ihre Welt ebenso wie jede andere; und die Menschen waren, was sie immer gewesen waren, gefährliche Bodentiere, die einen töten oder auf fremdartige Reisen mitnehmen würden. Aber kein Vogel auf dem Mars erinnerte sich an die Reise zwischen den Planeten. Nichts schlug die Brücke zwischen den zwei Welten außer dem menschliehen Geist. Die Vögel flogen einfach und suchten Futter und krächzten, auf der Erde oder dem Mars, wie sie es immer getan hatten und immer tun würden. Sie waren überall zu Hause, zogen ihre Kreise in den scharfen Windstößen, nahmen es mit dem Mistral auf und riefen einander zu: Mars, Mars, Mars! Michel Duval! — Sein Geist, der in zwei Welten zugleich daheim war oder verloren im Nirgendwo zwischen ihnen, war ruhelos. Die Noosphäre war so riesig. Wo war er, wer war er? Wie sollte er sein Leben führen?
Olivenhain. Helle Sonne in einem messingfarbenen Himmel. Das Gewicht seines Körpers, der saure Geschmack im Mund. Er fühlte sich direkt im Boden verwurzelt. Dies war seine Heimat, dies und nichts anderes. Sie hatte sich verändert und würde sich dennoch niemals verändern — nicht dieser Hain, nicht er selbst. Endlich daheim. Er könnte zehntausend Jahre auf dem Mars leben, und immer würde dieser Ort seine Heimat bleiben.
Wieder im Hotelzimmer in Arles, rief er Maya an. »Bitte, Maya, komm her! Ich möchte, daß du das alles siehst.«
»Michel, ich arbeite an der Übereinkunft. Der zwischen den UN und dem Mars, wenn du dich erinnerst.«
»Ich weiß.«
»Es ist wichtig.«
»Ich weiß.«
»Gut. Ich bin deswegen hierhergekommen, und ich bin ein Teil davon, mitten drin. Ich kann nicht einfach in Urlaub gehen.«
»Okay, okay. Aber schau, diese Arbeit wird nie enden. Politik ist ein Faß ohne Boden. Du kannst einen Urlaub nehmen und danach wieder zurückkommen, und es wird immer noch laufen. Aber dies — dies ist meine Heimat, Maya. Ich will, daß du sie siehst. Möchtest du mir nicht Moskau zeigen und daß ich dorthin gehe.«
»Nicht einmal, wenn es der letzte Ort über der Flut wäre.«
Michel seufzte. »Nun, für mich ist das anders. Bitte, komm und sieh, was ich meine!«
»Vielleicht später, wenn wir mit dieser Stufe der Verhandlungen fertig sind. Eigentlich bist du es, der hier sein müßte, und nicht ich.«
»Ich kann auf meinem Handgelenk zuschauen. Es gibt keinen Grund, dort persönlich anwesend zu sein. Bitte, Maya!«
Sie machte eine Pause; irgend etwas in seinem Ton nahm sie gefangen. »Okay, ich werde es versuchen«, willigte sie ein. »Es wird aber nicht so bald sein, ganz gleich was du sagst.«
»Wenn du nur überhaupt kommst.«
Danach verbrachte er seine Tage mit Warten auf Maya, obwohl er versuchte, nicht daran zu denken. Er fuhr jeden wachen Augenblick in einem Mietwagen umher, manchmal mit Sylvie, manchmal allein. Trotz des Moments der Erinnerung in dem Olivenhain, oder vielleicht auch gerade deswegen, fühlte er sich völlig fehl am Platz. Er wurde aus irgendeinem Grund von der neuen Küstenlinie angezogen, fasziniert durch die Anpassung an das neue Meeresniveau, die die Ortsansässigen vollzogen. Er fuhr oft auf Umwegen zu ihnen. Die zu steilen Klippen und plötzlichen Marschen führten in tiefe Täler. Viele der Küstenfischer waren algerischer Abstammung. Die Fischerei ging nicht gut, sagten sie. Die Camargue war durch überschwemmte Industriegebiete verschmutzt, und im Mittelmeer blieben die Fische größtenteils außerhalb des braunen Wassers. Im Blauen, das einen halben Tagesausflug entfernt war, lauerten viele Gefahren.
Das Hören und Sprechen von Französisch, selbst von diesem merkwürdigen neuen Französisch, war so, als ob mit einer Elektrode Teile seines Gehirns berührt würden, die seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr besucht worden waren. Regelmäßig tauchten unbeholfen wie Quastenflosser Bilder der Vergangenheit auf. Erinnerungen an Freundlichkeiten, die ihm von Frauen erwiesen worden waren, und seine Grausamkeiten ihnen gegenüber. Vielleicht war er deshalb zum Mars gegangen, um vor sich selbst zu fliehen, vor dem unangenehmen jungen Mann, der er damals gewesen war.
Nun, wenn die Flucht vor sich selbst sein Verlangen gewesen war, so hatte er Erfolg gehabt. Jetzt war er jemand anders. Ein hilfsbereiter, sympathischer Mensch. Er konnte offen in einen Spiegel blicken. Er konnte heimkehren und dem, was er gewesen war, gegenübertreten, als der, der er geworden war. Das hatte der Mars auf jeden Fall bewirkt.
Es war eigenartig, wie das Gedächtnis arbeitete. Die Fragmente, die sich hier an die Oberfläche arbeiteten, waren so klein und scharf, wie jene winzigen Kaktusstacheln, die weit mehr verletzten, als es ihrer geringen Größe entspricht. An was er sich am deutlichsten erinnerte, war sein Leben auf dem Mars. Odessa, Burroughs, die unterirdischen Schutzräume im Süden, die verborgenen Vorposten im Chaos. Sogar Underhill.
Wenn er während der Jahre in Underhill zur Erde zurückgekehrt wäre, hätten ihm die Medienleute die Türe eingerannt. Aber er hatte seit seinem Verschwinden mit Hiroko keinen Kontakt zur Erde gehabt; und obwohl er seit der Revolution nicht versuchte hatte, sich zu verstecken, schienen in Frankreich nur wenige sein Wiederauftauchen bemerkt zu haben. Die ungeheure Tragweite der jüngsten Ereignisse auf der Erde hatten eine gewisse Störung der Medienkultur bewirkt. Oder vielleicht war es bloß der Lauf der Zeit. Der größte Teil der Bevölkerung Frankreichs war erst nach seinem Verschwinden geboren worden, und die Ersten Hundert waren für sie alte Geschichte, allerdings nicht alt genug, um nicht wirklich interessant zu sein. Wenn Voltaire oder Ludwig XIV. erschienen wären, hätte das vielleicht eine gewisse Aufmerksamkeit erregt; aber ein Psychologe aus dem vorigen Jahrhundert, der auf den Mars ausgewandert war, der eine Art von Amerika darstellte, zu dem bereits alles gesagt und getan war? Nein, das war für niemanden mehr von besonderem Interesse. Er erhielt einige Anrufe, es kamen ein paar Leute in das Hotel in Arles, um ihn in der Lobby oder auf dem Hof zu interviewen, und danach kamen auch ein paar Shows in Paris. Aber sie alle waren mehr daran interessiert, was er ihnen über Nirgal sagen konnte als über sich selbst.
Nirgal war der einzige, von dem die Leute fasziniert waren. Er war für sie charismatisch.
Und ohne Zweifel war es besser so, obwohl Michel in Cafes saß und seine Mahlzeiten einnahm und sich so einsam fühlte, als wäre er in einem Rover allein im fernen Hinterland des Gebirges des Südens. Es war etwas enttäuschend, völlig ignoriert zu werden, nur ein vieux unter all den übrigen zu sein, noch einer jener Leute, deren unnatürlich langes Leben mehr logistische Probleme schuf als le fleuve blanc, wenn man bei der Wahrheit blieb...
So war es besser. Er konnte in den kleinen Dörfern um Vallabrix Station machen, wie Saint Quentinla-Poterie oder Saint Victor-des-Quies oder Saint Hippolyte-de-Montaigu, und mit den Ladeninhabern schwatzen, die genau so aussahen wie die, welche die Läden betrieben hatten, als er damals ausgewandert war, und wahrscheinlich deren Nachkommen waren oder manche vielleicht sogar noch die gleichen Leute. Sie sprachen ein anderes dauerhafteres Französisch, ohne sich um ihn zu kümmern, absorbiert von ihren eigenen Gesprächen und ihrem eigenen Leben. Genauso war es draußen in den engen Straßen, wo viele Leute wie Zigeuner aussahen. Ohne Zweifel afrikanisches Blut, das sich in der Bevölkerung verbreitete, wie schon seit dem Einfall der Sarazenen vor tausend Jahren. Die jungen Frauen waren schön. Sie strömten in Scharen durch die Straßen, ihre schwarzen Kleider waren im Staub des Mistrals immer noch glänzend und schimmernd. Das waren seine Dörfer gewesen. Staubige Plastikschilder, alles etwas heruntergekommen und verfallen...
Er schwankte zwischen Vertrautheit und Entfremdung, Erinnerung und Vergessen. Aber immer einsamer. In einem Cafe bestellte er Cassis und erinnerte sich beim ersten Schluck, daß er in dem gleichen Cafe gesessen hatte, an dem gleichen Tisch. Eve gegenüber. Proust hatte völlig recht, wenn er den Geschmack als wichtigsten Auslöser unfreiwilliger Erinnerung identifizierte; denn die Langzeiterinnerungen eines Menschen steckten oder waren mindestens organisiert in der Mandel, genau unter dem Teil des Gehirns, der mit Geschmack und Geruch zu tun hatte. Darum waren Gerüche eng mit Erinnerungen verknüpft, genau wie mit dem emotionalen Netz des limbischen Systems, weil es sich durch beide Gebiete wand. Daher die neurologische Sequenz, daß Geruch Erinnerung auslöste und dieses Heimweh. Heimweh oder Nostalgie, das schmerzliche Verlangen eines Menschen nach seiner Vergangenheit, nicht weil sie so schön gewesen war, sondern einfach, weil sie gewesen und jetzt dahingegangen war. Er erinnerte sich an Eves Gesicht, wie sie in diesem voll besetzten Raum ihm gegenüber plauderte. Aber nicht, was sie gesagt hatte, oder warum sie dort waren, fiel ihm ein. Natürlich nicht. Einfach ein isolierter Augenblick, ein Kaktusstachel, eine Momentaufnahme, alles wie von einem Blitzschlag erhellt und dann verschwunden. Ohne den Rest davon zu kennen, so sehr er sich auch zu erinnern bemühte. Und sie waren alle so, seine Erinnerungen, das, was Erinnerungen waren, wenn sie älter wurden: Blitze im Dunkeln, unzusammenhängend, fast sinnlos und dennoch manchmal voll eines vagen Schmerzes.
Er stolperte aus dem Cafe, von seiner Erinnerung zu seinem Wagen, und fuhr durch Vallabrix unter den großen Platanen von Grand Planas heim, hinaus zu dem verfallenen Mas, ganz ohne nachzudenken. Und er ging wieder hilflos hin, als ob das Haus wieder lebendig geworden wäre. Aber es war immer noch die gleiche staubige Ruine am Olivenhain. Er setzte sich fassungslos auf die Mauer.
Jener Michel Duval von damals war verschwunden. Auch dieser hier würde verschwinden. Er würde noch mehrere Inkarnationen durchleben und diesen Moment vergessen, sogar diesen scharfen schmerzhaften Moment, als er gerade begonnen hatte, alle Momente zu vergessen, die sich hier zugetragen hatten. Blitze, Bilder, ein Mann, der auf einer zerbrochenen Mauer sitzt, ohne daß Gefühle mitspielen. Das war alles. Auch dieser Michel würde verschwinden.
Die Olivenbäume schwenkten ihre Arme, graugrün, grün-grau. Lebt wohl, lebt wohl! Sie waren diesmal keine Hilfe, sie gaben ihm keine euphorische Verbindung mit verlorener Zeit. Auch dieser Moment gehörte bereits der Vergangenheit an.
In dem flackernden Graugrün fuhr er nach Arles zurück. Der Pförtner in der Lobby des Hotels sagte, daß der Mistral wohl nie aufhören würde. »O doch«, erklärte Michel im Vorbeigehen.
Er ging nach oben in sein Zimmer und rief Maya an. Er sagte: »Bitte, komm bald!« Es ärgerte ihn, daß sie sich so bitten ließ. Bald, sagte sie immer wieder. Noch ein paar Tage, und sie würden eine erste Übereinkunft festgelegt haben, eine Übereinkunft bonafide zwischen den UN und einer unabhängigen Regierung des Mars. Geschichte im Entstehen. Danach würde sie sehen, ob sie käme.
Michel war das Entstehen der Geschichte egal. Er ging in Arles spazieren und wartete auf sie. Er ging in sein Zimmer zurück, um zu warten. Dann ging er für einen Spaziergang wieder raus.
Die Römer hatten Arles ebenso als Hafen genutzt wie Marseille. Tatsächlich hatte Cäsar Marseille zerstört, weil es Pompeji unterstützt hatte, und Arles den Vorzug als regionale Hauptstadt gegeben. Es wurden drei strategische Römerstraßen gebaut, die in der Stadt zusammenliefen und alle noch Jahrhunderte lang benutzt wurden, nachdem die Römer gegangen waren. So hatte die Stadt während dieser Zeit lebhaft, erfolgreich und einflußreich gelebt. Die Rhone hatte jedoch ihre Lagunen verschlammt, die Camargue war ein verpesteter Sumpf geworden, und die Straßen waren schließlich außer Gebrauch gekommen. Die Stadt war heruntergekommen. Zu den berühmten salzigen Grasflächen und Herden weißer Pferde der Carmargue waren schließlich Ölraffinerien, Kernkraftwerke und chemische Fabriken gekommen.
Jetzt waren mit der Flut die saubergespülten Lagunen wieder da. Arles war wieder ein Seehafen. Michel wartete genau dort weiter auf Maya, weil er noch nie in Arles gelebt hatte. Es erinnerte ihn an nichts außer den Augenblick; und er verbrachte seine Tage damit, die Menschen zu beobachten, wie sie ihr Leben lebten. In diesem neuen fremden Land.
Er empfing im Hotel einen Anruf von einem gewissen Francis Duval. Sylvie hatte den Mann kontaktiert. Er war Michels Neffe, der Sohn von Michels verstorbenen Bruder. Er lebte noch in der Rue du 4 Septembre, die gleich nördlich der römischen Arena, ein paar Blocks von der angeschwollenen Rhone entfernt lag, unweit von Michels Hotel. Er lud Michel ein, ihn zu besuchen.
Nach kurzem Zögern sagte Michel zu. Nachdem er durch die Stadt gegangen war und kurz angehalten hatte, um einen Blick in das römische Theater und die Arena zu werfen, erschien sein Neffe, der das ganze quartier zu einer spontanen Feier zusammengeholt zu haben schien. Die Champagnerkorken knallten wie die Knallfrösche, als Michel durch die Tür gezerrt und von allen abgeküßt wurde — nach Sitte der Provence dreimal auf die Wangen. Es dauerte eine Weile, bis er zu Francis kam, der ihn lange und fest an sich drückte und die ganze Zeit redete, während die Glasfasern der Kameras aller Leute auf sie gerichtet waren. »Du siehst genau so aus wie mein Vater!« sagte Francis.
»Du auch!« erklärte Michel und versuchte sich zu erinnern, ob das überhaupt stimmte oder nicht, indem er die Erinnerung an das Gesicht seines Bruders zu wecken bemüht war. Francis war ziemlich alt. Michel hatte seinen Bruder nie so alt gesehen. Es war schwer zu sagen.
Aber alle Gesichter waren irgendwie vertraut und die Sprache größtenteils verständlich. Die Gesprächsfetzen ließen ein Bild nach dem anderen in ihm aufleuchten. Mehr aber die Gerüche von Käse und Wein und noch stärker der Geschmack des Weines. Francis erwies sich als Connoisseur und entkorkte fröhlich eine Anzahl verstaubter Flaschen: Chäteauneuf du Pape, dann einen jahrhundertalten Sauterne von Chäteau d’Yquem und als seine Spezialität einen roten Bordeaux premier cru genannt Pauillac, je zwei von Chäteaux Latour und Lafitte, sowie einen 2064er Chäteau Mouton-Rothschild mit einer Etikette von Pougnadoresse. Diese betagten Wunder hatten sich im Laufe der Jahre zu etwas verwandelt, das mehr war als Wein, mit einem Geschmack reich an Obertönen und Harmonie. Sie rannen Michel die Kehle hinunter wie seine eigene Jugend.
Es hätte eine Party für einen beliebten Stadtpolitiker sein können; und obwohl Michel zu dem Schluß kam, daß Francis seinem Bruder nicht sehr ähnlich war, hörte er sich genau wie dieser an. Michel hätte gedacht, seine Stimme vergessen zu haben; aber es war ihm geradezu erschütternd klar. Die Art, wie Francis das Wort normalement hinzog, das in diesem Falle meinte, wie die Dinge vor der Flut gewesen waren, während es für Michels Bruder jenen hypothetischen Zustand glatter Unternehmungen bezeichnet hatte, den es in der wirklichen Provence nie gegeben hatte. Aber es war genau der gleiche Tonfall — nor — mal — e — ment...
Ein jeder wollte mit Michel sprechen oder zumindest hören, was er sagte; und so stand er da mit einem Glas in der Hand und hielt eine flotte Rede im Stil eines Stadtpolitikers, machte den Frauen Komplimente wegen ihrer Schönheit und schaffte es klar zu machen, wie erfreut er sei, sich in ihrer Gesellschaft zu befinden, ohne sentimental zu werden oder merken zu lassen, wie desorientiert er sich fühlte. Eine schnittige kompetente Vorstellung, die genau das war, was die Gebildeten in der Provence mochten mit ihrer Rhetorik, die schnell und humorvoll war wie der lokale Stierkampf. »Und wie ist der Mars? An was erinnert er? Was wirst du jetzt tun? Gibt es dort noch Jakobiner?«
»Mars ist Mars«, sagte Michel und winkte ab. »Der Boden hat die Farbe der Dachziegel in Arles. Ihr wißt schon.«
Die Party dauerte den ganzen Nachmittag, und dann gab es ein Bankett. Unzählige Frauen küßten ihm die Wangen. Er war berauscht von ihrem Parfüm, ihrer Haut und ihrem Haar, von ihren lächelnden klaren dunklen Augen, die ihn mit freundlicher Neugier anschauten. Zu eingeborenen Mädchen des Mars mußte man immer aufschauen und bekam ihr Kinn, ihren Hals und das Innere ihrer Nasenlöcher zu sehen. Es war ein solches Vergnügen, auf glänzendes schwarzes Haar hinunterzublicken.
Am späten Abend zerstreuten sich die Leute. Francis ging mit Michel hinüber zu der römischen Arena, und sie stiegen die krumme Steintreppe der mittelalterlichen Türme hinauf, welche die Arena befestigt hatten. Aus der kleinen Steinkammer am oberen Ende der Treppe schauten sie aus kleinen Fenstern auf die Ziegeldächer, die baumlosen Straßen und die Rhone hinab. Aus den Südfenstern konnten sie ein Stück der gefleckten Wasserfläche sehen, welche die Camargue war.
»Wieder am Mittelmeer angelangt«, sagte Francis zutiefst befriedigt. »Die Flut mag für die meisten Gegenden eine Katastrophe gewesen sein, aber für Arles ist sie ein wahres Bravourstück gewesen. Die Reisbauern kommen alle in die Stadt, bereit zu fischen oder jede andere Arbeit anzunehmen. Und viele Schiffe, die überlebt haben, docken in der Stadt an. Sie bringen Obst aus Korsika und Mallorca und handeln mit Barcelona und Sizilien. Wir haben einen guten Teil von Marseilles Handel übernommen, obwohl man sagen muß, daß die sich rasch erholen. Aber was für ein Leben ist wiedergekehrt! Weißt du, früher hatte Aix die Universität, Marseille das Meer, und wir hatten nur diese Ruinen und die Touristen, die für einen Tag kamen, um sie sich anzusehen. Und Tourismus ist ein häßliches Geschäft, keine angemessene Arbeit für menschliche Wesen. Es fördert Parasiten. Jetzt leben wir wieder!« Er war ein wenig betrunken. »Hier, du mußt mit mir auf dem Boot hinausfahren und die Lagune sehen.«
»Das täte ich gern.«
An diesem Abend rief Michel wieder Maya an. »Du mußt kommen. Ich habe meinen Neffen, meine Familie gefunden.«
Maya war nicht sonderlich beeindruckt. »Nirgal ist nach England gegangen, um Hiroko zu suchen«, sagte sie in scharfem Ton. »Jemand hat ihm gesagt, sie wäre dort, und da ist er einfach losgefahren.«
»Was heißt das?« rief Michel, schockiert durch die plötzliche Erwähnung von Hiroko.
»O Michel, du weißt, daß das nicht wahr sein kann.
Jemand hat es zu Nirgal gesagt, und das war alles. Es kann nicht stimmen, aber er ist gleich weggerannt.«
»Das hätte ich auch getan.«
»Bitte, Michel, sei nicht blöd! Ein Narr ist genug. Wenn Hiroko überhaupt noch am Leben ist, dann befindet sie sich auf dem Mars. Jemand hat bloß so geredet, um Nirgal von den Verhandlungen fernzuhalten. Ich hoffe nur, daß es nichts Schlimmeres war. Er hat zu viel Einfluß auf die Leute. Und er hütet seine Zunge nicht. Du solltest ihn anrufen und ihm sagen, daß er zurückkommen muß. Vielleicht würde er auf dich hören.«
»Ich würde das an seiner Stelle nicht tun.«
Michel verlor sich in Gedanken und suchte die plötzliche Hoffnung zu unterdrücken, daß Hiroko doch noch lebte. Und das ausgerechnet in England! Sonstwo am Leben. Hiroko und dadurch Iwao, Gene, Rya, die ganze Schar, seine Familie. Seine wahre Familie. Er erschauerte heftig. Und als er versuchte, der ungeduldigen Maya von seiner Familie in Arles zu erzählen, blieben ihm die Worte im Hals stecken. Seine wirkliche Familie war vor vier Jahren ganz verschwunden, und das war die Wahrheit. Schließlich konnte er wehen Herzens nur sagen: »Bitte, Maya, komm!«
»Bald. Ich habe Sax gesagt, daß ich gehen werde, sobald wir hier fertig sind. Das wird ihm den ganzen Rest aufbürden; und er kann doch kaum sprechen. Das ist lächerlich.« Sie übertrieb. Sie hatten ein volles diplomatisches Team dort, und Sax kam auf seine Weise gut zurecht. »Aber okay, okay, ich werde es tun. Hör also auf, mich zu quälen!«
Sie kam in der folgenden Woche.
Michel fuhr nervös zu dem neuen Bahnhof, um sie abzuholen. Er hatte in Odessa und Burroughs mit Maya fast dreißig Jahre lang zusammen gelebt. Aber jetzt, als er sie nach Avignon fuhr, erschien sie ihm wie eine Fremde, als sie so neben ihm saß, eine alte Schönheit mit verschleierten Augen und einer schwer zu deutenden Miene. Sie redete englisch und erzählte ihm in rauhen schnellen Sätzen alles, war sich in Bern ereignet hatte. Sie hatten einen Vertrag mit den UN, die ihrer Unabhängigkeit zugestimmt hatten, erwirkt. Als Gegenleistung sollten sie eine gewisse Einwanderung gestatten, aber nicht mehr als zehn Prozent der Marsbevölkerung jährlich. Außerdem den Transfer mineralischer Ressourcen und Zusammenarbeit bei einigen diplomatischen Themen. »Das ist gut, wirklich gut.« Michel versuchte, sich auf ihren Bericht zu konzentrieren, aber es war schwer. Gelegentlich schaute sie, während sie sprach, auf die Gebäude, die an ihrem Wagen vorbeisausten, die sahen aber in dem staubigen winddurchschossenen Sonnenlicht recht billig und kitschig aus und Maya schien überhaupt nicht beeindruckt zu sein.
Michel fuhr in sinkender Stimmung so nahe er konnte an den Papstpalast in Avignon heran, parkte und machte mit ihr einen Spaziergang an dem geschwollenen Fluß entlang vorbei an der Brücke, die nicht bis zur anderen Seite reichte, dann zu der breiten Promenade südlich des Palastes, wo sich Straßencafes im Schatten alter Platanen aneinander reihten. Dort aßen sie zu Mittag, und Michel kostete das Olivenöl und den Cassis, die er sich genießerisch über die Zunge rinnen ließ, während er zusah, wie seine Gefährtin sich wie eine Katze in ihrem Metallsessel entspannte. »Das ist hübsch«, sagte sie, und er lächelte. Es war wirklich nett: kühl, gelassen, zivilisiert, Essen und Trinken waren sehr fein. Für ihn aber entfesselte der Geschmack von Cassis eine weitere Flut von Erinnerungen. Emotionen aus früheren Inkarnationen mischten sich mit den Gefühlen, die er jetzt empfand und verstärkten alles — Farben, Stoffe, das Gefühl von Metallstühlen und Wind. Während für Maya Cassis nur ein herbes Fruchtgetränk war.
Während er sie ansah, fiel ihm ein, daß das Schicksal ihm eine Gefährtin beschert hatte, die noch attraktiver war als die schönen Französinnen, die in jenem früheren Leben seine Gespielinnen gewesen waren. Eine irgendwie größere Frau. Auch in dieser Hinsicht hatte er es auf dem Mars gut gehabt. Er hatte ein größeres Leben begonnen. Sein Empfinden und seine Nostalgie stießen in seinem Herzen zusammen, während Maya Hammel-Eintopf, Wein, Käsesorten und Kaffee genoß, ohne an das Interferenzmuster ihrer beider Leben zu denken, das sich in ihm teils in, teils außer Phase bewegte.
Sie plauderten ziellos. Maya war entspannt und mit sich zufrieden. Froh über das, was sie in Bern geleistet hatte. Ohne Eile, irgendwohin zu gehen. Michel fühlte ein sanftes Glühen durch seinen Körper ziehen, als ob er voll mit Omegandorph wäre. Während er sie beobachtete, wurde er selbst allmählich glücklich. Einfach glücklich. Vergangenheit, Zukunft — keines von beiden war jemals real. Einfach so unter Avignons Platanen sein. Keine Notwendigkeit, an irgend etwas anderes zu denken. Maya sagte: »So zivilisiert. Ich habe mich seit Jahren nicht so ruhig gefühlt. Ich kann verstehen, warum es dir gefällt.« Und dann lachte sie ihn an, und er merkte, wie ein idiotisches Grinsen sein Gesicht bedeckte.
Er fragte neugierig: »Möchtest du Moskau wiedersehen?«
»O nein. Das möchte ich nicht.«
Sie ließ die Idee als eine momentane Störung fallen. Er fragte sich, was sie bezüglich ihrer Rückkehr zur Erde empfand. Man konnte bei so etwas doch nicht völlig gefühllos sein?
Aber für manche Menschen war Heimat die Heimat, ein Gefühlskomplex weit jenseits jeder Rationalität, eine Art von Gitter oder Schwerefeld, in dem die Persönlichkeit als solche ihre geometrische Gestalt annahm. Für andere hingegen war ein Ort einfach bloß ein Ort und das Ich von all dem frei und gleichbleibend — ganz egal, wo es sich befand. Die eine Art lebte in dem gekrümmten einsteinschen Raum der Heimat, die andere in dem newtonschen absoluten Raum des freien Selbst. Und während er zu dem ersteren Typ gehörte, war Maya von dem anderen. Und es war sinnlos, gegen diese Tatsache anzukämpfen. Nichtsdestoweniger wünschte er, daß sie die Provence lieben würde. Oder mindestens einsehen, warum er sie liebte.
Und so fuhr er sie, nachdem sie mit dem Essen fertig waren, nach Süden, durch Saint-Remy nach Les Baux.
Sie schlief während der Fahrt, und das war ihm ganz recht. Zwischen Avignon und Les Baux bestand die Landschaft größtenteils aus häßlichen, auf einer staubigen Ebene verteilten Industriebauten. Sie erwachte genau zur rechten Zeit, als er in die schmale gewundene Straße abbog, die sich durch die Alpillen zu dem alten Dorf auf dem Hügel hinaufschlängelte. Man parkte auf einem Parkplatz und ging dann in die Stadt hinauf. Das war deutlich ein Arrangement für Touristen; aber die einzige kurvenreiche Straße der kleinen Siedlung war jetzt sehr ruhig, wie verlassen.
Und sehr malerisch. Das Dorf war für den Nachmittag dicht gemacht und schlief. Bei der letzten Biegung zum Gipfel der Anhöhe querte man eine freie Fläche; wie eine rohe geneigte Plaza; und dahinter waren die Kalkfelsen des Gipfels zu sehen. Jeder Felsblock war von einem Eremiten des alten Dorfes ausgehöhlt worden, Zuflucht vor den Sarazenen und all den anderen Gefahren der mittelalterlichen Welt. Nach Süden hin schimmerte das Mittelmeer wie ein goldener Teller. Der Fels selbst war gelblich; und als ein dünner Schleier von einer bronzenen Wolke am Westhimmel lag, nahm das Licht überall eine bernsteinfarbene Tönung an, als ob es über alte Gelatine wandern würde.
Sie kletterten von einer der niedlichen Kammern in die nächste und staunten, wie klein sie waren. »Sieht aus wie das Versteck eines Präriehundes«, sagte Maya, als sie in eine kleine quadratische Höhle blickte. »Das ist wie unser Anhängerpark in Underhill.«
Wieder auf der schrägen Plaza, die mit Kalksteinblöcken übersät war, hielten sie an, um den Glanz des Mittelmeers wirken zu lassen. Michel deutete auf den helleren Schimmer der Camargue. »Früher war nur ein kleines Stück Wasser zu sehen.« Das Licht verdunkelte sich zu einer tiefen Aprikosenfarbe, und der Hügel schien eine Festung zu sein über der ach so geräumigen Welt, über der Zeit selbst. Maya legte einen Arm um seine Taille und drückte ihn zitternd an sich. »Es ist schön. Aber ich könnte hier nicht leben, wie sie es getan haben. Es ist zu weit draußen. Man ist hier wie ausgesetzt.«
Sie kamen nach Arles zurück. Es war Samstagabend, die Stadt war zu einer Art von Zigeuneroder nordafrikanischem Festival geworden, die Alleen dicht voller Stände mit Speisen und Getränken, viele davon in die Bögen der römischen Arena gezwängt, die allen offenstand und in der eine Band spielte.
Maya und Michel gingen Arm in Arm umher und badeten in den Gerüchen gebratener Speisen und arabischer Gewürze. Die Stimmen um sie redeten in zwei oder drei verschiedenen Sprachen. »Es erinnert mich an Odessa«, sagte Maya bei ihrem Rundgang durch die Arena. »Nur die Leute sind kleiner. Es ist angenehm, sich nicht gleich als Zwerg zu fühlen.«
Sie tanzten im Arenazentrum, tranken an einem Tisch unter den verschwommenen Sternen. Ein Stern war rot, und Michel war mißtrauisch, sagte aber nichts. Sie gingen wieder in sein Hotelzimmer und liebten sich auf dem schmalen Bett. Manchmal hatte Michel den Eindruck, daß in ihm mehrere Personen steckten, die alle zugleich erschienen. Er schrie auf angesichts der seltsamen Gewalt dieses Eindrucks... Maya schlief ein, und er lag wach neben ihr, in einer tristesse, die irgendwo außerhalb der Zeit widerhallte. Er sog den vertrauten Geruch ihres Haares ein und lauschte der langsam nachlassenden Kakophonie der Stadt. Endlich daheim.
In den folgenden Tagen stellte er sie seinem Neffen und den übrigen Verwandten vor, die Francis zusammengeholt hatte. Die ganze Meute nahm sie gut auf, und stellte ihr mit Hilfe von Übersetzungscomputern Dutzende von Fragen. Sie versuchten auch, ihr alles über sich selbst zu erzählen. Michel dachte, daß das so oft vorkam. Die Leute wollten die berühmte Fremde kennenlernen, deren Geschichte sie so gut kannten (oder zu kennen glaubten), und dafür ihre Geschichte geben, um das Gleichgewicht der Beziehung wieder herzustellen. Die wechselseitige Teilhabe an Geschichten. Und natürlich wurden die Menschen auch von Mayas Person angezogen. Sie lauschte ihren Geschichten, lachte und stellte Fragen. Ab und zu erzählten sie ihr, wie die Flut gekommen war, ihr Heim überschwemmt, ihr Leben ertränkt und sie in die Welt hinausgeworfen hatte, zu Freunden und Familien, die sie seit Jahren nicht gesehen hatten und sie in neue Muster und Beziehungen zwang. Wie das Profil ihres Lebens zerbrach und sie in den Mistral hinaus gestoßen wurden. Dieser Prozeß hatte sie erhoben, wie Michel sah. Sie waren stolz auf ihre Reaktion und wie die Leute sich zusammengetan hatten. Sie waren aber auch sehr unwillig gegenüber irgendwelchen Gegenbeispielen von Betrug und Gleichgültigkeit, den Schandflecken einer ansonsten heroischen Sache. »Kannst du das glauben? Und es war nicht gut für ihn. Er wurde eines Nachts in der Straße überfallen, und das ganze Geld war futsch.«
»Es hat uns aufgeweckt, gerade, als wir für immer eingeschlafen waren.«
Sie sagten solche Dinge zu Michel auf französisch, sahen, wie er nickte, und beobachteten dann Mayas Reaktion, als die Computer ihr die Geschichte auf englisch erzählten. Und sie pflegte auch zu nicken, genauso gefangen wie sie es von den Geschichten der jungen Einheimischen um das Hellas-Becken gewesen war, die ihre Geschichten durch den Blick auf ihr Gesicht und ihr Interesse konzentrierten. Ah, sie und Nirgal waren gleichermaßen Charismatiker wegen der Art, in der sie sich anderen widmeten und die Geschichten der Leute steigerten. Vielleicht war das Charisma, einfach eine Art von Spiegelqualität.
Einige Verwandte Michels nahmen sie in ihren Booten mit hinaus, und Maya bewunderte die tosende Rhone, und die eigenartig ungeordnete Lagune der Camargue und die Anstrengungen, die die Leute unternahmen, um sie wieder zu kanalisieren, während sie flußabwärts fuhren. Dann hinaus auf das braune Wasser des Mittelmeers und noch weiter auf das blaue Wasser, das von der Sonne getroffene Blau, wo das kleine Boot über die vom Mistral aufgewühlten weißen Schaumkämme hüpfte. Bis hinaus, wo kein Land mehr zu sehen war, auf eine besonnte Wasserfläche. Faszinierend. Michel zog sich aus und sprang über Bord ins kalte Wasser, wo er im Salzwasser planschte und sogar etwas davon trank und den Fruchtwassergeschmack seiner alten Schwimmausflüge am Strand genoß.
Zurück an Land machten sie weitere Ausflüge. Einmal besuchten sie den Pont du Gard — und da war es, so wie immer, das größte Kunstwerk der Römer, ein Aquädukt. Drei steinerne Etagen, die dicken unteren Bögen quer im Fluß, stolz auf ihren zweitausendjährigen Widerstand gegen das fließende Wasser; darauf leichtere und höhere Bögen und dann die kleinsten obenauf. Die Form folgte mit ihrer Funktion mitten ins Herz des Schönen und benutzte Stein, um Wasser über Wasser zu leiten. Der Stein war jetzt narbig und honiggelb, in jeder Hinsicht dem Mars sehr ähnlich. Er sah aus wie Nadias Arkade in Underhill und stand da in der staubig grünen Kalksteinschlucht des Gard in der Provence. Aber jetzt schien es für Michel eher der Mars zu sein als Frankreich.
Maya lobte seine Eleganz. »Michel, schau, wie menschlich er ist. Das ist es, was unseren Bauten auf dem Mars fehlt. Sie sind zu groß. Aber dies — dies wurde von menschlichen Händen erbaut, mit Werkzeug, das ein jeder herstellen und benutzen kann. Flaschenzug, menschliche Mathematik und vielleicht ein paar Pferde. Nicht unsere ferngesteuerten Maschinen, die Dinge tun, die niemand verstehen oder gar sehen kann.«
»Ja.«
»Ich frage mich, ob wir von Hand Dinge bauen könnten. Nadia sollte das hier sehen. Sie wäre sofort verliebt.«
»Das habe ich auch gedacht.«
Michel war glücklich. Sie machten dort ein Picknick. Sie besuchten die Quellen von Aix-en-Provence, fuhren hinaus, um sich aus der Höhe einen Blick über die große Schlucht des Gard zu verschaffen. Sie schnupperten sich durch die Straßendocks von Marseille. Besuchten die Römerstätten in Orange und Nimes. Fuhren an den überfluteten Ferienorten der Cote d’Azur vorbei. Gingen eines Abends zu Michels verfallenem Mas und in den alten Olivenhain.
Und jeden Abend an diesen kostbaren Tagen kehrten sie nach Arles zurück und speisten im Hotelrestaurant oder, wenn es draußen warm war, unter den Platanen in den Straßencafes. Dann gingen sie in ihr Zimmer hinauf und liebten sich. In der Frühdämmerung erwachten sie, liebten sich wieder und frühstücken frische Croissants und Kaffee. »Es ist herrlich«, sagte Maya, als sie eines blauen Abends im Turm der Arena stand. Sie meinte damit alles, die ganze Provence. Und Michel war glücklich.
Dann kam der Anruf auf dem Armband. Nirgal war krank, sehr krank. Sax, dessen Stimme erschüttert klang, hatte ihn schon von der Erde fortgeschafft in die Schwerkraft des Mars und eine sterile Umgebung in einem Schiff im Erdorbit. »Ich fürchte, sein Immunsystem ist nicht intakt, und das Ge macht es nicht gerade besser. Er hat eine Infektion, ein Lungenödem, und sehr schlimmes Fieber.«
»Allergisch gegen die Erde«, sagte Maya mit finsterer Miene. Sie machte Pläne und beendete das Gespräch mit kurzen Anweisungen an Sax, ruhig zu bleiben. Dann ging sie zum Schrank und fing an, ihre Kleider herauszunehmen und auf das Bett zu werfen.
»Los!« rief sie, als sie Michel da stehen sah. »Wir müssen gehen!«
»Wirklich?«
Sie winkte ab und vergrub sich im Schrank. »Ich gehe.« Sie warf Unterwäsche handvollweise in ihren Koffer und schaute ihn an. »Es ist sowieso Zeit zu gehen.«
»Ist es das?«
Sie antwortete nicht. Sie tippte etwas in ihr Armband ein und bat das lokale Praxisteam, den Transport in den Weltraum zu arrangieren. Es würde ein Wiedersehen mit Sax und Nirgal geben. Ihre Stimme war kühl, angespannt, sachlich. Sie hatte die Provence schon vergessen.
Als sie Michel immer noch unbewegt dastehen sah, explodierte sie: »Oh, mach schon, mach nicht ein solches Theater deswegen! Bloß weil wir abreisen müssen, bedeutet das nicht, daß wir niemals zurückkommen werden. Wir werden noch tausend Jahre leben, und du kannst jederzeit zurückkehren, hundertmal, mein Gott! Außerdem — wieso soll es hier so viel besser sein als auf dem Mars? Für mich sieht es genau wie Odessa aus; und du bist doch da glücklich gewesen, nicht wahr?«
Michel ignorierte das. Er stolperte an ihren Koffern vorbei zum Fenster. Draußen eine gewöhnliche Straße von Arles, blau in der Dämmerung. Pastellfarbene Stuckmauern, Kopfsteinpflaster. Zypressen. Die Ziegel auf dem Dach gegenüber der Straße waren zerbrochen. Marsfarben. Stimmen in der Tiefe riefen etwas auf französisch, über irgend etwas erbost.
»Nun?« rief Maya. »Kommst du?«
»Ja.«