VIERTER TEIL Grüne Erde

Auf der Erde beherrschte die große Flut inzwischen alles.

Die Überschwemmung war durch eine Häufung heftiger Vulkanausbrüche unter dem Eispanzer der westlichen Antarktis verursacht worden. Das Land unter der Eisdecke, das dem Gebiet Nordamerikas ähnelte, war durch das Gewicht des Eises zusammengepreßt worden, bis es unter Meeresniveau lag. Als dann die Eruptionen begannen, hatten Lava und Gase das Eis über den Vulkanen geschmolzen und große Bergrutsche ausgelöst. Gleichzeitig begann Meerwasser an verschiedenen Punkten rund um die rasch erodierende Grundlinie unter das Eis zu strömen. Destabilisiert und rissig geworden waren rings um die Ränder der RossSee und der Ronne-See enorme Eisinseln abgebrochen. Als diese Eisinseln mit den Ozeanströmungen davontrieben, setzte sich das Abbrechen weiter ins Landesinnere fort und wurde durch die Turbulenz noch beschleunigt. In den Monaten nach den großen Brüchen füllte sich das antarktische Meer mit immensen tafelförmigen Eisbergen, die so viel Wasser verdrängten, daß der Meeresspiegel in der ganzen Welt anstieg. Wasser strömte weiter in das Depressionsbecken der westlichen Antarktis, welches zuvor von Eis gefüllt gewesen war, und schwemmte Berg um Berg die Eismassen hinaus, bis die Eisdecke völlig verschwunden war, ersetzt durch ein neues flaches Meer, das von den ständigen Unterwassereruptionen aufgewühlt wurde, die hinsichtlich ihrer Stärke mit den Eruptionen in Dekkan in der späten Kreidezeit vergleichbar waren.

Und so war ein Jahr nach Beginn der Eruptionen Antarciica nur etwas mehr als halb so groß, wie es gewesen war. Die östliche Antarktis lag wie ein Halbmond um den Südpol der Erde, und ihr gegenüber die antarktische Halbinsel wie ein von Eis bedecktes Neu-Seeland, und dazwischen ein von Eisbergen verstopftes flaches Meer. Und Rings in der übrigen Welt war der Meeresspiegel um sieben Meter höher als zuvor.

Seit der letzten Eiszeit vor zehntausend Jahren hatte die Menschheit eine Naturkatastrophe dieser Größenordnung nicht mehr erlebt. Und dieses Mal betraf sie nicht nur ein paar Millionen Jäger und Sammler nomadischer Stämme, sondern fünfzehn Milliarden zivilisierter Bürger, die in einem heiklen soziotechnischen Gebäude lebten, das ohnehin in der Gefahr des Zusammenbruchs geschwebt hatte. Alle großen Küstenstädte waren überschwemmt. Ganze Länder wie Bangladesh, Holland und Belize waren überspült. Die meisten der Unglücklichen, die in solch tiefliegenden Regionen lebten, hatten Zeit, auf höheres Gelände umzusiedeln; denn die Flut war mehr wie ein Gezeitenstrom als eine Sturmflut. Und dann waren sie alle, irgendwo zwischen einem Zehntel und einem Fünftel der Weltbevölkerung, Flüchtlinge.

Es versteht sich von selbst, daß die menschliche Gesellschaft nicht darauf vorbereitet war, mit einer solchen Situation fertig zu werden. Das wäre selbst in den besten Zeiten nicht leicht gewesen, und das frühe zweiundzwanzigste Jahrhundert gehörte nicht zu diesen. Die Bevölkerung wuchs immer noch an, die Ressourcen waren immer mehr erschöpft, und Konflikte zwischen Reich und Arm, Regierungen und Metanats, hatten sich allenthalben verschärft. Die Katastrophe hatte mitten in einer Krise zugeschlagen.

In gewissem Maße wirkte die Katastrophe der Krise entgegen. Angesichts weltweiter Verzweiflung wurden Machtkämpfe aller Art in neuen Zusammenhang gestellt, viele wurden gespenstisch. Ganze Bevölkerungen waren in Not, und Gesetze über Besitz und Profit traten den neuen Problemen gegenüber in den Hintergrund. Die Vereinten Nationen erhoben sich wie ein Phönix des Wassers aus dem Chaos und wurden zum Verrechnungsinstitut für die riesige Anzahl der Bemühungen, die Not zu mildern: Nationale Grenzüberschreitungen wurden erleichtert, Notunterkünfte errichtet, Notnahrung und Versorgungsmaterial wurden verteilt. Durch die Natur dieses Werks mit seinem Nachdruck auf Bergung und Linderung standen die Schweiz und Praxis in vorderster Front der Helfer der UN. Die UNESCO stand von den Toten auf, zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation. Indien und China als die größten der schlimm verwüsteten Länder hatten auch sehr starken Einfluß in der laufenden Situation; denn die Art, wie sie sich entschieden, würde ihre Zukunft weitgehend beeinflussen. Sie schlössen Allianzen miteinander sowie mit den UN und deren neuen Verbündeten. Sie lehnten jede Hilfe von der Gruppe der Elf ab, genau wie von den Metanationalen, die voll in die Affären der meisten GH-Regierungen verwickelt waren.

Auf der anderen, dunklen Seite verschlimmerte die Katastrophe unterdessen die Krise nur. Die Metanatinonalen waren durch die Flut selbst in eine höchst seltsame Lage geraten. Davor waren sie voll mit dem beschäftigt, was Kommentatoren als Metanatricid bezeichnet hatten, indem sie untereinander um die endgültige Herrschaft in der Weltwirtschaft kämpften.

Ein paar große metanationale Supergruppen hatten die totale Kontrolle der größten Industrieländer angestrebt und versucht, die sich noch außerhalb ihrer Kontrolle befindlichen wenigen Einheiten zu übernehmen: Schweiz, Indien, China, Praxis, die sogenannten Länder des Weltgerichtshofes, und so weiter. Jetzt, wo ein großer Teil der Erdbevölkerung mit der Flut beschäftigt war, kämpften die Metanats hauptsächlich darum, das wieder zu gewinnen, was sie an Kontrolle über die Geschäfte dieser Länder verloren hatten. Nach Meinung des Volkes wurden sie oft mit der Flut in Zusammenhang gebracht — als Ursache oder als bestrafte Sünder, je nach religiöser Ausrichtung des Anklägers. Ein sehr passendes Stück magischen Denkens für den Mars und die anderen antimetanationalen Kräfte, die alle ihr Bestes taten, um die Chance zu ergreifen, die Metanationalen in Stücke zu hauen, während sie darniederlagen. Die Gruppe der Elf und die anderen vorher mit den Metanats verbündeten Regierungen strampelten darum, ihre eigenen Bevölkerungen am Leben zu erhalten und konnten daher wenig Aufwand betreiben, den großen Konglomeraten zu helfen. Und überall gaben Leute ihre früheren Jobs auf, um sich in den verschiedenen Hilfsorganisationen zu engagieren. Unternehmen, die nach Art von Praxis im Besitz der Beschäftigten waren, gewannen an Popularität, als sie endlich auf die Notlage reagierten und gleichzeitig allen ihren Mitgliedern die Langlebigkeitsbehandlung anboten. Einige Metanats setzten auf ihre Arbeitsmacht, um sich in der gleichen Richtung umzugestalten. Und so setzte sich der Kampf um Macht auf vielen Ebenen fort. Dupch die Katastrophe hatte er sich aber überall verändert.

In diesem Zusammenhang war der Mars für die meisten Terraner völlig irrelevant geworden. Er war natürlich gewiß eine interessante Geschichte, und es verwünschten auch viele die Marsianer als undankbare Kinder, die ihre Eltern in Notzeiten im Stich ließen. Das war ein Beispiel für viele böse Reaktionen auf die Flut, im Gegensatz zu den gleichfalls reichlichen guten Reaktionen. In diesen Tagen gab es immer Helden und Schurken; und die meisten betrachteten die Marsianer als Ratten, die das sinkende Schiff verlassen hatten. Andere sahen sie als mögliche Retter auf irgendeine schlecht definierte Weise — auch das wieder ein Stück Metaphysik. Aber es lag etwas Hoffnungsvolles in dem Gedanken, daß sich auf der nächsten Welt draußen eine neue Gesellschaft bildete.

Inzwischen kämpfte, ungeachtet dessen, was auf dem Mars geschah, das Volk der Erde darum, mit der Flutfertig zu werden. Zu dem Schaden kamen jetzt auch rasche klimatische Veränderungen. Die größere Wolkendecke reflektierte mehr Sonnenlicht und ließ die Temperaturen sinken. Sie schuf auch Wirbelstürme und Gewitter, die oft die so sehr benötigten Ernten vernichteten. Und manchmal fiel Regen, wo es ihn früher selten gegeben hatte, in der Sahara, in der Mojave, im nördlichen Chile, und brachte die große Flut weit ins Binnenland, so daß sie überall zuschlug. Und während der Ackerbau durch diese neuen strengen Stürme schwer betroffen war, wurde der Hunger selbst zum Problem. Deshalb war jeder allgemeine Sinn für Zusammenarbeit bedroht, als es schien, daß vielleicht nicht jeder ernährt werden könnte. Die Feiglinge sprachen von natürlicher Auslese. Jeder Teil von Terra war im Aufruhr wie ein mit dem Stock aufgewühlter Ameisenhaufen.

So stand es also um die Erde im Sommer 2128. Eine noch nie da gewesene Katastrophe, eine andauernde allgemeine Krise. Die Welt vor der Flut schien nicht mehr als ein böser Traum gewesen zu sein, aus dem sie alle rauh geweckt und in eine noch gefährlichere Realität geworfen worden waren. Von der Bratpfanne ins Feuer, gewiß. Während einige versuchten, wieder in die Bratpfanne zurück zu gelangen, kämpften andere darum, aus dem Ofen herauszukommen. Und niemand konnte sagen, was als nächstes geschehen würde.


Ein unsichtbarer Schraubstock hielt Nirgal fest, jeden Tag erdrückender als am vorigen. Maya stöhnte und jammerte darüber, Michel und Sax schien es nicht zu kümmern. Michel war sehr vergnügt wegen dieser Reise, und Sax war voll damit beschäftigt, Berichte über den Kongreß auf Pavonis Mons zu verfolgen. Sie lebten in der rotierenden Kammer des Raumschiffs Atlantis, und die Kammer würde während der fünf Monate der Reise so weit beschleunigen, bis die Zentrifugalkraft der Gravitation des Mars zum Äquivalent von der Erde überging. Dabei würde es während fast der Hälfte der Reise bleiben. Diese Methode war im Lauf der Jahre entwickelt worden, um Emigranten, die den Wunsch hatten heimzukehren, sowie hin und her reisende Diplomaten und die wenigen eingeborenen Marsianer, die zur Erde reisten, einzugewöhnen. Das war für jeden hart. Einer ganzen Anzahl Marsgeborener war auf der Erde schlecht geworden. Manche waren gestorben. Es war wichtig, in der Schwerekammer zu bleiben, seine Übungen zu absolvieren und Impfungen zu empfangen.

Sax und Michel betätigten sich an Übungsgeräten. Nirgal und Maya saßen in den willkommenen Bädern und jammerten. Natürlich genoß Maya ihr Elend, da sie alle ihre Emotionen zu begrüßen schien, einschließlich Ärger und Trübsal. Dagegen ging es Nirgal wirklich schlecht. Die Raumzeit verzerrte ihn immer mehr, bis jede seiner Zellen den Schmerz hinausschrie. Ihn erschreckte schon die Mühe, die es kostete, bloß zu atmen, und die Vorstellung eines so massiven Planeten. Schwer zu glauben!

Er versuchte, mit Michel darüber zu sprechen, aber der war durch seine Erwartung und Vorbereitung abgelenkt. Nirgal war an dem Meeting auf Pavonis nicht interessiert. Seiner Meinung nach würde das auf lange Sicht nicht viel bewirkten. Die Eingeborenen im Hinterland hatten unter der UNTA ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen geführt und würden unter der neuen Regierung dasselbe tun. Jackie könnte Erfolg haben, für sich selbst eine Präsidentschaft zustande zu bringen. Aber ganz gleich, was geschah, ihre Beziehung war schiefgelaufen und zu einer Art von Telepathie geworden, die manchmal der konventionellen Liebesaffäre ähnelte, aber eben so oft den Eindruck einer boshaften geschwisterlichen Rivalität erweckte oder sogar die inneren Merkmale einer schizoiden Person zeigte. Vielleicht waren sie Zwillinge. Wer weiß, was für eine Alchemie Hiroko in den ektogenen Tanks angewandt hatte. Aber nein — Jackie war von Esther geboren worden. Das wußte er. Falls es etwas beweisen sollte. Zu seinem Unbehagen fühlte sie sich wie sein zweites Ich. Das wollte er nicht. Er mochte nicht die plötzliche Zunahme seines Herzschlags, wann immer er sie sah. Das war einer der Gründe, weshalb er sich entschlossen hatte, an der Expedition zur Erde teilzunehmen. Und jetzt entfernte er sich von ihr mit einem Tempo von 50000 Kilometern in der Stunde: aber sie war immer noch auf dem Bildschirm, erfreut über die fortschreitende Arbeit des Kongresses und ihren Anteil daran. Und sie würde zweifellos eine der Sieben in dem neuen Exekutivrat sein.

Als sie in den Bädern saßen und die Nachrichten anschauten, sagte Maya: »Sie rechnet damit, daß die Geschichte ihren üblichen Gang nimmt. Macht ist wie Materie; sie hat Schwere, sie ballt sich zusammen und fängt dann an, mehr in sich hineinzuziehen. Diese lokale Macht, die sich durch die Kuppeln verbreitet...« Sie zuckte zynisch die Achseln.

»Vielleicht ist es eine Nova«, meinte Nirgal.

Sie lachte. »Ja, vielleicht. Aber dann fängt sie wieder an, sich zusammenzuballen. Das ist die Gravitation der Geschichte — Macht wird in Zentren gezogen, bis daraus eine gelegentliche Nova wird. Dann wieder Kontraktion. Wir werden das auch auf dem Mars sehen, merkt euch meine Worte! Und Jackie wird genau in der Mitte davon sein...« Sie hielt inne, ehe sie »das Weibsbild« hinzufügte — aus Achtung vor Nirgals Gefühlen. Sie sah ihn mit einem eigenartigen verschleierten Blick an, als ob sie überlegen würde, wie Nirgal ihr nützen könnte, um ihren endlosen Krieg mit Jackie zu beenden. Kleine Novae des Herzens.

Die letzten Wochen mit 1 Ge gingen vorbei, und Nirgal fühlte sich nie recht wohl. Es war erschreckend, die Verkrampfung seines Atems und Denkens zu sehen. Seine Gelenke schmerzten. Auf den Schirmen sah er Bilder der kleinen blauweißen Murmel, welche die Erde war, mit dem knochigen Knopf des Mondes, der neben ihr besonders flach und tot wirkte. Aber das waren bloß weiter Schirmbilder. Sie bedeuteten ihm nichts im Vergleich mit seinen wunden Füßen und klopfendem Herzen. Dann erblühte die blaue Welt plötzlich und füllte die Schirme ganz aus. Ihr gekrümmter Rand war eine weiße Linie, das blaue Wasser von weißen Wolkenwirbeln markiert, die Kontinente aus Wolkenmassen herausragend wie kleine Wappenbilder halb verschollener Sagenreiche: Asien, Afrika, Europa, Amerika.

Für den endgültigen Abstieg und die aerodynamische Bremsung wurde die Rotation der Gravitationskammer angehalten. Nirgal schwebte und fühlte sich körperlos und ballonartig. Er zog sich an ein Fenster, um alles mit eigenen Augen zu sehen. Trotz des Fensterglases und der Entfernung von Tausenden von Kilometern war das Detail erstaunlich in seiner scharfrandigen Klarheit.

»Das Auge hat solche Kraft«, sagte er zu Sax.

»Hmm«, machte Sax und kam ans Fenster, um zu schauen.

Sie betrachteten die blau vor ihnen liegende Erde.

»Hast du jemals Angst gehabt?« fragte Nirgal.

»Angst?«

»Du weißt doch.« Sax war auf dieser Reise nicht in einer seiner kohärenteren Phasen gewesen. Vieles mußte man ihm erklären. »Furcht, Besorgnis. Schrecken.«

»Ja. Ich denke schon. Ja, ich hatte Angst. Kürzlich. Als ich merkte, daß ich... desorientiert war.«

»Ich habe jetzt Angst.«

Sax sah ihn neugierig an. Dann schwebte er hinüber und legte Nirgal eine Hand auf den Arm in einer sanften Geste, die ihm gar nicht ähnlich war. Er sagte: »Wir sind da.«


Fallen, fallen. Von der Erde reckten sich jetzt zehn Raumaufzüge empor. Einige davon hatten geteilte Kabel. Man nannte sie so, weil sie sich in zwei Teile gabelten, die nördlich und südlich des Äquators herunterkamen, welcher beklagenswert knapp an guten Stellen für Steckdosenmuffen war. Ein geteiltes Kabel endete Y-artig bei Virac auf den Philippinen und Oobagooma in Westaustralien, ein anderes in Kairo und Durban. Dasjenige, an welchem sie herunterkamen, gabelte sich mehr als zehntausend Kilometer über der Erde. Die nördliche Linie endete bei Port of Spain in Trinidad, die südliche dagegen in Brasilien nahe Aripuana, einer aufblühenden Stadt an einem Seitenfluß des Amazonas namens Theodore Roosevelt River.

Sie nahmen die nördliche Gabel hinunter nach Trinidad. Aus ihrem Aufzugswaggon blickten sie auf den größten Teil der westlichen Hemisphäre hinunter mit dem Amazonasbecken in der Mitte, wo das Wasser sich in braunen Adern durch die grünen Lungen der Erde zog. Immer weiter nach unten. In den fünf Tagen ihres Abstiegs kam die Welt näher, bis sie schließlich alles unter ihnen ausfüllte; und die erdrückende Schwerkraft der vorigen anderthalb Monate erfaßte sie langsam wieder und drückte, drückte, drückte.

Die geringe Toleranz, die Nirgal für das Gewicht entwickelt hatte, schien während der kurzen Rückkehr zu Mikrogravität verschwunden zu sein, und jetzt keuchte er. Jeder Atemzug war eine Anstrengung. Er stand fest vor den Fenstern, die Hände an das Geländer gepreßt, und schaute durch die Wolken auf das leuchtende Blau der Karibik und das intensive Grün von Venezuela. Die Orinokomündung in den Ozean war ein blattartiger Fleck. Der Rand des Himmels bestand aus gekrümmten, weiß und türkisfarbenen Bändern unter dem Schwarz des Himmels. Alles so glänzend. Die Wolken waren dieselben wie auf dem Mars, nur dicker, weißer und aufgeplusterter. Vielleicht übte die starke Schwerkraft einen Extradruck auf seine Netzhaut oder seinen Sehnerv aus, um die Farben so intensiv wirken zu lassen. Auch die Geräusche waren lauter.

Mit ihnen im Aufzug waren UN-Diplomaten, Praxispersonal und Medienvertreter, die alle hofften, daß die Marsleute etwas Zeit für sie erübrigen und mit ihnen sprechen würden. Nirgal fand es schwer, sich auf sie zu konzentrieren und ihnen zuzuhören. Ein jeder schien sich seiner Position im Raum so seltsam wenig bewußt zu sein — dort fünfhundert Kilometer über der Erdoberfläche und in schnellem Fall begriffen.

Ein langer letzter Tag. Dann waren sie in der Atmosphäre, und das Kabel führte ihren Waggon nahe zu einem verlassenen Flughafen, dessen Startbahnen wie graue Runen aussahen. Der Waggon glitt in die Betonmasse, bremste und hielt.

Nirgal löste die Hände vom Geländer und ging vorsichtig hinter allen anderen her. Tap tap. Sein Gewicht durchdrang sich selbst. Schmerzhaft. Tap tap. Sie stapften eine Landebrücke hinunter. Er trat auf den Fußboden eines Gebäudes auf der Erde. Das Innere der Muffe ähnelte dem in Pavonis Mons — ein unpassender Gedanke, denn die Luft war salzig, dick, heiß, schrill und schwer. Nirgal eilte so schnell er konnte durch die Hallen. Er wollte ins Freie und endlich etwas sehen. Eine ganze Schar zog hinter ihm her und umgab ihn. Aber die Praxisleute begriffen und bahnten ihm einen Weg durch eine anwachsende Menge. Das Gebäude war sehr groß, und er hatte anscheinend die Chance verfehlt, eine U-Bahn nach draußen zu nehmen. Aber vor ihm war eine hell leuchtende Türöffnung. Von der Anstrengung etwas benommen, ging er in die blendende Helle hinaus. Alles rein weiß. Es roch nach Salz, Fischen, Blättern, Teer, Fäkalien und Gewürzen. Wie ein wildgewordenes Treibhaus.

Dann paßten sich seine Augen an. Der Himmel war blau, ein Türkisblau wie das mittlere Band der Erdscheibe aus dem Weltraum gesehen, aber heller. Über den Bergen weißer, wie Magnesium um die Sonne herum. Schwarze Flecken schwammen hin und her. Das Kabel zog sich in den Himmel hinauf. Es war zu hell, um nach oben zu blicken. In der Ferne grüne Berge.

Er stolperte, als sie ihn zu einem offenen Wagen führten. Ein älteres Modell, klein und rundlich, mit Gummireifen. Ein offenes Cabriolet. Er stand auf dem Rücksitz zwischen Sax und Maya, um besser sehen zu können. In dem grellen Licht waren Hunderte, Tausende von Menschen in erstaunlichen Kostümen — neonfarben, verschiedene Seiden, rosa, purpurn, gold, aquamarin; dazu kamen in betörender Fülle Juwelen, Federn, Kopfputz: ›Karneval‹. Jemand auf einem Vordersitz im Wagen sagte zu ihm: »Wir legen Kostüme an zum Karneval, auch beim Discovery Day, als Columbus auf dieser Insel angekommen ist. Das ist gerade eine Woche her, darum haben wir das Fest bis zu eurer Ankunft ausgedehnt.«

»Welches Datum haben wir?« fragte Sax.

»Nirgal-Tag. Elfter August.«

Sie fuhren langsam durch Straßen, die von jubelndem Volk gesäumt waren. Eine Gruppe war so gekleidet wie die Eingeborenen vor Ankunft der Europäer und brüllten wild. Die Münder rot und weiß in braunen Gesichtern. Stimmen wie Musik. Alle sangen. Die Leute im Wagen hörten sich an wie Cojoten. In der Menge gab es Leute in Cojotenmasken. Das zerfurchte Gesicht von Desmond Hawkins auf Gummimasken mit Grimassen, die er unmöglich nachmachen könnte. Und Worte. Nirgal hatte geglaubt, daß ihm auf dem Mars jede mögliche Verzerrung der englischen Sprache begegnet wäre, aber er konnte kaum verstehen, was die Leute von Trinidad sagten: Akzent, Diktion, Intonation... Er kam nicht zurecht. Er schwitzte heftig, aber ihm war immer noch heiß.

Der Wagen fuhr holprig und langsam, kam zwischen den Menschenmauern zu einem kurzen Steilufer. Dahinter lag ein Hafendistrikt, der jetzt in flaches Wasser getaucht war. Die ins Wasser eingesunkenen Häuser standen in Flecken aus schmutzigem Schaum und schaukelten auf unsichtbaren Wellen. Die ganze Nachbarschaft ein Schwimmbecken. Die Häuser riesige freiliegende Muscheln, manche aufgebrochen. Wasser schwappte durch ihre Fenster hinein und heraus, dazwischen Ruderboote. Größere Schiffe waren an Laternenpfähle und Stomleitungsmasten zwischen den Gebäuden gebunden. Weiter draußen neigten sich Segelboote auf dem von der Sonne getroffenen Blau, jedes Boot mit zwei oder drei Segeln vorn und hinten. Grüne Hügel stiegen zur Rechten auf und bildeten eine große offene Bucht. «Fischerboote kommen durch die Straßen noch herein, aber die großen Schiffe benutzen die Bauxit-Docks unten bei Punkt D, da draußen kann man sie erkennen.«

Fünfzig verschiedene Töne von Grün überlagerten sich auf den Bergen. Fischschuppen und Blumen lagen über die Straße verstreut, silbern und rot. Die Palmen in den Untiefen waren tot, ihre Blätter gelb und schlaff. Sie markierten die Gezeitenzone. Oberhalb von ihr sproßte überall Grün. Straßen und Häuser waren aus einer Pflanzenwelt herausgehackt worden. Grün und Weiß, wie in seiner Kindheitsvision. Aber hier waren die Hauptfarben getrennt und in einem blaues Ei aus Meer und Himmel eingebettet. Man befand sich oberhalb der Wellen, und dennoch war der Horizont so weit entfernt! Ein unübersehbarer Beweis für die Größe dieser Welt. Kein Wunder, daß man sich die Erde als flach vorgestellt hatte. Das unten durch die Straßen plätschernde Wasser machte ein ständiges Geräusch: krrrr, ebensolaut wie die Zurufe der Menge.

Der abscheuliche Gestank wurde plötzlich durch den Teergeruch einer Windbö abgeschnitten. »Das ist der Pechteich unten bei La Brea, vollkommen abgegraben und verschifft, ist nichts geblieben als ein schwarzes Loch im Boden und ein kleiner Teich, den wir lokal nutzen. Riechst du das. Eine neue Straße hier am Wasser.« Eine Asphaltstraße, die Luftspiegelungen ausschwitzte. Die Leute drängten sich auf dem schwarzen Zeug neben der Straße. Sie hatten alle schwarzes Haar. Eine junge Frau kletterte auf den Wagen, um Nirgal eine Blumengirlande um den Hals zu legen, deren süßer Duft mit dem scharfen Salzdunst kontrastierte. Parfüm und Weihrauch, von dem heißen pflanzlichen Wind getrieben, vermischt mit Teer und Gewürzen. Stahltrommeln, in dem harten Lärm so vertraut, klimperten und donnerten. Sie spielten hier Marsmusik! Die Dächer in dem überschwemmten Distrikt zur Linken trugen jetzt klapprige Patios. Es stank wie in einem vergammelten Treibhaus, ein heißer feuchter Luftschwall, und alles in weißem Puder. Schweiß rann reichlich die Haut hinunter. Die Leute jubelten von den überschwemmten Dächern und den Booten. Das Wasser war von Blumen bedeckt, die auf dem Schaum auf und ab schaukelten. Schwarzes Haar schimmerte wie Chitin oder Juwelen. Ein hölzernes Schwimmdock, besetzt mit mehreren Bands, die zugleich verschiedene Melodien spielten. Fischschuppen und Blütenblätter waren unter die Füße gestreut, silberne, rote und schwarze Punkte schwammen. Geworfene Blumen wurden vom Wind vorbeigetragen, Streifen reiner Farben — Gelb, Rosa und Rot. Der Fahrer ihres Wagens wandte sich um und redete, ohne auf die Straße zu achten: »Hört, wie die Duglas eine Soaka-Musik spielt, Pan-Musik. Hört diesen rasanten Wettbewerb, die besten fünf Bands in Port of Spain!«

Sie kamen durch einen sichtlich alten Bezirk, wo die Häuser aus kleinen, zerfallenden Backsteinen bestanden, mit Dächern aus Wellblech — alles alt und winzig. Auch die Leute kleinwüchsig, mit brauner Haut. »Auf dem Land Hindus, die Städte schwarz. Dynamit, hochexplosiv, das ist Dugla.« Gras bedeckte den Boden und brach aus jedem Mauerriß hervor, aus Dächern, Schlaglöchern und allem, was nicht kürzlich mit geteertem Asphalt bedeckt worden war. Eine explosive Flut von Grün strömte aus jeder Oberfläche des Planeten. Die dicke Luft stank!

Dann kamen sie aus dem alten Distrikt auf einen breiten asphaltierten Boulevard, flankiert von hohen Bäumen und großen Marmorgebäuden. »Metanat Wolkenkratzer. Sahen hoch aus, als man sie baute, aber nichts reicht so hoch hinauf wie das Kabel.«

Saurer Schweiß, süßlicher Rauch, alles knallgrün — er mußte die Augen schließen, damit ihm nicht schlecht wurde. »Geht’s dir nicht gut?« Insekten schwirrten, die Luft war so heiß, daß er ihre Temperatur nicht schätzen konnte, sie hatte seine persönliche Skala überschritten. Er setzte sich schwer zwischen Maya und Sax hin.

Der Wagen hielt. Er stand mühsam wieder auf und stieg aus. Das Gehen war beschwerlich. Er hätte sich beinahe langgelegt. Alles drehte sich. Maya packte fest seinen Arm. Er griff sich an die Schläfen und atmete durch den Mund. Sie fragte scharf: »Geht’s dir nicht gut?«

»Alles okay«, sagte Nirgal und versuchte zu nicken.

Sie befanden sich in einem Komplex roher neuer Gebäude. Ungestrichenes Holz, nackter Beton, jetzt mit zerdrückten Blumenblättern bedeckter Schlamm. Überall Menschen und fast alle im untragbar grellen Karnevalkostüm. Das Brennen der Sonne in seinen Augen wollte nicht nachlassen. Er wurde zu einem hölzernen Podium geführt, zu dessen Füßen sich eine wild applaudierende Menge befand.

Eine schöne Frau im grünen Sari mit weißer Gürtelschärpe stellte die vier Marsianer der Menge vor. Die Berge dahinter waren gebogen wie grüne Flammen in einem starken Westwind. Es war kühler als zuvor und stank glücklicherweise etwas weniger. Maya trat vor die Mikrophone und Kameras, und die Jahre fielen von ihr ab. Sie sprach in scharfen einzelnen Sätzen, die jeweils antiphonisch Applaus fanden. Ein Medienstar mit der ganzen Welt als Zuschauer, angenehm charismatisch, legte dar, was Nirgal vorkam wie ihre Rede in Burroughs am entscheidenden Punkt der Revolution, als sie die Massen im Princess Park gesammelt und aufgerichtet hatte. Etwas dieser Art.

Michel und Sax lehnten es ab zu sprechen. Sie winkten Nirgal, um der Menge entgegenzutreten und den grünen Bergen, die sie zur Sonne emporhoben. Einige Zeit konnte er, als er so dastand, sich nicht selbst denken hören. Bei dem lauten Applaus, der in der dichten Luft stark widerhallte.

Dann sagte er ins Mikrophon: »Der Mars ist ein Spiegel, in dem die Erde ihr eigenes Wesen erblickt. Der Umzug zum Mars war eine reinigende Reise, die alles außer den wichtigsten Dingen abstreifte. Was am Ende herauskam, war durch und durch terranisch. Und was seither geschehen ist, war ein Ausdruck terranischen Denkens und terranischer Gene. Und so können wir, mehr als jede materielle Hilfe an seltenen Metallen oder neuen genetischen Dispositionen, dem Heimatplaneten am meisten helfen, indem wir als ein Weg dienen, damit ihr euch selbst erkennt. Als ein Weg, um eine unvorstellbare Größe auszumessen. So leisten wir mit unserem kleinen Anteil unseren Beitrag zur Schaffung der großen Zivilisation, die auf der Schwelle zur Verwirklichung steht. Wir sind die Primitiven dieser unbekannten Zivilisation.«

Laute Beifallsrufe.

»So sieht es jedenfalls für uns auf dem Mars aus — eine lange Evolution durch die Jahrhunderte hin zu Gerechtigkeit und Frieden. Je mehr Wissen sich die Völker erarbeiten, desto besser verstehen sie ihre eigene Abhängigkeit — voneinander und von ihrer Welt. Auf dem Mars haben wir gesehen, daß der beste Weg, diese gegenseitige Abhängigkeit auszudrücken, viel zu geben ist, in einer Kultur des Mitgefühls. Und die gemeinsame Arbeit hin auf das allgemeine Wohl, dieses Tätigsein macht uns erst wirklich frei. Keine Gesetzmäßigkeit verdient mehr Aufmerksamkeit als diese eine: Je mehr wir geben, desto mehr bekommen wir. Jetzt inmitten einer großen Flut, angespornt durch diese Katastrophe, sehen wir diese Kultur des Mitgefühls erblühen, auf beiden Welten zugleich.«

Er setzte sich unter ungeheurem Getöse hin. Dann waren die Reden vorbei, und sie gingen zu einer Art Pressekonferenz über und beantworteten die Fragen, die die schöne Frau im grünen Sari stellte. Nirgal antwortete mit Fragen seinerseits nach dem neuen, sie umgebenden Gebäudekomplex und der Situation auf der Insel. Sie antwortete mit einem Schwall von Erklärungen und unter Gelächter der wohlwollenden Menge, die hinter der Mauer von Reportern und Kameras immer noch zuschaute. Die Frau erwies sich als Premierministerin von Trinidad und Tobago. Diese kleine Nation auf zwei Inseln war wider Willen von dem Armscor-Metanat während des größten Teils des vergangenen Jahrhunderts beherrscht worden, wie die Frau erklärte; und erst seit der Flut hatten sie diese Verbindung gelöst ›und schließlich jegliche koloniale Bindung‹. Wie da die Menge jubelte! Und ihr Lächeln war voll von der Freude einer ganzen Gesellschaft. Wie er sah, war sie eine Dugla und fabelhaft schön.

Wie sie erklärte, war der Komplex, in dem sie sich befanden, eines von Dutzenden Hilfskrankenhäusern, die auf den beiden Inseln seit der Flut errichtet worden waren. Ihr Bau war das Hauptprojekt der Insulaner gewesen in Reaktion auf ihre neue Freiheit. Sie hatten Hilfszentren geschaffen, die Flutopfer unterstützten, und ihnen allen Unterkunft, Arbeit und medizinische Fürsorge gegeben, einschließlich der Langlebigkeitsbehandlung.

»Jeder bekommt die Behandlung?« fragte Nirgal.

»Ja«, sagte die Frau.

»Gut!« erklärte Nirgal überrascht. Er hatte gehört, daß das auf der Erde selten wäre.

»Das sagen Sie«, erwiderte die Premierministerin. »Das Volk sagt, es wird eine Menge Probleme schaffen.«

»Ja, das wird es. Aber ich denke, wir sollten es auf jeden Fall machen. Jedem die Behandlung geben und dann überlegen, was zu tun ist.«

Es dauerte ein paar Minuten, bis man über dem Jubel der Menge überhaupt wieder etwas hören konnte. Die Premierministerin suchte sie zu beruhigen; aber ein kleiner Mann in einem modischen braunen Anzug kam aus der Gruppe hinter der Premierministerin und erklärte unter einem Aufruhr von Hochrufen: »Dieser Marsmensch Nirgal ist ein Sohn Trinidads! Sein Vater, Desmond Hawkins, der blinde Passagier, der Cojote des Mars, kommt aus Port of Spain, und er hat dort noch eine Menge Leute! Armscor hat die Ölgesellschaft gekauft und auch die Insel zu kaufen versucht; aber die haben sich dazu die falsche Insel ausgesucht. Ihr Cojote hat seinen Geist nicht aus der Luft geschöpft, Maistro Nirgal: Er hat sie aus dem hochexplosiven T’n’T bekommen. Er hat auf seinen Reisen jedem, dem er begegnet ist, den T’n’T way of life beigebracht. Und dort oben sind sie alle irgendwie Dugla, sie verstehen deren Art und haben damit den ganzen Mars erobert! Der Mars ist ein großes Trinidad-Tobago!«

Die Menge war hingerissen; und impulsiv ging Nirgal auf den Mann zu und umarmte ihn lächelnd. Dann fand er die Treppe, stieg hinunter und trat in die Menge hinaus, die sich um ihn drängte. Ein Mischmasch von Gerüchen. Zu viel Lärm, um nachzudenken. Er berührte Menschen und schüttelte Hände. Der Ausdruck in ihren Augen!

Alle waren kleiner als er, und sie lachten darüber.

Jedes Gesicht war eine ganze Welt. Schwarze Punkte schwammen in seinem Gesichtsfeld, die Dinge wurden abrupt dunkler. Er schaute sich nervös um. Eine Wolkenbank hatte sich im Westen über einem dunklen Meeresstreifen zusammengeballt, und deren Vorderrand hatte die Sonne abgeschnitten. Als er jetzt mit dem Bad in der Menge fortfuhr, rollte die Wolkenbank über die Insel. Die Menge brach auseinander, als sich die Leute unter den Schutz von Bäumen oder Verandas oder einer großen Bushaltestelle mit Blechdach flüchteten. Maya, Sax und Michel gingen in ihren eigenen Scharen verloren. Die Wolken waren unten dunkelgrau und erhoben sich zu weißen Wirbeln, so fest wie Fels, aber veränderlich und ständig dahinfließend. Ein kühler Wind schlug hart zu, und dann rührten große Regentropfen den Schmutz auf, und die vier Marsianer wurden unter das offene Dach eines Pavillons gedrängt, wo man für sie Platz gemacht hatte.

Dann strömte der Regen herab und es gab nichts vergleichbares, das Nirgal je gesehen hatte. Er schoß brüllend in die Tiefe, ballte sich zu plötzlichen breiten flußartigen Pfützen, alle übersät von einer Million Explosionen weißer Tröpfchen. Die ganze Welt außerhalb des Pavillons war durch fallendes Wasser in Farbflecke verwischt — grün und braun, alles durcheinander. Maya grinste: »Es ist, als ob der Ozean auf uns herunterfiele.«

»So viel Wasser!« Nirgal war fassungslos.

Die Premierministerin zuckte die Achseln. »Das passiert während des Monsuns jeden Tag. Es gibt mehr Regen als sonst, und wir haben schon eine Menge abbekommen.«

Nirgal schüttelte den Kopf und fühlte einen Druck an den Schläfen. Der Schmerz des Atmens in feuchter Luft. Halb zu ertrinken.

Die Premierministerin erklärte ihnen etwas, aber Nirgal konnte kaum folgen, sein Kopf tat so weh. Ein jeder in der Unabhängigkeitsbewegung konnte sich einer Praxisfiliale anschließen, und während der ersten Jahre ihrer Arbeit bauten sie Hilfszentren wie dieses. Die Langlebigkeitsbehandlung war in das Beitrittszeremoniell jeder Person eingebunden und wurde in den neu erbauten Zentren vollzogen. Implantate für die Geburtenkontrolle konnte man gleichzeitig haben, reversibel, aber ständig aktiv, wenn man sie drin ließ. Viele nahmen sie als Beitrag zur Sache. »Babies später. Die Zeit wird kommen.« War die weit verbreitete Devise. Die Leute wollten auf jeden Fall beitreten, und fast jeder hatte es getan. Armscor war gezwungen, sich dem Arrangement von Praxis anzupassen, um zumindest einige seiner Leute zu behalten; darum machte es jetzt keinen großen Unterschied mehr aus, welcher Organisation man angehörte, in Trinidad waren sie alle fast gleich. Frisch behandelt fingen die neuen Mitglieder an mehr Wohnraum zu bauen oder in der Landwirtschaft zu arbeiten oder mehr Gerät für Krankenhäuser herzustellen. Trinidad war es vor der Flut recht gut gegangen als kombiniertes Resultat großer Ölreserven und Investitionen der Metanats im Kabelsockel. Es hatte eine progressive Tradition gegeben, die in den Jahren nach dem ungeliebten Auftreten der Metanats die Basis des Widerstands gebildet hatte. Jetzt gab es eine wachsende Infrastruktur, die dem Langlebigkeitsprojekt gewidmet war. Die Lage war vielversprechend. Jedes Camp war aus einer Warteliste für die Behandlung zusammengestellt, und alle arbeiteten mit an der Errichtung der Einrichtungen. Natürlich waren die Leute absolut entschlossen zur Verteidigung solcher Plätze. Selbst wenn Armscor es gewollt hätte, wäre es seinen Sicherheitskräften sehr schwer gefallen, die Camps zu erobern. Und falls sie es täten, würden sie ohnehin nichts Wertvolles darin finden. Die Behandlung hatten sie ja schon. Sie hatten die Möglichkeit, Völkermord zu begehen, aber, davon abgesehen, wenig Chancen, die Situation wieder in den Griff zu bekommen.

»Die Insel hat sich einfach von ihnen entfernt«, schloß die Premierministerin. »Das kann keine Armee aufhalten. Es bedeutet ein Ende für die ökonomische Kaste und für Kasten überhaupt. Das ist etwas Neues, ein neues Dugla in der Geschichte, wie Sie in Ihrer Rede so schön gesagt haben. Wie ein kleiner Mars. Daß Sie nun hier sind, um uns zu besuchen, Sie, ein Enkel der Insel, der uns in Ihrer schönen neuen Welt so viel gelehrt hat — oh, das ist etwas Besonderes. Ein echtes Fest.« Wieder das strahlende Lächeln.

»Wer war der Mann, der gesprochen hat?«

»Oh, das war James.«

Der Regen hörte plötzlich auf. Die Sonne brach durch, und die Welt dampfte. Schweiß strömte von Nirgal in die weiße Luft hinunter. Er konnte keinen Atem schöpfen. Weiße Luft und schwimmende schwarze Flecken.

»Ich glaube, ich muß mich hinlegen.«

»Ja, natürlich! Sie müssen erschöpft und erledigt sein. Kommen Sie mit uns!«

Sie brachten ihn zu einem kleinen Nebengebäude des Komplexes in ein helles Zimmer, dessen Wände mit Bambusstreifen bedeckt waren und bis auf eine Matratze auf dem Boden leer.

»Ich fürchte, die Matratze ist für Sie nicht lang genug.«

»Das macht nichts.«

Man ließ ihn allein. Irgend etwas an dem Raum erinnerte ihn an das Innere von Hirokos Hütte in dem Hain am anderen Ufer des Sees in Zygote. Nicht bloß der Bambus, sondern Größe und Gestalt des Zimmers — und, etwas schwer definierbar, vielleicht das einströmende grüne Licht. Die Empfindung von Hirokos Präsenz war so stark und unerwartet, daß Nirgal, als die anderen den Raum verlassen hatten, sich auf die Matratze warf, wobei die Füße unten weit überhingen, und weinte. Eine völlige Konfusion der Gefühle. Sein ganzer Körper schmerzte, aber besonders der Kopf. Er hörte auf zu weinen und sank in tiefen Schlaf.

Er erwachte in einer kleinen schwarzen Kammer. Es roch grün. Er konnte sich nicht erinnern, wo er war. Er rollte sich auf den Rücken, und es fiel ihm ein: die Erde. Flüstern. Er richtete sich erschrocken auf. Ein gedämpftes Lachen. Hände packten ihn und drückten ihn nach unten; aber es waren freundliche Hände, das spürte er sofort. »Psst!« sagte jemand und küßte ihn. Jemand anders fummelte an seinem Gürtel und seinen Knöpfen. Frauen — zwei, drei, nein zwei —, überwältigend mit Jasmin und noch etwas anderem parfümiert. Zwei Duftelemente, beide warm. Schweißige Haut, glitschig. Die Arterien in seinem Kopf pulsierten. So etwas war ihm schon einmal passiert, als er jünger war, als die frisch überkuppelten Canyons wie neue Welten waren, mit jungen Frauen, die schwanger werden oder auch bloß Spaß haben wollten. Nach den zölibatären Monaten der Reise war es ein himmlisches Gefühl, Frauenkörper zu streicheln, zu drücken, zu küssen und geküßt und gestreichelt zu werden; und seine anfängliche Angst schmolz in einem Rausch von Händen und Mündern, Brüsten und verschlungenen Beinen dahin. Er stöhnte: »Schwester Erde!« Von irgendwo her aus der Ferne kam Musik, Piano, Stahltrommeln und Tablas, fast verdeckt durch den Klang des Windes im Bambus. Eine der Frauen war über ihm und ließ sich auf ihn herunter; und das Gefühl ihrer Rippen unter seinen Händen würde ihn nie verlassen. Sie faßte sein Glied, und er drang in sie ein und küßte weiter. Aber sein Herz klopfte immer noch schmerzhaft.


Als er das nächste Mal erwachte, lag er feucht und nackt auf der Matratze. Es war immer noch dunkel. Er zog sich an und ging aus dem Zimmer durch einen dämmrigen Korridor in eine geschlossene Veranda. Es war trübe. Er hatte einen ganzen Tag verschlafen. Maya, Michel und Sax saßen unten mit einer großen Gruppe bei einer Mahlzeit. Nirgal versicherte ihnen, daß es ihm gut ginge und er sogar großen Hunger hätte.

Er setzte sich zu ihnen. Draußen im Freien inmitten des noch feuchten Komplexes war eine Menge bei einer Küche unter freiem Himmel versammelt. Dahinter leuchtete ein offenes Feuer gelb im Halbdunkel. Seine Flammen ließen die dunklen Gesichter in Konturen erkennen und reflektierten in dem hellen Licht das Weiße in ihren Augen und ihre Zähne. Die Leute an dem Tisch drinnen schauten ihn alle an. Einige junge Frauen lächelten. Ihr kohlschwarzes Haar glänzte wie Kappen aus Juwelen; und Nirgal fürchtete einen Moment, nach Sex und Parfüm zu riechen. Aber der Rauch von dem Feuer und der Dunst der gewürzten Gerichte auf dem Tisch machten das unwichtig. In einer solchen Explosion von Gerüchen konnte man nichts zu seinem Ursprung zurückverfolgen; und der Geruchs- und Geschmackssinn eines jeden war ohnehin durch das Essen verdorben, das scharf gewürzt war mit Curry und Cayenne, Stücken von Fisch auf Reis mit einem Gemüse, das ihm Mund und Kehle versengte, so daß er in der nächsten halben Stunde blinzelte, schnaufte und Gläser voll Wasser hinunterstürzte. Sein Kopf brannte. Jemand gab ihm eine Scheibe kandierter Orange, die seinen Mund etwas kühlte. Er aß mehrere Stücke dieser bittersüßen Frucht.

Als das Essen vorbei war, räumten sie alle zusammen die Tische ab, wie in Zygote oder Hiranyagarbha. Draußen umkreisten Tänzer das Feuer gekleidet in ihre surrealen Karnevalskostüme mit Masken wilder Tiere und Dämonen über den Köpfen, wie bei Fastnacht in Nicosia, obwohl die Masken schwerer und fremdartiger waren: Dämonen mit vielen Augen und großen Zähnen, Elefanten, Göttinnen. Die Bäume waren vor dem verschwommenen Schwarz des Himmels dunkel, die Sterne alle rundum dick, das Laub in der Höhe schwarz und dunkelgrün und dann feuerfarben, als die Flammen höher züngelten, als ob sie den Rhythmus des Tanzes lieferten. Eine kleine junge Frau mit sechs Armen, die sich im Tanz alle gleichzeitig bewegten, trat hinter Nirgal und Maya. Sie sagte: »Dies ist der Tanz des Ramayana. Er ist so alt wie die Zivilisation, und man spricht darin von Mangala.«

Sie gab Nirgal einen vertraulichen Klaps auf die Schulter, und plötzlich erkannte er ihren Jasmingeruch wieder. Ohne zu lächeln ging sie wieder zum Feuer hinüber. Die Tabla-Trommeln folgten crescendo den hochschlagenden Flammen, und die Tänzer stießen laute Schreie aus. Nirgals Kopf schmerzte bei jedem Takt, und trotz der kandierten Orange tränten seine Augen noch von dem brennenden Pfeffer. Und seine Lider waren schwer. Er sagte: »Ich weiß, daß es komisch klingt, aber ich muß mich wieder hinlegen.«


Er erwachte vor dem Morgengrauen und ging auf eine Veranda hinaus, um zu beobachten, wie sich der Himmel in einer durchaus marsähnlichen Folge erhellte, von Schwarz zu Purpur zu Rosa, ehe das aufregende Cyanblau eines tropischen Morgens auf der Erde kam. Sein Kopf tat noch weh, als wäre er aufgeblasen, aber er fühlte sich wenigstens ausgeruht und bereit, es wieder mit der Welt aufzunehmen. Nach einem Frühstück aus braungrünen Bananen kamen er und Sax für eine Fahrt rund um die Insel mit einigen ihrer Gastgeber zusammen.

Überall, wohin sie kamen, waren immer ein paar hundert Leute zu sehen. Sie waren alle klein auf dem Land, braunhäutig wie er, dunkler in den Städten. Es gab große Lieferwagen, die umherfuhren und fliegende Verkaufsstände darstellten für die Dörfer, die zu klein waren, um eigene Läden zu haben. Nirgal war überrascht zu sehen, wie mager die Leute waren, ihre Gliedmaßen waren hager durch schwere Arbeit und auch sonst dünn wie Zweige. Die Kurven der jungen Frauen waren wie Blüten, denen auf dieser schweren Welt keine lange Dauer beschieden sein dürfte.

Als die Leute sahen, wer er war, strömten sie herbei, um ihn zu begrüßen und ihm die Hand zu drücken. Sax schüttelte den Kopf, als er Nirgal unter ihnen sah. Er sagte: »Eine Verteilung in zwei Spielarten. Keine genaue Artenteilung, aber vielleicht doch, wenn genügend Zeit vergangen ist. Insel-Divergenz, ganz nach Darwin.«

Nirgal stimmte zu. »Ich bin Marsianer.«

Ihre Bauten waren in Löchern untergebracht, die in den grünen Dschungel gehauen waren, der danach den Raum zurückzugewinnen suchte. Die älteren Häuser bestanden alle aus Schlammziegeln, die vom Alter geschwärzt waren und wieder in der Erde einsanken. Reisfelder waren so fein terrassiert, daß die Berge entfernter aussahen, als sie in Wirklichkeit waren. Das Hellgrün der jungen Reispflanzen war eine auf dem Mars nie gesehene Farbe. Im allgemeinen waren die Grüntöne strahlend und stärker leuchtend als alles, das gesehen zu haben Nirgal sich erinnern konnte. Sie bedrängten ihn, so vielfältig und intensiv, während die Sonne seinen Rücken bearbeitete. »Das kommt durch die Farbe des Himmels«, sagte Sax, als Nirgal es erwähnte. »Die roten Töne im Himmel des Mars verändern das Grün.«

Die Luft war dick, feucht und widerlich. Das schimmernde Meer endete an einem fernen Horizont, Nirgal hustete, atmete durch den Mund und suchte seine pulsierenden Schläfen und schmerzende Stirn zu ignorieren.

»Du hast die Krankheit infolge der geringen Höhe«, mutmaßte Sax. »Ich habe gelesen, daß das Menschen aus dem Himalaya und den Anden passiert, die auf Meereshöhe herunterkommen. Der Säurepegel im Blut. Wir hätten irgendwo höher landen sollen.«

»Warum haben wir das nicht getan?«

»Sie verlangten nach dir, weil Desmond von hier gekommen ist. Dies ist dein Heimatland. Tatsächlich scheint es einen gewissen Konflikt darüber zu geben, wer uns als nächster bewirten wird.«

»Selbst hier?«

»Hier mehr als auf dem Mars, sollte ich meinen.«

Nirgal stöhnte. Das Gewicht der Welt, die erstickende Luft... »Ich werde ein Stück laufen«, sagte er und verschwand.

Zuerst war es eine gewohnte Entspannung. Die Bewegungen und Reaktion durchströmten ihn und erinnerten ihn daran, daß er immer noch er selbst war. Während er aber so dahintrottete, erhob er sich nicht in jene lung-gom-pa-Zone, wo Laufen wie Atmen war, etwas, das er unbegrenzt lange tun konnte. Statt dessen spürte er die zunehmende Anstrengung seiner Lungen, mit der dicken Luft zurechtzukommen, und den Druck von den Augen der kleinen Leute, an denen er vorbeikam. Und vor allem den Druck seines eigenen Gewichts, das seinen Gelenken schmerzte. Er wog mehr als doppelt so viel, als er gewohnt war; und es war so, als trüge er eine unsichtbare Person auf dem Rücken — nur das Gewicht war in ihm. Als ob die Knochen in seinem Körper zu Blei geworden wären. Seine Lungen brannten und wurden taub zugleich, und kein Husten konnte sie frei machen. Er sah immer mehr größere Leute in westlicher Kleidung auf kleinen dreirädrigen Fahrrädern, die durch die Pfützen platschten. Die Einheimischen füllten die Straße. Scharen von ihnen blockierten die Dreiradfahrer. Ihre Augen und Zähne schimmerten in ihren dunklen Gesichtern, während sie plauderten und lachten. Die Männer auf den Dreirädern hatten helle Gesichter und musterten Nirgal prüfend. Aber sie reizten die Menge nicht. Nirgal machte kehrt und trabte einer neuen Straße auf das Camp zu. Jetzt flammten die grünen Berge zu seiner Rechten. Die Straße tat ihm weh bei jedem Schritt, bis seine Beine wie brennende Baumstämme waren. Daß Laufen schmerzen konnte! Und sein Kopf war wie ein riesiger Ballon. Alle die feuchten grünen Pflanzen schienen nach ihm zu greifen, hundert Schattierungen grüner Flammen verschmolzen zu einem dominierenden Farbband, das sich in die Welt ergoß. Verschwimmende schwarze Punkte. »Hiroko!« keuchte er und lief weiter, während ihm Tränen über das Gesicht liefen. Niemand würde sie von Schweiß unterscheiden können. Hiroko, ist es nicht so, wie du sagtest?

Er stolperte in den ockerfarbenen Schmutz des Komplexes, und Dutzende von Leuten folgten ihm bis zu Maya. Triefend, wie er war, schlang er doch die Arme um sie und senkte stöhnend den Kopf auf ihre Schulter.

»Wir sollten nach Europa gehen«, sagte Maya ärgerlich zu jemandem hinter seinem Rücken. »Es war keine gute Idee, ihn direkt in die Tropen zu bringen.«

Nirgal rückte beiseite, um sich umzuschauen. Es war die Premierministerin. Sie sagte: »So leben wir immer« und durchbohrte Nirgal mit einem ärgerlichen, stolzen Blick.

Aber Maya war nicht beeindruckt und sagte: »Wir fliegen nach Bern.«

Sie flogen in einem kleinen, von Praxis gestellten Flugzeug in die Schweiz. Unterwegs sahen sie aus dreißigtausend Metern auf die Erde hinunter. Der blaue Atlantik, die gezackten Berge Spaniens, etwas wie die Berge des Hellesponts, dann Frankreich. Danach die weiße Mauer der Alpen, anders als alle Gebirge, die er je gesehen hatte. Die kühle Ventilation des Raumfliegers fühlte sich für Nirgal wie heimisch an, und es bekümmerte ihn, daß er die freie Luft auf der Erde nicht ertrug.

»In Europa wird es dir besser gehen«, versicherte Maya.

Nirgal dachte an den Empfang, der ihnen zuteil geworden war und sagte: »Sie lieben dich hier.« Überwältigt, wie er gewesen war, hatte er doch bemerkt, daß die Begrüßung durch die Duglas für die anderen drei ebenso begeistert gewesen war wie für ihn. Und Maya war besonders verehrt worden.

Maya ließ das so hingehen und sagte: »Sie freuen sich, daß wir es überlebt haben. Für sie sind wir wie durch Zauberei von den Toten wiedergekehrt. Weißt du, sie haben uns für tot gehalten. Seit ’61 bis gerade zum vorigen Jahr haben sie gedacht, die Ersten Hundert wären alle tot. Siebenundsechzig Jahre! Und diese ganze Zeit war auch ein Teil von ihnen tot. Daß sie uns so wiederbekommen haben, und in dieser Flut, wo sich alles ändert — ja. Das ist wie eine Sage. Die Rückkehr aus der Unterwelt.«

»Aber nicht ihr alle.«

»Nein.« Sie lächelte beinahe. »Damit müssen sie noch klar kommen. Sie denken, Frank lebt und auch Arkadij und John, obwohl John vor Jahren getötet wurde und alle das wußten! Jedenfalls eine Zeit lang. Aber Menschen vergessen Dinge.

Und sie möchten, daß John Boone lebt. Und so vergessen sie Nicosia und sagen, er sei noch Teil des Untergrundes.« Sie lachte kurz, dadurch nicht aus der Ruhe gebracht.

»Genau wie mit Hiroko«, sagte Nirgal. Er fühlte, wie sich seine Kehle verklemmte. Eine Welle der Trübsal wie die in Trinidad durchfuhr ihn und machte ihn blaß und gequält. Er glaubte — er hatte immer geglaubt —, daß Hiroko lebte und sich mit ihren Leuten irgendwo im südlichen Bergland versteckt hielt. Auf diese Weise hatte er den Schock der Nachricht ihres Verschwindens überwunden, er war ganz sicher, daß sie aus Sabishii entronnen war und wieder auftauchen würde, wenn sie die Zeit für gekommen hielt. Jetzt war er, ohne daß er einen Grund dafür wußte, nicht mehr so sicher.

In dem Sitz auf der anderen Seite von Maya saß Michel mit angespannten Zügen. Plötzlich hatte Nirgal das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen. Er wußte, daß sein Gesicht die gleiche Miene zeigte. Das spürte er in seinen Muskeln. Er und Michel hatten beide Zweifel — vielleicht wegen Hiroko, vielleicht wegen anderer Dinge. Das konnte man nicht sagen. Michel schien nicht geneigt zu sprechen.

Und auf der anderen Seite des Flugzeugs beobachtete Sax sie beide mit seinem üblichen vogelähnlichen Blick.


Sie fielen aus dem Himmel parallel zur großen Nordwand der Alpen und landeten auf einer Rollbahn zwischen grünen Feldern. Man brachte sie zu einem kühlen marsähnlichen Gebäude, dann treppab zu einem Zug, der sich metallisch anhob und aus dem Bau und über grüne Felder glitt. Eine Stunde später waren sie in Bern.

In Bern waren die Straßen gedrängt von Diplomaten und Reportern, jeder mit einer Identitätsmarke an der Brust und jeder mit einem Auftrag, zu ihnen zu sprechen. Die Stadt war klein, altertümlich und felsenfest. Das Gefühl geballter Macht war greifbar. Enge, kopfsteingepflasterte Straßen waren von Steingebäuden mit Arkaden flankiert, alles so dauerhaft wie ein Berg. Der flinke Fluß Aare floß in einer S-Kurve hindurch und umfaßte den Hauptteil der Stadt in einem Halbbogen. Die in diesem Viertel eng beieinander lebenden Leute waren zumeist Europäer. Penibel aussehende Weiße, nicht so klein wie die meisten Terraner, wälzten sich in Gespräche verwickelt durch die Gassen. Und immer drängte sich eine große Anzahl von ihnen um die Marsianer und ihre Eskorte, die jetzt aus der Schweizer Militärpolizei in blauen Uniformen bestand.

Nirgal, Sax, Michel und Maya erhielten Zimmer im Hauptquartier der Praxis in einem kleinen Steingebäude direkt oberhalb des Aare-Flusses. Es erstaunte Nirgal, wie nahe am Wasser die Schweizer zu bauen wagten. Ein Anstieg des Flusses um zwei Meter würde eine Katastrophe bewirken. Aber das kümmerte sie nicht. Offenbar hatten sie den Fluß streng genug unter Kontrolle, obwohl er aus der steilsten Gebirgskette hervorkam, die Nirgal je gesehen hatte!

Das Praxisgebäude war nur ein paar Straßen vom alten Stadtzentrum entfernt. Der Weltgerichtshof nahm verschiedene Büros in der Nähe der Häuser der Schweizer Bundesregierung, nahe der Mitte der Halbinsel, ein. So gingen sie jeden Morgen durch die gepflasterte Hauptstraße, die Kramgasse, die unglaublich sauber war, kahl und unterbevölkert im Vergleich mit jeder Straße in Port of Spain. Sie kamen unter dem mittelalterlichen Uhrenturm mit seiner geschmückten Fassade und seinen mechanischen Figuren vorbei — wie eines von Michels alchemistischen Diagrammen, verwandelt in ein dreidimensionales Objekt. Dann zu den Büros des Weltgerichtshofs, wo sie mit einer Gruppe nach der anderen über die Verhältnisse auf Mars und Erde sprachen. UN-Beamte, Regierungsvertreter, metanationale Geschäftsführer, Hilfsorganisationen, Mediengruppen. Jeder wollte wissen, was auf dem Mars geschah, was der Mars als nächstes zu tun gedachte, was sie von der Situation auf der Erde hielten und was der Mars der Erde als Hilfe anbieten konnte. Nirgal fand, daß mit den meisten Leuten, die er traf, recht leicht zu reden war. Sie schienen die entsprechenden Verhältnisse auf den zwei Welten zu verstehen. Sie waren nicht unrealistisch hinsichtlich der Fähigkeit des Mars, ›die Erde zu retten‹. Sie schienen weder zu erwarten, den Mars wieder zu beherrschen, noch daß die metanationale Weltordnung der Jahre vor der Flut wiederkehren würde.

Indessen war anzunehmen, daß die Marsianer vor den Menschen abgeschirmt wurden, die ihnen gegenüber eine feindlichere Haltung einnahmen. Maya war sich dessen sehr sicher. Sie erklärte, wie oft die Verhandlungspartner und Interviewer das offenbart hatten, was sie ihre ›Terrazentrizität‹ nannte. Ihnen war wirklich alles gleichgültig außer dem, was die Erde betraf. Der Mars war in mancher Hinsicht interessant, aber nicht akut wichtig. Nachdem man Nirgal diese Haltung einmal klargemacht hatte, erkannte er sie immer wieder. Und er fand das irgendwie tröstlich. Auf dem Mars gab es sicher entsprechende Ansichten, da die Eingeborenen unvermeidlicherweise areozentrisch waren. Und das ergab Sinn. Es war eine Art von Realismus.

Er bekam allmählich den Eindruck, daß die Terraner, die ein starkes Interesse am Mars zeigten, am schwierigsten zu erfassen waren. Gewisse metanationale Geschäftsträger, deren Gesellschaften beim Terraformen des Mars viel investiert hatten. Auch gewisse nationale Repräsentanten stark bevölkerter Länder, die ohne Zweifel sehr froh gewesen wären, wenn sie einen Ort gehabt hätten, um Teile ihres Volkes hinzuschicken. So saß Nirgal in Versammlungen mit Leuten aus Armscor, Subarashii, China, Indonesien, Ammex, Japan und dem japanischen Metanat-Rat. Er hörte sehr aufmerksam zu und tat sein Bestes, um eher Fragen zu stellen, als zu viel zu reden. Er sah, daß einige von ihren bis dahin treuesten Verbündeten, besonders China und Indien, in der neuen Ordnung ihr ernstestes Problem werden würden. Maya nickte mit grimmigem Gesicht, als er ihr diese Beobachtung mitteilte. »Wir können nur hoffen, daß die reine Distanz uns retten wird«, sagte sie. »Wie glücklich sind wir doch, daß es Schiffsraum erfordert, uns zu erreichen. Das sollte ein Engpaß für Emigration sein, ganz gleich, wie fortgeschritten die Beförderungsmöglichkeiten werden. Aber wir werden immer auf der Hut sein müssen. Rede bitte hier nicht viel von diesen Dingen! Rede überhaupt nicht viel!«


Beim Lunch bat Nirgal seine Begleitgruppe — ein Dutzend oder mehr Schweizer, die während jeder wachen Stunde bei ihm waren —, mit ihm zur Kathedrale hinüberzugehen, die, wie man Nirgal erzählt hatte, das Monster genannt wurde. Sie hatte an einem Ende einen Turm, durch den eine enge Wendeltreppe nach oben führte, die man emporsteigen konnte. Und fast jeden Tag machte Nirgal einige tiefe Atemzüge und eilte dann diese Treppe hinauf, keuchend und schwitzend, bis er oben ankam. An klaren Tagen, die nicht häufig waren, konnte er aus den offenen Bögen des obersten Raumes bis zu der entfernten steilen Wand der Alpen blicken, die, wie er erfahren hatte, das Berner Oberland genannt wurde. Diese gezackte weiße Wand lief von Horizont zu Horizont wie eine der großen Böschungen auf dem Mars, nur schneebedeckt, allein die dreieckigen Nordhänge mit aperem Fels von hellgrauer Farbe lagen frei, so ganz anders als irgend etwas auf dem Mars. Granit. Granitberge, durch tektonische Kollision aufgerichtet. Und die Heftigkeit dieser Entstehung war deutlich.

Zwischen dieser majestätisch weißen Bergkette und Bern lag eine Anzahl niedrigerer Gebirgsketten, die Grasalpen, ähnlich den Grünflächen in Trinidad. Nur war das Grün der Nadelbäume dunkler. So viel Grün! Wieder war Nirgal erstaunt, wie vollständig die Erde mit pflanzlichem Leben bedeckt war und die Lithosphäre unter einer dicken alten Decke von Biosphäre steckte. »Ja«, sagte Michel, der eines Tagen mit ihm zusammen die Aussicht genoß. »Die Biosphäre hat hier sogar einen großen Teil der oberen Gesteinsschicht gebildet. Überall wimmelt es von Leben. Es wimmelt.«

Michel wollte liebend gern in die Provence reisen. Sie waren schon in ihrer Nähe, eine Flugstunde oder eine Nacht mit der Eisenbahn. Und alles, was sich in Bern abspielte, kam Michel nur wie das übliche endlose Gerangel der Politik vor. »Flut oder Revolution oder die Sonne, welche zur Nova wird — das wird immer so weitergehen! Du und Sax, ihr könnt euch damit beschäftigen und besser als ich das tun, was nötig ist.«

»Und Maya erst recht.«

»Nun ja. Aber ich will, daß sie mit mir kommt. Sie muß das sehen, sonst wird sie es nicht verstehen.«

Aber Maya war in den Verhandlungen mit den UN voll beschäftigt, die jetzt ernst wurden, da die Marsianer daheim die neue Verfassung angenommen hatten. Die UN erwiesen sich immer noch sehr als ein Sprachrohr der Metanats, so wie der Weltgerichtshof weiterhin die neuen › kooperativen Demokratien unterstützte. Darum waren die Debatten in den verschiedenen Versammlungsräumen energisch, munter und bisweilen feindlich — mit einem Wort: wichtig. Und Maya zog jeden Tag in die Schlacht. Für die Provence-Pläne ihrer Mitstreiter hatte sie kein Ohr. Sie hatte in ihrer Jugend Südfrankreich besucht, wie sie sagte, und war nicht sehr daran interessiert, es wiederzusehen, selbst mit Michel. Michel beklagte sich: »Sie sagt, die Strände sind alle dahin. Als ob die Strände das Wichtigste an der Provence wären!«

Auf jeden Fall wollte sie nicht gehen. Endlich, nachdem ein paar Wochen vergangen waren, gab Michel achselzuckend auf und beschloß, allein in die Provence zu fahren.

Am Tag seiner Abreise begleitete Nirgal ihn zum Bahnhof am Ende der Hauptstraße und stand winkend an dem langsam beschleunigenden Zug, der die Station verließ. Im letzten Moment steckte Michel den Kopf aus einem Fenster und winkte mit mächtigem Grinsen zurück. Nirgal war über diese noch nie dagewesene Äußerung schockiert, die so rasch an die Stelle der Enttäuschung über Mayas Fehlen getreten war. Dann freute er sich für seinen Freund und wurde sogar etwas neidisch. Es gab keinen Ort, den aufzusuchen ihn so glücklich machen würde, nirgends auf den zwei Welten.

Nachdem der Zug verschwunden war, ging Nirgal auf der Kramgasse inmitten der üblichen Traube von Begleitern und Augen der Medien zurück. Er zerrte seinen zweieinhalbfachen Körper, das Monster, hinauf und schaute nach Süden zum Berner Oberland. Er verbrachte dort eine Menge Zeit. Manchmal verzichtete er auf die Meetings am frühen Nachmittag und ließ Sax und Maya sich darum kümmern. Die Schweizer betrieben die Angelegenheiten in ihrer gewohnten geschäftsmäßigen Art. Die Meetings hatten Tagesordnungen und begannen pünktlich; und wenn sie mit der Tagesordnung nicht fertig wurden, so lag das nicht an den Schweizern im Raum. Sie waren genau wie die Schweizer auf dem Mars, wie Jürgen, Max, Priska und Sibilla mit ihrem Ordnungssinn, mit gut ausgeführter angemessener Handlungsweise und mit unsentimentaler Liebe für Komfort bei vorhersehbarer Schicklichkeit. Das war eine Haltung, über die Cojote lachte, oder die er als lebensbedrohend ablehnte. Aber Nirgal, der die Ergebnisse in der eleganten steinernen Stadt unter sich sah, die von Blumen überströmte und von Menschen, denen es ebenso gut ging wie den Blumen, dachte, es spräche doch manches dafür. Er war so lange heimatlos gewesen. Michel hatte seine Provence, bei der er Zuflucht suchen konnte. Aber für Nirgal gab es keinen beständigen Ort. Seine Heimatstadt lag zerschmettert unter einer Polkappe, seine Mutter war spurlos verschwunden, und jeder Ort danach war eben bloß ein Ort gewesen, während anderswo alles sich immer änderte. Veränderlichkeit war seine Heimat. Und das war beim Blick über die Schweiz schwer vorstellbar. Er wollte eine Heimstätte, die so etwas hatte wie diese Ziegeldächer, diese Steinmauern hier, solide in den letzten tausend Jahren.

Er versuchte, sich auf die Versammlungen im Weltgerichtshof und im Schweizer Bundeshaus zu konzentrieren. Praxis war immer noch führend bei der Reaktion auf die Flut, sie war gut darin, ohne Pläne zu arbeiten; und sie hatte schon eine Kooperative gehabt für die Produktion von Grundgütern und Diensten, einschließlich der lebensverlängernden Behandlung. Darum brauchte sie nur diesen Prozeß zu beschleunigen, um die Führung zu übernehmen und zu zeigen, was bei der Notlage getan werden konnte. Die vier Reisenden hatten die Resultate in Trinidad gesehen. Lokale Bewegungen taten das meiste davon; aber Praxis half bei solchen Projekten in der ganzen Welt. Man sagte, William Fort habe Bedenken gehabt, die flüssige Antwort des Kollektiven Transnats‹ anzuführen, wie er Praxis nannte. Und seine mutierte Metanationale war nur eine von Hunderten von Dienstleistungsagenturen, die ans Ruder gekommen waren. In der ganzen Welt beschäftigten sie sich mit dem Problem, die Küstenbevölkerung wieder seßhaft zu machen und eine neue Infrastruktur auf höherem Boden zu erbauen oder hierhin umzulegen.

Dieses lose Netz von Wiederaufbaubemühungen traf indessen auf einigen Widerstand seitens der Metanats, die sich beklagten, daß ein guter Teil ihrer Infrastruktur, ihres Kapitals und ihrer Arbeitskräfte nationalisiert, lokalisiert, angeglichen, verwertet oder geradezu gestohlen würden. Es kam nicht selten zu Kämpfen, besonders dort, wo schon bewaffnete Auseinandersetzungen im Gange waren. Die Flut war schließlich mitten in einem der größten Paroxysmen von Zusammenbruch und Neuordnung aufgetreten; und obwohl sie alles verändert hatte, wurde an vielen Stellen immer noch gekämpft, nicht selten unter dem Deckmantel von Hilfsbemühungen.

Sax Russell war sich über diese Zusammenhänge besonders im klaren, überzeugt wie er war, daß die globalen Kriege von 2061 nie die grundlegenden Ungleichheiten des ökonomischen Systems der Erde beseitigt hatten. Auf seine eigene Weise beharrte er in den Versammlungen auf diesem Punkt; und im Lauf der Zeit schien es Nirgal, daß er es schaffte, die skeptischen Zuhörer der UN und der Metanats zu überzeugen, daß sie alle etwas wie die Praxismethode verfolgen müßten, wenn sie selbst und die Zivilisation überleben wollten. Es spielte keine große Rolle, um welches von beiden sie sich mehr Sorgen machten, sagte er privat zu Nirgal, um sich selbst oder die Zivilisation. Es würde nichts ausmachen, wenn sie nur eine Art Machiavellistisches Simulacrum des Programms der Praxis einführten. Der Effekt wäre auf kurze Sicht der gleiche, und jeder brauchte diese Gnadenfrist friedlicher Zusammenarbeit.

So war Sax bei jedem Meeting peinlich konzentriert, sowie recht verständig und beflissen. Das fiel besonders im Vergleich mit seiner tiefen Zerstreutheit während der Reise zur Erde auf. Und schließlich war Sax Russell der Terraformer des Mars, die derzeit lebende Verkörperung des Großen Gelehrten mit einer mächtigen Stellung in der Kultur der Erde, dachte Nirgal — etwas wie der Dalai Lama der Wissenschaft, eine ständige Reinkarnation des Geistes der Wissenschaft, geschaffen für eine Kultur, die nur fähig zu sein schien, mit einem einzigen Gelehrten zur gleichen Zeit auszukommen. Auch war für die Metanats Sax der prinzipielle Schöpfer des größten neuen Marktes in der Geschichte. Das war kein unwesentlicher Teil seiner Aura. Und wie Maya erklärt hatte, war er einer jener Gruppe, die von den Toten wiedergekehrt war, einer der Führer der Ersten Hundert.

So wie all diese Dinge, half sein merkwürdig verhaltener Stil auch bei der Schaffung des Bildes, das die Terraner von ihm bekamen. Seine Sprachschwierigkeiten machten ihn zu einer Art Orakel. Die Menschen schienen zu glauben, daß er auf einer so erhabenen Ebene dachte, daß er nur in Rätseln sprechen konnte. Das war es, was sie vielleicht wollten. Und vielleicht war es das, was Wissenschaft für sie letztlich bedeutete. Die gängige Theoretische Physik sprach von letzter Realität als ultramikroskopischen Stringschleifen, die sich supersymmetrisch in zehn Dimensionen bewegten. Das hatte die Leute daran gewöhnt, Physiker für seltsam zu halten. Und die zunehmende Verwendung von Übersetzungscomputern gewöhnte alle an merkwürdige Ausdrucksweisen jeder Art. Fast jeder, den Nirgal traf, sprach Englisch; aber es gab leider sehr verschiedene Arten von Englisch, so daß die Erde auf Nirgal wie eine Explosion von Idiomen wirkte, wobei keine zwei Personen die gleiche Sprache benutzten.

In diesem Zusammenhang lauschte man Sax höchst ernsthaft. »Die Flut markiert eine Bruchstelle in der Geschichte«, sagte er eines Morgens auf einer großen allgemeinen Versammlung in der Kammer des Nationalrates im Bundeshaus. »Es war eine natürliche Revolution. Das Wetter auf der Erde hat sich geändert, genau wie das Land und die Meeresströmungen. Die Verteilung der menschlichen und tierischen Bevölkerung. In dieser Situation besteht kein Grund, die vorsintflutliche Welt um jeden Preis wiederherstellen zu wollen. Das ist nicht möglich. Und es gibt viele Gründe für die Einrichtung einer verbesserten sozialen Ordnung. Die alte ist brüchig geworden. Es kam zu Blutvergießen, Hunger, Sklaverei und Krieg. Leiden. Unnötiger Tod. Es wird immer Tod geben. Aber er sollte für jeden Menschen so spät wie möglich kommen. Am Ende eines guten Lebens. Das ist das Ziel jeder rationalen sozialen Ordnung. Darum sehen wir die Flut als eine Gelegenheit — hier wie auf dem Mars —, um eine neue Form zu gestalten.«

Die UN-Beamten und Berater der Metanat runzelten dabei die Stirn, aber sie hörten zu. Und die ganze Welt paßte auf. Darum war nach Nirgals Ansicht gar nicht so wichtig, was ein Kader von Führern in einer europäischen Stadt dachte, sondern vielmehr das Volk in seinen Dörfern, das im Fernsehen den Mann vom Mars betrachtete. Und da Praxis und die Schweiz und deren Verbündete weltweit alle ihre Ressourcen in Hilfe für Flüchtlinge und in die Langlebigkeitsbehandlung gesteckt hatten, schlössen sich überall Menschen zusammen. Wenn man den Lebensunterhalt gewinnen konnte, indem man die Welt rettete, wenn das die beste Chance für Stabilität, langes Leben und die Aussichten der Kinder bedeutete — warum dann nicht? Warum nicht? Was hätten die meisten Leute zu verlieren? Die vergangene metanationale Periode hatte einigen genützt, aber Milliarden waren zu kurz gekommen und jetzt in einer Lage, die sich ständig verschlimmerte.

So verloren die Metanats massenhaft ihre Arbeiter. Sie konnten sie nicht einsperren. Es war schwer, sie in Panik zu versetzen. Die einzige Möglichkeit, sie zu behalten, war die Einführung der gleichen Art von Programmen, mit denen Praxis angefangen hatte. Und das taten sie, oder behaupteten das wenigstens. Maya war sicher, daß man durch oberflächliche Veränderungen Praxis nur nachahmte, um die Arbeiter und auch die Profite zu behalten. Es war aber möglich, daß Sax recht hatte und daß sie nicht in der Lage sein würden, die Situation unter Kontrolle zu behalten, und daß sie wider Willen eine neue Ordnung einführen würden.

Nirgal entschloß sich genau das während einer Pressekonferenz in einem großen Nebenraum voller Reporter und Abgeordneter zu sagen — so unähnlich dem improvisierten Tisch im Lagerhaus von Pavonis und dem aus dem Dschungel gehauenen Komplex in Trinidad und der Bühne in dem Volksmeer während jener wilden Nacht in Burroughs. Nirgal erkannte plötzlich, daß seine Rolle darin bestand, der junge Marsianer zu sein, die Stimme der neuen Welt. Vernünftig zu sein, und den alliierten Gesichtspunkt darzulegen, konnte er getrost Maya und Sax überlassen.

»Es wird alles in Ordnung gehen«, verkündigte er und blickte so viele von ihnen an, wie er konnte. »Jeder Augenblick in der Geschichte enthält eine Mischung archaischer Elemente, von Dingen aus der ganzen Vergangenheit, bis hin zur Vorgeschichte. Die Gegenwart ist immer eine Mischung dieser mannigfaltigen archaischen Elemente. Es gibt immer noch Ritter, die auf Pferderücken ausziehen, um den Bauern die Ernte zu rauben. Es gibt auch immer noch Gilden und Stämme. Jetzt sehen wir, daß so viele Menschen ihre Jobs aufgeben, um bei der Fluthilfe mitzuarbeiten. Das ist etwas Neues. Aber es ist auch gleichzeitig eine Pilgerschaft. Sie wollen Pilger sein, die ein geistiges Ziel haben, sie wollen echte, sinnvolle Arbeit leisten. Sie wollen von niemandem mehr bestohlen werden. Diejenigen von euch hier, die die Aristokratie vertreten, sehen besorgt aus. Vielleicht werdet ihr für euch selbst arbeiten müssen und davon leben. Auf dem gleichen Niveau leben wie jeder andere. Und es ist wahr, das wird geschehen. Aber es wird alles in Ordnung gehen, sogar für euch. Genug ist so gut wie ein Festmahl. Und nur wenn alle gleich sind, werden eure Kinder sicher sein. Die universelle Ausgabe der Langlebigkeitsbehandlung, die wir jetzt sehen, ist der letzte Sinn der demokratischen Bewegung. Es ist die physische Manifestation der Demokratie, zumindest hier. Gesundheit für alle. Und wenn das geschieht, wird die Explosion positiver menschlicher Energie die Erde schon in einigen Jahren umwandeln.«

Jemand in der Menge stand auf und fragte ihn nach der Möglichkeit einer Bevölkerungsexplosion, und er nickte. »Ja, natürlich. Das ist ein echtes Problem. Man braucht keinen Demographen, um zu sehen, daß, wenn ständig neue Menschen geboren werden, während die älteren nicht sterben, die Bevölkerung rasch unglaublich ansteigen wird. Sie wird untragbar hoch, bis es eine Katastrophe gibt. Dieser Konfrontation müssen wir uns schon jetzt stellen. Die Geburtenrate muß, mindestens für einige Zeit, einfach beschnitten werden. Diese Situation wird aber nicht ewig so bleiben. Die Langlebigkeitsbehandlungen sind keine Behandlungen für Unsterblichkeit. Schließlich werden die ersten behandelten Generationen sterben. Und darin liegt die Lösung des Problems. Angenommen, die derzeitige Bevölkerung beider Welten liegt bei fünfzehn Milliarden. Das heißt, wir fangen an einer schlechten Stelle an. Angesichts der Ernsthaftigkeit des Problems gibt es keinen Grund zur Klage, solange man noch Elternschaft erreicht. Aber die eigene Langlebigkeit verursacht das Problem; und Elternschaft ist Elternschaft — ob ein Kind oder zehn. Wenn jede Person einen Partner hat und diese beiden nur ein einziges Kind haben, gibt es nur ein Kind für zwei Leute in der vorausgehenden Generation. Das wären siebeneinhalb Milliarden Kinder von dieser gegenwärtigen Generation. Und die bekommen natürlich alle die Langlebigkeitsbehandlung und werden verhätschelt, bis sie ohne Zweifel die unerträgliche Herrschaft der Welt besitzen. Diese neuen Souveräne werden vier Milliarden Kinder haben und die nächste Generation dann zwei — und so weiter. Diese alle leben gleichzeitig, und die Bevölkerung wächst die ganze Zeit, aber allmählich in geringerem Tempo. Und dann wird zu irgendeinem Zeitpunkt, sei es in hundert, sei es in tausend Jahren, die erste Generation sterben. Das kann über einen ziemlich kurzen Zeitraum erfolgen; aber schnell oder langsam, wenn der Prozeß erfolgt ist, wird die Gesamtbevölkerung fast halbiert sein. An dieser Stelle können die Menschen die Situation betrachten, die Infrastruktur, die jeweilige Umwelt der zwei Planeten, die Kapazität des ganzen Sonnensystems — wie die dann auch sein mag. Nachdem die größten Generationen verschwunden sind, können die Leute anfangen, vielleicht jeweils zwei Kinder zu haben, so daß Ersatz geschaffen wird und ein stationärer Zustand eintritt. Oder was auch immer. Wenn diese Wahlmöglichkeit besteht, wird die Bevölkerungskrise vorbei sein. Das könnte tausend Jahre dauern.«

Nirgal hielt inne, um nach draußen zu schauen und die Zuhörer anzusehen. Die Leute blickten ihn gebannt und schweigend an. Er machte eine Handbewegung, um alle zu sammeln. »In der Zwischenzeit müssen wir einander helfen. Wir müssen unsere Verhältnisse ordnen und uns um das Land kümmern. Und hier, an dieser Stelle des Projekts, kann der Mars der Erde helfen. Zunächst sind wir ein Experiment hinsichtlich der Fürsorge für das Land. Daraus kann jeder etwas lernen, und einige Lektionen können hier Anwendung finden. Dann, noch wichtiger — obwohl der größte Teil der Bevölkerung immer auf der Erde seßhaft bleiben wird —, kann ein Bruchteil von ihnen auf den Mars umsiedeln. Das wird helfen, die Situation zu erleichtern; und wir freuen uns, sie aufzunehmen. Es ist unsere Pflicht, so viele Menschen aufzunehmen, wie wir können; denn wir auf dem Mars sind immer noch Terraner und dabei alle betroffen, Erde und Mars. Doch es gibt im Sonnensystem noch weitere bewohnbare Welten, von denen keine so groß ist wie unsere zwei; aber es gibt sehr viele davon. Und wenn wir sie alle nutzen und kooperieren, können wir die bevölkerungsreichen Jahre überstehen. Und in ein goldenes Zeitalter eintreten.«


Der Vortrag dieses Tages machte einen tiefen Eindruck, soweit man das im Auge des Sturms der Medien erkennen konnte. Nirgal sprach danach jeden Tag stundenlang mit einer Gruppe nach der anderen und führte die Ideen weiter aus, die er das erste Mal in jener Sitzung vorgetragen hatte. Das war eine anstrengende Arbeit; und nach ein paar Wochen ohne Pause schaute er an einem wolkenfreien Morgen aus dem Fenster seines Schlafzimmers und sprach zu seinem Begleiter darüber, eine Expedition zu unternehmen. Und der Begleiter war einverstanden, den Leuten in Bern mitzuteilen, daß es eine private Reise wäre. Dann nahmen sie einen Zug in die Alpen.

Der Zug fuhr von Bern nach Süden, vorbei an einem langen blauen See, der Thunersee hieß und an dessen Ufern steile grasbewachsene Almen lagen und Klippen und Felsnadeln aus grauem Granit. Die Städte am See hatten Dächer aus Schieferplatten. Er sah viele alte Bäume und gelegentlich ein Schloß — alles gepflegt und in bestem Zustand. Die ausgedehnten grünen Weideflächen zwischen den Städten waren durchsetzt mit großen hölzernen Bauernhäusern; rote Gartennelken in Blumenkästen auf jedem Fensterbrett und Balkon. Dieser Stil hatte sich in fünfhundert Jahren nicht geändert, wie ihm seine Begleiter sagten. Er paßte in das Land, als ob das ganz natürlich wäre. Die grünen Almen waren von Bäumen und Steinen gesäubert. Ursprünglich waren es Wälder gewesen. Also waren sie terrageformte Räume, große hügelige Grasflächen, die geschaffen worden waren, um Futter für das Vieh zu liefern. Ein solcher Ackerbau wäre ökonomisch nicht in dem Sinne sinnvoll gewesen, wie der Kapitalismus es definierte. Aber die Schweizer hatten die hoch gelegenen Höfe immer unterstützt, weil sie das für wichtig oder schön oder beides zugleich hielten. Das war die Schweiz. »Es gibt höhere Werte als wirtschaftliche«, hatte Vlad damals bei dem Kongreß auf dem Mars nachdrücklich gesagt; und Nirgal sah jetzt, daß es auf der Erde Menschen gab, die das — zumindest teilweise — immer geglaubt hatten. Unten in Bern nannte man das Wertwandel, Änderung von Werten. Aber es konnte ebenso gut die Entwicklung von Werten sein, Wiederkehr von Werten, allmählicher Wechsel anstelle punktuellen Gleichgewichts. Wohlwollende restliche Archaismen, die immer weiter andauerten, bis die hohen isolierten Berge langsam die Welt gelehrt hatten, wie man leben sollte. Ihre großen Bauernhäuser, die auf grünen Wellen schwammen. Ein gelber Sonnenstrahl spaltete die Wolken und traf auf die Hügel hinter einer solchen Farm; und die Alm erglühte wie ein Smaragd so intensiv, daß Nirgal die Orientierung verlor und richtig betäubt wurde. Es war schwer, das Auge auf ein so strahlendes Grün zu konzentrieren!

Der heraldische Hügel verschwand. Im Fenster erschienen andere, eine grüne Welle nach der anderen, leuchtend in ihrer Wirklichkeit. Bei der Stadt Interlaken machte der Zug eine Kurve und begann ein Tal hochzuklettern, das so steil war, daß die Waggons stellenweise in Tunnels in den Flanken der Berge fuhren und innerhalb der Berge eine Spirale von 360° beschrieben, ehe sie wieder ans Tageslicht kamen, wo dann der Kopf des Zuges sich direkt über seinem Ende befand. Der Zug fuhr auf Gleisen anstatt auf Fahrbahnen, weil die Schweizer nicht überzeugt waren, daß die neue Technik genügend fortgeschritten war, um das zu ersetzen, was sie schon hatten. Und so vibrierte der Zug und schwankte sogar hin und her, während er bergauf rumpelte, Stahl auf Stahl.

Sie hielten in Grindelwald, und im Bahnhof folgte Nirgal seiner Begleitung zu einem kleineren Zug, der sie hoch unter die riesenhafte Eiger-Nordwand brachte. Von unten schien diese steinerne Wand nur ein paar hundert Meter hoch zu sein. Nirgal hatte aus fünfzig Kilometern Entfernung im Münster von Bern eine bessere Vorstellung von ihrer immensen Höhe gewonnen. Hier wartete er jetzt geduldig ab, als der kleine Zug in einen Tunnel im Berg brummte und seine Spiralen und Kehren in der Dunkelheit begann, markiert nur durch die Innenbeleluchtung des Zuges und das kurze Licht aus einem Seitentunnel. Seine etwa zehn Mann starke Begleitung unterhielt sich leise im gutturalen Schweizerdeutsch.

Als sie ins Licht hinauskamen, waren sie in einem kleinen Bahnhof, genannt das Jungfraujoch, dem ›höchsten Bahnhof Europas‹, wie ein Schild in sechs Sprachen verkündete. Kein Wunder, er befand sich auf einem eisigen Paß zwischen den beiden großen Spitzen von Mönch und Jungfrau in 3454 Metern Meereshöhe. Endstation.

Nirgal stieg, mit seiner Begleitung im Gefolge, aus und betrat vom Bahnhof aus eine schmale Terrasse vor dem Gebäude. Die Luft war dünn, sauber und frisch bei ungefähr 270 K — die beste Luft, die Nirgal geatmet hatte, seit er den Mars verließ. Es war ein so vertrautes Gefühl, daß ihm die Tränen kamen! Ah, das war ein Ort!

Selbst mit Sonnenbrille war das Licht extrem hell. Der Himmel war dunkles Kobalt. Schnee bedeckte die meisten Bergflanken, aber überall stieß Granit durch den Schnee, besonders auf den Nordseiten der großen Massen, wo die Klippen zu steil waren, um den Schnee festzuhalten. Hier oben wirkten die Alpen gar nicht mehr wie eine Böschung. Jede Felsenmasse hatte ihre eigene Präsenz und Gestalt, vom Rest getrennt durch weite Räume leerer Luft, einschließlich Gletschertäler, die enorm tiefe U-förmige Mulden bildeten. Nach Norden zu lagen diese Riesengräben tief unten und grün, oder sogar voller Seen. Im Süden lagen sie höher und enthielten nur Schnee, Eis und Fels. An diesem Tag strömte der Wind von Süden empor und führte die Kälte des Eises mit sich.

Unten im Eistal, direkt südlich vom Paß, konnte Nirgal ein großes zerklüftetes weißes Plateau erkennen, wo die Gletscher von den umliegenden Hochbecken zusammenflössen. Das war der Concordiaplatz, wie man ihm sagte. Da trafen sich vier große Gletscher und flössen dann nach Süden in den Großen Aletschgletscher, den längsten Gletscher der Schweiz.

Nirgal ging zum Ende der Terrasse, um weiter in diese Wildnis aus Eis zu schauen. Ganz hinten entdeckte er einen Treppenpfad, der in den harten Schnee der Südwand gehauen war, dort wo sie zum Paß aufstieg. Der Weg führte zu dem Gletscherplateau unter ihnen und von da zum Concordiaplatz.

Nirgal bat seine Begleiter, im Bahnhof zu bleiben und dort auf ihn zu warten. Er wollte allein klettern. Sie protestierten, aber der Gletscher war im Sommer schneefrei, die Spalten alle deutlich zu erkennen und der Pfad ebenfalls. Und sonst war an diesem kalten Sommertag niemand da unten. Dennoch waren die Mitglieder seiner Eskorte unsicher, und zwei bestanden darauf, mit ihm zu kommen, wenigstens einen Teil des Weges und in einigem Abstand, ›nur für den Falk Endlich stimmte Nirgal dem" Kompromiß zu, zog seine Kapuze über und kletterte die Eistreppe hinunter, wobei er mühsam voranstapfte, bis er auf dem flacheren Teil des Jungfraufirns angelangt war. Die Klippen zur Seite dieses Schneetales verliefen von der Jungfrau und dem Mönch nach Süden und fielen nach ein paar hohen Kilometern steil zum Concordiaplatz hin ab. Vom Pfad aus sah ihr Gestein schwarz aus, vielleicht auch nur im Kontrast zu der Weiße des Schnees. Hie und da leuchteten in dem weißen Schnee schwach rötliche Flecken — Algen. Kümmerliches Leben sogar hier. Größtenteils war die weite Fläche aber von reinem Weiß und Schwarz, mit der darüber hängenden Kuppel aus Preußischblau, während ein kalter Wind vom Concordiaplatz den Canyon herauf gepreßt wurde. Nirgal wollte es bis zum Concordiaplatz schaffen, um einen Rundblick zu haben; er konnte aber nicht sagen, ob der Tag ihm genügend Zeit geben würde oder nicht. Es war sehr schwierig zu beurteilen, wie weit der Tag schon fortgeschritten war. Es könnte leicht später sein, als es den Anschein hatte. Aber er konnte gehen, bis die Sonne die halbe Höhe zum westlichen Horizont erreicht hatte und dann umkehren. Darum schlidderte er rasch über den Firn nach unten, von einer orangefarbenen Wand zur andern. Er fühlte in sich die Extra-Person und war sich auch der zwei Begleiter bewußt, die ihm beharrlich in etwa zweihundert Meter Entfernung folgten.

Längere Zeit ging er bloß dahin. Das war nicht so anstrengend. Die eingekerbte Eisfläche knirschte unter seinen braunen Stiefeln. Die Sonne hatte die oberste Schicht trotz des kühlen Windes aufgeweicht. Die Oberfläche war zu weiß, um sie genau zu erkennen, selbst mit Sonnenbrille. Das Eis rutschte beim Gehen und schimmerte schwärzlich.

Die Grate rechts und links wurden allmählich niedriger. Er kam auf den Concordiaplatz hinaus und konnte über sich die Gletscher in anderen hohen Canyons erkennen, als ob die Finger einer Hand aus Eis gegen die Sonne gehalten würden. Die Handwurzel verlief nach Süden — der Große Aletschgletscher. Er stand in der weißen Handfläche, der Sonne zugewandt und nahe einer Rettungsleine aus Geröll. Das Eis hier draußen war löchrig, knorrig und bläulich getönt.

Ein Wind zerrte an ihm und wirbelte durch sein Herz. Er drehte sich langsam um, wie ein kleiner Planet oder ein Kreisel vor dem Umkippen, und versuchte, sich ihm entgegenzustemmen. So groß, so hell, so windig und weit, so erdrückend schwer — die schiere Masse der weißen Welt — und dennoch mit einer Art Dunkelheit dahinter wie vom Vakuum des Weltraums, das dort jenseits des Himmels zu sehen war. Er nahm die Sonnenbrille ab, um zu sehen, wie es wirklich aussah. Aber der Glanz war so unmittelbar und heftig, daß er die Augen schließen und das Gesicht mit der Armbeuge bedecken mußte. Immer noch pulsierten vor seinen Augen große weiße Balken, und sogar das Nachbild schmerzte in seiner blendenden Intensität. »Wow!« schrie er und lachte, entschlossen, es noch einmal zu versuchen, sobald die Nachbilder schwächer würden, aber ehe seine Pupillen sich wieder geweitet hatten. Das tat er, aber der zweite Versuch war ebenso schmerzhaft wie der erste. Wie kannst du es wagen, mich unverhohlen anzuschauen! rief die Welt ihm schweigend zu. »Mein Gott!« Mit Gefühl. »Ka wow!«

Er setzte die Sonnenbrille wieder vor die geschlossenen Augen und blickte durch die hüpfenden Nachbilder nach draußen. Allmählich stabilisierte sich die urtümliche Landschaft aus Eis und Fels wieder aus den pulsierenden schwarzen, weißen und neongrünen Balken. Weiß und Grün. Und dies war das Weiß. Die kahle Welt des unbelebten Universums. Dieser Ort hatte genau die gleiche Bedeutung wie die primäre Landschaft des Mars. Ja, eben so groß wie auf dem Mars und sogar noch größer wegen der fernen Horizonte und der erdrückenden Schwere. Und steiler und weißer und windiger. Ka, es drang so scharf durch seinen Parka. Noch windiger, noch kälter. O Gott, als ob ein Wind durch sein Herz stieße. Die jähe Erkenntnis, daß die Erde so weit war, daß sie in ihrer Vielfalt Regionen hatte, die sogar den Mars in seinem Marssein überboten, daß sie unter all diesen Möglichkeiten so wundervoll war. Das war großartig, selbst wenn man Marsianer war.

Dieser Gedanke machte ihn still. Er stand nur da und starrte und versuchte, es zu erfassen. Der Wind erstarb für einen Moment. Auch die Welt war still. Keine Bewegung. Kein Laut.

Als er die Stille bemerkte, begann er sie zu beobachten, in sie hineinzuhorchen. Er hörte nichts, und dadurch wurde die Stille an sich immer greifbarer. Das war neu, anders als alles, was er je gehört hatte. Er dachte darüber nach. Auf dem Mars hatte er sich stets in Kuppeln oder Schutzanzügen befunden, immer in einer zwangsläufig mit Geräuschen verbundenen Maschinerie. Die einzige Ausnahme bildeten die seltenen Spaziergänge auf der Oberfläche, die er in den letzten Jahren gemacht hatte. Aber selbst da war immer der Wind gewesen oder Maschinensurren in der Nähe. Mit der Zeit hatte er die Geräuschkulisse einfach nicht mehr bemerkt. Hier war es anders. Es gab jetzt nur die große Stille, die Stille des Universums selbst. Kein Traum konnte das vermitteln.

Und dann begann er wieder etwas zu hören. Das Blut in seinen Ohren. Sein Atem in der Nase. Das ruhige Wirbeln seines Denkens schien einen ellipsenartigen Ton zu erzeugen. Seine eigenen Körperfunktionen diesmal, sein Leben mit den organischen Pumpen, Belüftungssystemen und Generatoren. Die Mechanismen waren alle noch da, arbeiteten in ihm und folgten ihrer eigenen Melodik. Jetzt war er frei von allem sonst, inmitten einer großen Stille, in der er sich selbst hören konnte. Er stand völlig frei auf dieser Welt, hatte die Schranke in den Raum, die er zuvor in der Grelligkeit des Schnees nicht zu überwinden vermochte, durchbrochen. Und frei im Eis, dort wo alles angefangen hatte. Mutter Erde — er dachte an Hiroko, aber diesmal ohne den nagenden Kummer, den er in Trinidad empfunden hatte. Wenn er zum Mars zurückkehrte, würde er damit leben können. Er konnte als freies Wesen in die Stille hinausgehen, im Freien unter dem Wind leben, dieses reine, weite, leblose Weiß, mit etwas ähnlichem wie diese dunkelblaue Kuppel über sich. Das Blau als eine sichtbare Aspiration des Lebens selbst, Sauerstoff, die dem Leben eigene Farbe. Da oben das Weiß überspannend. Irgendwie ein Zeichen. Das Weiß und das Grün, nur war das Grün hier blau.

Mit Schatten. Zwischen den schwachen lauernden Nachbildern lagen lange Schatten, die von Westen kamen. Er war vom Jungfraujoch weit entfernt und auch noch beträchtlich tiefer. Er drehte sich um und begann den Jungfraufirn hochzuklettern. In der Ferne nickten seine beiden Gefährten und wandten sich selbst rasch steigend nach oben.

Recht bald waren sie im Schatten der westlichen Bergkette angelangt. Von der Sonne waren sie für diesen Tag endgültig abgeschnitten, und der Wind fegte wenig hilfreich über den Bergrücken. Wirklich kalt. Immerhin war es gerade diese Art von Temperatur und diese Art von Luft, die einen kleinen angenehmen Schuß von extra Dichte hatte. Und so fing er trotz des Gewichts in ihm an, sich in leichtem Laufschritt die harte Kruste hochzuarbeiten. Er beugte sich vor und fühlte, wie seine Muskeln auf diese Herausforderung ansprachen und in ihren alten lung-gom-pa-Kkythmus verfielen. Seine Lungen pumpten hart, genau wie sein Herz, um mit dem Extragewicht fertig zu werden. Aber er war stark, stark; und dies war eine der hohen marsartigen Regionen der Erde. Er fühlte sich jede Minute stärker, während er durch den Firn stampfte, obschon erschrocken, erheitert und eingeschüchtert. Es war schon ein höchst erstaunlicher Planet, der so viel Weiß und auch Grün haben konnte; dessen Orbit so haarscharf verlief, daß auf Meereshöhe das Grün explodierte und um sich auf dreitausend Metern unvermittelt völlig von dem Weiß verdecken zu lassen. Die Zone, die vor Leben strotzte, war gerade mal tausend Meter breit. Und die Erde rollte mitten in dieser dünnen Biosphärenblase, in den richtigen paar tausend Metern in einem Orbit von 150 Millionen Kilometern Weite. Das war zu glücklich, als daß man es glauben konnte.

Seine Haut juckte von der Anstrengung; er war überall warm, sogar seine Zehen. Er fing an zu schwitzen. Die kühle Luft war angenehm stärkend. Er hatte den Eindruck, daß er dieses Tempo stundenlang durchhalten könnte. Aber leider war das nicht nötig. Vor und etwas über ihm lag die Schneetreppe mit ihrem Geländer aus Seil und in den Schnee geschlagenen Pfosten. Seine Führer vor ihm kamen gut voran und eilten die letzte Steigung empor. Bald würde auch er dort sein, in der kleinen Bahn/Weltraum-Station. Diese Schweizer verstanden sich wirklich aufs Bauen! Daß man den Concordiaplatz in einem Tagesausflug von der Landeshauptstadt besuchen konnte! Kein Wunder, daß sie den Mars so gern hatten. Sie kamen Marsianern am nächsten, echte Baumeister, Terraformer und Bewohner der dünnen kalten Luft.

So fühlte er sich ihnen wohlgesonnen, als er auf die Terrasse trat und dann in die Station stürmte, wo er sofort zu dampfen begann. Und als er zu der Gruppe seiner Eskorte und den anderen Passagieren ging, die auf den nächsten Zug warteten, strahlte er über das ganze Gesicht und war so in Hochstimmung, daß die mürrischen Gesichter der Gruppe (er merkte, daß er sie hatte warten lassen) sich glätteten und sie einander ansahen und lächelten. Sie schüttelten die Köpfe, als ob sie sagen wollten: Da kann man nichts machen! Man konnte nur grinsen und es geschehen lassen. Sie waren alle in jungen Jahren zum ersten Mal an einem sonnigen Sommertag in den Hochalpen gewesen und hatten die gleiche Begeisterung gefühlt. Sie erinnerten sich, wie das gewesen war. Und so schüttelten sie ihm die Hand und umarmten ihn. Sie gingen los und führten ihn zu dem kleinen Zug; denn ungeachtet der sich lösenden Stimmung war es nicht gut, einen Zug warten zu lassen. Dabei bemerkten sie seine roten Hände und sein gerötetes Gesicht und fragten ihn, wohin er gegangen wäre. Sie sagten ihm, wie viele Kilometer das waren und wieviel in der Vertikalen. Sie reichten ihm eine kleine Taschenflasche Schnaps. Und als dann der Zug an dem kleinen Seitentunnel vorbeikam, der zur Eiger-Nordwand führte, erzählten sie ihm die Geschichte von der mißlungenen Bergung der dem Tode geweihten Nazi-Bergsteiger und waren aufgeregt und bewegt, daß er so beeindruckt war. Danach machten sie es sich in den beleuchteten Abteilen des Zuges bequem, der durch seinen Tunnel aus rohem Granit quietschte.

Nirgal stand am Ende eines Wagens und sah sich den mit Dynamit gesprengten Fels an, der an ihnen vorbeiraste. Als sie dann wieder ins Sonnenlicht trafen, ragte die Eiger-Nordwand steil vor ihm auf. Ein Passagier kam unterwegs zum nächsten Wagen an ihm vorbei, blieb stehen, sah ihm ins Gesicht und bemerkte: »Ich muß sagen, ich bin erstaunt, Sie hier zu sehen. Ich bin gerade vorige Woche Ihrer Mutter begegnet.«

»Meiner Mutter?« fragte Nirgal erstaunt »Ja, Hiroko Ai. Stimmt das nicht? Sie war in England und arbeitete mit Leuten an der Themsemündung. Ich habe sie auf dem Weg hierher getroffen. Das ist ein erstaunlicher Zufall, Ihnen beiden zu begegnen, das muß ich sagen. Ich könnte fast meinen, jetzt jede Sekunde kleine rote Männer zu sehen.«

Der Mann lachte bei diesem Gedanken und schickte sich an, in den nächsten Wagen weiterzugehen.

Nirgal rief: »He! Warten Sie!«

Aber der Mann sagte nur kurz über die Schulter: »Nein, nein. Ich wollte mich nicht aufdrängen. Das ist sowieso alles, was ich weiß. Vielleicht sollten Sie sich in Sheerness nach ihr umsehen.«

Und dann fuhr der Zug pfeifend in den Bahnhof Klein Scheidegg ein. Der Mann sprang im nächsten Waggon aus einer sich öffnenden Tür; und als Nirgal sich daran machte, ihm zu folgen, kamen andere Leute dazwischen, und seine Begleiter erklärten ihm, daß er direkt nach Grindelwald hinunterfahren müßte, wenn er an diesem Abend noch heimkommen wollte. Dagegen war nichts zu sagen, aber beim Blick aus dem Fenster, als sie aus der Station rollten, sah er den Briten, der ihn angesprochen hatte, munter auf einem Pfad in das unten liegende dunkle Tal marschieren.

Nirgal landete auf einem großen Flughafen in Südengland und wurde in nordöstlicher Richtung zu einer Stadt gefahren, die die Begleiter Faversham nannten und hinter der die Straßen und Brücken überschwemmt waren. Er hatte es so eingerichtet, daß er unangemeldet ankam; und seine Eskorte hier war ein Polizeiteam, das ihn mehr an Sicherheitseinheiten der UNTA zu Hause erinnerte als an sein Schweizer Gefolge. Es waren acht Männer und zwei Frauen, schweigend, umsichtig, selbstsicher. Als sie hörten, was er vorhatte, hatten sie nach Hiroko forschen wollen, indem sie Leute aufstöberten, um sie nach ihr zu fragen. Nirgal war sicher, daß sie dadurch in ein Versteck getrieben würde, und er bestand darauf, ohne großes Getös nach ihr zu suchen. Schließlich konnte er sie überreden.

Sie fuhren in einer grauen Morgendämmerung zu einer neuen Meeresküste hinunter, die unmittelbar zwischen die Häuser vorgedrungen war. An manchen Stellen waren Reihen aufgestapelter Sandsäcke zwischen durchnäßten Mauern zu sehen, anderswo waren die Straßen bloß so weit das Auge reichte feucht mit dunklem Wasser. Hie und da waren einige Planken über Schlamm und Pfützen gelegt.

Auf der anderen Seite einer Reihe von Sandsäcken konnte man braunes Wasser ohne Gebäude erkennen. Einige Ruderboote waren an einem Gitter befestigt, das ein halb von schmutziger Gischt überspültes Fenster schützte. Nirgal folgte einem seiner Begleiter in ein großes Ruderboot und begrüßte einen hageren Mann mit rotem Gesicht, der eine dreckige Mütze tief in die Stirn gezogen hatte. Offenbar eine Art Wasserpolizist. Der Mann drückte schlapp seine Hand, und dann waren sie fort, über trübes Wasser rudernd. Drei weitere Boote waren hinter ihnen, in denen der Rest von Nirgals besorgt aussehenden Wächtern saß. Nirgals Ruderer sagte etwas; und Nirgal mußte ihn bitten, es zu wiederholen. Es hatte sich angehört, als ob der Mann nur eine halbe Zunge besäße. »Ist das Cockney, Ihr Dialekt?«

»Cockney«, bestätigte der Mann lachend.

Auch Nirgal lachte und zuckte die Achseln. Das war ein Wort, an das er sich aus einem Buch erinnerte. Er wußte nicht, was es eigentlich bedeutete. Er hatte schon tausend verschiedene Arten von Englisch gehört; aber das hier war wohl ein echter Dialekt, und er konnte ihn kaum verstehen. Der Mann redete langsamer, was die Sache jedoch nicht besser machte. Er schilderte die Nachbarschaft, von der sie sich mit einzelnen Ruderschlägen langsam entfernten und zeigte, daß die Häuser fast bis zu den Dächern überschwemmt waren. Er sagte ein paarmal »Brents« und zeigte mit dem Ruder-Ende Richtung Land.

Sie kamen zu einem Schwimmdock, das an etwas festgebunden war, das wie ein Verkehrszeichen aussah, und dessen Aufschrift ›OARE‹ lautete. An dem Dock waren mehrere größere Boote angebunden oder schaukelten in der Nähe an Ankertauen. Der Wasserpolizist ruderte zu einem dieser Boote und zeigte auf die an seiner Seite angeschweißte rostige Leiter. »Da geht’s rauf!«

Nirgal kletterte die Seite des Bootes hoch. Auf Deck stand ein Mann, der so klein war, daß er hochlangen mußte, um Nirgal die Hand zu schütteln, was er mit einem zermalmenden Griff tat. Er sagte: »Sie sind also ein Marsianer«, mit einer Stimme, die wie die des Ruderers tönte, aber viel leichter zu verstehen war. »Willkommen an Bord unseres kleinen Forschungsschiffs!

Wie ich höre, sind Sie gekommen, um nach der alten asiatischen Lady zu suchen?«

»Ja«, erwiderte Nirgal mit beschleunigtem Pulsschlag. »Sie ist Japanerin.«

»Hmm.« Der Mann runzelte die Stirn. »Ich habe sie nur einmal gesehen, hätte aber schwören können, daß sie asiatisch ist. Vielleicht Bangladeshi. Die gibt es seit der Flut überall. Aber wer weiß?«

Vier von Nirgals Begleitern stiegen an Bord, und der Bootseigentümer drückte auf den Knopf, der den Motor startete. Dann drehte er im Ruderhaus das Steuerrad und sah zu, wie das Heck des Bootes ins Wasser drückte. Das Boot vibrierte, und sie entfernten sich von der überschwemmten Gebäudereihe. Der Himmel war mit tiefhängenden bauchigen Wolken bedeckt. Himmel und Meer zeigten sich in einem bräunlichen Grau.

»Wir werden über den Kai fahren«, sagte der kleine Kapitän.

Nirgal nickte. »Wie lautet Ihr Name?«

»Bly. B-L-Y.«

»Ich bin Nirgal.«

Der Mann nickte einmal.

»Hier waren also die Docks?« fragte Nirgal »Das hier war Faversham. Da draußen waren die Marschen: Harn, Mägden. Größtenteils Marschland bis hin zur Insel Sheppey. War auch The Swale. Mehr Sumpf als Fluß, versteh’n Sie? Wenn man jetzt an einem windigen Tag hier rausfährt, is’ es wie die Nordsee selbst. Und Sheppey ist nur noch dieser kleine Hügel, den Sie da draußen sehen; ’ne richtige Insel.«

»Und dort haben Sie...?« Er wußte nicht, wie er sie nennen sollte.

»Ihre asiatische Oma ist mit der Fähre von Vlissingen nach Sheerness gekommen, auf der anderen Seite der Insel. Sheerness und Minster haben heutzutage die Themse als Straße, und bei Flut haben sie sie auch als Dach. Wir sind jetzt über Mägden Marsh. Wir werden Shell Ness umfahren. Swale ist zu klumpig.«

Das schlammfarbene Wasser um sie herum schwappte hierhin und dahin. Es war von langen, gebogenen Streifen gelblichen Schaums gesäumt. Am Horizont wurde das Wasser grau. Bly drehte das Steuerrad, und sie planschten über kurze steile Wellen. Das Boot schaukelte und bewegte sich im ganzen auf und ab, auf und ab. Nirgal hatte nie in einem gesessen. Über ihnen hing das Grau. Zwischen den Bäuchen der Wolken und dem bockigen Wasser war nur ein schmaler Keil von Luft. Das Boot hüpfte wie ein Korken hin und her. Eine flüssige Welt.

»Es ist jetzt ein gutes Stück kürzer als früher«, sagte Kapitän Bly vom Ruder her. »Wenn das Wasser klarer wäre, könnte man Sayes Court unter uns sehen.«

»Wie tief ist es?« fragte Nirgal.

»Hängt von den Gezeiten ab. Die ganze Insel war vor der Flut ungefähr ein Zoll über Meeresniveau. Darum ist es jetzt genauso tief, wieviel sich der Meeresspiegel gehoben hat. Was sagen sie jetzt? Fünfundzwanzig Fuß? Jedenfalls mehr, als dies alte Mädchen braucht. Es hat nur geringen Tiefgang.«

Er drehte das Rad nach links, und die Wellen trafen das Boot von der Seite, so daß es in raschen, ungleichmäßigen Stößen rollte. Er zeigte auf einen Pegel. »Da, fünf Meter. Typisch Marsch. Sehen Sie den Kartoffelfleck, das rauhe Wasser dort? Das wird bei hoher Tide raufkommen und sieht aus wie ein im Schlamm ertrunkener Riese.«

»Wie ist jetzt der Gezeitenstand?«

»Fast voll. In einer halben Stunde kehrt sie um.«

»Es ist schwer zu glauben, daß der Mond den Ozean so viel herumzerren kann.«

»Was, glauben Sie etwa nicht an Schwerkraft?«

»O doch. Sie erdrückt mich ja beinahe. Es ist nur schwer zu glauben, daß etwas, das so weit entfernt ist, so stark ziehen kann.«

»Hmm«, machte der Kapitän und blickte in eine Nebelbank, die die Sicht nach vorn blockierte. »Ich sagen Ihnen, was schwer zu glauben ist, nämlich daß ein paar Eisberge so viel Wasser verdrängen können, daß alle Weltmeere dermaßen angestiegen sind.«

»Das ist wirklich schwer zu glauben.«

»Es ist erstaunlich. Aber auf dem Beweis dafür schwimmen wir hier gerade. Ah, der Nebel kommt.«

»Haben Sie schlechteres Wetter als früher?«

Der Kapitän lachte. »Ich würde sagen, das hieße, Absolutes zu vergleichen.«

Der Nebel zog in langen Schleiern an ihnen vorbei, und die bockigen Wellen dampften und zischten. Plötzlich fühlte Nirgal sich glücklich, trotz des Unbehagens in seinem Magen während der negativen Beschleunigung in jedem Wellental. Er war auf einer Wasserwelt zu Schiff, und die Helligkeit war endlich erträglich. Das erste Mal, seit er auf der Erde angekommen war, konnte er aufhören zu blinzeln.

Der Kapitän drehte wieder sein großes Rad, und sie fuhren mit den Wellen direkt hinter ihnen Richtung Nordwesten in die Mündung der Themse. Zur Linken tauchte eine braun-grünliche Leiste, mit Häusern an ihrem Abhang, feucht aus dem grünlichbraunen Wasser auf. »Das ist Minster, oder was davon übrig geblieben ist. Das war das einzige höhere Landstück auf der Insel. Sheerness liegt da drüben. Man kann erkennen, wo sich das Wasser ganz darüber ergossen hat.«

Unter der niedrigen Decke strömenden Nebels sah Nirgal etwas, das wie ein Riff schäumenden Brandungswassers aussah, das in jede Richtung gleichzeitig spritzte, schwarz unter der weißen Gischt. »Ist das Sheerness?«

»O ja.«

»Sind alle nach Minster umgezogen?«

»Oder woanders hin. Die meisten. In Sheerness gibt es sehr sture Leute.«

Dann war der Kapitän voll damit beschäftigt, das Boot durch die überschwemmte Küstenfront von Minster zu bringen. Wo die Linie der Dachfirste aus den Wellen auftauchte, war ein großes Gebäude, von dem das Dach und die zum Meer gewandte Mauer entfernt worden waren. Es fungierte jetzt als kleiner Hafen. Die drei verbliebenen Wände bargen ein Wasserbecken, und die oberen Stockwerke dahinter dienten als Dock. Drei weitere Fischerboote hatten dort festgemacht; und als sie hineintrieben, schauten einige Männer darauf hoch und winkten.

»Wer ist das?« fragte einer von ihnen, als Bly sein Boot ins Dock lenkte.

»Ein Marsianer. Wir suchen die asiatische Lady, die in Sheerness vorige Woche geholfen hat. Habt ihr sie gesehen?«

»In letzter Zeit nicht. Das ist schon einige Monate her. Ich hörte, daß sie nach Southend hinübergekreuzt ist. Unten in dem Sub wird man es wissen.«

Bly nickte und sagte zu Nirgal: »Wollen Sie sich Minster ansehen?«

Nirgal runzelte die Stirn. »Ich möchte lieber Leute finden, die möglicherweise wissen, wo sie ist.«

»Na ja.«

Bly lenkte das Boot rückwärts aus der Bucht und wendete. Nirgal schaute auf die mit Brettern vernagelten Fenster, schmutziges Wasser, die Schränke an einer Bürowand und einige an einen Balken geheftete Notizen. Als sie über den ertrunkenen Teil von Minster tuckerten, ergriff Bly ein Radiomikrophon an einer Spiralschnur und drückte auf Knöpfe. Er führte einige kurze Gespräche, denen Nirgal kaum folgen konnte: »Ah, Jack!« und dergleichen. Die Antworten kamen alle aus explosiver Statik.

»Wir werden es dann mit Sheerness versuchen. Die Flut ist günstig.«

Und so fuhren sie direkt in das Weißwasser und die über der versunkenen Stadt schäumende Gischt, wobei sie sich sehr vorsichtig nach den Straßen richteten. Inmitten der Brandung war das Wasser dort ruhiger. Kamine und Telefonmasten ragten aus der grauen Flüssigkeit; und Nirgal erwischte gelegentlich Blicke auf die Häuser und Gebäude darunter. Aber das Wasser war oben so von Schaum bedeckt und in der Tiefe so trübe, daß nur sehr wenig zu sehen war. Ein schräges Dach, ein kurzer Blick in eine Straße und das blinde Fenster eines Hauses.

Auf der anderen Seite der Stadt war ein Schwimmdock an einem aus der Brandung herausragenden Betonpfeiler verankert. »Dies ist das alte Dock für die Fähren. Man hat eine Sektion abgeschnitten und geflutet; und jetzt haben sie die Fährbüros unten ausgepumpt und wieder besetzt.«

»Wieder besetzt?«

»Sie werden schon sehen.«

Bly sprang von dem schwankenden Schanzdeck auf das Dock und hielt eine Hand hin, um Nirgal herüber zu helfen. Trotzdem stieß Nirgal sich das Knie, als er festen Boden suchte.

»Los, Spinnenmann! Wir gehen nach unten.«

Der Betonpfeiler, an dem das Dock verankert war, reichte bis auf Brusthöhe. Er war hohl, und eine metallene Leiter war innen angenietet. Elektrische Glühbirnen hingen in Fassungen an einem mit Gummi isolierten Draht, der um einen Pfosten der Leiter gewickelt war. Der Betonzylinder endete ungefähr drei Meter weiter unten, aber die Leiter führte weiter in eine große Kammer, warm, feucht und fischig, die vom Geräusch mehrerer Generatoren in einem anderen Raum oder Gebäude summte. Wände, Fußboden, Decken und Fenster des Gebäudes waren alle mit etwas bedeckt, das wie eine Folie aus klarem Kunststoff aussah. Sie befanden sich im Innern einer Blase aus irgendeinen durchsichtigem Material. Außerhalb der Blase war schmutzigbraunes Wasser, das wie Spülwasser in einem Ausguß blubberte.

Nirgals Gesicht zeigte ohne Zweifel seine Überraschung. Bly, der bei dem Anblick kurz lächelte, sagte: »Das war ein gutes, festes Gebäude. Das, was man Folienfels nennen könnte, ist so etwas wie die Stoffe, aus denen die Kuppeln bestehen, die Sie auf dem Mars benutzen, nur härtet es aus. Die Leute haben eine ganze Anzahl von Gebäuden wie diesem wieder besetzt, wenn sie die richtige Größe und Tiefe haben. Man nimmt ein Rohr — und puff! Das ist wie Glasblasen. So ziehen viele Leute aus Sherness wieder nach hier zurück und fahren mit den Schiffen vom Dock oder ihrem Hausdach los. Wir nennen sie Gezeitenvolk. Sie halten das für besser, als in England um Almosen zu betteln, he?«

»Was arbeiten sie?«

»Fischen, wie sie es immer getan haben. Und bergen. He, Karna! Hier ist mein Marsianer. Begrüße ihn! Da, wo er herkommt, ist er klein. Ich nenn ihn Spinnenmann!«

»Aber das ist doch Nirgal, nicht wahr? Mich laust der Affe, wenn ich Nirgal Spinnenmann nenne, wo ich ihn doch bei mir zu Hause als Besuch gehabt habe!« Und der Mann, schwarzhaarig und mit dunkler Haut, ein ›Asiate‹ dem Aussehen nach, wenn auch nicht nach seinem Akzent, schüttelte Nirgal sanft die rechte Hand.

Der Raum war durch ein Paar riesiger Spotlights, die zur Decke gerichtet waren, hell erleuchtet. Der blanke Fußboden war voll: Schiffsmotoren, Pumpen, Generatoren, Haspeln und Dinge, die Nirgal nicht erkannte. Die laufenden Generatoren standen am Ende einer Halle, was sie auch nicht ruhiger wirken ließ. Nirgal trat an eine Wand, um das Blasenmaterial genauer zu untersuchen. Es war nur ein paar Moleküle dick und konnte doch Tausende von Kilo Druck aushalten. Nirgal stellte sich vor, daß jedes Kilo ein Faustschlag wäre, gleich Tausende auf einmal. »Diese Blasen werden noch da sein, wenn der Beton bereits abgetragen ist.«

Nirgal fragte nach Hiroko. Karna zuckte die Achseln. »Ich habe nie ihren Namen erfahren. Ich hielt sie für eine Tamilin aus Südindien. Wie ich höre, ist sie nach Southend gegangen.«

»Hat sie Ihnen geholfen, das hier einzurichten?«

»O ja. Sie hat die Blasen von Vlissingen hergeschafft. Sie und eine Anzahl von Leuten, die dachten wie sie. Die haben hier Großes geleistet. Ehe sie kamen, krochen wir in High Halstow im Dreck.«

»Warum sind sie gekommen?«

»Ich weiß nicht. Sicher irgend eine Gruppe von der Küstenhilfe.« Er lachte. »Obwohl sie nicht so wie die angekommen sind. Sie fuhren einfach um die Küsten, bauten bloß zum Spaß aus dem Trümmerhaufen was, das nach etwas aussah. Sie nannten es Zivilisation zwischen den Gezeiten. Ein Scherz, wie gewöhnlich.«

»He, Karnasingh! He, Bly! Das ist doch ein hübscher Tag, nicht wahr?«

»O ja.«

»Wie wäre es dann mit etwas gekochtem Fisch?«

Der nächste große Raum war eine Küche und ein Speiseraum voller Tische und Bänke. Vielleicht fünfzig Personen hatten sich da zum Essen hingesetzt. Karna rief »Hallo!« und stellte Nirgal vor. Der wurde mit undeutlichem Gemurmel begrüßt. Die Leute waren eifrig mit Essen beschäftigt. Große Schüsseln mit Fisch-Eintopf wurden aus riesigen schwarzen Töpfen vollgeschöpft, die aussahen, als wären sie schon seit Jahrhunderten in Gebrauch. Nirgal setzte sich zum Essen hin. Der Eintopf war gut. Das Brot war so hart wie die Tischplatte. Die Gesichter waren roh, narbig, gegerbt und rot oder braun. Nirgal hatte noch nie so häßliche Gesichter gesehen, die durch ihre harte Existenz und ihr schweres Los auf der Erde entstellt und verzerrt worden waren. Laute Gespräche, Salven von Gelächter, Rufe. Die Generatoren waren kaum zu hören. Dann kamen Leute herbei, um ihm die Hand zu schütteln und ihn anzuschauen. Etliche hatten die asiatische Frau und deren Freunde kennengelernt und sprachen begeistert von ihr. Sie hatte ihnen nie einen Namen genannt. Ihr Englisch war gut und klar. »Ich hielt sie für eine Paki. Ihre Augen sahen nicht ganz orientalisch aus. Wissen Sie, nicht wie die ihren. Keine kleine Falte da bei der Nase.«

»Keine epikanthische Falte, du Dussel.«

Nirgal empfand starkes Herzklopfen. Im Raum war es heiß und schwül. »Was war mit den Leuten bei ihr?«

’ Einige davon waren Orientalen gewesen. Asiaten, außer einem oder zwei Weißen.

»Waren Hochgewachsene dabei? Wie ich?« fragte Nirgal.

»Keiner.« Aber... wenn Hirokos Gruppe wieder auf die Erde zurückgekehrt war, schien es möglich, daß die Jüngeren nicht mitgekommen waren. Selbst Hiroko hätte nicht alle von ihnen zu einem solchen Unternehmen überreden können. Würde Frantz den Mars verlassen? Würde Nanedi das tun? Nirgal bezweifelte es. Rückkehr zur Erde in der Stunde ihrer Not... Die Älteren würden gehen. Ja, das klang nach Hiroko. Er konnte sich vorstellen, daß sie es täte und die neuen Küsten von Terra befuhr, um eine Wiederbesiedlung zu organisieren...

»Sie sind nach Southend gegangen. Sie wollten sich die Küste hocharbeiten.«

Nirgal sah Bly an, der nickte. Auch sie konnten fahren.

Aber Nirgals Begleiter wollten erst die Lage prüfen. Sie verlangten einen Tag, um alles zu arrangieren. Inzwischen sprachen Bly und seine Freunde über die Unterwasserbergungsprojekte. Als Bly von der durch die Leibwächter vorgeschlagenen Verzögerung hörte, fragte er Nirgal, ob er eine solche Operation sehen möchte. Am nächsten Morgen würde eine stattfinden. »Obwohl es natürlich keine schöne Sache ist.« Nirgal sagte zu, die Begleiter hatten nichts einzuwenden, solange einer von ihnen mitkam.

So verbrachten sie den Abend in dem feuchtkühlen geräuschvollen Lagerhaus unter Wasser. Bly und seine Freunde stöberten nach Gerät, das Nirgal brauchen könnte. Die Nacht verbrachten sie in schmalen Betten auf Blys Boot, das wie eine große, klobige Wiege schaukelte.


Am nächsten Morgen tuckerten sie durch einen leichten Nebel von der Farbe des Mars. Rosige und orangefarbene Töne schwebten über trägem malvenfarbenem Wasser. Die Gezeiten waren der Ebbe nahe; und die Bergungsmannschaft sowie drei von Nirgals Begleitern folgten Blys größerem Schiff in drei offenen Motorbooten und manövrierten zwischen Kaminen, Verkehrszeichen und Strommasten hindurch, wobei sie sich häufig absprachen. Bly hatte ein zerfleddertes Buch mit Karten hervorgeholt und rief die Straßennamen von Sheerness aus, während er anhand bestimmter Lagerhäuser oder Läden navigierte. Viele Lagerhäuser im Kaibezirk waren augenscheinlich schon saniert worden, aber es gab hinter der Seefront, zwischen den Wohnblocks, noch mehr Lagerhäuser und Lädert. Einer davon war an diesem Morgen ihr Ziel. »Da sind wir. Carleton Lane.« Das war ein Juweliergeschäft in der Nähe eines kleinen Marktes gewesen. »Wir werden es mit Juwelen und Dosengemüse versuchen. Gut ausgewogen, könnte man sagen.«

Sie legten an einem Anschlagbrett an und stellten die Motoren ab. Bly warf einen kleinen Gegenstand an einer Schnur über Bord, und drei der anderen Leute sammelten sich um einen kleinen Computerschirm auf Blys Armaturenbrett. Ein dünnes Kabel wurde von einer jämmerlich quietschenden Spule an der Seite heruntergelassen. Auf dem Schirm wechselte die Farbe des trüben Bildes von Braun zu Schwarz und wieder zu Braun.

»Woher wissen Sie, was Sie da sehen?« fragte Nirgal.

»Das wissen wir nicht.«

»Aber schauen Sie, da ist doch eine Tür.«

»Sehe ich nicht.«

Bly tastete auf einem kleinen Keybord unter dem Schirm. »Geh hinein, du Ding! Da. Jetzt sind wir drin. Dies sollte der Markt sein.«

»Hatten die nicht Zeit, ihre Sachen wegzuschaffen?« fragte Nirgal.

»Nicht ganz. An der Ostküste Englands mußten alle sehr eilig wegziehen. Deshalb gab es nicht mehr Transportmöglichkeit als das, was man in seinem Wagen befördern konnte. Wenn überhaupt so viel. Viele Leute haben ihre Wohnungen so wie sie waren zurückgelassen. Also holen wir das Zeug heraus, das die Mühe wert ist.«

»Was ist mit den Besitzern?«

»Oh, da gibt es ein Register. Wir sehen das ein und finden die Leute, wenn wir können. Dann berechnen wir ihnen eine Bergungsgebühr, wenn sie das Zeug haben wollen. Falls sie nicht in dem Register stehen, verkaufen wir es auf der Insel. Die Leute brauchen Möbel und dergleichen. Hier, wollen wir mal sehen, was das ist.«

Er drückte eine Taste, und der Schirm wurde heller. »Ach ja. Ein Kühlschrank. Wir könnten ihn schon brauchen, aber er ist schwer hochzukriegen.«

»Was ist mit dem Haus?«

»Oh, das jagen wir in die Luft. Ein klarer Schuß, wenn wir die Ladungen richtig anbringen. Aber nicht heute morgen. Wir bringen einen Zettel an und ziehen weiter.«

Sie tuckerten weiter. Bly und noch ein Mann beobachteten weiterhin ständig den Schirm und diskutierten ruhig, wohin sie sich zunächst wenden sollten. Bly erklärte, Nirgal: »Diese Stadt war vor der Flut nicht ganz schuldenfrei. Sie ist seit ein paar hundert Jahren, schon seit dem Ende des Empire, abgesackt.«

Der andere Mann sagte: »Sie meinen, seit dem Ende der Segelschiffahrt.«

»Das ist dasselbe. Die alte Themse wurde danach immer weniger benutzt, und alle kleinen Häfen an der Mündung kamen immer mehr herunter. Und das ist schon lange her.«

Endlich stellte Bly den Motor ab und sah die anderen an. In ihren Whiskygesichtern erkannte Nirgal eine seltsame Mischung von Resignation und fröhlicher Erwartung. »Also dann hier!«

Die anderen Männer holten ein Tauchgerät hervor: Tauchanzüge, Tanks, einige Totalhelme. Bly sagte: »Wir dachten, das von Eric könnte Ihnen passen. Er war ein Riese.« Dann zog er einen langen schwarzen Schutzanzug aus dem übervollen Schrank, einen ohne Füße und Handschuhe, sowie eine Kapuze und Gesichtsmaske anstelle eines kompletten Helmes. »Da sind auch Stiefel dafür.«

»Ich würde sie gerne anprobieren!«

Er und zwei Leute zogen sich aus und legten die Schutzanzüge an. Sie schwitzten und stöhnten, als sie das Neopren überzogen und die Kragen mit den Reißverschlüssen dicht machten. An Nirgals Anzug war, wie sich zeigte, ein dreieckiger Lappen links am Rumpf ausgerissen, was günstig war, denn sonst hätte er wohl nicht gepaßt. Er war um die Brust sehr eng, dafür an den Beinen eher locker. Einer der anderen Taucher, Kev, verklebte den V-Schlitz mit Isolierband. »Das wird halten, jedenfalls für einen Tauchgang. Aber Sie sehen, was Eric passiert ist?« Er klopfte ihm auf die Seite. »Passen Sie auf, daß Sie nicht in einem Ihrer Kabel hängen bleiben!«

»Das werde ich.«

Nirgal fühlte sein Fleisch unter dem verklebten Riß kribbeln, der plötzlich sehr groß wirkte. Wenn man an ein sich bewegendes Kabel gefesselt war und durch Beton oder Metall gezerrt wurde — welche Agonie — ein tödlicher Schlag... Wie lange würde er danach bei Bewußtsein bleiben — eine Minute oder zwei? Im Dunkeln im Todeskampf herumgewirbelt...

Er riß sich von dem Gedanken an Erics Ende los, fühlte sich aber weiterhin erschüttert. Man befestigte ein Atemgerät an seinem Oberarm und der Gesichtsmaske. Sofort atmete er kühle Luft, reinen Sauerstoff, wie sie sagten. Bly fragte noch einmal, ob er wirklich hinuntergehen wollte, da Nirgal leicht zitterte. »Nein, nein. Mit Kälte komme ich gut zurecht«, erklärte Nirgal, »das Wasser ist gar nicht so kalt. Außerdem habe ich den Anzug jetzt schon durchgeschwitzt.«

Die anderen Taucher nickten. Sie schwitzten selber. Es war harte Arbeit, alles fertig zu machen. Das eigentliche Schwimmen war leichter. Eine Leiter hinunter und — o ja — von dem Druck der Ge frei zu sein, ein bißchen wie die Schwere auf dem Mars, oder sogar noch weniger. So eine Erleichterung! Nirgal atmete fröhlich den kühlen Sauerstoff aus der Flasche ein und weinte fast über die plötzliche Freiheit seines Körpers, als er durch eine angenehme Dämmerung schwebte. O ja, diese Welt auf der Erde lag unter Wasser.

Weiter unten waren die Dinge ebenso dunkel und amorph, wie sie auf dem Schirm ausgesehen hatten. Bis auf die schmalen Lichtkegel der offenbar sehr starken Kopflampen der anderen beiden Männer. Nirgal folgte über und hinter ihnen und hatte so die beste Sicht. Das Wasser in der Themsemündung war kühl, Nirgal schätzte etwa 285 K, aber nur sehr wenig davon sickerte durch Manschetten und Kapuze. Außerdem war das im Anzug eingeschlossene Wasser durch seine Anstrengungen bald so heiß, daß seine kühlen Hände und Gesicht (und die linken Rippen) ihn immerhin vor Überhitzung bewahrten.

Die beiden Lichtkegel schössen hierhin und dahin, wenn sich die beiden Taucher umschauten. Sie schwammen längs einer schmalen Straße. Den Anblick der Häuser und Bordsteine, der Bürgersteige und Straßen ließ das trübe Wasser so unheimlich erscheinen wie den Nebel an der Oberfläche.

Dann schwebten sie vor einem dreistöckigen Backsteinhaus, das den engen dreieckigen Platz füllte, der an eine spitzwinklige Straßenkreuzung grenzte. Kev machte Nirgal ein Zeichen, draußen zu bleiben, was dieser gerne tat. Der andere Taucher hatte ein Kabel gehalten, das so dünn war, daß man es kaum sehen konnte. Nun schwamm er in einen Torweg und zog es hinter sich her. Dann machte er sich daran, einen kleinen Flaschenzug an dem Torweg anzubringen und das Kabel hindurchzufädeln. Die Zeit verging. Nirgal schwamm langsam um das keilförmige Gebäude und schaute in Büros, leere Zimmer und Wohnungen. Einige Möbel schwammen an der Decke. Eine Bewegung in einem dieser Räume ließ ihn zurückschrecken. Er fürchtete das Kabel; aber das war auf der anderen Seite des Hauses. Etwas Wasser drang in sein Mundstück, und er schluckte, um es zu beseitigen. Es schmeckte nach Salz, Schlamm und Pflanzen und noch etwas Unangenehmem. Er schwamm weiter.

Hinten am Torweg bemühten sich Kev und der andere Mann, einen kleinen metallenen Safe durch die Tür zu zerren. Als er frei war, ruderten sie in eine aufrechte Position und warteten dort, bis das Kabel fast direkt über ihren Köpfen senkrecht nach oben führte. Danach schwammen sie wie in einem ungeschickten Ballett um den Zwischenraum; und der Safe schwebte an die Oberfläche und verschwand. Kev schwamm wieder nach drinnen zurück und kam mit heftigen Stößen zurück, in den Händen etwas wie kleine Säcke. Nirgal stieß sich hinüber und nahm ihm einen davon ab. Dann bewegte er sich mit ausholenden Schlägen zum Boot. Er kam ins helle Licht des Nebels an der Oberfläche. Er wäre gern wieder hinuntergegangen, aber Bly wollte nicht, daß sie noch länger blieben. Darum warf Nirgal seine Flossen ins Boot und kletterte über die Leiter an der Seite hinein. Als er auf der Bank saß, schwitzte er, und es war eine Erleichterung, die Kapuze vom Kopf zu ziehen, obwohl sein Haar dadurch kräftig nach hinten gezerrt wurde. Die feuchtkühle Luft war ein angenehmes Gefühl auf der Haut, als man ihm half, den Anzug abzustreifen.

»Sieh doch seine Brust an! Der ist ja wie ein Windhund«, juxten die Seeleute.

»Der sein ganzes Leben Dampf abgibt.«

Der Nebel hatte sich fast verzogen und ließ einen weißen Himmel erkennen, auf dem die Sonne einen etwas helleren weißen Fleck bildete. Auf Nirgal lastete wieder das Gewicht der Erde. Er atmete ein paarmal tief, um seinen Körper wieder in den Arbeitsrhythmus zu bringen. Sein Magen war kodderig, und seine Lungen schmerzten ein wenig, wenn er voll eingeatmet hatte. Die Dinge schaukelten etwas mehr, als das Schwappen des Ozeans es verursachte. Der Himmel wurde zinkfarben, und der Sonnenquadrant ein scharfer blendender Glanz. Nirgal blieb sitzen und atmete schnell und flach.

»Hat es Ihnen gefallen?«

»Ja!« sagte er. »Ich wünschte, ich hätte überall so ein gutes Gefühl.«

Sie lachten über diesen Gedanken. »Hier, nehmen Sie einen Becher!«


Vielleicht war es ein Fehler gewesen, unter Wasser zu gehen. Danach fühlte sich das Ge nie wieder richtig an. Das Atmen fiel ihm schwer. Die Luft unten im Lagerhaus war so feucht, daß er den Eindruck hatte, er könnte die Faust ballen und Wasser aus der Hand trinken. Kehle und Lungen taten weh. Er trank eine Tasse Tee nach der andern, konnte aber seinem Durst nichts anhaben. Die glänzenden Wände tropften, und nichts von dem, was die Leute sagten, war zu verstehen. Es war alles ay und eh und lor und da — nichts, was dem Marsenglisch auch nur ähnlich war. Eine andere Sprache. Jetzt redeten sie alle verschiedene Sprachen. Die Stücke Shakespeares hatten ihn darauf nicht vorbereitet.

Er schlief wieder in dem kleinen Bett aus Blys Boot. Am nächsten Tag gab die Eskorte ihre Zustimmung, und sie fuhren positiv gestimmt von Sheerness nach Norden, über die Themsemündung, in einem rötlichen Nebel, der noch dicker war als am Tag zuvor.

Draußen im Mündungsgebiet war nichts zu sehen außer Nebel und Meer. Nirgal war schon früher auf Wolkenniveau gewesen, besonders auf dem Westhang von Tharsis, wo die Wetterfronten aufstiegen; aber natürlich nie auf dem Wasser. Außerdem trieben die Wolken auf Tharsis jedesmal, ehe die Temperaturen deutlich unter den Gefrierpunkt sanken, eine Art fliegenden Schnee, sehr weiß, trocken und fein, über das Land und bedeckten es mit weißem Staub. Ganz anders als diese flüssige Welt, wo kaum ein Unterschied bestand zwischen dem kabbligen Wasser und dem darüber flatternden Nebel, dem flüssigen und dem gasförmigen Zustand, die ständig wechselten. Das Boot schaukelte in einem heftigen, unregelmäßigen Rhythmus. Dunkle Objekte erschienen an den Rändern des Nebels, aber Bly beachtete sie nicht, sondern hielt ein scharfes Auge nach vorn gerichtet, durch ein Fenster, das fast bis zur Undurchsichtigkeit mit Wassertropfen bedeckt war. Außerdem beobachtete er eine Reihe von Bildschirmen unter dem Fenster.

Plötzlich stellte Bly den Motor ab, und das Schaukeln des Bootes wurde zu einem üblen Rollen von einer Seite zur anderen. Nirgal blickte von der Seite der Kabine durch das nasse Fenster und versuchte zu sehen, was Bly zum Halten veranlaßt hatte. Bly fuhr ganz langsam weiter und bemerkte: »Da ist ein großes Schiff nach Southend unterwegs.«

»Wo denn?«

»Backbordseite.« Er zeigte auf einen Schirm und dann nach links. Nirgal sah nichts.

Bly brachte sie zu einem großen langen Pier, an dem beiderseits viele Boote festgemacht waren. Der Pier verlief nach Norden durch den Nebel auf die Stadt Southend-on-Sea zu, die auftauchte und in dem Nebel verschwand, der einen hausbedeckten Abhang mit Schleiern belegte.

Einige Männer begrüßten Bly: »Ein hübscher Tag, he?«, »prächtig« und begannen, Kisten auszuladen.

Bly erkundigte sich nach der Asiatin aus Vlissingen, aber die Männer schüttelten den Kopf. »Die Jap? Sie ist nicht hier, Kumpel.«

»In Sheerness sagen sie, daß sie und ihre Gruppe nach Southend gegangen seien.«

»Warum sollten sie das sagen?«

»Weil sie glauben, daß das so ist.«

»Das bekommst du von den Leuten zu hören, die unter Wasser wohnen.«

»Die Paki-Großmutter?« sagten sie an der Dieselpumpe auf der anderen Seite des Piers. »Die ist vor einiger Zeit nach Shoeburyness gegangen.«

Bly sah Nirgal an. »Das ist nur ein paar Meilen östlich. Wenn sie dort wäre, würden die Männer das wissen.«

»Laßt es uns versuchen«, schlug Nirgal vor.

Also verließen sie, nachdem sie aufgetankt hatten, den Anlegeplatz und tuckerten durch den Nebel nach Osten. Ab und zu kam links die mit Gebäuden besetzte Bergflanke in Sicht. Sie kurvten um einen Punkt und wandten sich nach Norden. Bly brachte sie zu einem anderen Schwimmdock, an dem viel weniger Boote als am Pier von Southend festgemacht hatten.

»Die chinesische Bande?« rief ein zahnloser alter Mann. »Die sind nach Pig’s Bay gegangen. Haben uns ein Treibhaus gebracht. Ist so ne Art Kirche für uns.«

»Pig’s Bay ist gerade der nächste Pier«, sagte Bly und steuerte sie nachdenklich vom Dock weg.

Also fuhren sie nach Norden. Die Küste war hier völlig mit überschwemmten Gebäuden besetzt, die jetzt ein korallenartiges Riff bildeten. So nahe hatten sie am Meer gebaut! Offenbar hatte es hier keinen Grund gegeben, eine Niveauänderung des Meeresspiegels zu befürchten. Und dann war es doch geschehen, und jetzt gab es diese eigenartige amphibische Zone, eine Zivilisation zwischen den Gezeiten, feucht und im Nebel schaukelnd.

Vor den Fenstern erschien eine Häusergruppe. Die Gebäude waren mit dem klaren Blasenmaterial gefüllt, ausgepumpt und belegt worden. Die oberen Stockwerke lagen eben oberhalb der gischtigen Wellen und die unteren gerade darunter. Bly steuerte das Boot in eine Gruppe miteinander verbundener Schwimmdocks und begrüßte eine Schar Frauen in Kitteln und gelben Regenmänteln, die ein großes schwarzes Netz flickten. Er stellte den Motor ab und fragte: »Ist die Lady aus Asien bei euch zu Besuch gewesen?«

»O ja. Sie ist da drin. In dem Gebäude am anderen Ende.«

Nirgal fühlte seinen Puls rasen. Er verlor das Gleichgewicht und mußte sich am Geländer festhalten. Über die Seite und auf das Dock. Hin zum letzten Gebäude, das jetzt ziemlich brüchig war und durch alle Risse schimmerte. Innen war Luft. Gefüllt von einer Blase. Grüne Pflanzen, die undeutlich durch schwappendes graues Wasser zu sehen waren. Nirgal hatte eine Hand auf Blys Schulter. Der kleine rote Mann brachte ihn zu einer Tür und dann eine enge Treppe hinunter in einen Raum, dessen eine ganze Wand zur See hin gerichtet war, wie ein schmutziges Aquarium.

Eine sehr kleine Frau in einem rostfarbenen Pullover kam durch die gegenüber liegende Tür. Weißhaarig, schwarzäugig, flink und präzise; wie ein Vogel. Nicht Hiroko. Sie starrte die Männer an.

Bly fragte nach einem Blick zu Nirgal: »Sind Sie es, die aus Vlissingen gekommen ist? Die diese Unterseedinger gebaut hat?«

»Ja«, sagte die Frau. »Kann ich Ihnen helfen?« Sie hatte eine hohe Stimme mit britischem Akzent und sah Nirgal ausdruckslos an. Es waren weitere Leute im Raum, und noch mehr kamen hinzu. Sie sah aus wie das Gesicht, das er in Medusa Vallis an der Klippe erblickt hatte. Vielleicht gab es eine andere Hiroko, die über die zwei Planeten zog und Bauten errichtete...

Nirgal schüttelte den Kopf. Die Luft war wie in einem verdorbenen Treibhaus. Das Licht so schwach. Er kam kaum die Treppe herauf. Bly hatte sich für sie verabschiedet. Zurück in den hellen Nebel. Zurück auf das Boot. Irrwische jagen. Eine Hinterlist, um ihn aus Bern zu verscheuchen. Oder ein echter Irrtum. Vielleicht auch nur ein Metzgergang.

In der Kabine des Bootes sagte Bly zu ihm, er solle sich hinsetzen. »Ah, gut.« Sie rollten und stampften durch den Nebel, der zur Wasseroberfläche hin immer dichter wurde. Ein trüber Tag auf dem Wasser. Sie platschten durch den Phasenwechsel, wo Wasser und Nebel ineinander übergingen, und waren dazwischen eingeschlossen. Nirgal wurde etwas schläfrig. Ohne Zweifel war Hiroko wieder auf dem Mars. Arbeitete dort in ihrer gewohnten Heimlichkeit. Es war absurd gewesen, etwas anderes zu denken. Wenn er zurückkehrte, würde er sie finden. Ja, das war ein Ziel, eine Aufgabe, die er sich stellte. Er würde sie finden und veranlassen, daß sie wieder an die Öffentlichkeit trat. Sich vergewissern, daß sie noch lebte. Das war der einzige Weg sicher zu sein und die schreckliche Last von seinem Herzen zu nehmen. Ja, er würde sie finden.

Als sie dann über das unruhige Wasser fuhren, lichtete sich der Nebel. Tiefe graue Wolken zogen rasch über ihre Köpfe und ließen Regenwirbel in die Wellen fallen. Es trat jetzt Ebbe ein; und als sie die große Mündung überquerten, wurde die Strömung der Themse voll losgelassen. Die graubraune Oberfläche des Wassers war aufgewühlt wie Brei, die Wellen kamen aus allen Richtungen zugleich, eine wilde schäumende Fläche aus dunklem, strudelndem Wasser, das rasch nach Osten getrieben wurde, hinaus in die Nordsee. Und dann schlug der Wind um und strömte über die Gezeiten; und alle Wellen brausten plötzlich auf See hinaus. Zwischen den langen Schaumfladen schwammen alle möglichen Gegenstände: Kisten, Möbel, Dächer, ganze Häuser, umgekippte Boote, Holzstücke. Späteres Treib- und Strandgut. Blys Mannschaft stand auf Deck. Die Männer lehnten sich mit Enterhaken und Feldstechern über die Reling und riefen nach hinten, damit er Dingen ausweichen oder versuchen sollte, sich ihnen zu nähern. Sie waren in die Arbeit vertieft. Nirgal fragte Bly: »Was ist das für Zeug?«

»Das ist London«, erklärte Bly. »Es ist das verdammte London, das ins Meer gespült wird.«

Die Unterseiten der Wolken rasten über ihre Köpfe gen Osten. Als er sich umschaute, sah Nirgal viele andere kleine Boote auf dem wilden Wasser der großen Flußmündung, die Treibgut bargen oder auch bloß fischten. Bly winkte einigen im Vorbeifahren zu und begrüßte andere mit der Sirene. Die Signaltöne wurden vom Wind über die grau gefleckte Mündung getragen, offenbar um Botschaften zu übermitteln, wie Blys Leute jedesmal bemerkten.

»He, was ist das jetzt?« rief Kev und zeigte stromaufwärts.

Aus einer die Themsemündung bedeckenden Nebelbank war ein Dreimaster in voller Takelage aufgetaucht, dessen viele Segel in der altertümlichen Art angeordnet waren, die Nirgal innig vertraut war, obwohl er sie noch nie gesehen hatte. Ein Chor von Hörnern begrüßte diese Erscheinung, wildes Getute, langgezogenes Schmettern — alles auf einmal und immer länger, wie eine Hundemeute, die bei Nacht aufgescheucht worden war und kläffte, was das Zeug hielt. Über ihnen explodierte der scharfe durchdringende Ton von Blys Sirene und stimmte in den Chor ein. Nirgal hatte noch nie einen so durchdringenden Ton vernommen. Er zerriß ihm die Ohren! Dickere Luft, dichterer Schall. Bly grinste. Seine Faust drückte auf den Knopf der Sirene. Die Männer der Crew standen dabei alle an der Reling, Nirgals Eskorte auch, und schrien lautlos gegen die plötzliche Vision an.

Endlich ließ Bly nach. »Was ist das?« brüllte Nirgal.

»Das ist die Cutty Sark!« sagte Bly, warf den Kopf zurück und lachte. »Die war in Greenwich angepflockt. In einem Park! Einige verrückte Kerle müssen sie frei gemacht haben. War eine brillante Idee. Sie müssen das Schiff um die Flutsperre geschleppt haben. Sehen Sie sich ihre Segel an!«

Der alte Klipper hatte vier oder fünf Segel, die an jedem der drei Masten aufgespannt waren, und auch noch ein paar dreieckige zwischen den Masten und bis zum Bugspriet. Das Schiff segelte mitten im Ebbestrom und hatte starken Rückenwind, so daß es durch Schaum und Treibgut schnitt und Wasser von seinem scharfen Bug wegspritzte in einer raschen Folge weißer Wellen. In den Wanten standen Männer, wie Nirgal sah. Die meisten von ihnen lehnten sich über die Rahen und winkten mit einem Arm der verwilderten Flottille von Motorbooten zu, als sie hindurchfuhren. Von den Mastspitzen flatterten Wimpel; Nirgal sah eine große blaue Flagge mit roten Kreuzen, als sie Seite an Seite mit Blys Boot waren. Bly drückte immer wieder auf den Knopf der Sirene, und die Männer grölten. Ein Matrose am Ende des Hauptsegels der Cutty Sark lehnte sich mit der Brust gegen den großen Zylinder aus poliertem Holz und winkte ihnen mit beiden Händen zu. Dann verlor er das Gleichgewicht. Sie alle sahen es wie in Zeitlupe geschehen. Der Matrose fiel, den Mund zu einem runden kleinen O geformt, rückwärts in das Weißwasser, das von der Schiffsflanke wegschäumte. Die Männer auf Blys Boot schrien alle zugleich: »NEIN!« Bly fluchte laut und drosselte den Motor, der nach dem Verstummen der Sirene plötzlich laut zu hören war. Das Heck des Bootes tauchte tief ins Wasser, und dann bewegten sie sich brummend auf den über Bord gegangenen Mann zu, der nur noch ein schwarzer Punkt unter anderem Treibgut war und krampfhaft mit einem erhobenen Arm winkte.

Überall waren Boote, die hupten und ihre Sirenen ertönen ließen. Aber die Cutty Sark wurde keineswegs langsamer. Sie segelte mit voller Geschwindigkeit davon. Die Segel waren voll gebläht, von hinten ein schöner Anblick. Als sie dann den heruntergefallenen Matrosen erreichten, lag der Stern des Klippers tief nach Osten im Wasser, und die Masten bildeten eine Gruppe aus weißen Segeln und schwarzer Takelage, bis er plötzlich in einer Nebelbank verschwand.

»Was für ein prächtiger Anblick!« sagte einer der Männer immer wieder. »Was für ein prächtiger Anblick!«

»Ja, ja, prächtig! Hier, fischt diesen armen Kerl auf!«

Bly stellte den Motor auf Rückwärtsgang und dann auf Leerlauf. Sie warfen eine Leiter über die Seite und beugten sich vor, um dem nassen Matrosen die Stufen herauf zu helfen. Endlich schaffte er es über die Bordwand, stand in seinen durchweichten Sachen gebeugt da und hielt sich zitternd an der Reling fest. »Oh, danke!« sagte er zwischen Gewürge über die Bordwand. Kev und die anderen Mitglieder der Crew zogen ihm seine nassen Sachen aus und wickelten ihn in dicke schmuddelige Decken.

Bly rief vom Ruderhaus herunter: »Du bist ein Idiot! Da wolltest du gerade auf der Cutty Sark um die Welt segeln, und nun bist du auf der Bride of Faversham. Du bist ein dämlicher verfluchter Idiot!«

»Ich weiß«, rief der Mann keuchend zwischen Anfällen von Übelkeit.

Die Männer warfen ihm Jacken über den Rücken und lachten. »Verrückter Hund, uns so zuzuwinken!« Den ganzen Weg zurück nach Sheerness redeten sie über seine Ungeschicklichkeit, während sie den Schiffbrüchigen trockneten und im Windschatten des Ruderhauses in Reservekleider hüllten, die für ihn viel zu klein waren. Er lachte mit ihnen, verfluchte sein Pech, schilderte den Fall und wiederholte, wie er den Halt verloren hatte. Dann wieder in Sheerness brachten sie ihn in das Lagerhaus unter Wasser, gaben ihm warmen Eintopf zu essen und eine Pint bitteren Bieres nach der andern, während sie den Leuten drinnen und jedem, der die Leiter herunterkam, berichteten, wie er sich blamiert hatte. »Schaut her, dieser blöde Hund ist heute nachmittag von der Cutty Sark heruntergefallen, der ungeschickte Kerl, als sie unter vollen Segeln mit der auslaufenden Flut nach Tahiti fuhr!«

»Nach Pitcairn«, berichtigte Bly.

Der Matrose selbst, völlig besoffen, erzählte seine Geschichte ebenso oft wie seine Retter. »Ich habe bloß für eine Sekunde die Hände weggenommen. Da gab es einen kleinen Ruck, und ich flog dahin. Flog einfach runter. Dachte, das würde nichts machen, dachte ich. Habe die Hände die ganze Zeit über die Themse hochgehalten. Oh — entschuldigt mich, ich muß kotzen!«

»O Gott, sie bot wirklich einen prächtigen Anblick. Natürlich mehr Segel als nötig. Es war bloß, um würdig herauszukommen. Aber Gott segne sie dafür. So ein Anblick!«

Nirgal fühlte sich benommen und matt. Der ganze große Raum war zu einem schimmernden Dunkel geworden, abgesehen von den wenigen Stellen, an denen es von Streifen hellen Lichts durchbrochen wurde. Alles war ein Helldunkel aus durcheinander gebrachten Objekten, Breughel in Schwarzweiß, und so laut. »Ich erinnere mich an die Springflut von Dreizehn, als die Nordsee in mein Wohnzimmer kam.« — »Oh, nicht schon wieder die Flut von Dreizehn. Das wird nicht wieder passieren«, sagte ein anderer.

Er ging in einen abgeteilten Raum in einer Ecke, die Herrentoilette. Er dachte, er würde sich besser fühlen, wenn er sich erleichterte. Drinnen kniete der gerettete Matrose auf dem Boden der Kabine und übergab sich heftig. Nirgal zog sich zurück und setzte sich auf die nächste Bank, um abzuwarten. Eine junge Frau kam an ihm vorbei und berührte seine Stirn. »Sie sind heiß!«

Nirgal hielt eine Hand an die Stirn und versuchte darüber nachzudenken. Er schätzte: »39 °C, Mist!«

»Sie haben Fieber«, sagte sie.

Ein Leibwächter nahm neben ihm Platz. Nirgal erzählte ihm von seiner Temperatur, und der Mann sagte: »Wollen Sie ihr Armband nachsehen?«

Nirgal nickte und veranlaßte eine Ausgabe. 309 K. »Mist!«

»Wie fühlen Sie sich?«

»Heiß. Schwer.«

»Wir sollten lieber jemanden holen.«

Nirgal schüttelte den Kopf, aber eine Welle von Schwindel überfiel ihn dabei. Er sah, wie die Leibwächter nach Bly riefen. Bly kam herbei, und sie stellten ihm Fragen.

»Bei Nacht?« fragte Bly. Weitere ruhige Gespräche. Bly zuckte die Achseln. Das bedeutete: Keine gute Idee, aber machbar. Die Leibwächter machten weiter, und Bly trank seine letzte Pint aus, stellte das Glas hin und stand auf. Sein Kopf war immer noch auf der gleichen Höhe wie der Nirgals, obwohl dieser heruntergerutscht war, um den Rücken gegen den Tisch zu stützen. Eine andere Spezies, eine hockende kräftige Amphibie. Hatte er das vor der Flut gewußt? Wußten sie es jetzt?

Die Leute verabschiedeten sich und drückten ihm die Hand. Das Erklimmen der Leiter zum Kommandoturm war eine mühsame Arbeit. Dann waren sie draußen in der kühlen, feuchten Nacht. Der Nebel verhüllte alles. Ohne ein Wort führte Bly sie auf sein Boot und blieb still, als er die Motoren anließ und das Boot losmachte. Sie tuckerten über eine leichte Woge. Zum ersten Mal machte das Schaukeln über die Wellen Nirgal richtig seekrank. Schwindel war schlimmer als Schmerz. Er setzte sich neben Bly auf einen Schemel und betrachtete den grauen Kegel erhellten Wassers und Nebels vor ihrem Bug. Wenn dunkle Objekte aus dem Nebel auftauchten, wurde Bly langsamer und stellte den Motor sogar auf Rückwärtsgang. Einmal pfiff er. Das ging lange so weiter. Als sie dann in den Straßen von Faversham andockten, war Nirgal so schlecht, daß er nicht richtig Lebewohl sagen konnte. Er konnte nur Blys Hand ergreifen und kurz dem Mann in seine blauen Augen schauen. Solche Gesichter. Man konnte die Seelen der Menschen direkt in ihren Gesichtern erkennen. Hatten sie das vorher gewußt? Dann war Bly fort, und sie saßen in einem Wagen, der durch die Nacht brummte. Nirgals Gewicht nahm wieder zu, wie es während des Abstiegs im Aufzug gewesen war. Dann in ein Flugzeug, im Dunkeln aufsteigend und irgendwann später herunterkommend. Seine Ohren knackten schmerzhaft. Übelkeit. Er war wieder in Bern, und Sax war an seiner Seite, ein großer Trost.

Er lag in einem Bett, ihm war sehr heiß und sein Atem ging feucht und schmerzhaft. Aus dem Fenster konnte er die Alpen sehen. Das weiße Aufbrechen von Grün, als ob der Tod selbst sich aus dem Leben bewegte und durchbräche, um ihn daran zu erinnern, daß Viriditas ein grüner Zünder wäre, der eines Tages wieder in das Weiß einer Nova explodieren würde, um zu der gleichen Kombination von Elementen zurückzukehren, die vorhanden gewesen war, ehe der Wirbelsturm sie erfaßt hatte. Das Weiß und das Grün. Es war, als ob die Jungfrau ihm die Kehle heraufrutschte. Er wollte schlafen und dieses Gefühl loswerden.

Sax saß an seiner Seite und hielt seine Hand. »Ich glaube, er braucht die Schwerkraft des Mars«, sagte er zu jemandem, der nicht im Raum zu sein schien. »Es könnte eine Form von Höhenkrankheit sein. Oder eine ansteckende Krankheit. Oder Allergien. Eine Reaktion des Organismus. Irgendein Ödem. Wir wollen ihn sofort in ein Flugzeug vom Boden zum Weltraum und da oben in einen G-Ring mit der Schwerkraft des Mars bringen. Wenn ich mich nicht irre, wird das helfen, und falls nicht, schlimmer kann es wohl nicht werden.«

Nirgal versuchte zu sprechen, bekam aber keine Luft. Diese Welt hatte ihn angesteckt, erdrückt, in Dampf und Bakterien gesotten. Ein Schlag in die Rippen. Er war gegen die Erde allergisch. Er drückte Sax die Hand und holte tief Luft, als ob ihm ein Dolch ins Herz dränge. »Ja«, keuchte er und sah Sax blinzeln. »Ja, nach Hause.«

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