Danach ging Nirgal mit Sax nach Da Vinci hinauf und blieb bei dem alten Mann in seinem Apartment. Eines Nachts kam Cojote vorbei, nach dem Zeitrutsch, als kein anderer auf den Gedanken gekommen wäre, einen Besuch zu machen.
Nirgal erzählte ihm kurz, was mit dem hohen Becken passiert war.
»Oja, so?« sagte Cojote.
Nirgal schaute weg.
Cojote ging in die Küche und kramte in Saxens Kühlschrank. Mit vollem Mund rief er ins Wohnzimmer: »Was hast du auf einer windigen Bergseite wie der erwartet? Mann, diese Welt ist kein Garten. Manches wird jedes Jahr begraben, so ist das nun einmal. In einem oder zehn Jahren kommt ein anderer Wind und bläst diesen ganzen Staub von deinem Hügel herunter.«
»Bis dahin wird alles tot sein.«
»So ist das Leben. Jetzt ist es an der Zeit, etwas anderes zu tun. Was hast du gemacht, bevor du dich hier niedergelassen hast?«
»Nach Hiroko gesucht.«
»Mist!« Cojote erschien in der Tür und zeigte mit einem großen Küchenmesser auf Nirgal. »Nicht du auch.«
»Doch, ich auch.«
»Oh, mach schon! Wann wirst du endlich erwachsen? Hiroko ist tot. Daran solltest du dich schon gewöhnen.«
Sax kam aus seinem Büro und sagte heftig zwinkernd: »Hiroko lebt.«
Cojote schrie: »Nicht du auch noch! Ihr beide seid wie Kinder.«
»Ich habe sie in einem Sturm auf der Südflanke von Arsia Mons gesehen.«
»Willkommen im Club der Idioten!«
Sax funkelte ihn an: »Was soll das heißen?«
»Blödsinn!«
Cojote ging wieder in die Küche.
»Es hat noch andere Sichtungen gegeben«, sagte Nirgal zu Sax »Die Meldungen sind recht häufig.«
»Das weiß ich.«
»Es gibt täglich Meldungen!« rief Cojote aus der Küche und erschien kampflustig wieder im Wohnzimmer. »Die Leute sehen sie jeden Tag! Auf dem Handcomputer gibt es eine eigene Site zur Meldung von Sichtungen! Ich sehe, daß sie in der letzten Woche in einer Nacht an zwei verschiedenen Stellen erschienen ist, in Noachis und Olympus! An entgegengesetzten Seiten der Welt!«
»Ich sehe nicht, daß das etwas beweist«, erwiderte Sax hartnäckig. »Man erzählt über dich dasselbe, und ich sehe, daß du immer noch lebst.«
Cojote schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich bin die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Bei jedem anderen bedeutet es, wenn er an zwei Stellen gleichzeitig gemeldet wird, daß er tot ist. Ein sicheres Zeichen.« Er machte einen Vorstoß, um der nächsten Bemerkung von Sax zuvorzukommen, und brüllte: »Sie ist tot! Damit mußt du dich abfinden! Sie ist bei dem Angriff auf Sabishii umgekommen. Diese UNTA-Sturmtruppleute haben sie, Iwao, Gene und Rya und den ganzen Rest von ihnen gefangen genommen, in irgendeinen Raum gebracht und die Luft herausgelassen oder den Abzug betätigt. So ist das! Meinst du, daß das nie passiert? Meinst du, daß die Geheimpolizisten nie Dissidenten umgebracht und dann ihre Leichen beseitigt haben, so daß niemals jemand es herausfindet? Sowas geschieht! Verdammt ja, sogar auf eurem kostbaren Mars. So sind die Menschen nun einmal. Sie tun alles mögliche; sie töten Leute und bilden sich dabei ein, daß sie bloß ihren Lebensunterhalt verdienen oder ihre Kinder ernähren oder die Welt sicher machen. Und genau so ist das gewesen. Sie haben Hiroko mit ihrer Gruppe zusammen getötet.«
Nirgal und Sax machten große Augen. Cojote bebte. Er sah aus, als wollte er die Wand durchbohren.
Sax räusperte sich. »Desmond, was macht dich so sicher?«
»Weil ich hingeschaut habe. Ich habe hingeschaut, wie kein anderer das tun konnte. Sie ist an keinem ihrer Plätze. Sie ist nirgendwo. Sie ist nicht fortgegangen. Niemand hat sie seit Sabishii wirklich gesehen. Darum habt ihr nie von ihr gehört. Sie ist nicht so unmenschlich, uns die ganze Zeit herumirren zu lassen, ohne uns je eine Nachricht zukommen zu lassen.«
Sax beharrte: »Ich habe sie aber gesehen.«
»In einem Sturm, hast du gesagt. Ich nehme an, in einiger Bedrängnis. Hast sie kurze Zeit gesehen, eben lange genug, um dir aus der Klemme zu helfen. Dann endgültig fort.«
Sax blinzelte.
Cojote lachte rauh. »Das habe ich mir gedacht. Nein, das ist fein. Träume von ihr alles, was du magst. Bring das nur nicht mit der Realität durcheinander! Hiroko ist tot.«
Nirgal schaute zwischen den beiden schweigenden Männern hin und her und sagte: »Auch ich habe mich nach ihr umgesehen.« Und dann, als er die finstere Miene von Sax sah: »Möglich ist alles.«
Cojote schüttelte den Kopf. Er ging wieder in die Küche und brabbelte vor sich hin. Sax starrte Nirgal an und direkt durch ihn hindurch.
»Vielleicht werde ich wieder nach ihr suchen«, sagte Nirgal zu ihm.
Sax nickte.
Cojote rief von der Küche her: »Besser als Landwirtschaft zu betreiben.«
Kürzlich hatte Harry Whitebook eine Methode gefunden, die Toleranz von Tieren gegenüber Kohlendioxid zu erhöhen, indem er Säugetieren ein Gen applizierte, das für bestimmte Merkmale von Krokodil-Hämoglobin codiert war. Krokodile konnten den Atem unter Wasser sehr lange anhalten; und das CO2, das sich in ihrem Blut ansammelte, wurde dort in BorkarbonatIonen gelöst, die im Hämoglobin in einem Komplex an Aminosäuren gebunden wurden, der bewirkte, daß das Hämoglobin Sauerstoffmoleküle freisetzte. Hohe Kohlendioxidtoleranz war so mit erhöhter Wirksamkeit von Sauerstoffbildung kombiniert — eine sehr elegante Anpassung. Und es erwies sich als recht leicht (nachdem Whitebook den Weg gezeigt hatte), sie bei Säugetieren durch Anwendung der neuesten Transkriptionstechnik für Merkmale einzuführen: Es wurden konstruierte Stränge des DNA-Reparaturenzyms Photolyase zusammengebaut; und diese fügten die Deskriptionen für das Merkmal in das Genom während der gerontologischen Behandlungen und unter leichter Veränderung der Hämoglobineigenschaften des Probanden ein.
Sax war einer der ersten Menschen gewesen, die sich dieses Merkmal hatten verpassen lassen. Der Gedanke gefiel ihm, weil dadurch die Notwendigkeit einer Gesichtsmaske im Freien entfiel, und er verbrachte einen großen Teil seiner Zeit draußen. Der Kohlendioxidpegel in der Atmosphäre lag noch bei 40 Millibar von 500 insgesamt auf Meeresniveau. Der Rest bestand aus 260 Millibar Stickstoff, 170 Millibar Sauerstoff und 30 Millibar an verschiedenen Edelgasen. Damit gab es immer noch zu viel Kohlendioxid, als ohne Filtermaske zu ertragen war. Aber nach der Transkription der Merkmale konnte Sax ohne Behinderung hinaus gehen und die große Vielfalt der Tiere beobachten, die bereits draußen waren. Das waren allesamt Monster, die sich in ihren ökologischen Nischen ansiedelten, in einem sehr verwirrenden Strom von Aufstieg und Fall, Invasionen und Rückzügen, Vermehrung und Absterben — alle vergebens ein Gleichgewicht suchend, das es in Anbetracht des wechselnden Klimas nicht geben konnte. Mit anderen Worten: nicht anders, als das Leben auf der Erde immer gewesen war. Aber hier geschah alles in viel höherem Tempo, angetrieben durch die von Menschen bewirkten Veränderungen, Modifikationen, Einführungen, Transkriptionen und Translationen. Die Interventionen, die funktionierten; die Interventionen, die scheiterten; die unbeabsichtigten, unvorhergesehenen und unbemerkten Effekte bis zu dem Punkt, an dem bedenklich viele Forscher darauf verzichteten so zu tun, als ob sie noch die Kontrolle hätten.
»Möge geschehen, was mag«, pflegte Spencer zu sagen, wenn er betrunken war. Das kränkte Michels Sinn für Bedeutung; aber man konnte nichts dagegen tun, außer Michels diesbezügliche Meinung zu ändern. Kontingenz, der Strom des Lebens — mit einem Wort: Evolution. Nach dem Lateinischen mit der Bedeutung des Aufrollens eines Buches. Und auch nichtgerichtete Evolution, nicht auf lange Sicht. Vielleicht beeinflußte Evolution, sicher beschleunigte Evolution (jedenfalls in mancherlei Hinsicht). Aber nicht gemanagt, nicht gelenkt. Sie wußten nicht, was sie taten. Es dauerte etwas, sich daran zu gewöhnen.
Sax wanderte um die Halbinsel von Da Vinci, ein rechteckiges Stück Land, das den runden Randhügel des Kraters Da Vinci umgab und begrenzt wird von den Fjorden Simud, Shalbatana und Ravi, die alle in das südliche Ende des Chryse-Golfs einmünden. Zwei Inseln, Copernicus und Galileo, liegen im Westen in den Mündungen der Fjorde Ares und Tiu. Eine überaus üppige Verflechtung von Meer und Land, perfekt für das Hervorbringen von Leben. Die Ingenieure der Labors von Da Vinci hätten keine bessere Lage wählen können, obwohl Sax ziemlich sicher war, daß sie überhaupt keinen Sinn für ihre Umgebung gehabt hatten, als sie den Krater für die versteckten Areospace- Labors des Untergrundes gewählt hatten. Der Krater hatte einen dicken Rand und lag in guter Entfernung von Burroughs und Sabishii. Das war es auch schon. Ins Paradies gestolpert. In die Möglichkeit, mehr als die Beobachtungen einer Lebenszeit zu machen, ohne je das Haus zu verlassen.
Hydrologie, Invasive Biologie, Areologie, Ökologie, Materialforschung, Teilchenphysik, Kosmologie — alle diese Gebiete interessierten Sax ungeheuer, aber der größte Teil seiner täglichen Arbeit in diesen Jahren galt dem Wetter. Die Halbinsel von Da Vinci war gebeutelt von dramatischen Wettererscheinungen. Feuchte Stürme fegten durch den Golf nach Süden, trockene katabatische Winde fielen vom südlichen Hochland und aus den Fjordcanyons und bewirkten auf See große, gen Norden laufende Wellen. Wegen der Nähe des Äquators beeinflußte sie der Zyklus von Perihel und Aphel viel mehr als die gewöhnlichen Jahreszeiten infolge der Inklination. Das Aphel brachte mindestens zwanzig Grad nördlich des Äquators kaltes Wetter, während das Perihel den Äquator ebenso stark erwärmte wie den Süden. Im Januar und Februar stieg von der Sonne erwärmte südliche Luft in die Stratosphäre auf, wendete sich in der Tropopause nach Osten und vereinigte sich mit den Strahlströmen bei ihren Umrundungen des Planeten. Diese Strahlströme trennten sich um den Tharsis- Buckel. Der südliche Strom beförderte die Feuchtigkeit der Amazonisbucht und lud sie auf Daedalia und Icaria ab, manchmal sogar auf dem Westwall der Berge des Argyre-Beckens, wo sich dann Gletscher bildeten. Der nördliche Strahlstrom verlief über das Gebirge Tempe-Mareotis, blies dann über das Nordmeer und nahm bei jedem Sturm die Feuchtigkeit auf. Weiter im Norden, über der Polkappe, kühlte die Luft ab und sank auf den rotierenden Planeten. Dabei erzeugte sie Oberflächenwinde aus Nordost. Diese kalten trockenen Winde schoben sich zuweilen unter die wärmere Luft des Wetters der gemäßigten Monsune und erzeugten Fronten riesiger Gewitterköpfe, die über dem Nordmeer bis in Höhen von zwanzig Kilometern aufstiegen.
Die südliche Hemisphäre, in deren Bereich das Land gleichförmiger war als im Norden, hatte Winde, die deutlicher der Luftphysik über einer rotierenden Sphäre folgten. Südöstliche Monsune vom Äquator bis 30° Breite, überwiegend vom 30° bis 60° Breitengrad Westwinde und polare Ostwinde von dort bis zum Pol. Im Süden gab es große Wüsten, besonders zwischen dem 15° und dem 30° Breitengrad, wo die am Äquator aufgestiegene Luft wieder absank und hohen Luftdruck und warme Luft bewirkte, die eine Menge Wasserdampf enthielt, ohne jedoch zu kondensieren. Folglich regnete es in dieser Zone kaum. Dazu gehörten die außerordentlich trockenen Bereiche von Solis, Noachis und Hesperia. In diesen Regionen griff der Wind Staub von dem trockenen Boden auf; und die Staubstürme wurden dichter. Sax selbst hatte das zu seinem Leidwesen erfahren, als er mit Nirgal auf Tyrrhena war.
Das waren die Hauptkennzeichen des Wetters auf dem Mars: Heftig ums Aphel, milde während der Sonnen-Äquinoktien. In der südlichen Hemisphäre extrem, die nördliche gemäßigt. Das ungefähr schlugen einige Modelle vor. Sax liebte es, die Simulationen zu generieren, die solche Modelle erzeugten. Er war sich aber bewußt, daß ihre Übereinstimmung mit der Realität bestenfalls angenähert war. Jedes aufgezeichnete Jahr bot irgendeine Ausnahme, wobei sich die Bedingungen bei jeder Stufe des Terraformens änderten. Die Zukunft ihres Klimas ließ sich unmöglich vorhersagen, selbst wenn man die Variabein einfror und so tat, als ob sich das Terraformen stabilisiert hätte, was gewiß nicht der Fall war. Immer und immer wieder beobachtete Sax tausend Wetterjahre, veränderte Variable in dem Modell; und jedesmal raste ein völlig anderes Jahrtausend vorbei. Faszinierend. Die geringe Schwerkraft und die daraus resultierende Skalenhöhe der Atmosphäre, die Präsenz des Nordmeeres, das zufrieren konnte oder nicht, die zunehmende Luftdichte, der Zyklus von Perihel und Aphel, deren Exzentrizität langsamer Präzession durch die Jahreszeiten der Inklination unterlag — all dies hatte vielleicht vorhersagbare Effekte; aber in Kombination machten sie das Wetter des Mars sehr schwer zu verstehen. Und je mehr Versuche Sax machte, desto klarer wurde ihm, wie wenig sie wußten. Aber es war faszinierend; und er wurde nicht müde, den ganzen Tag das Spiel der Iterationen verfolgen.
Oder aber er saß einfach auf Simshai Point und sah zu, wie die Wolken über einen hyazinthfarbenen Himmel flogen. Kasei Fjord im Nordwesten war ein Windkanal für die stärksten katabatischen Winde des Planeten. Sie ergossen sich aus ihm auf den Chryse-Golf mit Geschwindigkeiten, die gelegentlich 500 Kilometer in der Stunde erreichten. Bevor diese Howler zuschlugen, konnte Sax über dem nördlichen Horizont die zimtfarbenen Wolken erkennen, die Vorboten. Zehn oder zwölf Stunden später wälzten sich vom Norden große Wogen heran und schlugen gegen die Meeresklippen, fünfzig Meter hohe Keile aus Wasser, das gegen den Fels sprühte, bis die ganze Luft über der Halbinsel ein dicker weißer Nebel war. Es war gefährlich, während eines Howlers auf See zu sein. Einmal, als er die Küstengewässer des südlichen Golfs in einem kleinen Katamaran erforschte, hatte er das zweifelhafte Vergnügen, mitten in einen hineinzugeraten.
Weit schöner war es, die Stürme von den Meeresklippen aus zu beobachten. Heute kein Howler, nur ein gleichmäßiger steifer Wind, und in der Ferne auf dem Wasser nördlich von Copernicus der schwarze Besen eines Gewitters, gepaart mit der Wärme der Sonne auf der Haut. Die globale Durchschnittstemperatur änderte sich jedes Jahr, rauf und runter, meistens rauf. Mit der Zeit als horizontaler Achse ergab das eine aufsteigende Gebirgskette. Das denkwürdige Jahr ohne Sommer war inzwischen Geschichte. Tatsächlich hatte es drei Jahre gedauert, aber die Leute wollten deswegen nicht den Namen ändern. Drei ungewöhnlich kalte Jahre — nein! Möglicherweise handelte es sich um eine Art Kompression der bei den Leuten unerwünschten Wahrheit. Symbolisches Denken. Die Menschen mußten Dinge miteinander verbinden. Sax wußte das, weil er viel Zeit in Sabishii mit Besuchen bei Michel und Maya verbracht hatte. Diese beiden liebten das Drama. Maya vielleicht mehr als die meisten, aber es lohnte sich, hinzuschauen. Ein Grenzfall von Demonstration der Norm. Sax machte sich Sorgen über Mayas Wirkung auf Michel. Michel schien nicht besonders fröhlich zu sein. Nostalgie — aus dem griechischen nostos, Heimkehr und algos, Schmerz. Also: Heimweh. Ein sehr treffender Ausdruck. Trotz ihrer Fehler konnten Worte manchmal sehr exakt sein. Das erschien als ein Paradoxon, bis man sich in die Funktion des Gehirns vertiefte. Dann wurde es weniger überraschend. Ein Modell der Wechselwirkung des Gehirns mit der physischen Realität, an den Rändern verschwommen. Selbst die Wissenschaft war gezwungen, das zugeben. Was nicht heißen sollte, den Versuch aufzugeben, Dinge zu erklären!
»Komm mit raus, und mach ein paar Feldstudien mit mir!« drängte er Michel.
»Bald.«
»Konzentriere dich auf den Augenblick!« schlug Sax vor. »Jeder Moment hat seine eigene Realität. Sein besonderes Sosein. Du kannst keine Voraussagen treffen, aber du kannst erklären. Oder es versuchen. Wenn du aufpaßt und Glück hast, kannst du sagen, dies ist der Grund, weshalb das geschieht! Das ist sehr interessant.«
»Sax, wann bist du denn zum Dichter geworden?«
Sax wußte darauf nicht zu antworten. Michel war immer noch von seiner immensen Nostalgie gebläht. Schließlich sagte Sax: »Nimm dir Zeit, mit nach draußen zu gehen!«
In den milden Wintern, wenn die Winde sanft waren, machte Sax Schiffsausflüge um das Südende des Chryse-Golfs. Des goldenen Golfs. Den Rest des Jahres blieb er auf der Halbinsel und machte vom Da-Vinci-Krater aus Spaziergänge zu Fuß oder Touren mit einem kleinen Wagen, bei denen er über Nacht blieb. Meistens betrieb er Meteorologie, obwohl er sich natürlich um alles kümmerte. Auf dem Wasser konnte er dasitzen und den Wind im Segel spüren, wenn er von einer Krümmung der Küste zur anderen steuerte. War er auf dem Landweg unterwegs, fuhr er morgens los und freute sich an der Aussicht, bis er eine gute Stelle fand. Dann pflegte er den Wagen anzuhalten und nach draußen zu gehen.
Hosen, Hemd, Windjacke, Bergstiefel, sein alter Hut waren alles, was er an diesem Tag des m-Jahres 65 brauchte. Ein Umstand, der ihn noch immer erstaunte. Gewöhnlich war das um die Zeit von 280s. Die globalen Mittelwerte stiegen um die Mitte von 270s stark an. Ein guter Durchschnitt empfand er — über dem Gefrierpunkt — und schickte einen thermischen Stoß in die seit Ewigkeiten gefrorene Wildnis. Dieser Stoß würde in rund zehntausend Jahren den Permafrost schmelzen. Aber natürlich blieb es nicht allein dabei.
Er wanderte über Tundramoos und Meerfenchel, Kedge und Gras. Leben auf dem Mars. Das war schon eine seltsame Sache. Tatsächlich überall Leben. Es war keineswegs klar, warum es erscheinen sollte. Sax dachte immer häufiger darüber nach. Warum nahm die Ordnung in irgendeinem Teil des Kosmos zu, wenn sonst überall nur Entropie zu erwarten war? Das verwirrte ihn sehr. Er war fasziniert, als Spencer eines Abends beim Bier an der Corniche von Odessa eine Stegreiferklärung gegeben hatte. Der hatte gesagt, in einem expandierenden Universum wäre Ordnung eigentlich nicht Ordnung, sondern bloß die Differenz zwischen aktuell dargebotener Entropie und der maximal möglichen Entropie. Diese Differenz sei das, was die Menschen als Ordnung wahrnähmen. Sax war überrascht, von Spencer eine so interessante kosmologische Theorie zu hören. Aber Spencer war ein Mann der Überraschungen. Dem tat auch sein überhöhter Alkoholkonsum keinen Abbruch.
Legte man sich ins Gras und betrachtete die Tundrablumen, konnte man nicht umhin, über das Leben nachzudenken. Im Licht der Sonne standen die kleinen Blüten auf ihren Stielen und leuchteten farbenprächtig. Ideogramme der Ordnung. Sie sahen nicht bloß nach einer Differenz im entropischen Niveau aus. Ein Blütenblatt hatte eine so feine Textur; von Licht getränkt schien fast jedes Molekül sichtbar zu sein: hier ein weißes, dort ein lavendelfarbenes und da ein clematisblaues. Diese pointillistischen Flecken waren natürlich keine Moleküle, die ja deutlich unter dem menschlichen visuellen Auflösungsvermögen lagen. Und selbst wenn Moleküle erkennbar gewesen wären, so waren die letzten Bausteine des Blütenblatts doch noch soviel kleiner, daß man sich das kaum vorstellen konnte. Sozusagen noch kleiner, als selbst die Einbildungskraft reichte. Obwohl unlängst die Arbeitsgruppe für Theorien in Da Vinci sich um Entwicklungen in der Superstringtheorie und Quantengravitation bemühte, waren sie bis zum Punkt nachprüfbarer Vorhersagen gekommen, der sich historisch als die große Schwäche der Stringtheorie erwiesen hatte. Verlockt durch diese Verbindung mit dem Experiment hatte Sax in letzter Zeit zu verstehen versucht, was sie da machten. Das bedeutete Verzicht auf Küstenspaziergänge zugunsten von Seminarräumen. Aber das hatte er in den regnerischen Jahreszeiten hinter sich gebracht, an den Nachmittagssitzungen teilgenommen, sich die Vorträge und anschließenden Diskussionen angehört, die hingekritzelte Mathematik auf den Bildschirmen studiert und die Morgenstunden mit Arbeiten über Riemannsche Flächen, Liesche Algebra, Eulersche Zahlen, die Topologie kompakter dreidimensionaler Räume, Differentialgeometrie, Graßmannsche Variable, Vlads Notoperatoren und alle übrige Mathematik, die erforderlich war, um dem zu folgen, worüber die jetzige Generation sprach, verbracht.
Mit einigen Punkten der Mathematik über Superstrings hatte er sich schon früher beschäftigt. Die Theorie gab es jetzt seit fast zwei Jahrhunderten; sie war aber spekulativ schon viel früher ins Gespräch gebracht worden, als es weder die Mathematik noch die experimentelle Möglichkeit gab, sie richtig zu erforschen. Diese Theorie beschrieb die kleinsten Partikel der Raumzeit nicht als geometrische Punkte, sondern als ultramikroskopische Schleifen, die in zehn Dimensionen schwingen, von denen sechs um die Schleifen kompakt sind und diese zu etwas exotischen mathematischen Gebilden machen. Der Raum, in dem sie schwingen, war von Theoretikern des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu Schleifenmustern, genannt Spin-Netze, quantifiziert worden, in denen Kraftlinien im feinsten Korn des Gravitationsfeldes irgendwie ähnlich wirkten wie die magnetischen Kraftlinien um einen Magneten, so daß die Strings nur in bestimmten Harmonien schwingen konnten. Diese supersymmetrischen Strings, die harmonisch in zehndimensionalen Spinnetzen schwingen, erklärten sehr elegant und plausibel die mannigfachen Kräfte und Partikel, die im subatomaren Niveau zu erkennen sind, wie auch alle Bosonen und Fermionen und deren gravitative Effekte. Darum erhob die voll ausgearbeitete Theorie den Anspruch, erfolgreich die Quantenmechanik mit der Gravitation zu verbinden, was seit mehr als zwei Jahrhunderten das Problem der Theoretischen Physik gewesen war.
Alles gut und schön und wirklich aufregend. Aber das Problem kam für Sax und viele andere Skeptiker mit der Schwierigkeit, irgend etwas von dieser schönen Mathematik experimentell zu bestätigen — eine Schwierigkeit, die in den äußerst geringen Größen der Schleifen und Räume der Theorie begründet lag. Sie lagen alle im Bereich von 10~33 Zentimetern, der sogenannten Planck-Länge. Und die war so viel kleiner als subatomare Partikel, daß man sich das schwer vorstellen konnte. Der typische Atomkern hatte einen Durchmesser von etwa lCh13 Zentimetern. Sax hatte zuerst einige Zeit lang versucht, sich diese Distanz vorzustellen. Das war hoffnungslos; aber man mußte versuchen, diese hoffnungslos winzige Größe für einen Moment im Geist festzuhalten. Und sich dann daran erinnern, daß man in der Stringtheorie über noch um zwanzig Größenordnungen kleinere Objekte sprach. Sax überlegte krampfhaft. Ein String verhielt sich also zur Größe eines Atoms wie diese zur Größe... des Sonnensystems. Ein Verhältnis, das rational kaum zu erfassen war.
Aber noch schlimmer — es war auch zu klein, um es experimentell zu untersuchen. Das war für Sax die Crux an diesem Problem. Physiker hatten in Beschleunigern Experimente bei Energieniveaus von der Größenordnung 100 GeV durchgeführt. Das ist hundertmal die Energie einer Protonenmasse. Von da aus hatten sie mit großer Mühe im Lauf vieler Jahre das sogenannte revidierte Standardmodell der Teilchenphysik aufgestellt. Dieses erklärte eine Menge, war wirklich eine erstaunliche Leistung und machte Vorhersagen, die durch Laborexperimente oder kosmologische Beobachtungen bewiesen oder widerlegt werden konnten, Vorhersagen, die so mannigfaltig waren und so gut bestätigt wurden, daß die Physiker zuversichtlich über vieles sprechen konnten, das sich in der Geschichte des Universums seit dem Urknall abgespielt hatte, bis zurück zum ersten Millionstel einer Sekunde der Zeit.
Aber die Stringtheorie wollte einen phantastischen Sprung über das revidierte Standardmodell hinaus zur Planckschen Länge tun, die den geringsten möglichen Bereich darstellte, der nicht verkleinert werden konnte, ohne in Widerspruch zu dem Verbotsprinzip von Pauli zu geraten. Es war irgendwie sinnvoll, über diese minimale Größe von Dingen nachzudenken. Aber um Ereignisse in diesem Maßstab wirklich zu sehen, wären Experimente mit einer Energie von mindestens 1019 GeV erforderlich, die man nicht darstellen konnte. Kein Beschleuniger würde jemals auch nur näherungsweise herankommen. Das Herz einer Supernova konnte man eher mit dem vergleichen. Nein. Ein großer Unterschied, weit wie eine Schlucht oder eine Wüste, trennte sie vom Planckschen Bereich. Es war eine Stufe der Realität, die für sie in jedem experimental-physikalischen Sinn unbekannt bleiben müßte.
So etwa war die gängige Meinung unter Skeptikern. Aber die an der Theorie Interessierten hatten sich nie davon abbringen lassen, das Phänomen zu studieren. Sie suchten nach einer indirekten Bestätigung der Theorie auf subatomarem Niveau, das aus dieser Perspektive gigantisch wirkte, und seitens der Kosmologie. Anomalien bei Phänomenen, die die revidierte Standardtheorie nicht erklären konnte, ließen sich vielleicht durch Vorhersagen deuten, die die Stringtheorie über den Planckchen Bereich machte. Es hatte allerdings nur wenige solche Vorhersagen gegeben, und die erwarteten Phänomene waren schwer nachzuweisen. Aber im Laufe der Jahrzehnte waren einige String-Enthusiasten immer tiefer in die mathematischen Strukturen eingetaucht, die weitere Verästelungen der Theorie offenbaren und mehr nachweisbare indirekte Resultate hervorbringen könnten. Das war alles, was sie tun konnten; und Sax hatte den Eindruck, daß es ein aussichtsreicher Weg für die Physik sein könnte. Er glaubte von ganzem Herzen an die experimentelle Physik. Wenn es sich nicht testen ließ, wenn es nur Mathematik blieb, war seine Schönheit bedeutungslos. Es gab Mengen schöner exotischer Felder der Mathematik. Aber wenn sie nicht die Welt der Phänomene modellierten, war Sax nicht interessiert.
Aber jetzt, nach all den Jahrzehnten der Arbeit, machten sie endlich Fortschritte auf den Wegen, die Sax interessant fand. Bei der neuen Super-Stoßapparatur im Rand des Rutherford-Kraters hatten sie das zweite Z-Teilchen gefunden, dessen Existenz die Stringtheorie lange vorhergesagt hatte. Und ein magnetischer Monopol-Detektor, der die Sonne außerhalb der Ebene der Ekliptik umkreiste, hatte eine Spur von etwas entdeckt, das wie ein fraktionell geladenes, unbegrenztes Partikel mit einer Masse von der Größe eines Bakteriums aussah — ein sehr seltener Blick auf ein ›schwach wechselwirkendes Massenpartikel‹ oder SWMP. Die Stringtheorie hatte dessen Existenz vorausgesagt, während die revidierte Standardtheorie sie nicht verlangte. Das rief nach Überlegungen; denn die Formen der Galaxien zeigten, daß ihre gravitierenden Massen zehnmal so groß waren, wie ihr visuelles Licht anzeigte. Falls die Dunkelmaterie durch schwach wechselwirkende Masseteilchen befriedigend erklärt werden konnte, dachte Sax, dann müßte man die dafür verantwortliche Theorie wirklich als sehr interessant ansehen.
Interessant auf andere Weise war der Umstand, daß eine führende Theoretikerin in diesem neuen Stadium der Entwicklung genau hier in Da Vinci arbeitete, und zwar als Teil der eindrucksvollen Gruppe, bei der Sax mitmachte. Sie war in Dorsa Brevia geboren und aufgezogen worden. Ihre Vorfahren waren japanisch und polynesisch. Für eine der jungen Eingeborenen war sie klein, obwohl noch immer um einen halben Meter größer als Sax. Schwarzes Haar, dunkle Haut, pazifische Gesichtszüge, sehr regelmäßig und etwas schlicht. Sie war gegenüber Sax scheu, ja gegenüber jedermann. Manchmal stotterte sie, was Sax höchst rührend fand. Aber wenn sie im Seminar aufstand, um einen Vortrag zu halten, wurde sie ganz sicher mit der Hand und sogar mit der Stimme, wenn sie ihre Gleichungen und Bemerkungen sehr rasch auf den Schirm schrieb, was wie eine kalligraphische Schnellschrift wirkte. In diesen Momenten beobachteten sie alle sehr genau, praktisch hypnotisiert. Sie arbeitete jetzt seit einem Jahr in Da Vinci; und jeder, der schlau genug war, so etwas zu bemerken, wußte, daß er ein Mitglied des Pantheons bei der Arbeit sah, das direkt hier vor ihren Augen die Realität entdeckte.
Die anderen jungen Türken unterbrachen natürlich ihre Fragen. In dieser Gruppe waren viele kluge Köpfe, und wenn sie Glück hatten, hielten sie alle beim Modellieren von Gravitonen und Gravitinos, Dunkelmaterie und Schattenmaterie zusammen — ganz ohne an Persönliches und tatsächlich alle Personen zu denken. Sehr produktive und erregende Sitzungen. Bao war hier deutlich die treibende Kraft, auf die man sich verließ und mit der man rechnen mußte.
Das war etwas beunruhigend. Sax waren schon früher Frauen in mathematischen und physikalischen Fakultäten begegnet; aber dies war der einzig weibliche mathematische Genius, von dem er in der ganzen langen Geschichte des mathematischen Fortschritts gehört hatte, der, wenn er jetzt daran dachte, eine eigenartig männliche Sache gewesen war. Gab es etwas so Männliches, wie es die Mathematik gewesen war? Und warum war das so?
Auf andere Weise enttäuschend war die Tatsache, daß Teile von Baos Arbeit auf den unpublizierten Aufsätzen eines Thai-Mathematikers namens Samui aus dem vorigen Jahrhundert beruhten, der in Bangkoks Bordellen gelebt und im Alter von 23 Jahren Selbstmord begangen hatte unter Hinterlassung von einigen ›letzten Problemen‹ nach Art von Fermat. Er hatte bis zum Ende behauptet, daß seine ganze Mathematik ihm von telepathischen Aliens diktiert worden sei. Bao hatte all das ignoriert und einige von Samuis obskuren Neuerungen erklärt und dann benutzt, um eine Gruppe von Formeln zu entwickeln, die fortgeschrittene Rovelli-Smolin-Operatoren genannt wurden, die es ihr ermöglichten, ein System von Spin-Netzen aufzustellen, die sehr schön mit den Superstrings verflochten waren. Dies war praktisch endlich die vollständige Vereinigung von Quantenmechanik und Gravitation. Wenn es stimmte, war das große Problem gelöst. Aber ob zutreffend oder nicht, es war stark genug gewesen, es Bao zu gestatten, einige spezifische Vorhersagen auf den größeren Gebieten von Atom und Kosmos zu machen, von denen manche inzwischen bestätigt worden waren.
Somit war sie jetzt wirklich die Königin der Physik; und die Experimentalisten in den Labors unterhielten ständige Datenverbindung mit Da Vinci, auf weitere Vorschläge von ihr erpicht. Die Nachmittagssitzungen im Seminarraum waren spürbar spannend und aufregend geworden. Max Schnell eröffnete die Versammlung und rief an manchen Stellen Bao auf. Sie stand dann auf und ging zu dem Schirm vorne im Raum, schlicht, graziös, zurückhaltend, und ließ den Stift über den Schirm fliegen, wenn sie ihnen eine Methode zeigte, genau die Neutrinomasse zu berechnen, oder sehr spezifisch darlegte, wie Strings vibrierten, um die verschiedenen Quarks zu bilden oder den Raum so quantifizierte, daß Gravitinos in drei Familien geteilt wurden und so weiter. Ihre Kollegen und Freunde, vielleicht zwanzig Männer und eine weitere Frau, unterbrachen sie, um Fragen zu stellen oder Gleichungen hinzuzufügen, die Nebenfragen klärten, oder den übrigen von den letzten Ergebnissen aus Genf oder Palo Alto oder Rutherford zu berichten. Während dieser Stunde merkten alle, daß sie sich im Mittelpunkt der Welt befanden.
In den Labors auf der Erde und dem Mars und im Asteroidengürtel wurden bei sehr delikaten Experimenten im Gefolge ihrer Arbeit ungewöhnliche Schwerewellen beobachtet. Besondere geometrische Muster wurden bei den feinen Fluktuationen in der kosmischen Hintergrundstrahlung enthüllt. Man sonderte WIMPs von Dunkelmaterie und WISPs von Schattenmaterie aus. Die verschiedenen Familien von Leptonen, Fermionen und Leptoquarks wurden erklärt. Die Galaktische Zusammenballung bei der ersten kosmischen Inflation wurde zumindest provisorisch gelöst und theoretisch untermauert. Es gab viele Beispiele. Es schien, als ob die Physik endlich an der Schwelle zur Endgültigen Theorie stünde. Oder wenigstens inmitten des nächsten Großen Schrittes.
In Anbetracht der Bedeutung dessen, was Bao tat, hatte Sax Scheu, mit ihr zu sprechen. Er wollte ihre Zeit nicht mit Trivialitäten vergeuden. Aber eines Nachmittags bei einer Kavaparty auf einem der Balkons über dem Kratersee von Da Vinci trat sie an ihn heran; noch scheuer und unsicherer als er selbst, so daß er in die ungewöhnliche Lage geriet, einer anderen Person zu helfen, für sie Sätze zu beenden und dergleichen. Er tat das, so gut er konnte; und sie stolperten so dahin, sprachen über seine alten RussellDiagramme für Gravitinos, die er jetzt für nutzlos hielt, aber sie sagte, daß die ihr immer noch behilflich wären, gravitative Aktionen zu erkennen. Und als er dann eine Frage über das Seminar dieses Tages stellte, war sie schnell entspannter. Gewiß, das war der Weg, es ihr behaglich zu machen. Er hätte gleich daran denken sollen. Es gefiel ihm selbst.
Danach sprachen sie ab und zu miteinander. Er hatte immer Mühe, sie aus sich herauszulocken, aber es war eine interessante Arbeit. Und als die trockene Jahreszeit kam im Äquinoktium des Herbstes und er sich anschickte, wieder aus dem kleinen Hafen Alpha hinauszusegeln, fragte er sie zögernd, ob sie gern mal mitkommen würde. Und sie stotterten eine Weile herum, mit dem Ergebnis, daß sie mit ihm am nächsten schönen Tag in einem der vielen kleinen Katamarane des Labors zum Segeln fuhr.
Bei Tagestouren blieb Sax in der kleinen Bucht, genannt die Florentine, südöstlich der Halbinsel, wo sich der Ravi-Fjord erweiterte, ehe er zur Hydroates- Bucht wurde. Dort hatte Sax Segeln gelernt, und dort war er immer noch am besten mit den Winden und Strömungen vertraut. Auf längeren Fahrten hatte er das Delta von Fjorden und Buchten am unteren Ende des Marineris-Systems erkundet, und drei- oder viermal war er die Ostseite des Chryse-Golfs hinaufgesegelt bis hin zum Mawrth-Fjord und entlang der Sinai-Halbinsel.
Aber an diesem speziellen Tag beschränkte er sich auf Florentine. Der Wind kam von Süden, und Sax kreuzte ihm entgegen und beanspruchte Baos Hilfe bei jedem Kurswechsel. Keiner von beiden sprach sonderlich viel. Um die Sache in Gang zu bringen, war Sax schließlich gezwungen, Fragen zur Physik zu stellen. Sie sprachen über die Wege, in denen Strings das eigentliche Gewebe der Raumzeit darstellten, statt nur Ersatz für Punkte in einem absoluten abstrakten Gitter zu sein.
Sax dachte darüber nach und sagte: »Machst du dir überhaupt keine Sorgen, daß die Arbeit an einem so weit jenseits des Bereichs der Experimentalphysik liegenden Thema sich als eine Art Kartenhaus erweisen könnte — umgeworfen durch eine simple Diskrepanz in der Mathematik oder eine spätere andere Theorie, die den Job besser erledigt oder leichter zu bestätigen ist?«
»Nein«, sagte Bao. »Etwas so Schönes wie dies hier muß wahr sein.«
»Hmm«, machte Sax. »Ich muß zugeben, daß es mir lieber wäre, wenn etwas Solides zutage treten würde. Etwas wie Einsteins Merkur — eine bekannte Diskrepanz in der vorhergegangenen Theorie, die die neue Theorie beseitigt.«
»Manche Leute würden sagen, daß die fehlende Schattenmaterie die Rechnung begleicht.«
»Möglicherweise.«
Sie lachte. »Ich sehe, du brauchst mehr. Vielleicht können wir doch etwas tun.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Sax. »Obwohl es natürlich hübsch wäre. Ich meine überzeugend. Wenn man etwas besser verstünde, so daß wir besser damit umgehen könnten. Wie das Plasma in den Fusionsreaktoren.« Das war ein Problem, das gerade in einem anderen Labor in Da Vinci bearbeitet wurde.
»Plasmen würden vielleicht besser verstanden, wenn man sie so modellierte, als hätten sie Muster, die von Spin-Netzen aufgeprägt wären.«
»Wirklich?«
»Das ist meine Meinung.«
Sie schloß die Augen, als ob sie alles auf der Innenseite ihrer Lider aufgeschrieben sehen könnte. Alles in der Welt. Sax empfand einen scharfen Stich von Neid oder — Verlust. Er hatte immer nach dieser Art von Einsicht verlangt. Und hier war sie, gleich neben ihm im Boot. Genie unmittelbar zu erleben war faszinierend.
»Glaubst du, daß diese Theorie das Ende der Physik sein wird?« fragte er.
»O nein. Obwohl wir die Grundzüge ausarbeiten könnten. Du weißt, die fundamentalen Gesetze. Das könnte möglich sein, sicher. Aber dann schafft jedes auftauchende Niveau seine eigenen Probleme. Die Arbeit von Taneev kratzt da nur an der Oberfläche. Das ist wie beim Schachspiel. Wir könnten alle Regeln lernen, aber dennoch nicht imstande sein, sehr gut zu spielen, eben wegen auftauchender Eigenschaften. So wie bekanntlich Figuren stärker sind, wenn sie sich außerhalb vom Zentrum des Spielfeldes befinden. Das steht nicht in den Regeln. Es ist ein Resultat aller Regeln zusammengenommen.«
»Wie das Wetter.«
»Ja. Wir verstehen Atome schon besser als das Wetter. Die Wechselwirkungen der Elemente sind zu komplex, als daß man ihnen folgen könnte.«
»Es gibt die Holonomie. Das Studium ganzer Systeme.«
»Aber das ist bisher reine Spekulation. Der Beginn einer Wissenschaft, wenn sich zeigt, daß es funktioniert.«
»Und was ist mit Plasmen?«
»Die sind sehr homogen. Es spielen nur ganz wenige Faktoren hinein, so daß man die Analysen der Spin-Netze anwenden könnte.«
»Du solltest der Fusionsgruppe davon erzählen.«
»Ja. Wirklich?« Sie machte ein überraschtes Gesicht.
»Ja.«
Dann kam ein scharfer Windstoß, und sie brauchten einige Minuten, bis das Boot reagierte. Der Mast zog die Segel knatternd an sich; bis sie wieder angeluvt hatten, und quer zu der auffrischenden Brise in die Sonne fuhren. Auf dem feinen schwarzen Haar, das in Baos Nacken zusammengerafft war, flimmerte Licht. Dahinter lagen die Meeresklippen von Da Vinci. Netzwerke, die bei der Berührung durch die Sonne zitterten — nein. Er konnte es nicht sehen, ob mit offenen oder geschlossenen Augen.
»Hast du dich jemals darüber gewundert«, fragte er vorsichtig, »daß du... eine der ersten großen weiblichen Mathematiker bist?«
Sie machte ein überraschtes Gesicht und wandte den Kopf ab. Er sah, daß sie darüber nachgedacht hatte. »Die Atome in einem Plasma bewegen sich nach Mustern, die große Fraktale der Muster von SpinNetzwerken sind«, erwiderte sie.
Sax nickte und stellte dazu weitere Fragen. Es erschien ihm möglich, daß sie imstande sein würde, der Fusionsgruppe von Da Vinci bei den Problemen zu helfen, die sie dabei hatten, einen Fusionsapparat von geringem Gewicht technisch zu realisieren.
»Hast du dich jemals im Ingenieurwesen betätigt? Oder Angewandte Physik?«
Sie antwortete gekränkt: »Ich bin Physikerin.«
»Ja, aber doch eher Theoretische Physikerin. Ich dachte an die Ingenieurseite.«
»Physik ist Physik.«
Er stieß noch einmal nach, diesmal indirekt. »Wann hast du mit der Mathematik angefangen?«
»Meine Mutti hatte mir mit vier quadratische Gleichungen vorgesetzt und alle Arten mathematischer Spiele. Sie war Statistikerin und auf das alles sehr versessen.«
»Und die Schulen von Dorsa Brevis...«
Sie zuckte die Achseln. »Die waren in Ordnung. Mathematik habe ich zumeist durch Lektüre betrieben und durch Korrespondenz mit der Fakultät in Sabishii.«
»Ich verstehe.«
Und dann sprachen sie wieder über die neuen Resultate von CERN, über Wetter und über die Fähigkeit des Segelbootes, auf ein paar Grade gegen den Wind zu kreuzen. In der folgenden Woche ging sie wieder mit ihm auf einen seiner Spaziergänge auf den Meeresklippen der Halbinsel. Es machte ihm große Freude, ihr die Tundra zu zeigen. Und im Laufe der Zeit, wobei sie ihn Schritt für Schritt führte, schaffte sie es, ihn zu überzeugen, daß sie vielleicht dem Verständnis nahe kämen, was auf dem Planckschen Niveau geschah. Eine wirklich erstaunliche Sache, dachte er, dieses Niveau intuitiv zu erkennen und dann die Spekulationen und Deduktionen anzustellen, die erforderlich waren, um der Sache Fleisch und Gestalt zu geben und eine sehr komplexe neue Physik für einen Bereich zu schaffen, der so klein und so weit von dem durch die Sinne erfaßbaren Bereich entfernt war. Wirklich Respekt gebietend. Der Struktur der Realität auf der Spur. Obwohl beide sich einig waren, daß, genau wie bei allen früheren Theorien, viele grundlegende Fragen unbeantwortet blieben. Das war unvermeidlich. So konnten sie also Seite an Seite im Gras in der Sonne liegen und so tief in die Blüte einer Tundrablume schauen, wie das nur möglich war; und ganz gleich, was auf dem Planck-Niveau geschah, leuchteten im Hier und Jetzt die Blütenblätter blau im Licht mit einer geheimnisvollen Kraft, die das Auge fesselte.
Tatsächlich machte das Liegen im Gras deutlich, wie stark der Permafrost schmolz. Die Schmelze lag auf einer harten Unterlage aus noch gefrorenem Boden, so daß die Oberfläche satt und morastig war. Als Sax aufstand, wurde sein Bauch in der Brise augenblicklich kalt. Er spreizte die Arme zum Sonnenlicht. Ein Photonenregen, der durch die Spin-Netze vibrierte. In vielen Regionen wurde Abwärme aus Kernkraftwerken in die kapillaren Gänge im Permafrost geleitet, erzählte er Bao, als sie zum Rover zurückgingen. Das machte in manchen feuchten Gebieten, die zur Sättigung an der Oberfläche neigten, Schwierigkeiten. Das Land schmolz gewissermaßen. Schlagartig Feuchtgebiete. Ein überaus aktives Biom. Obwohl die Roten Einspruch erhoben. Aber der größte Teil des Landes, der durch das Schmelzen des Permafrosts betroffen gewesen wäre, lag jetzt ohnehin unter dem Nordmeer. Das wenige, das über dem Meer blieb, sollte als Sumpf- und Marschland erhalten bleiben.
Der Rest der Hydrosphäre erfuhr fast genauso große Veränderungen der Oberfläche. Dagegen war nichts zu machen. Wasser nagte die Felsen sehr wirksam ab, obwohl das kaum zu glauben war, wenn man sah, wie ein zarter Wasserfall an einer Klippe hinunterfiel und zu weißem Nebel wurde, lange bevor er den Ozean erreichte. Dann aber gab es das Schauspiel gigantischer Howlerwellen, die so hart auf die Klippen schlugen, daß der Boden unter den Füßen zitterte. Ein paar Millionen Jahre in dieser Weise, und die Klippen würden erheblich erodiert sein.
»Hast du die Flußcanyons gesehen?« fragte Bao.
»Ja, ich habe Nirgal Vallis gesehen. Bemerkenswert, wie befriedigend es war, Wasser unten auf dem Boden zu sehen. So passend.«
»Ich wußte nicht, daß es hier draußen so viel Tundra gibt.«
Tundra war die vorherrschende Lösung für einen großen Teil der Gebirge im Süden, sagte er ihr. Tundra und Wüste. In der Tundra wurde das Gras sehr wirksam am Boden fixiert. Kein Wind konnte Schlamm oder Treibsand aufheben und wegblasen, und davon gab es hier eine reichliche Menge. Das machte es gefährlich, in gewissen Regionen zu reisen. In den Wüsten rissen die starken Winde große Mengen von Staub in den Himmel, welche die Temperaturen senkten und den Tag verdunkelten. Sie schufen große Probleme, wenn sie niedergingen, wie es Nirgal ergangen war. Plötzlich neugierig, fragte er: »Bist du schon einmal Nirgal begegnet?«
»Nein.«
Die Sandstürme in diesen Tagen waren natürlich nicht mit dem längst vergessenen Großen Sturm zu vergleichen, aber ein Faktor mußte doch beachtet werden: Eine Bedeckung der Wüstenfläche mit Mikrobakterien war eine vielversprechende Lösung, obwohl dadurch meist nur die oberste, nur Zentimeter dicke Schicht von Ablagerungen fixiert wurde. Und wenn der Wind den Rand dieser Decke wegriß, war das, was darunter lag, der Erosion ausgesetzt. Kein leicht zu lösendes Problem. Die Staubstürme würden sie noch durch Jahrhunderte begleiten.
Immerhin eine aktive Hydrosphäre. Das bedeutete Leben.
Baos Mutter starb beim Absturz eines kleinen Flugzeugs; und Bao als ihre jüngste Tochter mußte nach Hause und sich um alles kümmern, einschließlich des Familienheims. Wie man Sax sagte, war das aktive Ultimogenitur, also das Erbrecht des jüngsten Angehörigen, nach dem Muster des Matriarchats der Hopi. Bao war nicht sicher, wann sie zurück sein würde. Es war sogar möglich, daß sie sich länger dort aufhalten werden würde. Sie sah das ganz sachlich. Das waren einfach Dinge, die getan werden mußten. Sie hatte sich bereits in eine innere Welt zurückgezogen. Sax konnte ihr nur zum Abschied winken und kopfschüttelnd wieder in sein Zimmer gehen. Sie würden die Grundgesetze des Universums verstehen, ehe sie auch nur im geringsten mit gesellschaftlichen Dingen umgehen konnten. Ein besonders widerspenstiges Forschungsgebiet. Er rief Michel an und brachte etwas dieser Art zum Ausdruck. Michel sagte: »Das ist, weil die Kultur Fortschritte macht.«
Sax glaubte zu verstehen, was Michel meinte. Es gab rapide Veränderungen, was das Verhalten vielen Dingen gegenüber betraf. Wertewandel, wie Bela es nannte, die Mutation von Werten. Aber sie lebten immer noch in einer Gesellschaft, die mit Archaismen aller Art zu kämpfen hatte. Primaten schlössen sich noch immer zu Gruppen zusammen und hüteten ein Territorium, wobei sie zu Gott wie zu einem Bilderbuchvater beteten... »Manchmal denke ich, daß es überhaupt keinen Fortschritt gegeben hat«, sagte er und fühlte sich hart enttäuscht.
Michel protestierte. »Aber Sax, gerade hier auf dem Mars haben wir gesehen, wie Patriarchat und Eigentum ein Ende gefunden haben. Das ist eine der größten Errungenschaften in der menschlichen Geschichte.«
»Falls es stimmt.«
»Meinst du nicht, daß Frauen jetzt ebenso viel Macht haben wie Männer?«
»Soweit ich das beurteilen kann.«
»Vielleicht sogar noch mehr, wenn es um die Fortpflanzung geht.«
»Das ergäbe Sinn.«
»Und das Land liegt in der gemeinsamen Obhut aller. Wir haben noch unsere persönlichen Dinge als Eigentum; aber Land als Eigentum hat es hier nie gegeben. Das ist eine neue soziale Realität, mit der wir täglich zu kämpfen haben.«
So war das. Und Sax erinnerte sich, wie bitter die Konflikte in den alten Tagen gewesen waren, als Eigentum und Kapital an der Tagesordnung gewesen waren. Ja, vielleicht war es wahr: Patriarchat und Eigentum wurden abgeschafft. Zumindest auf dem Mars und zumindest jetzt. Wie mit der Stringtheorie könnte es lange dauern, bis es richtig in Ordnung gebracht werden würde. Immerhin war Sax selbst, der keinerlei Vorurteile hatte, erstaunt gewesen, eine weibliche Mathematikerin am Werk zu sehen. Oder, um genauer zu sein, ein weibliches Genie. Durch die er sozusagen prompt hypnotisiert wurde, so wie jeder andere Mann in der Gruppe der Theoretiker. Das ging so weit, daß er durch ihre Abreise völlig verwirrt war. Er sagte verlegen: »Auf der Erde scheinen die Menschen genau so viel zu kämpfen wie zuvor.«
Selbst Michel mußte das zugeben. Im Versuch, das abzuweisen, sagte er: »Bevölkerungsdruck. Da unten gibt es zu viele Menschen, und es werden ständig noch mehr. Du hast bei unserem Besuch gesehen, wie das war. Solange die Erde sich in dieser Situation befindet, ist der Mars bedroht. Und deshalb kämpfen wir auch hier oben.«
Sax verstand das. Es war in gewisser Weise tröstlich. Das menschliche Verhalten nicht von Grund auf böse oder töricht zu sehen, sondern halb rational auf eine gegebene historische Situation, eine Gefahr, reagierend. Man nahm, was man ergattern konnte, mit dem Hintergedanken, daß es nicht für alle reichen könnte. Man tat alles mögliche, um die eigene Nachkommenschaft zu schützen. Aber genau dadurch wurde natürlich jede Nachkommenschaft gefährdet, wegen dieser geballten selbstsüchtigen Aktionen. Aber man konnte es zumindest einen Versuch zur Vernunft nennen, eine erste Näherung.
»Jedenfalls ist es nicht so schlimm, wie es einmal gewesen ist«, sagte Michel. »Selbst auf der Erde haben die Leute jetzt weniger Kinder. Und sie reorganisieren sich recht gut in Kollektiven in Anbetracht der Flut und all der Unruhe, die ihr vorausgegangen ist. Es gibt da unten eine Menge sozialer Bewegungen, von denen viele durch das inspiriert sind, was wir hier tun. Und was Nirgal tut. Sie beobachten ihn noch und hören ihm zu, auch wenn er nicht spricht. Was er während unseres Besuches sagte, hat immer noch große Wirkung.«
»Das glaube ich.«
»Na also! Es wird besser, das mußt du zugeben. Und wenn die Behandlungen für Langlebigkeit nicht mehr wirken, wird es zu einem Gleichgewicht der Geburten und Todesfälle kommen.«
»Diese Zeit werden wir bald erreichen«, erklärte Sax düster.
»Warum sagst du das?«
»Anzeichen dafür erscheinen schon. Die Menschen sterben aus der einen oder anderen Ursache. Das Greisenalter ist nicht unproblematisch. Und so weiter zu leben wie wir, wenn das Greisentum längst hätte eintreten sollen... Es ist ein Wunder, daß wir so viel geschafft haben. Vermutlich hat das Altwerden seinen Sinn. Vielleicht die Vermeidung der Übervölkerung. Oder Platz zu schaffen für neues genetisches Material.«
»Das verheißt uns nicht Gutes.«
»Wir sind schon mehr als zweihundert Prozent über die alte mittlere Lebenserwartung hinaus.«
»Zugegeben, aber dennoch. Deswegen will man nicht, daß es ein Ende hat.«
»Nein. Aber wir müssen uns auf den Augenblick konzentrieren. Übrigens — kommst du mit mir hinaus aufs Feld? Das wird so unterhaltsam sein, wie du dir nur wünschen kannst. Es ist sehr interessant.«
»Ich werde versuchen, mich gelegentlich frei zu machen. Aber ich habe eine Menge Klienten.«
»Du hast viel freie Zeit. Du wirst sehen.«
In diesem Moment stand die Sonne hoch. Runde weiße Wolken türmten sich über ihren Köpfen und fanden sich in riesigen Anordnungen, die fast wie sich zu den Unterseiten hin abdunkelnder Marmor aussah. Cumulonimbus. Sax stand wieder auf der westlichen Klippe von Da Vinci und blickte über den Shalbatana- Fjord zu der Klippe, die die östliche Seite von Lunae Planum begrenzte. Hinter ihm erhob sich ein Berg mit flacher Kuppe, der den Rand des Kraters Da Vinci bildete. Heimatbasis. Er lebte nun schon sehr lange dort. In diesen Tagen ließ ihre Koop in Zusammenarbeit mit Spencers Labor in Odessa und anderswo viele Satelliten in den Orbit aufsteigen. Ebenso wie die Booster, eine Kooperative im Stil von Mondragon, die den Ring von Labors und Wohnsitzen im Rand betrieb, und auch die Felder und den See, der den Boden des Kraters füllte. Einige von ihnen ärgerten sich über Einschränkungen, die die Umweltgerichtshöfe den geplanten Projekten auferlegt hatten. Dazu gehörten auch neue Kraftwerke, die zuviel Wärme abgeben würden. In den letzten paar Jahren hatte der Globale Exekutivrat sogenannte K-Rationen ausgegeben, welche den Kommunen das Recht gaben, den festgesetzten Bruchteil eines Kelvin zur globalen Erwärmung beizutragen. Manche Roten Kommunen taten ihr Bestes, um K-Rationen zugewiesen zu bekommen, und benutzten sie dann nicht. Diese Maßnahme verhinderte neben laufenden Sabotageakten, daß die globale Temperatur besonders rasch anstieg, gleichgültig, was andere Kommunen taten. So etwa argumentierten die anderen Kommunen. Aber die Gerichtshöfe waren mit K-Rationen immer noch knauserig. Aufgetretene Fälle wurden von einem Gerichtshof der Provinz abgeurteilt; dann wurde das Urteil von der Globalen Instanz gebilligt, und das war es .darin. Keine Berufungen, sofern man keine beibringen konnte, die nicht von fünfzig anderen Kommunen mitunterzeichnet war, und selbst dann fiel die Berufung nur in den Morast der globalen Legislatur, wo ihr Schicksal von der undisziplinierten Meute in der Duma abhing.
Langsamer Fortschritt. Auch gerecht. Sax war zufrieden, wenn die globalen mittleren Temperaturen über dem Gefrierpunkt lagen. Ohne die Beschränkungen seitens des Globalen Exekutivrates konnte es leicht zu warm werden. Nein, er hatte es nicht mehr eilig. Er war ein Befürworter der Stabilisierung geworden.
Jetzt, an einem Periheltag draußen in der Sonne, herrschten erfrischende 281 K. Er ging am Klippenrand von Da Vinci entlang und hielt Ausschau nach alpinen Blüten in den Spalten des Gerölls. Als er danach auf den hellen Glanz der besonnten Fläche des Fjords schaute, kam ihm vom Klippenrand herunter eine große Frau entgegen, die eine Gesichtsmaske und einen Pullover trug, sowie große Kletterstiefel: Ann. Er erkannte sie sofort. Diese Gangart ließ keinen Zweifel. Es war leibhaftig Ann Clayborne.
Diese Überraschung versetzte seiner Erinnerung einen doppelten Stoß — an Hiroko, wie sie aus dem Schnee auftauchte, um ihn zu seinem Rover zu führen; und an Ann in Antarctica, wie sie über den Fels marschierte, um ihn zu treffen — aber warum?
Verwirrt versuchte er, dem Gedanken nachzuspüren. Ein Doppelbild, ein flüchtiges Einzelbild...
Dann stand Ann vor ihm, und die Erinnerungen waren verschwunden, vergessen wie ein Traum.
Er hatte sie seit ihrer gerontologischen Behandlung in Tempe nicht mehr gesehen und fühlte sich sehr unbehaglich. Vielleicht war das eine Furchtreakion. Natürlich war es unwahrscheinlich, daß sie ihn physisch angreifen würde, obwohl sie das schon einmal getan hatte. Aber es waren nicht solche Angriffe, die ihm Sorgen machten. Damals in Antarctica — er tastete nach der flüchtigen Erinnerung und verlor sie wieder. Erinnerungen am Rande des Bewußtseins gingen bestimmt verloren, wenn man sich entschlossen bemühte, sie wieder zu erlangen. Warum, das war ein Geheimnis. Er wußte nicht, was er sagen sollte.
Sie fragte durch ihre Gesichtsmaske: »Bist du jetzt gegen Kohlendioxid immun?«
Er sprach von der neuen Hämoglobinbehandlung und kämpfte um jedes Wort, wie er es nach dem Schlag getan hatte. Mitten in seiner Erklärung lachte sie laut heraus. »Krokodilblut, was?«
»Ja«, sagte er, da er ihren Gedanken erriet. »Krokodilblut und Rattengehirn.«
»Hundert Ratten.«
»Ja. Besondere Ratten«, sagte er und bemühte sich um Korrektheit. Mythen haben schließlich ihre eigene starre Logik, wie Levi-Strauss gezeigt hatte. Er wollte sagen, es wären geniale Ratten gewesen, hundert Stück, und jede einzelne ein Genie. Selbst seine miserablen graduierten Studenten mußten das zugeben.
»Veränderte Geister«, sagte sie und folgte seinem Gedankengang.
»Ja.«
»Also nach deinem Gehirnschaden zweimal verändert«, bemerkte sie.
»Das ist richtig.« Es war deprimierend, es sich so vorzustellen. Diese Ratten waren fern ihrer Heimat. »Plastische Verstärkung. Hast du...?«
»Nein. Habe ich nicht.«
Es war also immer noch dieselbe alte Ann. Er hatte gehofft, sie würde die Drogen bei ihrer Wiedererkennung benutzen. Das Licht sehen. Aber nein. Obwohl die Frau vor ihm nicht wie dieselbe Ann aussah, nicht genau. Der Ausdruck in ihren Augen. Er hatte sich an ihren Blick gewöhnt, der ein sicheres Zeichen von Haß zu sein schien. Seit ihrem Streit auf der Hades und schon davor. Er hatte genug Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen. Oder zumindest, es zu lernen.
Jetzt, mit aufgesetzter Gesichtsmaske und einem anderen Zug um die Augen, wirkte es fast wie ein fremdes Gesicht. Sie beobachtete ihn scharf, aber die Haut um ihre Augen war nicht mehr so verkrampft. Runzlig wohl, sie und er hatten beide sehr viele Runzeln; aber diese Runzeln ließen auf ein entspanntes Gewebe schließen. Es schien möglich, daß die Maske sogar ein leichtes Lächeln verbarg. Es wußte nicht, was er davon halten sollte.
»Ihr habt mir die gerontologische Behandlung gegeben«, sagte sie.
»Ja.«
Sollte er sagen, daß es ihm leid täte, wenn das nicht so wäre? Er starrte sie mit gelähmter Zunge und verkrampftem Kiefer an wie ein von einer Schlange gebannter Vogel und hoffte auf irgendein Zeichen, daß sie in Ordnung war, daß er das Richtige getan hatte.
Sie zeigte plötzlich auf die Umgebung. »Was willst du jetzt machen?«
Er bemühte sich, den Sinn ihrer Äußerung zu verstehen, die ihm so rätselhaft vorkam wie ein Koan. Er sagte: »Ich bin draußen, um zu schauen.« Ihm fiel nichts ein, was er sonst hätte sagen sollen. Sprache, all diese schönen köstlichen Worte, waren plötzlich davongeflattert wie eine Schar aufgescheuchter Vögel. Alle außer Reichweite. Der Sinn verschwunden.
Nur noch zwei Tiere, die da in der Sonne standen. Schau, schau, schau!
Sie lächelte nicht mehr, falls sie es zuvor überhaupt getan hatte. Sie schleuderte ihm auch keine Dolche in ihren Blicken entgegen. Eine eher abschätzende Miene, ganz so als wäre er ein Stein. Bei Ann bedeutete das Fortschritt.
Aber dann machte sie kehrt und ging fort, die Klippe hinunter zu dem kleinen Hafen von Zed.
Sax kehrte etwas verblüfft zum Da-Vinci-Krater zurück. Dort hielten sie ihre alljährliche Partie Russisches Roulette ab, in der sie auf ein Jahr die Repräsentanten für die globale Legislatur und auch die verschiedenen Koop-Posten auswählten. Nach dem Ritual der aus einem Hut gezogenen Namen dankte man den Leuten, die im vorigen Jahr diesen Job getan hatten und tröstete die, auf welche dieses Jahr das Los gefallen war. Und die meisten von ihnen feierten wieder einmal, daß sie davongekommen waren.
Man hatte die Methode der Auslosung für administrative Jobs in Da Vinci gewählt, weil das der einzige Weg war, die Leute dazu zu bringen, sie zu übernehmen. Ironischerweise hatten sich die Techniker von Da Vinci nach allen ihren Bemühungen, jedem Bürger das Höchstmaß an Selbstmanagement zuteil werden zu lassen, als allergisch gegen die damit verbundene Arbeit erwiesen. Sie wollten nur ihre Forschung betreiben. »Wir sollten die Verwaltung ganz den Computern überlassen«, sagte Kouta Arai jedes Jahr zwischen den Schlucken aus einem Steinkrug mit schäumendem Bier. Aonia, die Dumarepräsentantin des vorigen Jahres, sagte zur diesjährigen Wahl: »Du gehst nach Mangala und sitzt herum und diskutierst; und der Stab tut die anfallende Arbeit. Das meiste davon ist an den Rat oder die Gerichtshöfe oder die Parteien abgegeben worden. Es sind die Apparatschiki des Freien Mars, die diesen Planeten wirklich betreiben. Aber es ist eine recht hübsche Stadt, in der Bucht kann man schön Bootfahren und im Winter Eissegeln.«
Sax ging weg. Jemand beklagte sich über die vielen neuen Hafenstädte, die am Südgolf entstanden, zu dicht, um noch behaglich zu sein. Politik in ihrer verbreitetsten Form: Klagen. Niemand will etwas tun, aber ein jeder genießt es, sich zu beklagen. Diese Art von Gerede würde etwa eine halbe Stunde lang weitergehen, um dann wieder auf die Arbeit zurückzukommen. Es gab eine Gruppe, die Sax schon am Ton ihrer Stimmen erkennen konnte. Er ging hinüber und bemerkte, daß sie über Fusion sprachen. Sax blieb stehen. Es schien, daß sie über neue Entwicklungen in ihren Labors bei der Konstruktion eines gepulsten Kernfusionsmotors erregt waren. Kontinuierliche Fusion war schon vor Jahrzehnten erzielt worden; aber dafür waren extrem massive Tokamaks erforderlich, Aggregate, die zu groß, zu schwer und zu kostspielig waren, um in den meisten Anwendungsbereichen benutzt werden zu können. Aber dieses Labor versuchte, viele kleine Treibstoffkügelchen in rascher Folge hinein implodieren zu lassen und die Resultate der Fusion als Energiequelle zu nutzen.
»Hat Bao zu euch darüber gesprochen?« fragte Sax.
»Nun ja, ehe sie abreiste, kam sie herüber, um mit uns über Plasmamuster zu reden. Das war nicht unmittelbar hilfreich. Dies hier ist wirklich makro im Vergleich mit dem, was sie macht; aber sie ist so verdammt schlau; und nachher sagte sie Yananda etwas, wie wir die Implosion versiegeln und trotzdem einen Platz für spätere Emission lassen können.«
Sie benutzten ihre Laser, um die Kügelchen von allen Seiten zugleich treffen zu können. Aber es mußte auch einen Auslaß für geladene Partikel geben. Bao hatte sich offenbar für das Problem interessiert; und jetzt kehrten sie wieder zu einer lebhaften Diskussion darüber zurück, was sie endlich erreicht zu haben glaubten. Und wenn jemand in den Kreis hereinschneite und die Lotterieergebnisse des Tages erwähnte, wiesen sie ihn an. »Ka, bitte keine Politik!«
Als Sax weiterging und halb den Gesprächen lauschte, die er im Vorbeigehen erhaschte, war er von neuem betroffen von dem unpolitischen Charakter der meisten Wissenschaftler und Techniker. Gegen Politik schienen sie allergisch zu sein. Das fühlte auch er. Das mußte er zugeben. Politik war unabweisbar subjektiv und kompromißlerisch, ein Prozeß, der völlig gegen den Kern der wissenschaftlichen Methode ging. Was war richtig? Diese Gefühle und Vorurteile waren an sich subjektiv. Man konnte versuchen, Politik als eine Art Wissenschaft zu sehen, etwa als eine lange Reihe von Experimenten über kommunales Leben, wobei alle Daten durchweg verunreinigt waren. So stellten Leute ein hypothetisches Regierungssystem auf, die Leute lebten es und prüften, wie sie sich damit fühlten. Dann änderten sie das System und starteten einen neuen Versuch. Im Laufe der Jahrhunderte schienen gewisse Konstanten oder Prinzipien aufgetaucht zu sein, während sie ihre Experimente und Paradigmen verfolgten und sukzessive nähere Approximationen von Systemen suchten, die Qualitäten wie physisches Wohlergehen, individuelle Freiheit, Gleichheit, Fürsorge für das Land, gelenkte Märkte, gesetzliche Regeln und allgemeines Mitgefühl förderten. Nach wiederholten Experimenten war klar geworden — zumindest auf dem Mars —, daß alle diese bisweilen widersprüchlichen Ziele am besten in einer Polyarchie realisiert werden konnten, einem komplexen System, in dem die Macht auf eine Anzahl von Institutionen verteilt war. Theoretisch schuf dieses System der geteilten Macht, teils zentralisiert und teils dezentralisiert, ein Höchstmaß an individueller Freiheit und kollektivem Wohlergehen durch Maximierung der Kontrolle, die das Individuum über das eigene Leben hatte.
Das hatte es auf sich mit der politischen Wissenschaft. In der Theorie eine feine Sache. Aber daraus folgte, daß die Menschen, wenn sie an die Theorie glaubten, eine angemessene Zeit der Ausübung ihrer Macht widmen mußten. Das war Selbstregierung. Eine Tautologie: Das Selbst regierte. Und das erforderte Zeit. »Jene, die die Freiheit schätzen, müssen die erforderliche Anstrengung unternehmen, sie zu verteidigen«, wie Tom Paine gesagt hatte — ein Faktum, das Sax kannte, weil Bela die schlechte Gewohnheit angenommen hatte, in den Hallen Plakate aufzustellen, auf denen so anregende Sprüchlein standen. »Wissenschaft ist Politik mit anderen Mitteln«, hatte eine andere, etwas mysteriöse Äußerung gelautet.
In Da Vinci aber wollten die meisten Leute ihre Zeit nicht auf diese Weise verbringen. »Der Sozialismus wird nie siegen«, hatte Oscar Wilde bemerkt (handschriftlich auf einem anderen Plakat zu finden), »er nimmt zu viele Abende in Anspruch.« So war es auch; und die Lösung bestand darin, daß man seine Freunde veranlaßte, ihre Abende für einen in Anspruch zu nehmen. Daher die Lotteriemethode bei der Wahl, ein kalkuliertes Risiko, weil man eines Tages den Job selbst aufgehalst bekommen könnte. Aber gewöhnlich lohnte sich das Risiko. Das zeigte die Fröhlichkeit bei der diesjährigen Party. Die Gäste strömten durch die Glastüren des Gemeindehauses ein und aus zu den freien Terrassen mit Blick auf den Kratersee und führten lebhafte Unterhaltungen. Auch die Einberufenen wurden allmählich, nachdem sie sich mit Kavajava und Alkohol getröstet hatten, wieder fröhlicher. Und vielleicht war dabei auch der Hintergedanke, daß Macht schließlich Macht bedeutet. Gut, es war eine auferlegte Pflicht, aber die diesmal an der Reihe waren, konnten immerhin die eine oder andere Kleinigkeit ausrichten, die ihnen sicher gerade jetzt einfiel — Rivalen Steine in den Weg legen, Leuten, die sie beeindrucken wollten, Gefälligkeiten erweisen etc. Somit hatte das System wieder einmal funktioniert. Es gab frische Persönlichkeiten, die den ganzen polyarchischen Apparat füllten, die Ausschüsse für Nachbarschaft, für Wasser, für Bauaufsicht, für Projektbeurteilung und für ökonomische Koordination, für die Koordination all dieser kleineren Körperschaften, und für die Beratung der globalen Delegierten — das ganze Netz kleiner Managementgruppen, die progressive Theoretiker der Politik in der einen oder anderen Variante seit Jahrhunderten immer wieder vorgeschlagen hatten. Darin waren einbezogen der fast vergessene Gewerkschaftssozialismus von Großbritannien, die Arbeiterfürsorge im einstigen Jugoslawien, Landbesitz in Kerala und so weiter. Und bisher schien es in dem Sinne zu funktionieren, daß die Ingenieure von Da Vinci wohl etwa ebenso selbstbewußt und zufrieden schienen, wie sie es während der ad hoc im Untergrund verbrachten Jahre gewesen waren, als alles (scheinbar) nach Instinkt oder, um genauer zu sein, nach dem allgemeinen Konsens der (damals viel kleineren) Bevölkerung von Da Vinci geschah.
Sie schienen glücklich zu sein. Draußen auf den Terrassen standen sie in langen Reihen bei großen Krügen mit Kavajava und Irish Coffee, in lebhaften Gruppen zusammengeballt, daß die Gesamtheit der Stimmen wie Wellenrauschen klang, so wie bei jeder Cocktailparty. All diese Stimmen zusammen bildeten einen erstaunlichen Sound. Ein Chor aus Gesprächen. Es war eine Musik, der außer Sax niemand bewußt lauschte, zumindest soweit er erkennen konnte. Aber beim Hinhören kam ihm die starke Vermutung, daß dieser Klang, wenn man ihn unbewußt vernahm, das war, was die Menschen auf Parties so fröhlich und gesellig machte. Man bringe zweihundert Leute zusammen, die so laut reden, daß jede Konversation nur von ihrer kleinen Gruppe vernommen werden kann — diese Musik machten sie!
Also war der Betrieb von Da Vinci ein gelungenes Experiment, trotz des Umstands, daß die Bürger kein Interesse daran zeigten. Andernfalls wären sie nicht so vergnügt gewesen. Vielleicht war es eine gute Strategie, die Regierung zu ignorieren. Vielleicht war eine gute Regierung dadurch definiert, daß man sie ohne Schaden ignorieren konnte, »damit ich endlich an meine eigene Arbeit gehen kann!«, wie ein fröhlich beschwipster vormaliger Chef eines Wassergremiums gerade sagte. Selbstregierung wurde nicht als ein Teil der eigenen Arbeit angesehen!
Obwohl es natürlich Leute gab, denen die Arbeit wirklich gefiel, das Zusammenspiel von Theorie und Praxis, der Disput, das Problemlösen, die Zusammenarbeit mit anderen, der Dienst an anderen als eine Art Geschenk, das endlose Reden, die Macht. Und diese Leute blieben noch, um zwei Amtszeiten zu absolvieren oder drei, sofern man es ihnen gestattete. Und dann übernahmen sie eine andere freiwillige Aufgabe, die sich anbot. Tatsächlich übernahmen die meisten dieser Leute mehr als eine Aufgabe zugleich. Bela zum Beispiel hatte behauptet, daß ihm die Leitung des Labors der Labore nicht gefiele; aber jetzt trat er direkt der freiwilligen Beratungsgruppe bei, in der immer die Gefahr bestand, daß einige Stellen unbesetzt blieben. Sax ging zu ihm hinüber.
»Würdest du Aonia beipflichten, daß Freier Mars eine dominierende globale Politik darstellt?«
»O gewiß, ohne Zweifel. Die sind einfach so groß. Und sie haben die ökologischen Gerichtshöfe im Griff und so einiges in ihrem Sinne hingekriegt. Ich denke, sie wollen alle neuen Asteroidenkolonien kontrollieren. Und im übrigen auch die Erde erobern. Alle politisch ehrgeizigen jungen Eingeborenen treten der Partei bei, wie Bienen sich der Blüte nähern.«
»Versuchen, andere Siedlungen zu dominieren... «
»Ja?«
»Das klingt nach Ärger.«
»Allerdings.«
»Hast du von dieser leichtgewichtigen Fusionsmaschine gehört, über die sie reden?«
»Ja, flüchtig.«
»Du solltest dich etwas mehr darum kümmern. Falls wir derartige Motoren in Raumschiffe montieren könnten... «
»Ja, Sax?«
»Ein so schneller Transport könnte die Vorherrschaft jeder anderen Partei knacken.«
»Meinst du?«
»Nun, es würde eine schwer zu kontrollierende Lage ergeben.«
»Ja, das nehme ich an. Hmm — gut, ich muß darüber nachdenken.«
»Jawohl. Denk daran: Wissenschaft ist Politik mit anderen Mitteln.«
»Allerdings, ganz gewiß.« Und Bela ging wieder zu den Bierkrügen, murmelte vor sich hin und begrüßte dann eine andere Gruppe, die sich ihm näherte.
So kam spontan jene bürokratische Klasse zum Vorschein, die der Schrecken so vieler Theoretiker gewesen war. Die Experten, die die Politik kontrollierten und vermutlich nie wieder loslassen würden. Aber wem sollten sie die auch hinterlassen? Wer sonst wollte sie haben? Niemand, soweit Sax sehen konnte. Bela konnte für immer im Beratungsausschuß bleiben, sollte er Lust dazu haben. Experte kommt vom lateinischen experiri, versuchen. Wie im Wort Experiment. Also handelte es sich um eine Regierung durch die Experimentatoren. Versuch durch die Versucher. Tatsächlich Regierung durch die daran Interessierten. Also eine weitere Art von Oligarchie, der Herrschaft weniger. Hatten sie aber eine andere Wahl? Wenn man Mitglieder in die regierende Körperschaft einberufen mußte, dann wurde der Begriff der Selbstherrschaft als Aspekt einer liberaler Regierungsform irgendwie widersprüchlich.
Hector und Sylvia, aus Baos Seminar, platzten in Saxens Träumerei und luden ihn ein, herunterzukommen und ihre Musikgruppe mit einer Auswahl von Liedern aus Maria dos Buenos Aires anzuhören. Sax sagte zu und folgte ihnen.
Außerhalb des kleinen Amphitheaters, wo die Darbietung stattfinden sollte, hielt Sax an einer Theke an und spendierte noch eine kleine Tasse Kava. Die Stimmung des Festivals stieg rund um sie an. Hector und Sylvia eilten nach unten, um sich vorzubereiten. Sie fieberten vor Erwartung. Sax beobachtete sie und erinnerte sich an seine kürzliche Begegnung mit Ann. Hätte er nur nachdenken können! Er war ja völlig unlogisch gewesen! Hätte er nur daran gedacht, wieder Stephen Lindblom zu werden, vielleicht hätte das geholfen. Wo war Ann jetzt, was dachte sie? Wanderte sie nur über die Oberfläche des Mars wie ein Geist, von einer Roten Station zur anderen? Was machten die Roten jetzt, wie lebten sie? Hatten sie vorgehabt, Da Vinci zu bombardieren, und hatte diese zufällige Begegnung einen Überfall aufgehalten? Nein, nein. Da draußen gab es immer noch Saboteure, die die Projekte störten. Aber innerhalb der legalen Grenzen des Terraformens hatten die meisten Roten irgendwie wieder in die Gesellschaft zurückgefunden. Unter den übrigen gab es eine politische Hauptrichtung, wachsam, leicht streitsüchtig und tatsächlich mehr an politischer Arbeit interessiert als die im Schnitt weniger ideologischen Normalbürger. Aber trotzdem durch gerade diese Tendenz normalisiert. Wo würde Ann hineinpassen? Mit wem tat sie sich zusammen?
Er brauchte sie nur anzurufen und fragen.
Aber er scheute sich davor. Er fürchtete sich, mit ihr zu sprechen! Zumindest über das Handgelenk. Und offenbar auch persönlich. Sie hatte nicht gesagt, was sie davon hielt, daß er ihr gegen ihren Willen die Behandlung verpaßt hatte. Kein Dank, kein Fluch. Nichts. Was dachte sie wohl?
Er seufzte und trank von seinem Kava. Da unten fingen sie an. Hector sang ein Rezitativ auf spanisch. Seine Stimme war so musikalisch und ausdrucksvoll, daß es fast war, als ob Sax ihn nur durch seine Stimme allein verstehen könnte.
Ann, Ann, Ann. Dieses quälende Interesse an den Gedanken eines anderen war so lästig. Viel leichter war es, sich auf den Planeten zu konzentrieren, auf Steine und Luft, auf die Biologie. Das war eine Beschäftigung, die Ann selbst verstehen würde. Und die Ökopoesis hatte etwas fundamental Fesselndes an sich. Die Geburt einer Welt. Außerhalb ihrer Kontrolle. Dennoch fragte er sich, was sie daraus machte. Vielleicht würde er ihr wieder zufällig begegnen.
Inzwischen — die Welt. Er ging wieder zu ihr hinaus. Zerknittertes Land unter der blauen Kuppel des Himmels. Der gewöhnliche Himmel änderte im Frühling am Äquator seine Farbe von Tag zu Tag. Man brauchte eine Farbskala, um die Farbtöne auch nur näherungsweise zu bestimmen. An manchen Tagen war es tief violettblau, clematisblau, hyazinthenblau oder lapislazuli oder leicht purpurnes Indigo. Oder preußischblau, ein Pigment, das aus Cyaneisenverbindungen gemacht wurde — interessant, weil es da oben sicher viel eisenhaltiges Material gab. Eisenblau. Ein wenig mehr purpurn als der Himmel des Himalaya, wie man ihn auf Fotografien sieht oder auch der Himmel der Erde in so großen Höhen. Und in Verbindung mit dem felsigen Gelände sah es aus wie eine Landschaft in großer Höhe. Alles. Die Himmelsfarbe, der zerknitterte Fels, die kalte dünne Luft, die so rein und ruhig war. Alles war so hoch. Sax ging gegen den Wind, quer zum Wind oder mit dem Wind im Rücken und fühlte sich jedesmal anders. In seinen Nasenlöchern war der Wind leicht berauschend und überflutete ihm das Hirn. Er trat von Stein zu Stein auf von Flechten überkrustete Blöcke, als ob er auf einem privaten Fußweg wandelte, der magisch aus dem zerklüfteten Land auftauchte, auf und ab, jeder Schritt bloß ein Schritt, achtsam in Wahrnehmung des Augenblicks wandernd. Vom einem Moment zum nächsten und dann zum folgenden, jeder einzeln für sich, wie Baos Schleifen in der Raumzeit, wie die aufeinanderfolgenden Haltungen des Kopfs eines Finken und der kleinen Vögel, die von einer gequantelten Pose zur nächsten hüpften. Bei genauem Hinsehen schien es, als ob die Momente nicht regelmäßige Einheiten wären, sondern in ihrer Dauer verschieden, je nachdem, was in ihnen geschah. Der Wind ließ nach, keine Vögel in Sicht. Alles plötzlich still, bis auf das Summen der Insekten. Solche Augenblicke konnten manchmal mehrere Sekunden dauern. Wenn dagegen Sperlinge mit eine Krähe zankten, waren die Momente fast instantan. Man mußte genau hinsehen. Manchmal war es ein Fluß, manchmal das Platschen individueller Ruhepausen.
Erkenntnis. Es gab unterschiedliche Wege zur Erkenntnis. Aber keiner von ihnen war, wie Sax entschied, so befriedigend wie die direkte Sinneswahrnehmung. Hier draußen im strahlenden Frühlingslicht und dem kalten Wind kam er an den Rand einer Klippe und schaute hinab auf die ultramarine Fläche des Simud-Fjords, versilbert durch Myriaden Lichtsplitter, die vom Wasser blitzten. Die Klippen auf der anderen Seite waren Bänder aus Bodenschichten durchzogen, von denen einige zu grünen Leisten im Basalt geworden waren. Möwen, Papageientaucher, Seeschwalben, Lummen, Fischadler — alle wirbelten in den Luftstrudeln unter ihm auf und ab.
Während er die verschiedenen Fjorde erkundete, entdeckte er seinen Favoriten. Florentine, ein hübsches Oval aus Wasser direkt südöstlich von Da Vinci.
Ein Spaziergang auf den darüber liegenden niedrigen Küstenfelsen war immer malerisch. Auf Steinen wuchs dickes mattenartiges Gras. Es sah so aus, wie Sax sich die irische Küste vorstellte. Die Ecken des Landes wurden weich, als Humus und pflanzliches Leben die Spalten auszufüllen begann und sich an Hänge klammerte, die dem Schüttungswinkel trotzten, so daß man über Polster schritt, die zwischen den scharfen Zähnen noch kahler Felsen hochquollen.
Von der See her strömten Wolken gen Norden, und es regnete in gleichmäßig wiederkehrenden Sintfluten, die alles durchtränkten. Am Tag nach einem solchen Sturm dampfte die Luft, das Land gurgelte und tropfte, und bei jedem Schritt, der keinen festen Stein traf, quietschte Heide, Moor, Sumpf. Knorrige kleine Wälder in den tiefen Gräben. Aus dem Augenwinkel war ein schneller brauner Fuchs zu sehen, der hinter einen Wacholder flitzte. Vor ihm auf der Flucht, vor etwas anderem? Nicht festzustellen. Das war seine persönliche Angelegenheit. Wellen, die an die Meeresklippen stießen und zurückschlugen, bildeten mit den ankommenden Wellen Interferenzmuster, wie sie direkt aus einem physikalischen Wellentank kommen könnten. So schön — und so merkwürdig, daß die Welt mit der mathematischen Formulierung so übereinstimmte. Die irrationale Wirksamkeit der Mathematik steckte im Herzen des großen Unerklärbaren.
Jeder Sonnenuntergang war anders infolge der Schwebeteilchen in der oberen Atmosphäre. Sie stiegen so hoch auf, daß sie oft von der Sonne bestrahlt wurden, wenn bereits alles andere im großen Schatten der Dämmerung lag. Sax saß oft auf der westlichen Meeresklippe, hingerissen durch den Sonnenuntergang. Und dann blieb er während der Stunde der Dämmerung da und beobachtete, wie sich die Farben des Himmels änderten, wenn der Schatten des Planeten aufstieg, bis der ganze Himmel schwarz war. Danach erschienen bisweilen leuchtende Nachtwolken, dreißig Kilometer .über dem Planeten schwebende breite Streifen, die wie Perlmuttschalen schimmerten.
Der zinnfarbene Himmel eines dunstigen Tages. Der blumige Sonnenuntergang in voller Pracht. Die Wärme der Sonne auf der Haut, friedvoll an einem windstillen späten Nachmittag. Die Wellenmuster unten auf dem Meer. Das Gefühl des Windes und sein Anblick.
Aber einmal, inmitten einer Indigodämmerung unter der funkelnden Schar dicker unscharfer Sterne, wurde ihm unbehaglich. »Die schneeigen Pole des mondlosen Mars«, hatte Tennyson gerade ein paar Jahre vor deren Entdeckung geschrieben. Mondloser Mars. Es war in dieser Stunde gewesen, an der Phobos wie ein Leuchtfeuer über dem westlichen Horizont heraufgeschossen war. Ein Moment von Areophanie, wenn es je eine gegeben hatte. Furcht und Schrecken. Und er, Sax, hatte selbst die Entfernung der Satelliten vollendet. Sie hätten jede auf Deimos errichtete Militärbasis hochjagen können. Was hatte er gedacht? Er konnte sich nicht entsinnen. Ein gewisses Verlangen nach Symmetrie — runter, rauf. Aber Symmetrie war vielleicht eine Eigenschaft, die von Mathematikern mehr geschätzt wurde als von den übrigen Menschen. Hinauf. Irgendwo kreiste Deimos immer noch um die Sonne. »Hmm.« Er schaute auf sein Handgelenk. Eine Menge neuer Kolonien entstanden da draußen. Die Menschen höhlten Asteroiden aus und versetzten sie dann in Rotation, um in ihrem Innern eine Schwerewirkung zu erzielen und dann einzuziehen. Neue Welten.
Ein Wort fiel ihm ins Auge: Pseudophobos. Er schaute nach und las: Inoffizieller Name eines Asteroiden, der dem verlorenen Mond irgendwie nach Größe und Gestalt ähnelte. »Hmmm.« Sax tastete weiter und bekam ein Foto. Nun, die Ähnlichkeit war oberflächlich. Ein dreiachsiges Ellipsoid — aber waren das nicht alle? Die Form einer Kartoffel, die richtige Größe, an einem Ende hart verbeult, ein Krater wie Stickney. Es hatte darin eine hübsche kleine Siedlung dieses Namens gegeben. Was bedeutet ein Name? Man sagt, sie hätten das Pseudo fallen lassen. Einige Massenantriebe und Computer, ein Paar seitliche Düsen... der besondere Moment, da Phobos über den westlichen Horizont emporgeschossen war. »Hmmmmm«, brummte Sax.
Tage und Jahreszeiten vergingen. Sax betrieb Feldstudien und Meteorologie. Die Einwirkung atmosphärischen Drucks auf die Wolkenbildung. Das bedeutete Fahrten rund um die Halbinsel, dann ein Marsch, dann hinaus mit den Ballons und Drachen. Wetterballons waren elegante Gebilde. Instrumentenpackungen von weniger als zehn Gramm wurden von einer sechs Meter großen Hülle emporgehoben und waren so imstande, bis in die Exosphäre aufzusteigen.
Sax hatte seinen Spaß, wenn er die Hülle auf einem glatten Stück Sand oder Gras herrichtete, das obere Ende windabwärts von ihm, sich dann hinsetzte und die feine empfindliche Nutzlast in den Fingern hielt und danach den Hahn drehte, dekomprimierten Wasserstoff in den Ballon jagte, und dann zusah, wie er sich füllte und in den Himmel schnellte. Wenn er festhielt, wurde er fast auf die Füße gerissen und würde ohne Handschuhe an der Leine Schnitte in der Hand erleiden, wie er schnell gelernt hatte. Dann loslassen, wieder auf den Sand plumpsen und zusehen, wie der runde rote Fleck durch den Wind in die Höhe flatterte, bis er erst klein wie eine Nadelspitze und nicht mehr zu sehen war. Das geschah bei rund tausend Metern, je nach dem Dunst in der Luft. Einmal war es bereits bei nur 479 Metern passiert und einmal, an einem sehr klaren Tage, erst in 1352 Metern. Danach las er dann einige der Daten auf seinem Handgelenk ab und saß in der Sonne mit dem Gefühl, daß ein kleines Stück von ihm in den Raum hinaufsegelte. Seltsam, was einem Freude bereitete.
Die Drachen waren genauso schön. Sie waren etwas komplexer als die Ballons, aber im Herbst ein besonderes Vergnügen, wenn die Monsune jeden Tag stark und gleichmäßig bliesen. Man ging zu einer Meeresklippe im Westen hinaus, lief kurz gegen den Wind und brachte den Drachen in die Luft. Ein großer orangefarbener Kastendrache, der hin und her zuckte. Wenn er dann in den gleichmäßigeren Wind aufstieg, stabilisierte er sich; und Sax spulte ihn ab, wobei er die Verschiebungen des Windes als feines Zittern in den Armen fühlte. Oder aber er klemmte einen Spulenstab in eine Spalte, löste den Widerstand und beobachtete den Drachen, wie er hochstieg und davon flog. Die Leine war fast unsichtbar. Wenn die Spule abgelaufen war, summte die Leine; und wenn er sie zwischen die Finger nahm, teilten sich ihm die Schwankungen des Windes wie eine Art Musik mit. Der Drache blieb Wochen hintereinander oben — außer Sicht oder, wenn er tief genug gehalten wurde, eben noch erkennbar als winziger Fleck am Himmel. Während der ganzen Zeit sendete er Daten. Ein quadratischer Gegenstand war auf größere Entfernung besser zu sehen als ein runder der gleichen Fläche. Sein Kopf war ein drolliges Tier.
Michel rief an, ohne über etwas Besonderes zu sprechen. Das war für Sax die anstrengendste Konversation überhaupt. Das Bild Michels blickte nach unten und rechts, und wenn er sprach, wurde deutlich, daß seine Gedanken woanders waren, daß er unglücklich war und daß Sax irgendwie die Führung übernehmen mußte.
»Komm zu Besuch und mach mit mir einen Spaziergang!« sagte Sax wieder. »Ich meine, das solltest du wirklich tun.« Wie konnte er das noch betonen? »Ich denke wirklich, das solltest du machen.« Dinge verbinden. »Da Vinci ist wie die Westküste Irlands. Das Ende von Europa, lauter grüne Klippen über einer großen Wasserfläche.«
Michel nickte unsicher.
Dann war er ein paar Wochen später da und ging durch eine Halle in Da Vinci. »Ich würde ganz gern das Ende von Europa sehen.«
»Braver Bursche.«
So machten sie zusammen einen Tagesausflug. Sax fuhr ihn bis westlich der Shalbatana-Klippen. Dann stiegen sie aus und wanderten nach Norden auf Simshai Point zu. Es war ein großes Vergnügen, den alten Freund in dieser schönen Gegend bei sich zu haben. Der Anblick eines jeden der Ersten Hundert war eine willkommene Unterbrechung in seiner Routine, ein seltenes Ereignis, das er schätzte. Die Wochen pflegten in ihrer behaglichen Ruhe zu vergehen, und dann erschien plötzlich einer der alten Familie, und es war wie eine Heimkehr ohne Heim, das ihn auf den Gedanken brachte, er sollte vielleicht eines Tages nach Sabishii oder Odessa ziehen, so daß er ein so wundervolles Gefühl öfter erleben könnte.
Und am besten gefiel ihm die Gesellschaft von Michel. Obwohl Michel an diesem Tag zerstreut und anscheinend bekümmert hinterher ging. Sax bemerkte das und überlegte, was er tun konnte, um ihm zu helfen. Michel hatte ihm in den langen Wochen seiner Rückkehr zur Sprache so, viel Hilfe erwiesen, hatte ihn gelehrt, wieder zu denken und alles anders zu sehen. Es wäre schön, wenn er etwas tun könnte, um dieses Geschenk, wenigstens teilweise, zu entgelten.
Nun, das würde nur geschehen, wenn er etwas tat. Darum gab er, nachdem sie angehalten hatten und Sax den Drachen herausgeholt und zusammengesetzt hatte, Michel die Spule.
»Hier!« sagte er. »Ich werde den Drachen bereithalten. Du läufst und spulst sie ab. Dorthin, gegen den Wind.« Und er hielt den Drachen, während Michel über die grasbewachsenen Hügel ging, bis die Leine straff war. Sax ließ den Drachen los, als Michel zu laufen anfing; und dahin ging er, immer höher und höher.
Michel kam grinsend zurück. »Hier, faß die Leine an! Du kannst den Wind spüren.«
»Ah!« sagte Sax. »So geht das.« Und die fast unsichtbare Leine brummte zwischen seinen Fingern.
Sie setzten sich hin, öffneten Saxens Korb und holten das von ihm zusammengepackte Picknick heraus. Michel wurde mit einemmal wieder ganz still.
Sax fragte, während sie aßen, beiläufig: »Macht dir etwas Sorgen?«
Michel schwenkte ein Stück Brot, schluckte und sagte: »Ich denke, ich werde wieder in die Provence zurückkehren.«
»Endgültig?« fragte Sax schockiert.
Michel runzelte die Stirn. »Nicht unbedingt. Aber zu einem Besuch. Ich fing gerade an, meinen letzten Besuch dort zu genießen, als wir abreisen mußten.«
»Auf der Erde ist es nicht einfach.«
»Stimmt. Aber ich fand die Anpassung erstaunlich problemlos.«
»Hmm.« Sax hatte die Rückkehr in die Erdschwere nicht gefallen. Die Evolution hatte gewiß ihre Körper darauf eingestellt; und er war sicher, daß ein Leben bei 0,38 Ge allerhand medizinische Probleme schuf. Aber er war jetzt an das Gefühl der Marsschwere so sehr gewöhnt, daß er sie niemals mehr bemerkte. Und falls doch, dann war es ein gutes Gefühl.
»Ohne Maya?« fragte er.
»Ich nehme an, daß es sein muß. Sie will nicht gehen. Sie sagte, sie würde eines Tages mitkommen, aber es heißt immer: später, später. Sie arbeitet für die Koop-Kreditbank in Sabishii und hält sich für unentbehrlich. Nun, das ist nicht fair. Sie will einfach nichts davon vermissen.«
»Kannst du nicht da, wo du lebst, eine Art von Provence schaffen? Einen Olivenhain pflanzen?«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Gewiß, aber...«
Sax wußte nicht, was er sagen sollte. Er fühlte kein Heimweh nach der Erde. Was das Leben mit Maya anging, so konnte er es sich nur wie das Leben in einer beschädigten unberechenbaren Zentrifuge vorstellen. Der Effekt würde ziemlich der gleiche sein. Daher vielleicht Michels Verlangen nach festem Boden, nach dem Kontakt mit der Erde.
»Du solltest gehen«, sagte Sax. »Aber warte noch ein wenig! Wenn sie diesen gepulsten Antrieb auf den Raumschiffen bekommen, könntest du sehr rasch dort sein.«
»Aber das könnte echte Probleme mit der Erdenschwere bewirken. Ich denke, man braucht die Monate der Reise, um sich darauf vorzubereiten.«
Sax nickte. »Was du brauchtest, ist eine Art Exoskelett. Du würdest dich darin etwas gestützt fühlen — vielleicht wie bei einem geringeren Ge. Diese neuen Vogelanzüge, von denen ich gehört habe, müssen die Fähigkeit haben, sich zu etwas wie ein Exoskelett zu versteifen, sonst würde man nie die Flügel in Position halten können.«
»Ein sich ständig verlagernder Rückenschild aus Carbonfasern«, erwiderte Michel lächelnd. »Eine fliegende Schale.«
»Ja. Du könntest imstande sein, so etwas zu tragen, um damit umherzugehen. Das wäre nicht so schlimm.«
»Also erst ziehen wir auf den Mars, wie du sagst, wo wir hundert Jahre lang Schutzanzüge tragen müssen. Und wenn wir dann alles soweit verändert haben, daß wir draußen in der Sonne sitzen können, ohne uns den Arsch abzufrieren, dann ziehen wir wieder auf die Erde, wo wir wieder hundert Jahre lang Schutzanzüge tragen müssen.«
»Oder für immer danach«, sagte Sax. »Ja. Du hast recht.«
Michel lachte. »Nun, vielleicht werde ich dann gehen. Wenn es so wird.« Er schüttelte den Kopf. »Eines Tages werden wir alles tun können, was wir wollen, he?«
Die Sonne stach auf sie herunter. Der Wind raschelte über die Grashalme. Jeder Halm hatte einen grünen Lichtstreifen. Michel redete einige Zeit über Maya, erst jammerte er, dann übte er Rücksicht und dann zählte er ihre guten Eigenschaften auf, die sie unentbehrlich und zur Quelle aller Erregung im Leben machten. Sax nickte brav bei jeder Äußerung, ganz gleich, wie sehr sie der zuvor gekommenen widersprach. Es kam ihm vor, als ob er einem Rauschgiftsüchtigen lauschte. Aber so waren die Menschen nun einmal, und er war selbst nicht weit von solchen Widersprüchen entfernt.
Nachdem sich das Schweigen hingezogen hatte, sagte Sax: »Was glaubst du, wie Ann jetzt diese Art Landschaft sieht?«
Michel zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen.«
»Hat sie nicht die Behandlung für Gehirnplastizität bekommen?«
»Nein. Sie ist stur, nicht wahr? Sie will sie selbst bleiben. Aber ich fürchte, in dieser Welt... «
Sax nickte. Wenn man alle Lebenszeichen in der Landschaft als Verunreinigungen ansah, als einen schrecklichen Schimmel, der die reine Schönheit der mineralischen Welt überzog, dann wäre auch das Sauerstoffblau des Himmels betroffen. Es würde einen verrückt machen. Selbst Michel dachte so: »Ich fürchte, sie wird nie geistig gesund sein, nicht wirklich.«
»Ich weiß.«
Andererseits — wer waren sie, daß sie so redeten? War Michel verrückt, weil er von einer Gegend auf einem anderen Planeten fasziniert war oder verliebt in eine sehr schwierige Person? War Sax verrückt, weil er nicht mehr gut sprechen konnte und Schwierigkeiten mit allerhand geistigen Operationen hatte, als Ergebnis eines Schlags und experimentellen Heilungsversuchs? Er glaubte nein, in beiden Fällen. Aber er glaubte fest, daß er durch Hiroko aus einem Sturm gerettet wurde, ganz gleich, was Desmond sagte. Man könnte das als ein Zeichen von — na ja — rein mentalen Ereignissen interpretieren, die eine äußere Realität zu haben schienen. Das wurde oft als ein Symptom von Verrücktheit zitiert, wie sich Sax erinnerte. »Wie jene Leute, die glauben, Hiroko gesehen zu haben«, murmelte er vage, um zu sehen, was Michel sagen würde.
»Ach ja«, sagte Michel. »Magisches Denken ist eine sehr hartnäckige Form des Denkens. Laß dich nie durch deinen Rationalismus blind machen gegenüber der Tatsache, daß unser meistes Denken magischen Charakter hat. Und daß es so oft archetypischen Mustern folgt, wie in Hirokos Fall, der wie die Geschichte von Persephone oder Christus ist. Ich nehme an, wenn jemand auf diese Art stirbt, dann ist der Schock des Verlustes fast unerträglich; und dann erfordert es nur einen trauernden Freund oder Jünger, um vom Verlust der Gegenwart einer Person zu träumen und dann aufzuwachen mit dem Schrei, sie gesehen zu haben. Und binnen einer Woche ist dann jeder überzeugt davon, daß der Prophet wieder da und überhaupt niemals gestorben ist. Und so ist es mit Hiroko, die regelmäßig gesichtet wird.«
Ich habe sie aber wirklich gesehen, wollte Sax sagen. Sie hat meine Hand gepackt.
Aber dennoch war er tief verwirrt. Michels Erklärung ergab Sinn. Und sie paßte sehr gut zu der von Desmond. Diese Männer vermißten Hiroko beide sehr, wie Sax annahm, und waren trotzdem mit der Tatsache ihres Verschwindens und deren wahrscheinlichster Erklärung konfrontiert. Und ungewöhnliche mentale Ereignisse konnten in überaus verständlicher Weise im Streß einer physischen Krise auftreten. Vielleicht hatte er halluziniert. Aber nein — das stimmte nicht. Er konnte sich genau erinnern, wie es geschah, lebendig in jedem Detail!
Aber er stellte fest, daß es ein Fragment war, so wie man sich im Wachen an das Fragment eines Traums erinnert, während sich alles andere mit einem fast greifbaren Strahl wie etwas Glitschiges und schwer Faßbares dem Zugriff entzieht. Zum Beispiel konnte er sich nicht richtig erinnern, was unmittelbar vor Hirokos Erscheinung geschehen war oder danach. Keine Details.
Er schlug nervös die Zähne aufeinander. Es gab offensichtlich alle Arten von Wahnsinn. Ann wanderte für sich allein durch die alte Welt; die übrigen von ihnen stolperten in der neuen Welt herum wie Gespenster, bemüht, das eine oder andere Leben zu konstruieren. Vielleicht stimmte das, was Michel sagte, daß sie nämlich mit ihrer Langlebigkeit nicht zurecht kamen, und daß sie weder wußten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten noch, wie man ein Leben aufbaute.
Nun gut — ruhig. Hier waren sie und saßen auf den Meeresklippen von Da Vinci. Es war nicht nötig, sich mit diesen Dingen zu überarbeiten, nicht wirklich. Wie Nanao gesagt hätte: Was fehlt denn jetzt? Sie hatten gut gefrühstückt, waren satt, ihren Durst gelöscht, saßen draußen in Sonne und Wind und sahen zu, wie ein Drache hoch oben in das dunkle Samtblau aufstieg. Alte Freunde, die sich plaudernd auf dem Gras niedergelassen hatten. Was fehlte da jetzt? Seelenfrieden? Nanao hätte gelacht. Die Anwesenheit anderer alter Freunde? Nun, dafür würde es andere Tage geben. Jetzt, in diesem Moment, waren sie zwei alte Waffenbrüder, die auf einer Meeresklippe saßen. Nach all den Jahren des Kampfes konnten sie hier den ganzen Nachmittag sitzen, wenn sie wollten, einen Drachen steigen lassen und reden. Über ihre alten Freunde und das Wetter sprechen. Es hatte eine Menge Ärger gegeben, es würde wieder Ärger geben. Aber jetzt waren sie hier.
»Wie würde John das alles gefallen haben.« sagte Sax zögernd. Es war so schwer, von diesen Dingen zu sprechen. »Ich frage mich, ob er es geschafft hätte, daß Ann sich das ansieht. Nicht so, wie ich das sehe. Es ist einfach, es zu sehen, als wäre es etwas Gutes. Sehen, wie schön es auf seine eigene Art ist. An und für sich und die Art, wie es sich selbst organisiert. Wir versuchen jetzt, es in die eine oder andere Richtung zu drängen, aber die gesamte Biosphäre — organisiert sich selbst. Daran ist nichts unnatürlich.«
»Nun...«, wandte Michel ein.
»Das ist es nicht! Wir können herumfummeln, wie wir wollen. Wir sind aber nur wie der Zauberlehrling. Es hat alles ein eigenes Leben angenommen.«
»Aber das Leben, das es zuvor hatte. Das ist es, was Ann so verehrt. Das Leben der Felsen und des Eises.«
»Leben?« fragte Sax.
»Irgendeine Art träger mineralischer Existenz. Nenne es, wie du willst. Eine Areophanie in Stein. Übrigens, wer sagt, daß diese Steine nicht ihre eigene Art langsamen Bewußtseins haben?«
»Ich denke, Bewußtsein hat mit Gehirn zu tun«, erwiderte Sax steif.
»Vielleicht, aber wer kann das sagen? Und wenn nicht Bewußtsein so, wie wir es definieren, dann zumindest Existenz. Ein Wert an sich, einfach, weil etwas existiert.«
»Das ist ein Wert, den es noch hat.« Sax hob einen Stein von der Größe eines Baseballs auf. Breccienartiger Auswurf, dem Aussehen nach zu urteilen. Ein Schotterkegel. So alltäglich wie Dreck, sogar eigentlich noch häufiger als Dreck. Er betrachtete ihn genau. Hallo, Stein! Was denkst du? »Ich meine, das ist doch alles noch hier.«
»Aber es ist nicht dasselbe.«
»Nichts ist immer dasselbe. Von Moment zu Moment ändert sich alles. Was mineralisches Bewußtsein angeht, so ist das für mich zu mystisch. Nicht, daß ich grundsätzlich ein Gegner allen Mystizismus wäre, aber dennoch... «
Michel lachte. »Sax, du hast dich mächtig verändert, bist aber immer noch Sax.«
»Das möchte ich auch hoffen. Aber ich glaube, daß Ann auch keine Mystikerin ist.«
»Was dann?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Eine so... so reine Wissenschaftlerin, daß sie es nicht verträgt, wenn die Daten verunreinigt werden? Ich nehme an, das ist eine etwas komische Art, es zu formulieren. Eine Scheu vor den Phänomenen. Weißt du, was ich damit meine? Verehrung dessen, was ist. Damit leben und es verehren, aber nicht versuchen, es zu verändern und zu beschmutzen, zu zerstören. Ich weiß nicht. Aber ich möchte wissen.«
»Du willst immer wissen.«
»Richtig. Aber dies möchte ich mehr wissen als die meisten anderen Dinge. Mehr als alles, das ich mir ausdenken kann. Gewiß!«
»Ach, Sax! Ich verlange nach der Provence, du verlangst nach Ann.« Michel grinste. »Wir sind beide verrückt! «
Sie lachten. Photonen regneten auf ihre Haut. Das meiste Licht schoß durch sie hindurch. Hier waren sie, transparent für die Welt.