VIERZEHNTER TEIL Phoenix-See

Ein Kanonenschuß, Glockengeläut, ein Chor sang den Kontrapunkt.

Die Dritte Mars-Revolution war so komplex und gewaltfrei, daß sie seinerzeit schwer überhaupt als eine Revolution zu erkennen gewesen war. Mehr wie eine Veränderung in einer anhaltenden Diskussion, ein Gezeitenwechsel, eine Unterstreichung des Gleichgewichts.

Die Übernahme des Aufzugs war die Saat der Krise, aber dann, als das terranische Militär ein paar Wochen später am Kabel herunterkam, flammte die Krise überall zugleich auf. An der Küste des Nordmeers auf einer kleinen Auszackung am Ufer von Tempe Terra fiel eine Schar von Landetruppen vom Himmel, unter Fallschirmen baumelnd oder auf fahlen Feuerwölkchen herunterblitzend. Eine ganze neue Kolonie, ein nicht autorisiertes Eindringen von Immigranten. Die Gruppe kam aus Kambodscha. An verschiedenen Plätzen auf dem Planeten kamen andere Länder mit Siedlern aus den Philippinen, Pakistan, Australien, Japan, Venezuela und New York herunter. Die Marsianer wußten nicht, wie sie reagieren sollten. Sie waren eine demilitarisierte Gesellschaft, die keine Ahnung hatte, daß so etwas je passieren konnte und keinen Weg wußte, um sich zu verteidigen. So etwa dachten sie.

Wieder einmal war es Maya, die sie zum Handeln trieb und das Handy so instrumentalisierte, wie Frank es zu tun pflegte. Sie riefjedermann in der offenen Marskoalition an und viele andere außerdem, um die allgemeine Antwort aus dem Boden zu stampfen. Sie sagte zu Nadia. »Komm, mach schon!« Wieder einmal. Und so verbreitete sich durch die Städte und Dörfer die Kunde, und die Leute gingen auf die Straßen oder bestiegen Züge nach Mangala.

An der Küste von Tempe stiegen die kambodschanischen Siedler aus ihren Landern und gingen zu den kleinen Schutzräumen, die mit ihnen abgeworfen worden waren, genau wie es die Ersten Hundert vor zwei Jahrhunderten gemacht hatten. Und aus den Bergen kamen Leute mit Pelzen und mit Pfeilen und Bogen. Sie hatten die roten Eckzähne der Roten, und ihr Haar war in Knoten auf dem Kopf verschlungen. Sie sagten zu den Siedlern, die sich vor einem ihrer Schutzräume versammelt hatten: Hier, laßt uns euch helfen. Legt diese Waffen nieder. Wir werden euch zeigen, wo ihr bleiben könnt. Ihr braucht keine solchen Schutzräume. Das ist eine alte Konstruktion. Dieser Hügel, den ihr da im Westen seht, ist der Krater Perepelkin. Auf seinem Ausläufer gibt es schon Apfel- und Kirschbaumhaine. Ihr könnt nehmen, was ihr braucht. Schaut, hier sind die Pläne für ein Scheibenhaus. Das ist für diese Küste die beste Konstruktion. Dann werdet ihr eine Marina brauchen und etliche Fischerboote. Wenn ihr uns euren Hafen benutzen laßt, werden wir euch zeigen, wo die Trüffel wachsen. Jawohl, ein Scheibenhaus nach Sattelmeier. Es ist angenehm, in der freien Luft zu leben. Ihr werdet sehen.

Alle Zweige der Marsregierung hatten sich in Mangala im Sitzungssaal getroffen, um der Krise zu begegnen. Die Mehrheit des Freien Mars im Senat, der Exekutivrat und der Globale Umwelthof — sie alle waren sich einig, daß das illegale Eindringen von Terranern als Akt der Aggression einem Krieg gleichkäme, der mit gleicher Münze heimgezahlt werden müsse. Es kamen vom Parkett des Senats Vorschläge, daß man Asteroiden gegen die Erde schicken könnte als Bomben, die nur abgelenkt würden, wenn die Immigranten heimkehrten und der Aufzug wieder einem System dualer Kontrolle unterstellt würde. Es würde nur eines Schlages bedürfen, und man hätte ein Kilotonnenereignis und so weiter. UN-Diplomaten auf der Szene legten dar, daß das ein zweischneidiges Schwert war.

In diesen angespannten Tagen klopfte es an der Tür des Sitzungssaals in Mangala, und herein kam Maya Toitovna. Sie sagte: »Wir wünschen zu sprechen.«

Dann winkte sie eine draußen wartende Menge herein und scheuchte sie auf ein Podium wie ein ungeduldiger Schäferhund: Zuerst Sax und Ann, die Seite an Seite gingen, dann Nadia und Art, Tariki und Nanao, Zeyk und Nazik, Mikhail, Wasili, Ursula und Martina und sogar Coyote. Die alten Issei waren wiedergekommen, um sie im jetzigen Moment heimzusuchen, wieder auf die Bühne zu treten und zu sagen, was sie dachten. Maya wies auf die Bildschirme des Saals, die Bilder von der Außenseite des Gebäudes zeigten. Die Gruppe auf der Bühne zog sich jetzt in einer ununterbrochenen Reihe durch die Korridore des Gebäudes bis auf die große zentrale Plaza vor der See hin, wo eine halbe Million Menschen versammelt waren. Auch die Straßen der Stadt waren gedrängt voller Leute, die die Schirme betrachteten, um zu sehen, was im Sitzungssaal geschah. Und draußen in der Chalmers-Bucht sammelte sich eine Flotte von Stadtschiffen, als ob sie ein neues Archipel bilden wollten, mit Flaggen und Bannern an den Masten. Und in jeder Stadt auf dem Mars waren die Massen draußen und die Schirme eingeschaltet. Jeder konnte jeden sehen.

Ann ging zum Podium und sagte ruhig, daß die Regierung des Mars in den letzten Jahren sowohl das Gesetz gebrochen wie auch den Geist des menschlichen Mitgefühls verletzt hätte, indem sie die Einwanderung zum Mars verboten hatte. Die Leute auf dem Mars wünschten das nicht. Sie brauchten eine neue Regierung. Das war ein Mißtrauensvotum. Das neue Eindringen terranischer Siedler wäre auch illegal und inakzeptabel. Aber die Regierung des Mars hätte das Gesetz zuerst verletzt. Und die Anzahl der Siedler bei diesem Eindringen sei nicht größer als die Zahl legitimer Siedler, denen durch die jetzige Regierung das Kommen verwehrt würde. Ann sagte, der Mars müßte für Einwanderung von der Erde in Anbetracht der physischen Einschränkungen für die Dauer der Bevölkerungsschwemme so offen wie möglich stehen. Diese Jahre würden nicht mehr lange andauern. Ihre Pflicht gegenüber ihren Nachkommen sei es, die letzten dieser drangvollen Jahre in Frieden durchzustehen. »Nichts, was jetzt auf dem Tisch ist, ist einen Krieg wert. Wir haben ihn erlebt, und wir kennen ihn.«

Dann schaute Ann über die Schulter auf Sax, der als nächster an die Mikrophone ging. Er sagte: »Der Mars muß geschützt werden.« Die Biosphäre war neu, ihre Kapazität begrenzt. Er besitzt nicht die physikalischen Ressourcen der Erde, und ein großer Teil seines freien Landes muß aus physischer Notwendigkeit leer bleiben. Das müßten die Terraner begreifen und nicht die lokalen Systeme vergewaltigen. Wenn sie das täten, würde der Mars überhaupt niemandem nützen. Gewiß gebe es auf der Erde ein ernstes Bevölkerungsproblem, aber der Mars allein sei nicht die Lösung. »Über die Beziehung zwischen Erde und Mars muß neu verhandeltwerden.«

Sie begannen mit diesen neuen Verhandlungen. Sie baten den UN-Vertreter, heraufzukommen und das gewaltsame Eindringen zu erklären. Sie debattierten, stritten undprotestierten und schrien einander ins Gesicht. Draußen im Hinterland traten Ortsansässige Siedlern entgegen, und manche von ihnen auf beiden Seiten drohten mit Gewaltanwendung. Andere traten auf und fingen an zu reden, zu beschwatzen, zu schimpfen, zu streiten und zu schachern. Und es gab Streit. Bei jeder Stelle des Prozesses und an tausend verschiedenen Orten konnte es zu Gewalttätigkeiten kommen. Viele Leute waren wütend, aber kühlere Köpfe überwogen. Es blieb meist bei Diskussionen. Viele fürchteten, das könnte nicht so weitergehen, und viele hielten es nicht für möglich. Aber es geschah, und die Leute auf der Straße sahen es und hielten die friedliche Lösung in Gang. Aber bei manchen Punkten mußte die Veränderung der Werte ihren Ausdruck finden. Und warum nicht hier? Warum nicht jetzt? Auf dem Planeten gab es nur sehr wenige Waffen; und es war schwer, jemanden ins Gesicht zu schlagen oder mit der Mistgabel zu stechen, wenn dieser vor einem stand und argumentierte. Das war der Moment der Wandlung, Geschichte im Entstehen. Und das konnten sie direkt vor sich sehen in den Straßen, auf den bewohnten Hügeln und den Bildschirmen. Eine labile Geschichte, die direkt in ihrer Hand lag. Und so ergriffen sie den Moment und gaben ihm eine neue Wendung. Sie überredeten sich selbst dazu. Ein neuer Vertrag mit der Erde. Ein vielköpfiger Friede. Die Verhandlungen würden Jahre dauern. Wie ein Chor im Kontrapunkt, der eine große Fuge singt.

Schließlich wird das Kabel wiederkommen und uns heimsuchen. Das habe ich die ganze Zeit gesagt. Du nicht, du hast das Kabel geliebt. Deine einzige Beschwerde war, daß es zu langsam sei. Du sagtest, man kann schneller zur Erde kommen als zu Clarke. Das stimmt, das kannst du, es ist lachhaft. Aber du mußt zugeben, daß es nicht dasselbe ist wie zu sagen, daß das Kabel zurückkäme und uns heimsuchen würde. Kellner, he, Kellner! Wir wollen eine Runde weißen Tequila! Und Zitronenschnitze. Wir arbeiteten am Sockel, als sie herunterkamen. Die innere Kammer hatte keine Chance, aber die Sockelmuffe ist ein großes Gebäude. Ich weiß nicht, ob sie einen Plan hatten, der nichtfunktionierte, oder ob sie einfach keinen Plan hatten. Aber als dann der dritte Waggon kam, war die Muffe versiegelt; und sie waren die stolzen Herren von 37000 Kilometern eines toten Endes. Das war dumm. Es war ein Alptraum. Diese Füchse kamen herein, und zwar nur bei Nacht, so daß sie wie Wölfe aussahen, nur viel schneller waren sie. Und sie gingen direkt an die Kehle. Eine Heimsuchung von tollwütigen Füchsen. Mann, das war ein Alptraum. Ganz wieder so wie 2128. Ich weiß nicht, ob das wahr ist oder nicht; aber sie waren da, terranische Polizei in Sheffield! Und als die Eeute das hörten, gingen sie alle auf die Straße. Die Straßen waren richtig voll. Ich bin nicht groß, und manchmal wurde mein Gesicht direkt in die Rücken oder zwischen die Brüste der Frauen gequetscht. Ich hörte es von einer Nachbarin im nächsten Apartment nur fünf Minuten, nachdem es geschah; und sie hatte es von einer Freundin erfahren, die draußen nahe der Muffe wohnt. Die Reaktion des Volkes auf die Übernahme der unteren Einrichtung des Kabels war rasch und stürmisch. Diese UN-Sturmtruppen wußten nicht, was sie mit uns machen sollten. Eine Abteilung versuchte, die Hartz Plaza zu erobern, und wir sind einfach um sie herum geströmt, haben uns von ihrer Front entfernt und in die Seiten gedrängt, so daß es eine Art von Vakuumeffekt gab. Der knurrende tollwütige Dämon mit Schaum im Gebiß an meiner Kehle war ein scheußlicher Alptraum. Wir haben sie direkt zum Randpark geschafft, und die verdammten Sternenschiffsoldaten hätten sich dort keinen Zentimeter bewegen können, ohne Tausende von Menschen abzuschlachten. Menschen in den Straßen sind das einzige, wovor Regierungen sich fürchten. Nun ja, oder Enden von Amtsperioden oder freie Wahlen! Oder Mord. Oder ausgelacht zu werden — ha-ha-ha! Und es gab Schaltungen zu allen anderen Städten und riesige Straßenparties in allen. Wir waren in Lasswitz, und jedermann ging zum Flußpark hinunter und stand mit Kerzen in der Hand da; so daß Kameras von Overlook herunter Aufnahmen machen und dieses Meer von Kerzen sehen konnten. Es war grandios. Und Sax und Ann standen dort beieinander. Erstaunlich. Unglaublich. Sie haben die UN wahrscheinlich zu Tode geängstigt, indem sie solche Reden gehalten haben. Die UN haben wohl gedacht, wir hätten Geräte für Gedankenübertragung, mit denen wir sie anzapfen könnten. Was mir gefiel, war später, als Peter zu einer neuen Wahl für die Führung der Roten Partei aufrief und Irishka aufforderte, sie sofort hier auf der Stelle per Handy abzuhalten. Solche Parteisachen sind eigentlich gewichtige Herausforderungen und müssen von Hand zu Hand erledigt werden. Falls Irishka sich geweigert hätte, eine Wahl zu veranstalten, wäre sie ohnehin erledigt gewesen. Darum mußte sie sie eben ausrufen. Ihr hättet ihr Gesicht sehen sollen. Wir waren in Sabishii, als wir den Aufruf für eine Rote Wahl hörten, und als Peter gewann, wurden wir wild. Sabishii war sofort ein Festival. Und Senzeni Na. Und Nilokeras. Und Hell’s Gate. Und Argyre Station. Ihr hättet das sehen sollen. Nun, es war ein Ergebnis von sechzig zu vierzig. In Argyre wurde es verrückt, weil so viele, die hinter Irishka standen, auf einen Kampf begierig waren. Es ist Irishka, die das Argyre- Becken gerettet hat und jeden trockenen Fleck auf diesem Planeten, wenn ihr mich fragt. Peter Clayborne ist bloß ein alter Nisei, er hat nie etwas getan. Kellner, Kellner1. Eine Runde Weißbier, bitte! Diesen kleinen Terranern Nahrung bringen. Hatten keine Ahnung. Nirgal schüttelte jedem von ihnen die Hand. Der Doktor sagt, woher habt ihr den raschen Verfall bekommen? Das war ein abscheulicher Alptraum. Es war eine Überraschung, daß Ann mit Sax zusammenarbeitete. Das sah wie ein Theaterstück aus. Nicht, wenn ihr aufgepaßt habt. Sie sind zusammen gereist und alles. Ihr müßt auf der Venus gewesen sein oder so. Die Braunen, die Blauen, es ist blöd. Wir hätten schon längst so etwas tun sollen. Nun, warum sich so viele Sorgen machen; sie sind schon weg. In zehn Jahren wird nicht ein einziger mehr von ihnen übrig sein. Seid euch dessen nicht zu sicher. Freut euch darüber nicht zu sehr. Du bist nur ein paar jähre jünger, du Idiot. Oh, es war eine sehr interessante Woche. Wir haben in den Parks geschlafen, und alle waren sehr nett. Wertewandel nennen es die Deutschen. Es gibt doch für alles ein gutes Wort, nicht wahr? Was geschehen muß, das ist Evolution. Wir sind hierin alle Mutanten. Sprich für dich selbst, .Bursche. Sprich für den Kellner. Sechs Jahre! Das ist eine großartige Nachricht. Ich bin überrascht, daß ihr so nüchtern seid. Oh, ich nicht, ha-ha- ha! Kleine rote Leute greifen rote Ameisen an und denken, daß die ihnen helfen. Schwupp, direkt über die Kante des Randes, halten sich für fliegende Ameisen. Kein Wunder, daß ich so viele Ameisen kriege. Also sagt der Mann: Nun, Doktor? ja, und dann? Damit ist der Spaß zu Ende. Er kann gerade noch sagen: Nun, Doktor — und dann stirbt er.

Rascher Verfall, klar? Zum Teufel, sehr geschickt. So waren wir jedenfalls da, als die Truppen irgendwie so taten, als wollten sie wieder zur Muffe zurückgehen. Sie gehen sehr sanft darauf los, eine einzige Reihe hinter einem kleinen Hotelwagen, den sie requiriert haben; undjeder bewegt sich ein bißchen und läßt sie gehen. Und sie kommen zwischen uns durch und sehen nervös aus. Dann schütteln ihnen die Leute an den Toren die Hand, als ob sie alle Nirgal wären, und bitten sie, zu bleiben, als ob sie es nicht verwinden könnten, sie gehen zu sehen. Sie küssen sie auf die Wangen und legen ihnen Kränze um, bis sie nicht mehr darüber wegschauen können. Direkt zurück in die Sockelmuffe. Und warum auch nicht, da sie ihren Punkt gemacht und uns für die verfluchte Verräterregierung genügend bedroht haben, um kampflos nachzugeben. Dieser Joker scheint die Grundregeln des Jiujitsu nicht zu kennen. Von was? Ja, zum Teufel, wer bist du? Ich bin fremd in der Stadt. Entschuldigen Sie Miss, könnten sie uns noch eine Runde Kava bringen? Na gut, wir versuchen noch, es in den Bereich von eins zu einer Milliarde zu bringen, hatten aber noch kein Glück. Redet mir nicht von Fastnacht. Ich hasse das, es ist für mich der schlimmste Teil des Jahres. Sie haben Boone zu Fastnacht getötet. Sie haben Dresden zu Fastnacht bombardiert. Kein Ende des Übels, das gesühnt werden muß. Sie segelten in Chryse, als ein Howler ihr Schiff packte und bis über die Cydonia-Berge schleuderte. Erfahrungen solcher Art bringen Menschen näher zusammen. Oder bitte, wer ist dieser Bursche? Das ist keine große Sache. Jede Woche werden Luftschiffe etwas herumgeblasen. Wir wurden von demselben Howler erwischt, waren aber gerade außerhalb von Santorini. Ich sage euch, die Wasseroberfläche war bis zu einer Tiefe von etwa zehn Metern in Fetzen gerissen. Ich scherze nicht. In dem Schiff, in dem wir waren, bekam es der Computer mit der Angst und zog uns herunter, genau auf ein anderes Schiff, das schon dort war. Also krachten wir in dieses Boot, und es war wie der Weltuntergang.

Alles finster, der Computer verrückt. Todesangst, das schwöre ich. Ich habe mir das Schlüsselbein gebrochen. Da sind zehn Libertinan, bitte. Danke! Diese Howler sind gefährlich. Ich war in Echus in einem, und wir alle mußten uns auf den Hintern setzen und kamen trotzdem nur mühsam zurecht. Ich mußte meine Brille festhalten, sonst wäre sie mir von den Ohren gerissen worden. Wagen kippten um wie Spielzeug. Die ganze Marina wurde von jedem einzelnen Schiff entblößt. Es war, als nähme ein Kind seinen Spielzeughafen und schleuderte ihn durchs Zimmer. Auch ich habe diesen Sturm in seiner äußersten Wut erlebt. Ich besuchte gerade das Stadtschiff Ascension im Nordmeer nahe der Korolow-Insel. He, das ist dort, wo Will Fort zu surfen pflegt. Meines Wissens erreichen die Wellen auf dem Mars hier ihre größten Höhen; und in diesem Sturm erreichten sie hundert Meter vom Wellental bis zur Krone. Nein, ich scherze nicht. Wellen viel höher als die Seiten des Stadtschiffs, das uns, die wir uns darauf befanden, bei diesen schrecklichen schwarzen Bergen nicht größer als ein Rettungsboot vorkam. Wir waren wie ein Korken. Den Tieren ging es schlecht. Und um unsere Schwierigkeiten noch zu steigern, wurden wir gegen die Südspitze von Korolev geworfen. Die Wellen brachen vollständig über das Ende des Kaps in die See dahinter. Darum drehte der Pilot der Ascensio das Stadtschiff, sobald wir auf der gigantischen Front jeder Welle hochstiegen, nach Süden; und es glitt eine Strecke quer über die Vorderseite der Welle, ehe es deren Kamm verlor und in das nächste Wellental hinunter fiel. Aufjeder Welle bewegten wir uns etwas schneller und weiter; denn als wir die östliche Spitze der Insel erreicht hatten, wurden die Wellen steiler und größer. Genau die Spitze der Inseln biegt nach Osten ab, so daß die Wellen von links nach rechts liefen, wenn wir nach vorn schauten. Sie krachten auf die Felsen und dann auf das Riff vor der Küste. Bei unserer letzten Welle wurde die Ascension an ihrer steilen Front nach unten gedrückt. Am Boden der Front drehte der Pilot das Stadtschiff nach rechts; und das große Floß trieb wieder hinauf und mit einer Geschwindigkeit, die wir nicht berechnen konnten, quer dazu. Es war, als ob man flöge. Ja, wir surften an einer hundert Meter hohen Welle auf einem Floß so groß wie eine Stadt direkt über die Felsen des Riffs unter uns. Eine Sekunde lang flogen wir in der Röhre der sich brechenden Welle. Dann waren wir draußen, auf der Schulter der Welle, die hinter uns in tiefem Wasser war, ohne zu brechen. So passierten wir die Insel. Wie sagt der Doktor doch gleich? So hübsch. Ja, es war ein denkwürdiger Moment. Ich werde mein Stammkapital nehmen und mich zurückziehen. Es ist einfach nicht mehr so wiefrüher. Diese Leute sind Schurken. Ich habe gehört, sie ist auf einem dieser Sternenschiffe ausgezogen. Habt ihr sie wirklich gesehen? Du hast sie wirklich gesehen? Du mußt dir einen besseren Übersetzer besorgen. Ich habe nichts gesagt. Macht nichts, Doktor, Ich fühle mich schon besser. Was für eine teuflische Maschine1. Kellner! Dörfer wie diese sind wie die daheim, aber ohne Kaste. Wenn sie eine Kaste wünschen, müssen sie die in ihren Köpfen tragen. Manche Issei versuchen es, aber die Nisei werden wild. Im übrigen habe ich gehört, daß das kleine rote Volk jetzt den ganzen Mist satt hat und daß es darauf brennt, etwas zu tun, nachdem es kürzlich die rote Ameise gezähmt hat. Und die vom Kleinen Volk hätten diese ganze Kampagne gestartet, um etwas zu haben, womit sie zu Hilfe kommen könnten, wenn die Terraner einbrächen. Ihr werdet jetzt vielleicht sagen, daß sie viel zu zuversichtlich wären; aber ihr müßt bedenken, daß die Biomasse an roten Ameisen auf diesem Planeten im Durchschnitt einen Meter dick ist. So viel an verdammter Biomasse, daß sie uns aus dem Orbit werfen können. Sie sollten es mit Ameisen auf dem Merkur versuchen. Und jede Ameise hat einen ganzen Stamm des Kleinen Volkes um sich, in Elefantensattelstädten oder was auch immer. Und so waren sie gar nicht übertrieben zuversichtlich. In Zahlen liegt Stärke. Darum haben sie die Regierung absichtlich veranlaßt, diese Konfrontation zu entflammen. Ich habe mich gefragt, welche Entschuldigung diese Bastarde hatten. Warum es dieses Volk ist, das nach Mangala geht und sich augenblicklich in wilde korrupte Trottel verwandelt, ist mir schleierhaft. Und sich auf uns gestürzt haben. Warum ist es immer das kleine rote Volk, was immer dem Großen Mann passiert, ich hasse sie und ihre blöden kleinen Volksmärchen. Wenn man so dumm ist, überhaupt Volksmärchen zu erzählen, wo doch die Wahrheit viel interessanter ist, dann könnten es mindestens verflucht große Geschichten sein, mit Titanen und Gorgonen, die es mit Spiralgalaxien wie rasiermesserscharfen Bumerangs ausfechten — peng, peng, pengl He, paß hier auf, Bursche, mach langsam! Kellner, bring dieser Revolverschnauze etwas Kava, nicht wahr? Er muß mürbe werden. Beruhigen sie sich, aufgeregter Herr. Nova-Bomben vorwärts und rückwärts werfen! Bunt! Pardauz! KA BUM! He! He! Beruhige dich, du Wilder! Ich habe dieses kleine Volk satt. Nimm deine Hände von mir weg! Es ist sowieso nur eine traurige Entschuldigung für eine Regierung. Es kommt immer auf dieselbe verdammte Sache zurück. Machtlutscher saugen Macht. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten bei Zelten bleiben und keine globale Regierung haben. Dann gäbe es nicht soviel Macht zu lutschen. Aber haben sie auf mich gehört? Nein! Du hast es ihnen gesagt. Ja, ich war dort; Nirgal, sicher. Nirgal und ich ziehen uns zurück. Was meinst du, verehrter Alter, bist du nicht der blinde Passagier? Wieso, ja, der bin ich. Also bist du Nirgals Vater. Du solltest dich zurückziehen, wie du sagst. Na ja, in Zygote hat es nicht immer so geklappt. Ich sage dir, jenes Weib zieht dir dein ganzes Leben lang das Fell über die Ohren, wenn du es läßt. Du hast endlose Jahre lang in einem Verschlag gelebt. Ach, komm schon, du bist nicht Cojote. Nun, was kann ich sagen. Nicht viele Leute erkennen mich. Und warum sollten sie auch? Ich wette, daß er es ist. Wenn du Nirgals Papa bist, warum ist er so groß und du so klein? Warum lachst du? Ich bin nicht klein. Ich bin fünf Fuß und fünf Zoll groß. Fuß? Heiliger Ka, hier ist ein Mann, der seine Größe in Fuß mißt! In Fuß! O mein Gott, du mußt scherzen. Fünf Fuß? He, du siehst aus, als könnten es noch mehr Fuß sein. Wie lang waren denn diese Füße? Wie wurden sie gemessen? Etwas weniger als ein drittel Meter? Kein Wunder, daß die Erde so drollig ist. Wie kommst du auf den Gedanken, daß dein kostbares Meter so groß ist? Es ist nur irgendein Bruchteil der Distanz vom Nordpol der Erde zu ihrem Äquator. Napoleon hat diesen Bruchteil aus einer Laune heraus gewählt! Es ist ein Metallbarren im französischen Paris, und seine Länge wurde durch die Laune eines Verrückten bestimmt! Kannst du dir nicht vorstellen, vernünftiger zu sein als die alten Methoden. Bitte, halt an, ich sterbe vor Lachen. Ihr Leute habt überhaupt keinen Respekt vor euren Vorfahren. Das gefällt mir.

He, gib dem alten Cojote noch einen Drink! Was hast du? Tequila, danke. Und etwas Kava. Oh, oh! Dieser Bursche versteht zu leben. Das stimmt, ich weiß zu leben. Diese Wilden haben es sich ausgedacht, solange du es nicht übertreibst. Sie kopieren mich, sind aber zu weit gegangen. Nicht gehen, sondern fahren. Nicht jagen, sondern kaufen. Jede Nacht auf einem Gel-Bett schlafen und versuchen, zwei nackte junge eingeborene Frauen zum Zudecken zu haben. Oh, oh, oh! Oha! Du alter Lustmolch! Oh, verehrter Herr. Indezent. Nun, für mich klappt es. Ich schlafe nicht so gut, bin aber zufrieden. Danke, laß dich nicht dadurch stören. Ich schätze es. Frost! Auf den Mars!


Sie erwachte in einer Stille, die so perfekt war, daß sie ihren Herzschlag hören konnte. Sie konnte sich nicht erinnern, wo sie war. Dann fiel es ihr wieder ein. Sie waren im Haus von Nadia und Art an der Küste der Hellas-See knapp westlich von Odessa. Tap, tap, tap. Dämmerung, der erste Schimmer des Tages. Nadia draußen am Bau. Sie und Art wohnten am Ende ihres Stranddorfs in dem Komplex ihrer Koop aus verschachtelten Häusern, Pavillons, Gärten und Wegen. Eine Gemeinde von etwa hundert Personen, mit etwa hundert verbunden, die ihnen glichen. Offenbar arbeitete Nadia immer noch an der Infrastruktur. Tap, tap, tap! Sie baute gerade ein Deck, das einen Zygote-Bambusturm umlaufen sollte.

Im nächsten Zimmer atmete jemand. Zwischen den Räumen war eine offene Tür. Sie richtete sich auf. Vorhänge an der Wand. Sie zog sie einen Spalt auf. Frühdämmerung. Grau in Grau. Ein karges Zimmer. Sax lag im nächsten Zimmer auf einem großen Bett unter dicken Decken.

Ihr war kalt. Sie stand auf und tapste durch die Tür in sein Zimmer. Sein Gesicht auf dem breiten Kissen war schlaff. Ein alter Mann. Sie kroch zu ihm unter die Decken ins Bett. Er war warm. Er war kleiner als sie, klein und rund. Sie wußte das, sie kannte ihn von der Sauna und den Teichen in Underhill und den Bädern in Zygote. Ein anderer Teil ihres kommunalen Körpers. Tap, tap, tap, tap. Er rührte sich, und sie umschlang ihn. Er kuschelte sich wieder an sie, immer noch in tiefem Schlaf.


Während des Gedächtnisexperiments hatte sie sich auf den Mars konzentriert. Michel hatte einmal gesagt: Deine Aufgabe ist es, den Mars zu finden, der alles überdauert. Und der Anblick derselben Hügel und Täler um Underhill hatte sie stark an die frühen Jahre erinnert, als über jedem Horizont etwas Neues lauerte. Das Land. In ihrem Geist dauerte es noch an. Die Leichtigkeit, die enge Vertrautheit mit dem Horizont, wo alles fast greifbar war. Dann die plötzlichen immensen Perspektiven, wenn etwas von der Nachbarschaft des Großen Mannes in Sicht kam. Die weiten Klippen, die tiefen Canyons, die kontinentalen Vulkane und das wilde Chaos. Die gigantische Kalligraphie aus areologischer Vorzeit. Die die Welt einhüllenden Dünen. Sie würden es nie wissen. Es war unvorstellbar.

Aber sie hatte es kennengelernt. Und während des Gedächtnisexperiments hatte sie ihren Geist während eines ganzen Tages darauf konzentriert, der zehn Jahre zu dauern schien. Nicht einmal an die Erde gedacht. Das war ein Trick, eine enorme Anstrengung gewesen. Bloß nicht an das Wort Elefant denken! Aber das hatte sie auch nicht. Das war ein Trick, den sie zu beherrschen gelernt hatte, die einseitig gerichtete Achtsamkeit des großen Verweigerers, eine Art von Stärke. Vielleicht. Und dann kam Sax über den Horizont geflogen und rief: Denk an die Erde! Denk an die Erde? Es war fast komisch.

Aber das war Antarctica gewesen. Ihr so trickreicher und konzentrierter Geist hatte gesagt: Das ist eben Antarctica, ein Stück Mars auf der Erde, ein verlagerter Kontinent.

Das Jahr, das sie dort verbracht hatten, war ein Vorgriff auf die Zukunft gewesen. In den Dry Valleys waren sie auf dem Mars gewesen, ohne es zu wissen. Darum konnte sie sich daran erinnern, ohne wieder auf die Erde geführt zu werden. Es war nur ein Ur- Underhill gewesen, ein Underhill mit Eis, und ein anderes Camp, aber die gleichen Leute und die gleiche Situation. Und als sie daran dachte, war ihr tatsächlich alles wieder gegenwärtig geworden in der Magie einer anamnetischen Verzauberung. Jene Gespräche mit Sax; wie sehr sie jemanden geliebt hatte, der in der Wissenschaft ebenso einsam war wie sie, wie sie sich von ihm angezogen fühlte. Niemand hatte verstanden, wie weit man sich da hineinbegeben konnte. Und dort draußen in jener reinen Weite hatten sie diskutiert. Nacht für Nacht. Über den Mars. Technische Aspekte, philosophische Aspekte. Sie waren sich nicht einig gewesen. Aber sie waren zusammen da draußen gewesen.

Aber nicht völlig. Er war durch ihre Berührung schockiert gewesen. Armes Fleisch. So hatte er gedacht. Offenbar war sie im Unrecht gewesen. Das war sehr schade; denn wenn sie beide sich verstanden hätten, hätte sich vielleicht die ganze Geschichte geändert. Und hier waren sie nun.

Und bei all dem Sturz in jene Vergangenheit hatte sie niemals an die weiter im Norden liegende Erde gedacht, an die frühere Erde. Sie war in der antarktischen Konvergenz geblieben. Tatsächlich hatte sie die meiste Zeit auf dem Mars verbracht, dem Mars ihres Geistes, dem Roten Mars. Jetzt besagte die Theorie, daß die anamnetische Behandlung das Gedächtnis stimulierte und das Bewußtsein veranlaßte, die assoziativen Komplexe von Knoten und Netzwerk durch die ganzen Jahre noch mal durchzugehen. Die Wiederholung kräftigte die Erinnerungen in ihrem physikalischen Geflecht, da es sich um ein verblassendes Feld von Mustern handelte, die durch Quantenschwingung gebildet wurden. Alles in der Erinnerung wurde wieder verstärkt; und das, an was man sich nicht erinnerte, wurde vielleicht nicht wieder verstärkt und konnte auf diese Weise eine Beute von Bruch, Irrtum,Quantenkollaps und Zerfall werden. Und vergessen werden.

Also war sie jetzt eine neue Ann. Nicht die Gegen-Ann, nicht einmal jene im Schatten stehende dritte Person, die sie so lange gequält hatte. Eine neue Ann. Endlich eine voll marsianische Ann. Auf einem braunen Mars neuer Art, rot, grün, blau — alles durcheinander gewirbelt. Oder wirklich auf einem grünen Mars, zugegebenermaßen, einem grünen Mars. Und falls es noch eine terranische Ann geben würde, die in einem verlorenen eigenen Quantenkabinett hockte, so war das eben das Leben. Kein Schreckgespenst ging jemals bis zum Tode oder der endgültigen Auflösung verloren. Und so sollte es vielleicht auch sein. Man wollte nicht zu viel verlieren, oder es gäbe Schwierigkeiten anderer Art. Es mußte ein Gleichgewicht gewahrt werden. Und hier jetzt auf dem grünen Mars war sie die marsianische Ann, nicht mehr eine Issei, sondern eine ältliche neue Eingeborene, eine auf der Erde geborene Yonsei. Die Martianische Ann Clayborn im Moment, im einzigen Moment. Es war ein gutes Gefühl, hier zu liegen.


Sax rührte sich in ihren Armen. Sie schaute auf sein Gesicht. Ein anderes Gesicht, aber immer noch Sax. Sie hatte einen Arm auf ihn gelegt und fuhr mit einer kalten Hand über seine Brust. Er wachte auf, sah, wer es war, und lächelte leicht verschlafen. Er reckte sich, drehte sich um und drückte sein Gesicht auf ihre Schulter. Er küßte ihren Hals mit einem leichten Biß. Sie hielten einander fest, wie sie es in dem fliegenden Boot während des Sturms getan hatten. Eine wilde Fahrt. Es würde Spaß machen, sich im Himmel zu lieben. Nicht praktisch bei einem solchen Wind. Ein andermal. Sie fragte sich, ob Matratzen genau so gemacht würden wie früher üblich. Diese hier war hart.

Sax war nicht so weich, wie er aussah. Sie umarmten sich innig. Sexualkongress. Er war in ihr und bewegte sich. Sie packte ihn und drückte ihn sehr, sehr hart an sich.

Jetzt küßte er sie überall, knabberte an ihr, unter den Decken. Er fuhr wie ein U-Boot umher. Sie spürte ihn am ganzen Körper. Gelegentlich seine Zähne, aber meistens war es das Lecken seiner Zungenspitze über ihre Haut, wie eine Katze. Leck, leck, leck. Ein angenehmes Gefühl. Er summte oder brummte. Seine Brust vibrierte mit. Es war wie Schnurren: »Rrrr, rrr, rrrrrr.« Ein friedlicher schwelgerischer Ton. Es fühlte sich auch für ihre Haut gut an. Vibration, Katzenzunge, leichtes Lecken überall auf ihr. Sie hob die Decke so, daß sie auf ihn hinabblicken konnte.

Er flüsterte: »Nun, was ist ein besseres Gefühl? A?« Er küßte sie. »Oder b?« Er küßte sie an einer anderen Stelle.

Sie mußte lachen. »Sax, halt den Mund und tu’s!«

»Ah! Okay.«


Sie frühstückten mit Nadia und Art und den anwesenden Mitgliedern ihrer Familie. Ihre Tochter Nikki war mit ihrem Gatten und drei anderen Paaren aus ihrer Koop fort zu einem Ausflug in die Wildnis des Hellespontus-Gebirges. Sie waren am vorangegangenen Abend mit einem Gepolter aufgeregter Erwartung aufgebrochen, selbst wie kleine Kinder, und hatten ihre Tochter Francesca und auch die Kinder der Freunde dagelassen: Nanao, Boone und Tati. Francesca und Boone waren beide fünf, Nanao drei und Tati zwei. Sie alle fanden es aufregend, beisammen zu sein und bei Francescas Großeltern. Heute wollten sie an den Strand gehen. Ein großes Abenteuer. Während des Frühstücks trafen sie logistische Entscheidungen. Sax würde mit Art zu Hause bleiben und ihm beim Pflanzen einiger neuer Bäume in einen Olivenhain helfen, den Art auf dem Hügel hinter dem Haus anlegte. Sax wollte auch auf zwei Besucher warten, die er eingeladen hatte: Nirgal und einen Mathematiker von Da Vinci, eine Frau namens Bao. Ann sah, daß er aufgeregt war, sie ihnen vorzustellen. Er vertraute ihr an: »Es ist ein Experiment.« Er war ebenso erregt wie die Kinder.

Nadia würde weiter an ihrem Deck arbeiten. Sie und Art würden vielleicht später mit Sax und seinen Gästen zum Strand hinunter gehen. Für den Morgen sollten die Kinder in der Obhut von Tanta Maya bleiben. Sie waren über diese Aussicht so aufgeregt, daß sie nicht stillsitzen konnten. Sie schwärmten umher und tobten um den Tisch wie junge Hunde.

Also mußte Ann wohl mit Maya und den Kindern zum Strand gehen. Maya konnte die Hilfe gebrauchen. Sie alle schauten Ann vorsichtig prüfend an. Bist du bereit, Tante Ann? Sie nickte. Sie würden die Straßenbahn nehmen.


So war sie nun mit Maya und den Kindern zum Strand unterwegs. Sie und Francesca und Nanao und Tati waren in der ersten Bank hinter dem Fahrer zusammengedrängt mit Tati auf Anns Schoß. Boone und Maya saßen zusammen auf dem Rücksitz. Maya kam jeden Tag so herein. Sie wohnte auf der anderen Seite von Nadias und Arts Dorf in einer eigenen Hütte, die einsam auf Klippen über dem Strand lag. Sie ging an den meisten Tagen zur Arbeit in ihren Koop-Laden und blieb an vielen Abenden dort, um mit ihrer Theatergruppe zu arbeiten. Sie war auch Stammgast in der Cafe-Szene und offenbar eine regelmäßige Babysitterin dieser Kinder.

Jetzt war sie in einem wilden Kitzelkampf mit Boone beschäftigt. Die beiden packten einander fest an und kicherten unverfroren. Das war noch eine Ergänzung zu dem Schatz an erotischer Erfahrung des Tages. Daß eine so gefühlsbetonte Begegnung zwischen einem fünfjährigen Jungen und einer Frau von zweihundertdreißig Jahren möglich war, das Spiel zweier Menschen, die in körperlichen Freuden so erfahren waren: Ann und die anderen Kinder verstummten, leicht verlegen, Zeugen einer solchen Szene zu sein.

»Was ist los?« fragte Maya sie bei einer atemlosen Pause. »Hat die Katze eure Zunge erwischt?«

Nanao schaute verblüfft zu Ann auf: »Eine Katze hat deine Zunge erwischt?«

»Nein«, sagte Ann.

Maya und Boone quietschten vor Lachen. Die Leute in der Straßenbahn schauten zu ihnen hin, einige grinsend, andere finster. Francesca hatte Nadias gefleckte Augen, wie Ann sah. Das war alles, was an ihr von Nadia zu sehen war. Sonst sah sie mehr wie Art aus, aber auch besonders stark. Eine Schönheit.


Sie kamen zur Haltestelle am Strand. Eine kleine Station, ein Regendach, ein Kiosk, ein Restaurant, ein Parkplatz für Fahrräder, einige ins Land führende Straßen und ein breiter Weg durch begrünte Dünen zum Strand hinunter. Sie stiegen aus, Maya und Ann beladen mit Taschen voller Handtücher und Spielsachen.

Es war ein bewölkter windiger Tag. Der Strand war fast menschenleer. Schnelle flache Wellen liefen schräg auf den Strand zu und brachen sich in den Untiefen kurz vor der Küste in abrupten weißen Linien. Die See war dunkel, die Wolken perlgrau in einem Fischgrätenmuster unter einem trüben Lavendelhimmel. Maya stellte ihre Taschen ab. Sie und Boone liefen zum Wasser. Im Osten erhob sich Odessa am Berghang unter einer Wolkenlücke, so daß all die kleinen weißen Mauern in der Sonne gelb aufleuchteten. Möwen kreisten auf Suche nach Eßbarem mit gespreiztem Gefieder in dem zur Küste wehenden Wind. Ein Pelikan surfte über die Wellen, und über ihm flog ein Mann in einem großen Vogelkostüm. Der Anblick erinnerte Ann an Zo. Manche Leute waren so jung gestorben, in ihren Vierzigern, Dreißigern und Zwanzigern, als sie kaum ahnen konnten, was ihnen entgehen würde. Manche im Alter dieser kleinen Kinder. Jäh ausgelöscht wie Frösche bei Frost. Und das konnte immer noch passieren. In jedem Augenblick konnte schon die Luft einen emporreißen und töten. Obwohl das ein Unfall sein würde. Man mußte zugeben, daß die Dinge sich jetzt verändert hatten. Falls kein Unglück einträte, würden diese Kinder wahrscheinlich eine volle Lebensspanne genießen. Und das würde ein sehr langer Zeitraum sein. Soviel konnte man, so wie die Dinge jetzt lagen, sagen.

Nikkis Freunde hatten gesagt, es wäre am besten, ihre Tochter Tati vom Sand fern zu halten, da sie dazu neigte, ihn zu essen. Also versuchte Ann, sie auf dem schmalen Rasen zwischen Dünen und Strand zurückzuhalten. Aber sie riß heulend aus, wälzte sich hinüber und plumpste mit zufriedenem Gesicht nahe bei den anderen auf dem Sand auf ihre Windeln. »Okay«, sagte Ann, gab es auf und ging zu ihr. »Aber iß nichts davon!«

»Schaut!« rief Francesca ihnen zu. »Ich laufe um euch in Kreisen.«

Boone blickte auf. »Nein«, sagte er. »Du läufst Ovale.«

Er ging zurück, um mit Maya über den Lebenszyklus der Sandkrabben zu diskutieren. Ann hatte ihn schon früher getroffen. Vor einem Jahre hatte er noch kaum gesprochen. Nur einfache Phrasen wie Tati und Nanao. Fischchen! Meine! Und jetzt war er ein Pedant.

Die Art und Weise, auf die Sprache zu Kindern kam, war unglaublich. Sie waren in diesem Alter alle Genies. Erwachsene brauchten Jahre um Jahre, um sie zu den Bonsai-Kreaturen zu entwirren, die sie schließlich wurden. Wer würde wagen, das zu tun? Wer würde dieses natürliche Kind verkrüppeln wollen? Niemand. Und dennoch wurde es gemacht. Niemand wollte es, und alle taten es. Obwohl Nikki und ihre Freunde, die fröhlich für ihre Gebirgsreise packten, Ann immer noch recht wie Kinder vorkamen. Und sie waren fast achtzig Jahre alt. Also geschah das jetzt nicht mehr so oft. Auch das war dazu zu sagen, so wie die Dinge jetzt lagen.

Francesca hörte mit dem Laufen in Kreisen oder Ovalen auf und riß Nanao eine Plastikschaufel aus der Hand. Nanao weinte aus Protest. Francesca wandte sich ab und stellte sich auf die Zehenspitzen, wie um zu demonstrieren, wie unbeschwert ihr Gewissen war.

Sie sagte über die Schulter: »Das ist meine Schaufel.«

»Ist sie nicht!«

Maya blickte kaum hoch. »Gib sie zurück!«

Francesca hüpfte mit ihr davon.

»Ignoriere sie!« wies Maya Nanao an. Nanao jaulte noch wütender mit rotem Gesicht. Maya warf Francesca einen Blick zu. »Willst du ein Eis oder nicht?«

Francesca kam zurück und ließ die Schaufel Nanao auf den Kopf fallen. Boone und Maya, die schon wieder in ihre Graberei vertieft waren, achteten nicht darauf.

»Ann, könntest du etwas Eis vom Kiosk holen?«

»Sicher.«

»Nimm bitte Tati mit!«

»Nein!« sagte Tati.

»Eis!« sagte Maya. Tati dachte darüber nach und rappelte sich mühsam auf die Füße.

Sie und Ann gingen Hand in Hand zurück zum Kiosk an der Haltestelle. Sie kauften sechs Portionen Eis, von denen Ann fünf in einem Beutel trug. Tati bestand darauf, ihres im Gehen zu essen. Sie war noch nicht geübt genug, zwei Verrichtungen gleichzeitig zu bewältigen, und sie kamen nur langsam voran. Geschmolzenes Eis lief an dem Stab herunter, und Tati lutschte gleichermaßen am Eis und an der Hand. Sie sagte: »Fein. Meckt fein.«

Eine Straßenbahn lief in die Station ein und fuhr dann weiter. Ein paar Minuten später kamen drei Personen auf Fahrrädern den Weg herunter. Sax, dahinter Nirgal und eine eingeborene Frau. Nirgal bremste sein Rad neben Ann ab und umarmte sie. Sie hatte ihn viele Jahre lang nicht gesehen. Er war alt. Sie drückte ihn fest an sich und lächelte Sax zu. Sie wollte auch ihn umarmen.

Sie gingen hinunter zu Maya und den Kindern. Maya stand auf, um Nirgal zu umarmen und schüttelte dann Bao die Hand. Sax fuhr auf dem Rasen hinter dem Sand mit dem Rad hin und her, einmal sogar freihändig und winkte der Gruppe zu. Boone, der an seinem Rad noch Stützräder hatte, sah ihn und rief verblüfft: »Wie machst du das?«

Sax ergriff wieder die Lenkstange, hielt an und sah Boone mißmutig an. Boone ging unbeholfen mit ausgebreiteten Armen zu ihm und stolperte direkt in sein Rad. Sax fragte: »Stimmt etwas nicht mit dir?«

»Ich versuche zu gehen, ohne mein Cerebellum zu benutzen.«

»Eine gute Idee«, sagte Sax.

»Ich werde mehr Eis holen«, erbot sich Ann. Sie ließ Tati diesmal zurück und trollte sich über den Sand zu dem Rasenweg. Es war ein gutes Gefühl, gegen den Wind zu gehen.

Als sie mit einer zweiten Schachtel voll Eiskrem zurückkam, wurde die Luft plötzlich kalt. Dann fühlte sie ein Taumeln in ihrem Innern und eine Schwäche. Das Meer hatte einen glitzernden harten Purpurschimmer oberhalb der Oberfläche. Und ihr war sehr kalt. Oh, Mist, dachte sie. Jetzt kommt es. Rascher Verfall. Sie hatte von den verschiedenartigen Symptomen gelesen, von denen Leute berichteten, die irgendwie wiederbelebt worden waren. Ihr Herz klopfte wild in der Brust, wie ein Kind, das aus einem finsteren Schrank herauszukommen sucht. Der Körper substanzlos, als hätte etwas ihre Substanz ausgesogen und sie porös gemacht. Sie würde mit dem Stoß eines Fingers zu Staub zerfallen. Tap! Sie grunzte vor Überraschung, fühlte einen Stich in der Brust. Sie tat einen Schritt zur Seite auf eine Bank neben dem Wege zu, blieb dann stehen und krümmte sich unter einem neuerlichen Stich. Tap, tap, tap*. Sie schrie. »Nein!« und packte den Beutel mit Eis. Das Herz schlug arhythmisch, aber es klopfte immerhin. Bang, bang-bang, bang. Nein, sagte sie, ohne es auszusprechen. Noch nicht. Die neue Ann ohne Zweifel; aber dafür war keine Zeit. Ann selbst quietschte »Nein« und war dann völlig absorbiert von der Anstrengung, sich zusammenzuhalten. Herz, du mußt schlagen! Sie hielt es so fest, daß sie stolperte. Nein. Noch nicht. Der Wind so kalt, unter Null. Er blies durch sie hindurch, ihr Körper war ein Gespenst, das sie nur noch durch ihren Willen zusammenhielt. Die Sonne so hell, ihre scharfen Strahlen stießen direkt durch ihren Brustkorb, und der Wind pustete durch sie. Sie hielt sich mit jedem verkrampften Muskel beisammen. Die Zeit blieb stehen. Alles hielt inne.

Sie tat einen kurzen Atemzug. Der Anfall verging. Der Wind wurde langsam wieder wärmer. Die Aura der See verschwand und hinterließ glattes blaues Wasser. Ihr Herz klopfte in seinem gewohnten Takt bum-bum, bum-bum. Die Substanz kehrte zurück, der Schmerz ließ nach. Die Luft war salzig und schwül und gar nicht kalt. Man könnte fast schwitzen.

Sie ging weiter. Wie gewaltsam der Körper einen an manches erinnerte. Aber sie hatte ausgehalten. Sie würde leben. Zumindest eine Weile noch. Wenn es nicht jetzt sein würde... nein, nicht jetzt. So war sie also hier. Sie ging vorsichtig weiter, einen Schritt nach dem anderen. Alles schien zu funktionieren. Sie war davongekommen. Es hatte sie nur gestreift.

Von der Sandburg aus sah Tati Ann und trippelte, gierig nach dem Beutel mit Eis, auf sie zu. Aber sie ging zu schnell und fiel direkt aufs Gesicht. Als sie sich aufrichtete, war ihr Gesicht mit Sand beschmiert, und Ann erwartete, daß sie heulen würde. Aber sie leckte sich genießerisch die Oberlippe.

Ann ging hin, um ihr zu helfen. Sie hob sie auf die Füße und versuchte, den Sand von ihrer Oberlippe zu wischen. Aber sie wippte mit dem Kopf nach hinten und vorn, um sich der Hilfe zu entziehen. Na gut. Soll sie etwas Sand essen. Was könnte das schaden? »Da, nicht zu viel! Nein, diese sind für Sax und Nirgal und Bao. Nein! He, schau auf die Möwen!«

Tati blickte hoch, sah über sich die Möwen, versuchte, ihnen mit dem Blick zu folgen und fiel auf den Hintern. Sie sagte: »Ooh! Fein! Fein!«

Ann stellte sie wieder auf die Füße. Sie gingen Hand in Hand zu der Gruppe. Oben auf dem Sandhügel standen triefende Burgen. Nirgal und Bao waren unten an der Wasserlinie ins Gespräch vertieft. Weiter weg am Strand fischte eine alte asiatische Frau in der Brandung. Das Meer war dunkelblau, der Himmel klarte blaß malvenfarbig auf, und die restlichen Wolken zogen nach Osten davon. Die Luft strömte dahin. Einige Pelikane glitten in einer Reihe über eine aufsteigende Woge. Tati zerrte an Anns Hand, um sie anzuhalten und zeigte auf sie. »Fein!«

Ann versuchte weiterzugehen, aber Tati wollte sich nicht rühren und zerrte hartnäckig an ihrer Hand. »Fein!«

»O ja. Fein.«

Zufriedengestellt ließ Tati sie los und trippelte über den Sand. Sie schaffte es gerade, auf den Füßen zu bleiben. Ihre Windel wackelte wie ein Entenpopo, und ihre babyspeck-besetzten Kniekehlen bildeten Grübchen.

Und bewegt sich doch, dachte Ann. Sie folgte dem Kind und lächelte über ihren kleinen Scherz. Galilei hätte sich weigern können zu widerrufen und wäre um der Sache der Wahrheit willen auf dem Scheiterhaufen gestorben; aber das wäre töricht gewesen. Besser sagen, was man mußte, und von da ausgehen. Ein Pinselstrich erinnerte einen daran, was wichtig war. O ja, fein! Sie gab das zu und dürfte leben. Herz, schlag weiter! Und warum auch nicht? Nirgends auf dieser Welt töteten Menschen einander, nirgends verlangten sie verzweifelt nach Obdach und Nahrung, nirgendwo hatten sie Angst um ihre Kinder. Das mußte gesagt werden. Der Sand knirschte beim Gehen unter ihren Zehen. Sie schaute genauer hin. Dunkle Basaltkörner, vermischt mit winzigen Muschelstücken, und vielfältige bunte Kiesel, einige davon ohne Zweifel zerbrochene Brekzien vom Hellas-Aufprall selbst. Sie hob den Blick zu den Bergen westlich der See, schwarz unter der Sonne. Die Gebeine der Dinge ragten überall heraus. Wellen brachen sich in schnellen Linien am Strand; und sie ging über den Sand zu ihren Freunden, im Wind, auf dem Mars, auf dem Mars, auf dem Mars.

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