DRITTER TEIL Eine neue Verfassung

Ameisen kamen als Teil des Humusprojekts auf den Mars und waren, wie es so ihre Art ist, bald überall zu finden. Als die kleinen roten Leute auf Ameisen trafen, waren sie erstaunt. Diese Kreaturen hatten genau die richtige Größe zum Reiten. Es war wie damals, als die Eingeborenen Amerikas das Pferd kennengelernt hatten. Egal, wie sicher man sich auch war, die Dinge unter Kontrolle zu haben, wirksam und nachhaltig gezähmt zu haben, sie machten sich selbständig und zwar wild und unvermutet.

Das Domestizieren der Ameisen war keine leichte Aufgabe. Die kleinen roten Wissenschaftler hatten nicht einmal geglaubt, daß solche Kreaturen möglich wären, wegen der Einschränkungen durch das Verhältnis von Fläche zu Volumen. Aber es gab sie, und sie trampelten herum wie intelligente Roboter. Darum mußten die kleinen roten Wissenschaftler sie erklären. Auf der Suche nach Hilfe stiegen sie in die Nachschlagewerke der Menschen und sahen unter ›Ameisen‹ nach. Sie erfuhren von den Pheromonen der Ameisen und synthetisierten diejenigen, die sie brauchten, um die Soldatenameisen zu kontrollieren und eine besonders kleine gelehrige Spezies zu züchten. Danach waren sie im Geschäft. Kleine rote Kavallerie. Sie stießen auf Ameisenrücken überall vor und hatten eine feine Zeit — zwanzig oder dreißig von ihnen auf jeder Ameise, wie Paschas auf Elefanten. Wenn man genügend Ameisen genau ansieht, kann man sie dort sitzen sehen.

Die kleinen roten Wissenschaftler lasen weiterhin die Lehrbücher und erfuhren von menschlichen Pheromonen. Sie kehrten erschrocken zum Rest des kleinen roten Volkes zurück. Sie berichteten: Jetzt wissen wir, warum diese menschlichen Wesen so lästig sind. Sie haben nicht mehr Willen als diese Ameisen, auf denen wir umherreiten. Sie sind einfach nur gigantische Fleischameisen.

Das kleine rote Volk versuchte, diese Travestie des Lebens zu verstehen.

Nein, das sind sie nicht, sagte plötzlich eine Stimme — zu allen auf einmal. Die kleinen roten Leute verständigen sich untereinander telepathisch, mußt du wissen; und dies war wie eine telepathische Lautsprecheransage. Menschen sind spirituelle Wesen, behauptete diese Stimme.

Woher weißt du das? fragte das kleine rote Volk telepathisch. Wer bist du? Der Geist von John Boone?

Ich bin der Gyatso Kimpocht, antwortete die Stimme. Die achtzehnte Reinkarnation des Dalai Lama. Ich reise durch den Bardo auf der Suche nach meiner neuen Reinkarnation. Ich habe mich überall auf der Erde umgesehen, hatte aber kein Glück und habe beschlossen, anderswo zu suchen. Tibet ist immer noch in der Gewalt der Chinesen, und es gibt keine Anzeichen, daß sie vorhätten, nachzugeben. Die Chinesen sind, obwohl ich sie sehr liebe, harte Schurken. Die anderen Regierungen der Erde haben Tibet schon lange den Rücken zugekehrt. Niemand will die Chinesen herausfordern. Es muß aber etwas geschehen. Deshalb bin ich zum Mars gekommen.

Eine gute Idee, erklärte das kleine rote Volk.

Allerdings, gab der Dalai Lama zu, muß ich einräumen, daß es mir schwer fällt, einen neuen Körper zum Bewohnen zu finden. Es gibt überall nur sehr wenige Kinder. Außerdem scheint niemand interessiert zu sein. Ich habe mich in Sheffield umgesehen; aber jeder war zu beschäftigt, um zu sprechen. Ich ging nach Sabishii; aber dort hatten alle den Kopf in den Sand gesteckt. Ich ging nach Elysium; aber jeder hatte die Lotoshaltung eingenommen und wollte nicht gestört werden. Ich ging nach Christianopolis; aber dort hatten alle andere Pläne. Ich ging nach Hiranyagarbha; aber dort sagten alle, sie hätten schon genug getan für Tibet. Ich bin auf dem Mars überallhin gegangen in jede Kuppel und jede Station; und überall waren die Leute einfach zu beschäftigt. Niemand will der neunzehnte Dalai Lama sein. Und der Bardo wird immer kälter und kälter.

Welch ein Glück! sagte das kleine rote Volk. Wir haben gesucht, seit John gestorben ist und haben niemanden gefunden, mit dem es sich gelohnt hätte zu sprechen, geschweige denn in ihm zu leben. Diese großen Leute sind alle durcheinander.

Der Dalai Lama war von dieser Antwort enttäuscht. Er war bereits sehr müde und konnte nicht noch länger im Bardo verweilen. Darum sagte er: Wie wäre es mit einem von euch?

Ja, sicher, sagte das kleine rote Volk. Es wäre uns eine Ehre. Aber es müßten wir alle zugleich sein. So etwas machen wir immer gemeinsam.

Warum nicht? Der Dalai Lama transmigrierte in einen der kleinen roten Flecken und war im gleichen Augenblick in ihnen allen anwesend, auf dem ganzen Mars. Das kleine rote Volk schaute auf, als die Menschen über ihnen herumtobten — ein Anblick, den sie zuvor für eine Art von schlechtem Breitwandfilm zu halten pflegten. Jetzt aber waren sie voll von allem Mitgefühl und aller Weisheit der vorangegangenen Leben des Dalai Lama. Sie sagten zueinander: Ka woiv, diese Leute sind wirklich durcheinander. Wir hielten das schon früher für schlimm; aber wenn man sich das so ansieht, ist es noch schlimmer, als wir dachten. Sie haben Glück, daß sie nicht gegenseitig ihre Gedanken lesen können. Sonst würden sie einander töten. Das muß aber der Grund sein, aus dem sie sich gegenseitig umbringen. Sie wissen, was sie selbst denken, und verdächtigen darum alle anderen. Wie häßlich! Wie traurig!

Sie brauchen eure Hilfe, sagte der Dalai Lama in ihnen allen. Vielleicht könnt ihr etwas für sie tun.

Vielleicht, sagte das kleine rote Volk. Um die Wahrheit zu sagen, waren sie im Zweifel, was die Durchführbarkeit anbelangte. Sie hatten schon versucht, den Menschen zu helfen, bereits bei Johns Tod. Sie hatten ganze Städte gegründet in den Verandas jedes Winkels auf dem Planeten und redeten seitdem ständig, um Leute aufzuwecken und zu anständigem Handeln zu bringen. Sie hatten dabei aber keinen Erfolg gehabt, außer daß viele Menschen zu Hals-, Nasen-, Ohrenärzten gingen, weil sie die vielen kleinen Stimmen für Ohrensausen hielten; aber keiner von ihnen verstand jemals das kleine rote Volk. Das genügte, um alle zu entmutigen.

Aber jetzt hatte das kleine rote Volk den mitfühlenden Geist des Dalai Lama, der in es einströmte. Darum beschlossen sie, es noch einmal zu versuchen. Vielleicht wird es mehr erfordern, als bloß in ihre Ohren zu flüstern, erklärte der Dalai Lama, und sie stimmten alle zu. Wir müssen ihre Aufmerksamkeit auf andere Weise gewinnen.

Habt ihr es schon mit eurer Telepathie bei ihnen versucht? fragte der Dalai Lama.

O nein, sagten sie. Da gibt es keine Möglichkeit. Zu schrecklich. Die Häßlichkeit ihrer Gedanken könnte uns auf der Stelle töten. Oder uns zumindest sehr krank machen.

Vielleicht nicht, sagte der Dalai Lama. Vielleicht ist alles in Ordnung, wenn ihr euren Empfang von dem, was sie denken, abblockt und ihnen nur eure eigenen Gedanken zustrahlt. Schickt einfach viele gute Gedanken wie einen Strahl des Rates, des Mitgefühls, der Liebe, der Freundlichkeit, der Weisheit, vielleicht sogar etwas gesunden Menschenverstand!

Wir werden es versuchen, sagte das kleine rote Volk. Aber wir werden alle mit der vollen Kraft unserer telepathischen Stimmen rufen müssen, alle im Chor, weil diese Leute einfach nicht hinhören. Der Dalai Lama sagte: Damit bin ich jetzt schon seit neun Jahrhunderten konfrontiert. Man gewöhnt sich daran. Und ihr Kleinen habt den Vorteil, in der Überzahl zu sein. Also gebt euer bestes1.

So schaute nun das ganze kleine rote Volk auf dem ganzen Mars auf und machte sich für die neue Aufgabe bereit.


Art Randolph hatte die beste Zeit seines Lebens.

Natürlich nicht während der Schlacht von Sheffield. Die war eine Katastrophe gewesen, ein Zusammenbruch für die Diplomatie,, das Mißlingen von allem, das Art versucht hatte. Wirklich ein paar jämmerliche Tage, während derer er schlaflos umhergerannt war, um mit allerhand Leuten zusammenzukommen, von denen er sich Hilfe erwartete, um die Krise zu entschärfen, und immer mit dem Gefühl, daß es irgendwie sein Fehler wäre, daß es gar nicht so weit gekommen wäre, wenn er richtig gehandelt hätte. Der Kampf ging soweit, daß der Mars beinahe in Brand gesetzt worden wäre wie 2061. Während ein paar Stunden am Nachmittag des roten Angriffs hatte es geschwankt.

Es hatte sich aber wieder eingependelt. Irgend etwas — Diplomatie oder die Realitäten der Schlacht (ein defensiver Sieg für die Leute auf dem Kabel), gesunder Menschenverstand, reiner Zufall — irgend etwas hatte die Dinge wieder ins Lot gebracht.

Und als dieses alptraumhafte Intermezzo vorbei war, waren die Leute nachdenklich wieder nach Ost- Pavonis zurückgekehrt. Die Konsequenzen des Mißerfolgs waren deutlich geworden. Sie mußten sich auf einen Plan verständigen.

Viele der radikalen Roten waren tot oder ins Hinterland entflohen; und die gemäßigten Roten, die in Ost- Pavonis geblieben waren, waren ärgerlich, aber wenigstens da. Es war eine sehr unbehagliche und unsichere Zeit. Aber es gab sie noch.

So begann Art wieder, sich um die Idee eines konstitutionellen Kongresses zu bemühen. Er lief unter der großen Kuppel umher, durch das Gewirr von Lagerhäusern, Speicherzonen und Wohnanlagen aus Beton, weite breite Straßen hinunter, in denen schwere Fahrzeuge lagen, die reif fürs Museums waren. Und überall drängte er auf dasselbe: eine Verfassung. Er sprach mit Nadia, Nirgal, Jackie, Zeyk, Maya, Peter, Ariadne, Rashid, Tariki, Nanao, Sung und H. X. Borazjani. Er redete mit Vlad, Ursula, Marina und dem Cojoten, sowie einigen Dutzenden junger Eingeborener, denen er noch nie begegnet war, alle wichtige Mitspieler bei den jüngsten Unruhen. Es gab so viele davon, daß es ihm vorkam wie eine Bilderbuchdemonstration der vielköpfigen Natur sozialer Massenbewegungen. Und jedem Kopf dieser neuen Hydra trug Art das gleiche Anliegen vor: »Eine Verfassung würde uns vor der Erde legitimieren und einen Rahmen für Diskussionen unter uns selbst liefern. Und wir sind hier alle beisammen. Wir könnten sofort anfangen. Manche Leute haben bereits Pläne, die man sich ansehen sollte.« Und mit den Ereignissen der letzten Woche in frischer Erinnerung pflegten die Leute zu nicken und sagten: »Vielleicht so«, und gingen nachdenklich fort.

Art rief William Fort an und sagte ihm, womit er sich beschäftigte. Eine Antwort traf noch am selben Tag ein. Der alte Mann befand sich in einer neuen Flüchtlingsstadt in Costa Rica und sah genauso zerstreut aus wie immer. Er sagte: »Klingt gut.« Allmählich wandten sich die Leute von Praxis an Art, um ihre Hilfe bei der Organisation und Durchführung der anstehenden Dinge anzubieten. Art wurde emsiger, als er es je gewesen war. Nema-washi war der Name, den die Japaner dafür hatten, die Vorbereitungen für ein Ereignis zu treffen. Es fing an mit Strategiesitzungen, um eine Gruppe zu organisieren, mit erneuten Besuchen bei jedem, mit dem man zuvor verhandelt hatte, und dem Versuch, praktisch mit jedem einzelnen auf Pavonis Mons zu sprechen. »Die John Boone-Methode«, kommentierte Cojote mit seinem krächzenden Lachen. »Viel Glück!«

Sax packte seine wenigen Sachen für die diplomatische Mission zur Erde und sagte: »Ihr solltet die Vereinten Nationen einladen.«

Sax hatte sein Abenteuer im Sturm etwas mitgenommen. Er neigte dazu, Dinge anzustarren, als sei er durch einen Schlag auf den Kopf betäubt. Art sagte sanft: »Sax, wir haben gerade viel Mühe gehabt, ihre Hintern von diesem Planeten runterzuwuchten.«

»Ja«, sagte Sax. »Aber gerade das gibt uns doch die Möglichkeit, sie zu kooptieren.«

»Die UN kooptieren.« Art dachte darüber nach. Das hatte einen gewissen Klang. Es wäre — diplomatisch gesprochen — eine Herausforderung.


Kurz bevor die Gesandten zur Erde abreisten, erschien Nirgal in den Praxisbüros, um sich zu verabschieden. Als er seinen jungen Freund umarmte, wurde Art von einer plötzlichen irrationalen Angst ergriffen. Weg zur Erde!

Nirgal war so munter wie eh und je. Seine dunklen braunen Augen funkelten vor Erwartung. Nachdem er den anderen im Büro Lebewohl gesagt hatte, setzte er sich mit Art in einem leeren Eckzimmer des Lagerhauses zusammen.

Art fragte: »Bist du sicher, daß du das tun willst?«

»Sehr sicher. Ich möchte die Erde sehen.«

Art wedelte mit der Hand, unsicher, was er sagen sollte.

»Außerdem«, fügte Nirgal hinzu, »muß jemand dorthin reisen und den Leuten zeigen, wer wir sind.«

»Niemand ist dafür besser geeignet als du, mein Freund. Aber du mußt auf die Metanats achten. Wer weiß, was sie vorhaben. Und dich vor schlechtem Essen in acht nehmen. Diese von der Flut in Mitleidenschaft gezogenen Gebiete haben bestimmt sanitäre Probleme. Und Krankheitsträger. Und du mußt dich vor Sonnenstich hüten. Du wirst sehr anfällig sein.«

Jackie Boone kam herein. Art hielt mit seinen Ratschlägen für die Reise inne. Nirgal hörte sowieso nicht weiter zu, sondern sah Jackie mit einer plötzlich leeren Miene an, als ob er eine Nirgalmaske aufgesetzt hätte. Und natürlich konnte keine Maske Nirgal gerecht werden, weil die Beweglichkeit seines Gesichts sein wesentliches Merkmal war. Darum sah er sich überhaupt nicht ähnlich.

Jackie erkannte das natürlich sofort. Von ihrem alten Partner getrennt, sah sie ihn natürlich scharf an. Da war etwas schiefgegangen, wie Art merkte. Beide hatten Art vergessen, der sich aus dem Zimmer verdrückt hätte, wenn ihm das möglich gewesen wäre, weil er sich vorkam, als hielte er im Gewitter einen Blitzableiter. Aber Jackie stand immer noch in der Tür, und Art mochte sie in diesem Moment nicht stören.

»Also verläßt du uns«, sagte sie zu Nirgal.

»Es ist bloß ein Besuch.«

»Aber warum? Warum jetzt? Die Erde bedeutet uns nichts.«

»Dort sind wir hergekommen.«

»Das stimmt nicht. Wir sind von Zygote gekommen.«

Nirgal schüttelte den Kopf. »Die Erde ist unser Heimatplanet. Wir sind hier nur eine Außenstelle. Die Erde kann uns nicht egal sein.«

Jackie wedelte mißmutig oder verdutzt mit der Hand. »Du verläßt uns gerade dann, wenn du hier am meisten gebraucht wirst.«

»Sieh es als eine Gelegenheit!«

»Das werde ich«, platzte sie heraus. Er hatte sie ärgerlich gemacht. »Und sie wird dir nicht gefallen.«

»Aber du wirst endlich haben, was du willst.«

»Woher willst du wissen, was ich will?!«

Arts Nackenhaar hatte sich gesträubt. Der Blitzschlag stand kurz bevor. Er sagte sich, daß er von Natur ein Lauscher sei, praktisch fast ein Voyeur. Aber hier im Raum zu stehen, war nicht dasselbe; und er erkannte jetzt, daß es gewisse Dinge gab, deren Zeuge er nicht sein wollte. Er räusperte sich. Die anderen wurden durch dieses Geräusch aufgeschreckt. Mit einer Handbewegung schlüpfte er an Jackie vorbei und zur Tür hinaus. Hinter ihm erklangen die Stimmen weiter voller Wut und Qual.


Cojote schaute ernst durch die Frontscheibe, als er die Gesandten für die Erde zur Südseite des Aufzugs fuhr. Art saß neben ihm. Sie rollten langsam durch die zerstörte Umgebung, die im südwestlichen Teil von Sheffield an die Muffe grenzte, wo die Straßen so gebaut waren, daß sie die enormen Frachtcontainer fassen konnten; sie boten einen gigantischen und unmenschlichen Anblick. Sax erklärte Cojote noch einmal, daß der Ausflug zur Erde die Reisenden nicht vom konstitutionellen Kongreß entfernen würde, daß sie vielmehr über Video teilnehmen würden und es ihnen nicht so ergehen würde wie Thomas Jefferson in Paris, der alles verpaßt hatte. Sax versicherte: »Wir werden auf Pavonis sein — in jeder Hinsicht, auf die es ankommt.«

»Dann werden alle auf Pavonis sein«, erwiderte Cojote skeptisch. Ihm gefiel diese Reise von Sax, Maya, Michel und Nirgal zur Erde nicht. Er schien den konstitutionellen Kongreß an sich nicht zu mögen. Nichts gefiel ihm in diesen Tagen. Er war sprunghaft, unbequem und reizbar. Er knurrte: »Wir sind noch nicht aus dem Wald heraus. Merk dir meine Worte!«

Dann stand die Steckdosenmuffe vor ihnen. Das Kabel erhob sich schwarz und glänzend aus der riesigen Betonmasse wie eine Harpune, die durch die Mächte der Erde in den Mars geschossen worden war und ihn festhielt. Nachdem sie sich ausgewiesen hatten, fuhren die Reisenden direkt in den Komplex hinein, durch einen langen Gang in den enormen Raum in der Mitte, wo das Kabel zum Kragen der Muffe herunterführte und über einem Netzwerk von Pisten schwebte, die den Boden durchkreuzten. Das Kabel war in seinem Orbit so sorgfältig ausbalanciert, daß es den Mars überhaupt nicht berührte, sondern bloß mit seinem Ende von zehn Metern Durchmesser mitten im Raum schwebte, wobei der Kragen im Dach nichts weiter tat, als es zu stabilisieren. Im übrigen wurde seine Position von Raketen korrigiert, die am Kabel entlang installiert waren und — was noch wichtiger war — durch die Balance zwischen Zentrifugalkraft und Schwerkraft, die es in seinem asynchronen Orbit hielt.

Eine Reihe von Aufzugswaggons schwebte wie das Kabel selbst in der Luft, wenn auch aus einem anderen Grund, da sie elektromagnetisch aufgehängt waren. Einer von ihnen befand sich über einer zum Kabel führenden Piste und rastete in die Schiene ein, die in die westliche Seite des Kabels eingelassen war. Dann stieg er geräuschlos durch eine Ventiltür in den Kragen auf.

Die Reisenden und ihre Begleiter kletterten aus ihrem Wagen. Nirgal hatte sich zurückgezogen, schon ganz unterwegs; Maya und Michel waren aufgeregt; Sax blieb ruhig — wie immer. Nacheinander umarmten sie Art und Cojote, reckten sich zu Art empor und bückten sich zu Desmond hinunter. Einige Zeit redeten alle zugleich, starrten einander an und versuchten, den Augenblick zu verstehen. Es war bloß eine Reise, aber es fühlte sich nach mehr an. Dann gingen die vier Reisenden über den Betonboden und verschwanden in einer Landebrücke, die in den nächsten Aufzugswaggon hinaufführte.

Dann standen Cojote und Art da und sahen zu, wie der Waggon zum Kabel hinüberschwebte, durch die Ventiltür aufstieg und verschwand. Cojotes asymmetrisches Gesicht verzerrte sich zu einer höchst uncharakteristischen Miene von Besorgnis oder sogar Angst. Natürlich ging es um seinen Sohn und drei seiner engsten Freunde, die sich zu einem sehr gefährlichen Ort begaben. Nun ja, es war bloß die Erde, aber sie wirkte gefährlich; das mußte Art zugeben. »Es wird alles gut gehen«, versicherte Art und drückte dem kleinen Mann leicht die Schulter. »Ihr werdet da unten Stars sein. Es wird alles gut gehen.« Das war ohne Zweifel wahr. Tatsächlich fühlte er sich bei seinem Zureden wohler. Es war schließlich der Heimatplanet. Die Menschen waren für ihn gemacht. Es würde ihnen gut gehen. Aber dennoch…

In Ost-Pavonis hatte der Kongreß begonnen.

Das war ganz und gar Nadias Werk. Sie hatte einfach angefangen, in dem Hauptlagerhaus an Teilnahme-Einladungen zu arbeiten. Und es waren Leute zu ihr gestoßen, und es ging wie eine Lawine voran. Als die Meetings erst einmal liefen, mußte man teilnehmen oder riskieren, seine Stimme zu verlieren. Nadia zuckte die Achseln, wenn jemand sagte, daß sie noch nicht bereit wären, daß zuerst manch anderes geregelt werden müsse, daß sie mehr Information brauchten. Sie sagte ungeduldig: »Macht schon! Wir sind soweit. Wir können jetzt auch zur Sache kommen.«

So fand sich täglich eine fluktuierende Gruppe von ungefähr dreihundert Personen in dem Industriekomplex von Ost-Pavonis zusammen. Das Hauptlagerhaus, dazu bestimmt, Pistenteile und Bahnwaggons aufzunehmen, war sehr groß. Dutzende von Büros mit mobilen Wänden waren längs der Außenwände angeordnet. Sie ließen einen mittleren Raum frei, der für eine ungefähr kreisförmige Sammlung schlecht zusammenpassender Tische verfügbar war. »Ah!« sagte Art, als er das sah. »Der Tisch der Tische.«

Natürlich gab es Leute, die eine Liste der Delegierten haben wollten, um zu erfahren, wer abstimmen würde, wer sprechen könnte und so weiter. Nadia, die rasch die Rolle der Vorsitzenden annahm, schlug vor, die Delegation einer jeden Marsgruppe zu akzeptieren, die eine greifbare Existenz bis zum Konferenzbeginn zeigte. »Wir könnten durchaus alle aufnehmen.«

Die Verfassungswissenschaftler von Dorsa Brevia stimmten zu, daß der Kongreß durch Mitglieder von stimmberechtigten Delegationen geleitet werden und über das Endergebnis dann von der gesamten Bevölkerung abgestimmt werden sollte. Charlotte, die vor zwölf Jahren geholfen hatte, das Dokument von Dorsia Brevia abzufassen, hatte seither eine Gruppe geleitet, die, in Erwartung einer erfolgreichen Revolution, Pläne für eine Folgeregierung ausarbeitete. Sie waren nicht die einzigen, die so etwas vorbereitet hatten. Schulen in Süd-Fossa und an der Universität in Sabishii hatten hierüber Kurse abgehalten, und viele der jungen Eingeborenen in dem Lagerhaus kannten sich gut aus mit den Themen, die sie in Angriff nahmen. »Man gewinne eine Revolution, und schon sprießt ein Bündel Juristen aus dem Geäst«, bemerkte Art zu Nadia.

»Immer.«

Charlottes Gruppe hatte eine Liste potentieller Delegationsmitglieder für einen konstitutionellen Kongreß zusammengestellt, einschließlich aller Siedlungen auf dem Mars, deren Bevölkerung mehr als fünfhundert Einwohner zählte. Deshalb wollten etliche Leute zweimal vertreten sein, wie Nadia erklärte — einmal durch Wohnsitz und außerdem durch politische Zugehörigkeit. Die wenigen Gruppen, die nicht auf der Liste standen, beklagten sich bei einem neuen Komitee, das fast allen Antragstellern die Mitgliedschaft gestattete. Art rief Donald Hastings an und richtete eine Einladung an die UNTA, auch als Delegation hinzuzukommen. Der überraschte Hastings kam ein paar Tage später mit einer positiven Antwort zurück. Er würde selbst am Kabel herunterkommen.

Und so hatten sie nach ungefähr einer Woche des Jonglierens, während gleichzeitig viele andere Themen behandelt wurden, genug Zustimmung, um zu einer Abstimmung über die Liste der Delegierten aufzufordern. Und weil diese so umfassend gewesen war, ging sie fast einstimmig durch. Plötzlich hatten sie einen richtigen Kongreß. Er bestand aus den folgenden Delegationen, die jeweils zwischen einem und zehn Mitgliedern hatten:


Städte

Acheron Sheffield

Nicosia Senzeni Na

Cairo Echus Overlook

Odessa Dorsa Brevia

Harmakhis Vallis Dao Vallis

Sabishii Süd-Fossa

Christianopolis Rumi

Bodganov Vishniac Neu-Vanuvatu

Hiranyagarbha Prometheus

Mauss Hyde Gramsci

New Clarke Mareotis

Bradbury Point Burroughs Refugees Organisation

Sergei Korolyov Libya Station

Du-Marteray-Krater Tharsis Tholus

Süd-Station Overhangs

Reull Vallis Margariitifer Plinth

Süd-Caravanserai Great-Escarpment-Caravanserai

Nuova Bologna Da Vinci

Nirgal Vallis Elysian-Liga

Montepulciano Hell’s Gate


Politische Parteien und andere Organisationen

Boone-Anhänger

Rote

Bogdanovisten

Schnellingisten

Mars-Erst

Freier Mars

DieKa

Praxis

Qahiran-Mahjari-Liga

Grüner Mars

United Nations Transitional Authority (UNTA)

Redaktion von The Journal ofAreological Studies

Raumaufzugsbehörde

Christliche Demokraten

Das Metanationale Komitee für Koordination Wirtschaftlicher Aktivitäten

Neomarxisten von Bologna

Freunde der Erde Biotik

Trennung der Atmosphäre


Allgemeine Meetings begannen morgens am großen Tisch. Dann begab man sich in kleinen Arbeitsgruppen zu den Büros im Lagerhaus oder den benachbarten Gebäuden.

Jeden Morgen erschien Art in aller Frühe und braute große Töpfe mit Kaffee, Kava und Kavajava, seinem Lieblingsgetränk.

Das war vielleicht in Anbetracht der Bedeutung des Vorhabens kein großartiger Job; aber Art tat ihn gern. Er war jeden Tag überrascht zu sehen, daß sich überhaupt ein Kongreß zusammenfand; und wenn er seine Größe betrachtete, fühlte er, daß es wahrscheinlich sein wichtigster Beitrag gewesen war, geholfen zu haben, ihn überhaupt zustande zu bringen. Er war kein Gelehrter, und er hatte nur wenig Vorstellung davon, was eine Verfassung des Mars enthalten sollte. Aber er war gut darin, Leute zusammen zu bringen; und das hatte er getan. Oder vielmehr er und Nadia hatten es getan; denn Nadia war eingeschritten und hatte die Führung gerade in dem Stadium übernommen, als man sie gebraucht hatte. Sie war die einzige der verfügbaren Ersten Hundert, der alle vertrauten.

Das gab ihr eine gewisse natürliche Autorität. Und jetzt, ohne viel Aufhebens nützte sie die Situation. Sie übte diese Macht aus.

Für Art war es eine große Freude, praktisch Nadias persönlicher Assistent zu werden. Er machte ihren Tagesplan und tat alles, was er konnte, um zu gewährleisten, daß es glatt ablief. Dazu gehörte als erstes die Zubereitung einer Kanne guten Kavajas an jedem Morgen; denn Nadia gehörte zu den vielen, die diesen ersten Ansporn für Munterkeit und allgemeines Wohlbefinden schätzten. Ja, dachte Art, persönlicher Assistent und Drogenausgeber, das war sein Schicksal an diesem Punkt der Geschichte. Und er war glücklich. Allein schon zu beobachten, wie die Leute Nadia ansahen, war ein Vergnügen für sich. Und die Art, wie sie sich gab — interessiert, sympathisch, skeptisch, eine leichte Schärfe, die rasch aufkam, wenn sie der Meinung war, daß jemand ihre Zeit vergeudete, eine Wärme, wenn sie durch einen Beitrag beeindruckt war. Und das wußten die Leute, sie wollten ihr gefallen. Sie bemühten sich, bei der Sache zu bleiben und einen Beitrag zu leisten. Sie wünschten sich diesen besonders warmen Ausdruck in ihren Augen. Diese Augen waren wirklich sehr eigenartig, wenn man genau hinsah. Im Grunde haselnußbraun, aber mit unzähligen kleinen Flecken anderer Farben: gelb, schwarz, grün, blau. Sie wirkten hypnotisierend. Nadia richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Menschen. Sie war geneigt, einem zu glauben, jemandes Partei zu ergreifen, sich zu vergewissern, daß sein Fall nicht im Gedränge verlorenging. Selbst die Roten, die sich ihrer Kämpfe mit Ann erinnerten, vertrauten darauf, daß sie dafür sorgte, sie zu Wort kommen zu lassen. So schloß sich das Werk um ihre Person zusammen; und alles, was Art wirklich zu tun hatte, war, sie bei der Arbeit zu beobachten und sich darüber zu freuen und zu helfen, wo er konnte.

Und so begannen die Debatten.


In der ersten Woche gingen die meisten Diskussionen einfach darum, was eine Verfassung war, welche Form sie haben sollte und ob sie überhaupt eine haben wollten. Charlotte nannte das den Metakonflikt, die Auseinandersetzung darüber, um was die Diskussion überhaupt ging — eine sehr wichtige Sache, sagte sie, als sie Nadia recht unglücklich blinzeln sah. »Indem wir das klären, setzen wir erst die Grenzen für das fest, was wir entscheiden können. Wenn wir beispielsweise beschließen, ökonomische und soziale Anliegen in die Verfassung aufzunehmen, ist das eine ganz andere Sache, als wenn wir uns fest an rein politische oder legislative Themen halten oder eine sehr allgemeine Feststellung von Prinzipien.«

Um zu helfen, auch dieser Debatte Gestalt zu geben, waren sie und die Gelehrten von Dorsa Brevia mit einer Anzahl verschiedener ›leerer Verfassungen angereist, in die man unterschiedliche Arten von Verfassungen einblenden konnte, ohne wirklich ihre Inhalte auszufüllen. Diese Leermodelle bewirkten indessen wenig, um die Einwände jener zu bremsen, die den Standpunkt vertraten, daß die meisten Aspekte des sozialen und ökonomischen Lebens überhaupt nicht geregelt werden sollten. Ein solcher ›minimaler Staat‹ fand Unterstützung aus einer Reihe von Randgruppen, die seltsame Bettgenossen waren: Anarchisten, Indeterministen, neotraditionale Kapitalisten, gewisse Grüne und so weiter. Bis hin zu den extremsten dieser Staatsgegner, die jede schriftlich festgelegte Regierung überhaupt für eine Art von Niederlage erklärten und ihre Rolle in dem Kongreß darin sahen, die neue Regierung so klein wie möglich zu machen.

Sax hörte von dieser Auseinandersetzung in einem der nächtlichen Anrufe von Nadia und Art und war durchaus gewillt, darüber nachzudenken. »Man hat festgestellt, daß ein paar einfache Regeln ein sehr komplexes Verhalten bestimmen können. Es gibt zum Beispiel ein klassisches Computermodell für Vogelscharen, nach dem man von jedem in der Umgebung gleichen Abstand hält, die Geschwindigkeit nicht zu rasch ändert und stationäre Objekte vermeidet. Dadurch wird der Flug einer Schar recht hübsch dargestellt.«

Nadia spottete: »Hast du jemals Stachelschwanzsegler in tiefer Dämmerung gesehen?«

»Nein«, erwiderte Sax.

»Nun, dann schau sie dir an, wenn du auf die Erde kommst! Inzwischen können wir keine Verfassung akzeptieren, die nur besagt, daß man die Geschwindigkeit nicht zu rasch ändern soll.«

Art fand das witzig, Nadia nahm die Sache ernster. Im allgemeinen hatte sie wenig Geduld für die minimalistischen Argumente. Sie pflegte zu sagen: »Ist dies nicht das Äquivalent dafür, die Metanats handeln zu lassen? Wäre das richtig?«

»Nein, nein!« protestierte dann Mikhail. »Das meine ich überhaupt nicht.«

»Doch, wahrscheinlich willst du genau das sagen. Und für manche ist es offenbar eine Art Vorwand, ein vorgegebenes Prinzip, bei dem es in Wirklichkeit nur darum geht, die Regeln zu erhalten, die ihr Eigentum und ihre Privilegien schützen und den Rest zum Teufel zu schicken.«

»Nein, keineswegs.«

»Dann mußt du das am großen Tisch beweisen. Du mußt gegen alles argumentieren, bei dem die Regierung sich beteiligen soll. Punkt für Punkt.«

Und sie war dabei so beharrlich, nicht schimpfend, wie Maya es getan hätte; sondern einfach so unerbittlich, daß sie zustimmen mußten. Schließlich war alles für die Diskussion am großen Tisch offen. Darum ergaben die leeren Verfassungen Sinn als Ausgangspunkt. Und deshalb sollten sie damit weitermachen. Es wurde darüber abgestimmt, und die Mehrheit entschied sich dafür, einen Versuch zu machen.

Somit hatten sie nun also die erste Hürde genommen. Jeder hatte zugestimmt, nach dem gleichen Plan fortzufahren. Es war erstaunlich, dachte Art, der von einem Meeting zum anderen sauste, voller Bewunderung für Nadia. Sie war kein gewöhnlicher Diplomat und folgte keineswegs dem leeren Schiffsmodell, das Art anstrebte. Aber sie hatte dennoch Erfolg. Sie hatte das Charisma der Empfindsamkeit. Er hätschelte sie jedesmal, wenn er an ihr vorbeikam, er küßte sie aufs Haar, er liebte sie. Mit jenem Reichtum an guter Stimmung platzte er in die Sitzungen hinein, wo er konnte, und sah zu, was er tun konnte, um die Dinge in Gang zu halten. Oft handelte es sich nur darum, die Leute hinreichend mit Speisen und Getränken zu versorgen, daß sie den Tag durchhalten konnten, ohne mürrisch zu werden.

Zu jeder Tageszeit war der große Tisch dicht besetzt. Junge Walküren mit frischen Gesichtern thronten über sonnenverbrannten alten Veteranen. Alle Rassen, alle Typen. Das war Mars im m-Jahr 52, eine Art von de facto vereinten Nationen ganz für sich. Mit aller potentiellen Zerbrechlichkeit dieses bekanntermaßen spröden Körpers. So daß Art bisweilen, wenn er all die verzweifelten Gesichter ansah und dem Gewirr von Sprachen lauschte — Englisch hoch Babylon —, von ihrer Vielfalt nahezu überwältigt wurde. »Ka, Nadia«, sagte er, als sie saßen, Sandwiches aßen und ihre Notizen für den Tag durchsahen, »wir versuchen, eine Verfassung zu schreiben, der jede Kultur der Erde zustimmen könnte!«

Sie wischte das Problem weg und schluckte. Dann sagte sie: »Es ist wohl an der Zeit.«


Charlotte schlug vor, die Erklärung von Dorsa Brevia als einen logischen Ausgangspunkt zu nutzen, um den Inhalt zu diskutieren, der die Verfassungsformeln ausfüllen sollte. Dieser Vorschlag schuf noch mehr Unruhe, als es selbst die Leerformen getan hatten; denn den Roten und etlichen anderen Delegationen gefielen verschiedene Punkte der alten Deklaration nicht, und sie argumentierten, daß durch deren Verwendung der Kongreß von Anfang an auf den falschen Weg gebracht werden würde.

»Was also dann?« fragte Nadia. »Wir können, wenn wir wollen, jedes Wort darin ändern, aber wir müssen mit etwas den Anfang machen.«

Dieser Standpunkt gefiel den meisten alten Untergrundgruppen, von denen viele im Marsjahr 39 in Dorsa Brevia gewesen waren. Die damals gefundene Deklaration war das beste Ergebnis des Untergrunds geblieben, in dem Bemühen, das aufzuschreiben, worauf sie sich damals geeinigt hatten, als sie keine Macht besaßen. Darum war es sinnvoll, damit anzufangen. Sie gab ihnen einen Präzedenzfall, eine Art historischer Kontinuität.

Als sie sich diese aber vornahmen und hineinschauten, entdeckten sie, daß die alte Deklaration erschreckend radikal gewesen war. Kein Privateigentum? Keine Aneignung von Mehrwert? Hatten sie wirklich solche Forderungen proklamiert? Wie, hatte man gedacht, sollte das funktionieren? Die Leute grübelten über den nüchternen kompromißlosen Sätzen und schüttelten die Köpfe. In der Deklaration hatte sich niemand bemüht zu sagen, wie ihre erhabenen Ziele verwirklicht werden sollten. Sie hatten diese nur konstatiert. »Die Routine der Steintafeln«, wie Art sie charakterisiert hatte. Aber jetzt war die Revolution erfolgreich gewesen und die Zeit gekommen, etwas in der realen Welt zu tun. Konnten sie wirklich an so radikalen Konzepten festhalten, wie dem Vorliegenden, der Deklaration von Dorsa Brevia?

Schwer zu sagen. »Zumindest sollten die Punkte zur Diskussion stehen«, gab Nadia zu bedenken.

Und mit ihnen zusammen waren auf allen Bildschirmen die leeren Verfassungen mit ihren Kapitelüberschriften, die sämtlich die vielen Probleme ansprachen, mit denen sie würden zurechtkommen müssen: Struktur der Regierung, Exekutive; Struktur der Regierung, Legislative; Gerichtswesen; Bürgerrechte, Militär und Polizei, Steuerwesen, Wahlverfahren, Eigentumsrecht, Ökonomische Systeme, Umweltrecht, Änderungsprozeduren und so weiter; auf jedem verfügbaren Blatt Papier, auf jeder freien Bildschirmseite. Ohne Ende. Alles auf die privaten Schirme gezaubert, vermischt, formatiert, endlos debattiert. »Bloß die Formulare ausfüllen«, wie Art eines Abends sang, als er Nadia über die Schulter schaute, die über einem besonders abzulehnenden saß. Es hatte etwas von Michels alchemistischen combinatoires. Und Nadia lachte.

Die Arbeitsgruppen konzentrierten sich auf verschiedene Teile der Regierung, wie sie in der neuen, zusammengesetzten leeren Verfassung umrissen waren, die man jetzt das große Blankett nannte. Politische Parteien und Interessengruppen tendierten zu den Themen, die sie am meisten betrafen, und die vielen Delegationen der Kuppelstädte entschieden sich für die übrigen Gebiete, oder sie wurden ihnen zugewiesen. Danach war es nur noch eine Frage der Umsetzungsarbeit.

Im Augenblick hatte die technische Gruppe des Kraters Da Vinci die Kontrolle des Raums um den Mars. Sie betrieben alle Raumfähren vom Andocken auf Clarke bis zum aerodynamischen Bremsen in den Marsorbit hinein. Niemand glaubte, daß dies allein sie wirklich frei machte; aber es gab ihnen einen gewissen physischen und psychischen Raum, in dem sie arbeiten konnten. Das war das Geschenk der Revolution. Sie wurden auch angetrieben durch die Erinnerung an die Schlacht von Sheffield. Die Furcht vor einem Bürgerkrieg unter ihnen war stark. Ann war mit den Kakaze im Exil, und Sabotage im Hinterland war alltäglich. Es gab auch Kuppeln, die sich von jedermann für unabhängig erklärt hatten, und ein paar Schlupfwinkel der Metanats. Es herrschte allgemein Unruhe und kaum im Zaum gehaltene Verwirrung. Sie waren eine Blase in der Geschichte, nur für einen Moment. Diese konnte jederzeit in sich zusammenfallen; und das würde auch passieren, wenn nicht bald etwas geschah. Es war — kurz gesagt — Zeit zum Handeln.

In diesem einen Punkt waren sich alle einig. Aber das war auch sehr wichtig. Im Lauf der Tage kristallisierte sich allmählich eine Kerngruppe von Arbeitern heraus, die sich durch ihre Bereitschaft auszeichnete, den Job zu tun, und ihren Wunsch, Paragraphen abzuhandeln, statt sich in Delegatenpose zu werfen. An der ganzen übrigen Debatte nahmen diese Leute unter der Führung von Nadia teil, die das Geschenk, das ihr da in den Schoß gefallen war, sehr rasch erkannte und ihnen jede Hilfe angedeihen ließ, die sie geben konnte.

Art rannte inzwischen in seiner üblichen Weise herum. Morgens stand er früh auf, um für Getränke und Speisen zu sorgen; und für Informationen über die in den anderen Räumen laufenden Arbeiten. Er hatte den Eindruck, daß sich die Dinge recht gut entwickelten. Die meisten Untergruppen nahmen die Verantwortung auf sich, ihr Formular ernsthaft auszufüllen. Sie schrieben Entwürfe und änderten sie ab, arbeiteten aus — Konzept um Konzept, Satz um Satz. Sie freuten sich, Art zu sehen, wenn er im Laufe des Tages vorbeikam, da es eine Pause bedeutete, etwas zu essen und ein paar Scherze. Eine juristische Gruppe befestigte an seinen Schuhen Gummiflügel und schickte ihn mit einer bissigen Botschaft zu einer exekutiven Gruppe, mit der sie sich stritt. Art freute sich und behielt die Flügel an. Warum nicht? Was sie machten, hatte spielerische Würde und würdevolle Heiterkeit. Sie änderten die Gesetze; und er flog umher wie Hermes oder Puck. Das war durchaus passend. Und so flog er also lange Stunden Nacht für Nacht. Und nachdem alle Sitzungen für den Abend Schluß gemacht hatten, kehrte er in die Praxisbüros zurück, die er sich mit Nadia teilte. Sie saßen dann und sprachen mit Nirgal, Sax, Maya und Michel. Danach pflegte Nadia wieder an die Arbeit an ihren Schirmen zurückzukehren und schlief gewöhnlich dort im Sessel ein. Art ging dann oft wieder ins Lagerhaus, um das sich die Häuser und Wagen drängten. Weil sie den Kongreß in der Kuppel eines Lagerhauses abhielten, war es nicht die Party-Szene wie seinerzeit in Dorsa Brevia. Aber auch hier blieben die Delegierten oft auf und saßen auf den Fußböden ihrer Zimmer, tranken und plauderten über die Arbeit des Tages oder die gerade vergangene Revolution. Viele der hier anwesenden waren sich noch nie begegnet und saßen jetzt beieinander, um sich kennenzulernen. Es bildeten sich Beziehungen, Romanzen, Freundschaften und Allianzen. Es war eine gute Zeit zum Reden und mehr über das zu erfahren, was während des Kongresses am Tage vorging. Es war sozusagen die Unterseite des Kongresses, die soziale Stunde, die da in den Betonräumen verteilt war. Art genoß das. Und dann pflegte der Moment zu kommen, da er plötzlich an eine innere Wand stieß, ihn eine Welle von Müdigkeit überkam und er bisweilen nicht einmal mehr die Zeit hatte, in seine Büros zurück zu stolpern zu der Couch dicht bei der von Nadia. Er wälzte sich einfach auf den Boden und schlief dort. Dann erwachte er kalt und steif, eilte ins Bad, duschte, und schleuderte zurück in die Küche, um mit Kaffee und Java den Tag zu beginnen. So ging es immer rund. Seine Tage waren eine verschwommene Hetze. Es war herrlich.


Bei Sitzungen, die mehrere Themen behandelten, mußten die beauftragten Gruppen mit anspruchsvollen Fragen fertig werden. Ohne auf jegliche nationalen oder traditionellen politischen Einheiten zurückgreifen zu können stellte sich die Frage: wer beherrschte was? Und wie sollten sie das Lokale gegen das Globale ausbalancieren und Vergangenheit gegen Zukunft, die vielen Kulturen der Ahnen gegen die eine Kultur des Mars?

Sax, der dieses immer wieder aufkommende Problem von dem Raketenschiff zur Erde aus beobachtete, schickte eine Mitteilung mit dem Vorschlag, daß die Kuppelstädte und überdachten Canyons die hauptsächlichen politischen Einheiten werden sollten: Im Grunde Stadtstaaten, ohne größere politische Einheiten außer der globalen Regierung als solcher, die allein echt globale Belange regeln würde. Auf diese Weise würde es keine Nationalstaaten zwischen den lokalen und globalen Instanzen geben.

Die Reaktion auf diesen Vorschlag war recht positiv. Einerseits hatte er den Vorteil, zu der bereits existierenden Situation zu passen. Mikhail, Anführer der Partei der Bogdanovisten, bemerkte, daß er eine Variante der alten Gemeinschaft von Kommunen darstellte; und weil Sax die Quelle dieser Anregung gewesen war, wurde er flugs der Plan des ›Labors der Labore‹ genannt. Aber das zugrunde liegende Problem blieb noch offen, wie Nadia rasch erklärte. Alles, was Sax getan hatte, war die Definition dessen, was bei ihnen lokal und global war. Sie mußten immer noch entscheiden, wieviel Macht die vorgeschlagene globale Föderation über die vorgeschlagenen halbautonomen Stadtstaaten haben sollte. War es zu viel, dann war man wieder bei einem großen zentralisierten Staat angelangt, der Mars wäre selbst eine Nation — ein Gedanke, der viele Delegationen abschreckte. »Aber bei zu wenig Kontrolle«, sagte Jackie nachdrücklich in dem Workshop für Menschenrechte, »würde es Kuppeln geben, die Sklaverei für legal erklärten, oder die Verstümmelung von Frauen oder irgendein anderes auf irgendeiner Barbarei der Erde beruhendes Verbrechen, das im Namen ›kultureller Werte‹ entschuldigt würde. Und das ist einfach nicht akzeptabel.«

»Jackie hat recht«, erklärte Nadia — was ungewöhnlich genug war —, um die Aufmerksamkeit des Volkes zu erregen. »Wenn Menschen behaupten, daß ihrer Kultur irgendein Grundrecht fremd ist, so stinkt das, ganz gleich, wer es sagt — Fundamentalisten, Patriarchen, Leninisten, Metanats. Es ist mir egal, wer. Die werden hier nichts festzulegen haben, solange ich es verhindern kann.«

Art bemerkte, daß einige Delegierte über diese Meinung die Stirn runzelten, die sie ohne Zweifel als eine Version von westlichem säkularem Relativismus ansahen oder vielleicht von John Boones Hyperamerikanismus. Bei der Opposition gegen die Metanats hatte es auch viele gegeben, die an älteren Kulturen festzuhalten suchten — diese hatten schließlich ihre Hierarchien oft recht gut intakt gehalten. Denjenigen, die am oberen Ende der Hierarchien standen, gefiel das. Aber ebenso einer erstaunlich großen Anzahl von Leuten, die weiter unten auf der Leiter standen.

Die jungen Eingeborenen des Mars machten überraschte Gesichter, daß das überhaupt ein Thema war. Für sie waren die Grundrechte angeboren und unwiderruflich, und jede Herausforderung dagegen berührte sie bloß wie eine weitere Schramme, die die Issei immer erkennen ließen, als ein Ergebnis von deren traumatischer funktionsgestörter terrestrischer Erziehung. Ariane, eine der prominentesten jungen Eingeborenen, stand auf und sagte, daß die Gruppe von Dorsa Brevia viele Dokumente von der Erde über die Menschenrechte studiert und eine eigene umfassende Liste geschrieben hätte. Die neue Hauptliste fundamentaler Menschenrechte war zur Diskussion gestellt und, wie sie nahelegte, für pauschale Annahme bereit. Manche diskutierten über den einen oder anderen Punkt; aber es wurde allgemein akzeptiert, daß eine globale Charta der Menschenrechte auf den Tisch kommen müßte. Darum sollten die Werte des Mars so, wie sie im Marsjahr 52 existierten, codifiziert und zu einem prinzipiellen Bestandteil der Verfassung gemacht werden.

Die genauere Definition dieser Rechte war noch umstritten. Die sogenannten ›politischen Rechte ‹ wurden allgemein für ›selbstevident‹ erklärt. Dinge, die die Bürger frei waren zu tun, Dinge, die die Regierungen zu tun verboten hatten, Habeas-Corpus-Akte, Freiheit der Bewegung, der Rede, der Vereinigung, der Religion, eine Ächtung von Waffen — all dies wurde von einer großen Mehrheit Eingeborener des Mars gebilligt, obwohl es einige Issei aus Singapur, Kuba, Indonesien, Thailand, China und so weiter gab, die so viel Nachdruck auf individuelle Freiheit seltsam fanden. Andere Delegierte waren zurückhaltend gegenüber einer anderen Art von Recht, wie dem Recht auf Wohnung, auf gesundheitliche Versorgung, der sogenannten ›sozialen‹ oder ›ökonomischen‹ Rechte wie des Rechts auf Erziehung, Arbeit, eines Anteils an den durch den Verbrauch natürlicher Ressourcen geschaffenen Werten etc. Viele Issei-Delegierte mit praktischer Erfahrung in terrestrischer Erziehung waren wegen dieser Rechte sehr besorgt und wiesen darauf hin, daß es gefährlich wäre, solche Dinge in der Verfassung zu verankern. Sie sagten, man hätte das da und dort auf der Erde versucht; und als man dann festgestellt hatte, daß es unmöglich war, solche Versprechungen zu erfüllen, wurde die sie garantierende Verfassung als Propagandatrick verunglimpft und dann auch auf allen übrigen Gebieten verhöhnt, bis sie schließlich zu einem schlechten Scherz geworden war.

»Selbst wenn ihr euch keine Behausung leisten könnt«, sagte Mikhail in scharfem Ton, »ist es euer Recht, dafür zu stimmen,- daß sie euch zustehen soll. Das ist doch ein schlechter Scherz.«

Die jungen Eingeborenen pflichteten ihm bei, ebenso wie viele andere dort. Damit waren auch ökonomische und soziale Rechte auf dem Tisch; und mit ihnen die Debatten darüber, wie diese Rechte in der Praxis zu garantieren wären, die sich durch viele lange Sitzungen zogen. Nadias Meinung, was das anbelangte, war klar: »Politisch, sozial ist alles eins. Wir sollten sehen, daß alle Rechte funktionieren!«


So ging die Arbeit weiter, sowohl am großen Tisch als auch in den Büros, wo sich die Untergruppen trafen. Selbst die UN waren in Person des UNTA-Chefs Donald Hastings persönlich vertreten, der mit dem Aufzug heruntergekommen war und lebhaft an den Debatten teilnahm. Seine Meinung hatte immer ein besonderes Gewicht. Er begann sogar, Symptome eines Geiselsyndroms zu zeigen, dachte Art. Er wurde nämlich, je länger er mitten im Lagerhaus stand und mit den Leuten diskutierte, immer positiver eingestellt zu den laufenden Diskussionspunkten. Und das könnte auch seine Vorgesetzten auf der Erde beeinflussen.

Bemerkungen und Anregungen strömten vom Mars genauso ein wie von der Erde. Sie füllten etliche Schirme an einer Wand des großen Raums. Das Interesse an dem Kongreß war überall rege und stand in der Aufmerksamkeit des Publikums sogar in Konkurrenz zu der großen Überschwemmung auf der Erde. »Die Seifenoper der Stunde«, machte Art sich gegenüber Nadia lustig. Jede Nacht trafen die beiden sich in ihrer kleinen Bürosuite und riefen Nirgal und die anderen an. Die Verzögerungen der Antworten der Reisenden wurden immer länger, aber das machte Art und Nadia nicht viel aus. Man hatte reichlich Zeit zum Nachdenken, wenn man darauf wartete, daß ein Teil des Gesprächs von Sax und den anderen eintraf.

Eines Nachts, als sie sich zurückgezogen hatten, sagte Art: »Dieses Problem global gegen lokal läßt sich hart an. Ich halte es für einen realen Widerspruch. Ich meine, daß es nicht bloß das Resultat verwirrten Denkens ist. Wir brauchen gewiß irgendeine globale Kontrolle und wir brauchen auch Freiheit für die Zelte. Zwei unserer wichtigsten Werte stehen im Gegensatz zueinander.«

»Vielleicht löst das System der Schweiz einige unserer Probleme«, schlug Nirgal einige Minuten später vor. »Das ist John Boones alte Idee.«

Aber die Schweizer auf Pavonis waren von dieser Idee nicht besonders angetan. Jürgen zog ein Gesicht und sagte: »Eher ein Gegenmodell. Der Grund, weshalb ich auf dem Mars bin, ist die Bundesregierung der Schweiz. Sie erstickt alles. Man braucht sogar eine Lizenz zum Atmen.«

»Die Kantone haben überhaupt keine Macht mehr«, sagte Priska, »die Bundesregierung hat sie ihnen genommen.«

»In manchen Kantonen war es eine gute Sache«, fügte Jürgen hinzu.

»Interessanter als Bern könnte Graubünden sein«, sagte Priska. »Das heißt die Graue Liga. Die waren Jahrhunderte lang eine lose Konföderation von Städten in der südöstlichen Schweiz. Eine sehr erfolgreiche Organisation.«

»Würdet ihr alles zusammenstellen, was ihr darüber bekommen könnt?« fragte Art.

In der folgenden Nacht sahen er und Nadia die Beschreibungen über Graubünden durch, die Priska herübergeschickt hatte. Nun gut... Während der Renaissance hatte es eine gewisse Einfachheit der Affären gegeben, dachte Art. Vielleicht war das falsch; aber irgendwie schienen die extrem lockeren Vereinbarungen der kleinen Schweizer Gebirgsstädte sich nicht gerade gut auf die dicht verflochtenen Ökonomien der Siedlungen des Mars übertragen zu lassen. Graubünden brauchte sich beispielsweise über das Aufkommen unerwünschter Veränderungen im atmosphärischen Druck keine Sorgen zu machen. Nein — die Wahrheit war, daß sie sich in einer ganz neuen Situation befanden. Es gab keine historische Analogie, die für sie jetzt hilfreich sein könnte.

»Apropos global gegen lokal — was ist mit dem Land außerhalb der Kuppeln und überdachten Canyons?« fragte Irishka. Sie war als die leitende, auf Pavonis gebliebene Rote hervorgetreten, eine Gemäßigte, die für fast alle Flügel der Roten Bewegung sprechen konnte und deshalb im Verlauf der Wochen durchaus zu einer Macht geworden war. »Es handelt sich immerhin um das meiste Land auf dem Mars; und alles, was auf Dorsa Brevia darüber gesagt wurde, ist, daß kein Individuum es besitzen kann und daß wir alle gemeinsam seine Verwalter sind. Das ist für den Anfang ganz gut, führt aber mit zunehmender Bevölkerung und dem Bau neuer Städte immer mehr zu dem Problem, wer die Kontrolle haben soll.«

Art seufzte. Das stimmte, die Frage war aber zu schwierig, um willkommen zu sein. Kürzlich hatte er beschlossen, den Großteil seiner täglichen Bemühungen darauf anzusetzen, was er und Nadia für das schlimmste offene Problem hielten, mit dem sie konfrontiert waren. Darum war er theoretisch froh, es jetzt zu erkennen. Manchmal war es jedoch einfach zu hart.

Wie in diesem Fall. Landnutzung, war der Einwand der Roten. Weitere Aspekte des global/lokalen Problems, aber ausgesprochen marsianisch. Es gab mal wieder keinen Präzedenzfall. Zumal es wahrscheinlich das schlimmste ungelöste Problem war...


Art ging zu den Roten. Die drei, die ihn begrüßten, waren Marion, Irishka und Tiu, eine von Nirgals und Jackies Krippengenossen aus Zygote. Sie brachten Art zu ihrem Rovercamp, was ihn freute. Es bedeutete, daß er trotz seiner Praxis-Vergangenheit jetzt als eine neutrale und unvoreingenommene Figur angesehen wurde, ganz so, wie er es sich wünschte. Ein großes, leeres Vehikel, voller Botschaften und durchgelassen.

Das Lager der Roten lag westlich der Lagerhäuser am Rand der Caldera. Sie setzten sich mit Art in einem der großen Abteile im oberen Geschoß im Schein der spätnachmittäglichen Sonne zusammen, redeten und schauten hinab auf die gigantische Silhouette der Caldera.

»Was möchtet ihr also gern in dieser Verfassung sehen?« eröffnete Art.

Er nippte an dem Tee, den man ihm gegeben hatte. Seine Gastgeber sahen einander an. Sie waren etwas aus der Fassung gebracht. Nach einer Weile sagte Marion: »Im Idealfall möchten wir auf dem ursprünglichen Planeten leben, in Höhlen oder Klippenwohnungen oder ausgegrabenen Kraterringen. Keine großen Städte, kein Terraformen.«

»Ihr würdet die ganze Zeit Schutzanzüge tragen müssen.«

»Das stimmt. Das macht uns nichts aus.«

»Gut.« Art dachte darüber nach. »Okay, aber laßt uns vom aktuellen Stand der Dinge ausgehen. Bei der jetzigen Situation, was möchtet ihr, daß als Nächstes geschieht?«

»Kein weiteres Terraformen.«

»Das Kabel weg und keine weitere Einwanderung.«

»Es wäre wirklich schön, wenn gewisse Leute zur Erde zurückkehrten.«

Sie hörten auf zu reden und sahen ihn an. Art bemühte sich, seine Bestürzung nicht zu zeigen. Er sagte: »Ist nicht anzunehmen, daß die Biosphäre jetzt selbständig weiter wachsen wird?«

»Das ist nicht klar«, erklärte Tiu. »Aber wenn ihr das industrielle Pumpen einstellen würdet, dürfte jedes weitere Wachstum sehr langsam sein. Es könnte sich sogar rückläufig entwickeln, wie durch die jetzt beginnende Eiszeit.«

»Ist es nicht das, was manche Leute als Ökopoesis bezeichnen?«

»Nein. Die Ökopoeten benutzen bloß biologische Methoden, um Veränderungen in der Biosphäre und an der Oberfläche zu bewirken, aber das sehr intensiv. Wir meinen, sie sollten alle aufhören — Ökopoeten oder Industrialisten oder was auch immer.«

»Aber besonders die schwerindustriellen Methoden«, warf Marion ein. »Und ganz besonders die Überflutung des Nordens. Das ist einfach kriminell. Wir werden diese Stationen in die Luft jagen, ganz gleich, was hier passiert, wenn sie nicht aufhören.«

Art zeigte auf die riesige steinige Caldera hinaus. »Die größeren Erhebungen sehen ziemlich gleich aus, nicht wahr?«

Sie waren nicht bereit, das zuzugeben. »Selbst das hohe Gelände zeigt Eisablagerungen und Pflanzenleben«, sagte Irishka. »Die Atmosphäre reicht hier weit hinauf, mußt du bedenken. Kein Platz ist sicher, wenn die Winde stark sind.«

»Wie wäre es, die vier großen Calderas zu überkuppeln?« schlug Art vor. »Sie unten steril halten, mit dem ursprünglichen atmosphärischen Druck und Luftgemisch? Sie würden riesige Wildnisparks ergeben, im echten ursprünglichen Zustand erhalten.«

»Parks sind genau das, was sie sein würden.«

»Ich weiß. Aber wir müssen mit dem arbeiten, was wir jetzt haben, nicht wahr? Wir können nicht ins Marsjahr 1 zurückgehen und das Ganze neu anlaufen lassen. Und angesichts der gegenwärtigen Situation könnte es gut sein, drei oder vier Plätze im Originalzustand zu bewahren, oder wenigstens nahezu so.«

»Es wäre schön, auch einige Canyons schützen zu lassen«, sagte Tiu unentschlossen. Offenbar hatten sie diese Möglichkeit zuvor nicht erwogen, wie Art vermutete. Aber man konnte die derzeitige Lage nicht ignorieren. Hier mußten sie beginnen.

»Oder das Argyre-Becken.«

»Zumindest muß man Argyre trocken halten.«

Art nickte ermutigend. »Ich denke, daß diese Art der Erhaltung der Atmosphäre dem Dokument von Dorsa Brevia Grenzen setzt. Sie wird den nördlichen Ozean nicht beseitigen. Aber das hat sowieso niemand vor. Irgendeine Form von Ökopoesis ist ungefähr das beste, war ihr derzeit erhoffen könnt. Nicht wahr?«

Vielleicht war das zu nüchtern ausgedrückt. Die Roten schauten unglücklich in die Caldera hinunter und machten sich ihre eigenen Gedanken.

»Die Roten machen also wohl mit«, sagte Art zu Nadia, als er ihr von dem Gespräch erzählte. »Was, meinst du, ist das nächstschlimmste Problem?«

»Was?« Sie hatte fast geschlafen und von ihrem Computer blechernen alten Jazz angehört. »O Art.« Ihre Stimme war leise und ruhig. Der russische Akzent war schwach, aber deutlich. Sie saß zusammengerollt auf der Couch. Zu ihren Füßen lag ein Haufen zusammengeknülltes Papier. Wie Teile eines Puzzles, an dem sie arbeitete. Ein kleines und zufälliges Symbol für die Lebensweise des Mars. Ihr Gesicht war oval unter einer Kappe aus glattem weißen Haar. Die Runzeln ihrer Haut wurden irgendwie schwächer, als ob sie ein Kiesel im Strom der Jahre wäre. Sie öffnete ihre gefleckten Augen, die unter ihren kosakischen Lidern strahlend und fesselnd hervorleuchteten. Ein schönes Gesicht, das Art jetzt vollkommen entspannt anblickte. »Das nächstschlimmste Problem.«

»Ja.«

Sie lächelte. Woher kam diese Ruhe, dieses entspannte Lächeln? Sie machte sich in diesen Tagen um nichts Sorgen. Art fand das angesichts des politischen Drahtseilaktes, den sie ausführten, überraschend. Aber schließlich war es ja Politik und nicht Krieg. Und so wie Nadia während der Revolution schrecklich verängstigt gewesen war, immer angespannt, immer in Erwartung einer Katastrophe, so war sie jetzt relativ ruhig. Als ob sie sagen wollte: Nichts, was hier geschieht, kann wirklich schlimm werden. Pfuscht mit den Details herum soviel ihr wollt. Meine Freunde sind sicher, der Krieg ist vorbei. Was bleibt, ist eine Art Spiel: Konstruktionsarbeit voller Vergnügen.

Art ging hinten um die Couch herum und massierte ihr die Schultern. »Tja, Probleme«, seufzte sie. »Nun, es gibt eine Menge Probleme, sie sind alle gleich zäh.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel frage ich mich, ob die Mahjaris imstande sein werden, sich der Demokratie anzupassen. Ich frage mich, ob jeder die Öko-Ökonomie von Vlad und Marina akzeptieren wird. Ich frage mich, ob wir eine anständige Politik machen können. Ich frage mich, ob Jackie versuchen wird, ein System mit einem starken Präsidenten zu schaffen oder ob sie versuchen wird, die zahlenmäßige Überlegenheit der Eingeborenen zu nutzen, um Königin zu werden.« Sie blickte über die Schulter und lachte über Arts Gesicht. »Ich mache mir Gedanken über viele Dinge. Soll ich fortfahren?«

»Vielleicht besser nicht.«

Sie lachte. »Ach, mach nur weiter. Das macht Spaß. Die Probleme, mit denen wir es zu tun haben, sind wirklich nicht so phänomenal. Wir werden einfach weiter an den Tisch treten und sie bearbeiten. Vielleicht solltest du mit Zeyk reden.«

»Okay.«

»Aber jetzt kümmere dich um meinen Nacken!«


Art ging, nachdem Nadia eingeschlafen war, noch in derselben Nacht zu Zeyk und Nazik. Er fragte: »Also, was halten die Mahjari von alledem?«

Zeyk knurrte: »Stell bitte nicht so blöde Fragen! Sunniten kämpfen mit Schiiten, der Libanon ist verwüstet, die ölreichen Staaten werden von den ölarmen Staaten gehaßt, die nordafrikanischen Länder sind ein Metanat; Syrien und Irak hassen einander, mit Ausnahme der Schiiten; und wir alle hassen natürlich Israel und auch die Palästinenser, und obwohl ich aus Ägypten komme, bin ich eigentlich Beduine, und wir hassen die Nil-Ägypter und kommen auch eigentlich mit den Beduinen vom Jordan nicht gut zurecht. Wenn du mich also nach der Meinung der Araber fragst, was soll ich dir sagen?« Er schüttelte finster den Kopf.

»Ich verstehe, daß du das für eine dumme Frage hältst«, sagte Art. »Tut mir leid. Es ist eine schlechte Angewohnheit, in Wählerschaften zu denken. Also: Was denkst du darüber?«

Nazik lachte. »Du könntest genausogut fragen, was der Rest der Qahiran denkt. Die kennt er ganz genau.«

»Sehr genau«, wiederholte Zeyk.

»Glaubst du, daß der Abschnitt über Menschenrechte bei ihnen ankommt?«

Zeyk runzelte die Stirn. »Ohne Zweifel werden wir die Verfassung unterzeichnen.«

»Aber diese Rechte... Ich dachte, es gäbe noch keine arabischen Demokratien?«

»Wie meinst du denn das? Schließlich gibt es da Palästina, Ägypten... Aber wir haben es hier mit dem Mars zu tun. Und hier hat jede Karawane von Anfang an ihren eigenen Staat gebildet.«

»Starke Führer, erbliche Führer?«

»Nicht erblich. Starke Führer — ja. Wir denken nicht, daß die neue Verfassung das beenden wird. Warum sollte sie? Du bist selbst ein starker Führer, nicht wahr?«

Art lachte unbehaglich. »Ich bin bloß ein Bote.«

Zeyk schüttelte den Kopf. »Erzähl das Antar! Dahin solltest du jetzt gehen, wenn du wissen willst, was die Qahiraner denken. Er ist jetzt unser König.«

Er machte ein saures Gesicht, und Art sagte; »Er ist Jackies Kreatur. Weiter nichts.«

»Ich sollte meinen, es würde ein Schlag gegen ihn geführt werden.«

Zeyk zuckte die Achseln.

Nazik sagte: »Es kommt darauf an, zu wem du sprichst. Für die älteren muslimischen Immigranten ist es eine schlechte Assoziation; denn obwohl Jackie sehr mächtig ist, hat sie mehr als einen Gefährten, und darum sieht Antar... «

»Kompromittiert aus«, schlug Art vor und verhinderte weitere Worte seitens des finster blickenden Zeyk.

»Ja«, sagte Nazik. »Aber andererseits ist Jackie mächtig. Und alle Leute, die jetzt die Partei Freier Mars führen, sind in einer Position, in dem neuen Staat noch mächtiger zu werden. Das gefällt den jungen Arabern. Sie sind mehr eingeboren als arabisch, denke ich. Der Mars ist ihnen wichtiger als der Islam.

Wenn man es so sieht, ist eine enge Assoziation mit den Ektogenen von Zygote eine gute Option. Die Ektogenen gelten als die natürlichen Anführer des Mars, besonders natürlich Nirgal; aber da er zur Erde unterwegs ist, gibt es einen gewissen Übergang seines Einflusses auf Jackie und den Rest ihrer Schar. Und damit auch auf Antar.«

»Ich mag ihn nicht«, erklärte Zeyk.

Nazik lächelte ihrem Gatten zu. »Es paßt dir nicht, daß viele eingeborene Muslims eher ihm folgen als dir. Aber, Zeyk, wir sind alt. Es könnte Zeit sein, sich zurückzuziehen.«

»Ich sehe nicht ein, warum«, entgegnete Zeyk. »Wenn wir tausend Jahre zu leben haben, was für einen Unterschied machen da hundert Jahre?«

Art und Nazik lachten ihn an, und Zeyk lächelte kurz. Es war das erste Mal, daß Art ihn lächeln sah.


Tatsächlich spielte das Alter keine Rolle. Die Leute gingen umher, alt oder jung oder irgendwo dazwischen, plauderten und diskutierten; und es wäre seltsam gewesen, wenn die Länge der Lebenszeit von jemandem bei solchen Diskussionen eine Rolle gespielt hätte.

Um Jugend oder Alter ging es in der einheimischen Bewegung gar nicht. Wenn man auf dem Mars geboren war, sah man einfach anders aus, irgendwie areozentrisch in einer Weise, die kein Terraner ganz begreifen konnte. Nicht bloß wegen des ganzen Komplexes von Mars-Realitäten. Denen waren sie von Geburt an ausgesetzt und kannten sich mit ihnen aus. Es gab aber eine andere Seite, die den Marsgeborenen unbegreiflich war, und auch dieses fehlende Wissen schlug sich in ihrer Erscheinung nieder. Es handelte sich dabei um die unendliche kulturelle Bandbreite und biologische Weite auf der Erde, die den Marsgeborenen einfach unvorstellbar war. Sie hatten die Fernsehbilder gesehen, aber das genügte nicht, daß sie sie hätten erfassen können. Das war einer der Gründe gewesen, weshalb Art froh gewesen war, als Nirgal beschlossen hatte, an der diplomatischen Mission zur Erde teilzunehmen. Er wollte erfahren, mit was sie zu tun bekämen.

Die meisten Eingeborenen teilten dieses Interesse nicht. Und die Revolution war ihnen zu Kopf gestiegen. Trotz ihres Geschicks am großen Tisch bei der Ausarbeitung der Verfassung zu einer Form, die ihnen Vorrechte sichern würde, waren sie im Grunde irgendwie naiv. Sie hatten keine Ahnung, wie unwahrscheinlich ihre Unabhängigkeit war und wie leicht sie ihnen wieder genommen werden konnte. Und so tanzten sie unwissend auf der Schneide eines Fleischermessers, angeführt von Jackie, die so schön und enthusiastisch wie immer durch die Zimmer schwebte. Ihr Drang zur Macht war hinter ihrer Liebe zum Mars verborgen, genau wie hinter ihrer Hingabe an die Ideale ihres Großvaters und ihrem grundsätzlichen guten Willen und sogar ihrer Unschuld. Das College-Girl, das leidenschaftlich für eine gerechte Welt eintrat.

So sah es jedenfalls aus. Aber sie und die Kollegen vom Freien Mars schienen genauso die Macht anzustreben. Es gab jetzt zwölf Millionen Menschen auf dem Mars, von denen sieben Millionen dort geboren waren. Und bei fast einem jeden dieser Eingeborenen konnte man auf Unterstützung für die einheimischen nationalen Parteien rechnen, und das war gewöhnlich Freier Mars.

»Es ist gefährlich«, sagte Charlotte warnend, als Art dieses Thema bei der nächtlichen Zusammenkunft mit Nadia zur Sprache brachte. »Wenn man ein Land aus einer Vielzahl von Gruppen gebildet hat, die einander nicht trauen, mit einer deutlichen Majorität, dann bekommt man eine Wahl nach Köpfen, wobei Politiker ihre Gruppen repräsentieren, ihre Stimmen bekommen, und die Wahlergebnisse immer bloß eine Wiedergabe der Bevölkerungszahlen darstellen. In dieser Situation geschieht immer wieder dasselbe. Die Mehrheitsgruppe hat ein Machtmonopol, und die Minoritäten verlieren die Hoffnung und rebellieren schließlich. Die schlimmsten Bürgerkriege der Geschichte haben unter solchen Verhältnissen angefangen.«

»Was können wir also tun?« fragte Nadia.

»Nun, wir haben ja schon begonnen, indem wir Strukturen entwerfen, die die Macht besser verteilen und die Gefahren der Mehrheitsherrschaft mildern. Dezentralisation ist wichtig, denn sie schafft eine Art von kleinen lokalen Majoritäten. Eine andere Strategie wäre die Erstellung eines Systems der Gewaltenteilung im Stil von Madison, so daß die Regierung ein Fadenspiel wetteifernder Kräfte ist. Das nennt man Polyarchie. Hier ist das Geheimnis, die Macht auf so viele Gruppen wie möglich zu verteilen.«

»Vielleicht sind wir aber gerade jetzt etwas zu polyarchisch«, gab Art zu bedenken.

»Vielleicht. Eine andere Taktik wäre, die Regierung zu entprofessionalisieren. Man könnte einen großen Teil der Regierung zu einer öffentlichen Verpflichtung machen, wie die Teilnahme an einer Jury, und dann in einer Lotterie gewöhnliche Bürger für eine kurze Amtszeit einberufen. Die bekommen dann professionelle Unterstützung durch den Stab, treffen die Entscheidungen aber selbst.«

»Ich habe noch nie von so etwas gehört«, gestand Nadia.

»Kein Wunder. Das Modell wurde oft vorgeschlagen, aber nur selten verwirklicht. Aber ich halte es für erwägenswert. Es zielt dahin, Macht ebensosehr zu einer Bürde wie zu einer Last zu machen. Man steckt einen Brief in den Kasten — o nein; man wird für zwei Jahre im Kongreß eingezogen. Das ist eine Belastung, aber andererseits auch eine Auszeichnung, eine Chance, zu dem öffentlichen Diskurs etwas beizutragen. Bürgerregierung.«

»Das gefällt mir«, sagte Nadia.

»Eine andere Methode, um die Herrschaft einer Majorität zu dämpfen, ist die Abstimmung nach einer Version des australischen Verfahrens, wo die Wähler für zwei oder mehr Kandidaten in abgestufter Weise stimmen: erste, zweite und dritte Wahl. Die Kandidaten bekommen einige Punkte für zweite oder dritte Wahl und können damit Wahlen außerhalb ihrer eigenen Gruppe gewinnen. Dadurch werden Politiker zur Mäßigung veranlaßt; und auf lange Sicht kann es Vertrauen zwischen Gruppen schaffen, wo es das zuvor nie gegeben hat.«

»Interessant!« sagte Nadia. »Wie Gitterträger in einer Mauer.«

»Ja.« Charlotte erwähnte einige Beispiele gebrochener Gesellschaftern auf der Erde, die ihre Risse durch eine geschickte Struktur der Regierung geheilt hatten: Azania, Cambodia, Armenien... Dabei sank Arts Stimmung etwas. Das waren alles Länder mit einer sehr blutigen Geschichte gewesen.

»Es scheint, daß politische Strukturen nur diese Hilfestellung geben können«, sagte er.

»Stimmt«, sagte Nadia. »Aber wir haben es noch nicht mit all diesen alten Feindschaften zu tun. Das Schlimmste, was wir hier haben, sind die Roten; und die sind geschwächt durch das bereits erfolgte Terraformen. Ich wette, man könnte diese Methoden benutzen, um sogar sie in den Prozeß einzubinden.«

Sie war offenbar durch die von Charlotte geschilderten Optionen ermutigt. Es waren ja schließlich Strukturen. Ingenieurarbeit imaginärer Art, die nichtsdestoweniger echter Ingenieurarbeit ähnelte. Also tastete Nadia weiter auf ihrem Bildschirm und skizzierte Entwürfe wie für den Bau eines Hauses. Dabei zog ein kleines Lächeln um ihre Mundwinkel.

»Du bist glücklich«, sagte Art.

Sie hörte ihn nicht. Aber in dieser Nacht sagte sie bei ihrem nächtlichen Gespräch zu Sax: »Es ist wirklich schön zu sehen, daß politische Wissenschaft in all diesen Jahren etwas Nützliches erbracht hat. Das finde ich gut.«

Acht Minuten später kam seine Antwort. »Ich habe nie begriffen, warum sie die so nennen.«

Nadia lachte, und der Klang erfüllte Art mit Glück. Nadia Tscherneschewski, die entzückt lachte! Plötzlich war sich Art sicher, daß sie es schaffen würden.

Diese Stimmung hielt auch noch an, als er wieder an den runden Tisch zurückkehrte, um das nächstschlimmste Problem anzupacken. Das brachte ihn wieder auf den Teppich zurück. Es gab hundert nächstschlimmste Probleme, alle waren klein — bis man daranging. Dabei wurden sie unlösbar.

Bei all dem Geraufe war es sehr schwer, irgendwelche Anzeichen wachsender Übereinstimmung zu erkennen. Auf manchen Gebieten schien es sogar schlimmer zu werden. Die mittleren Punkte des Dorsa-Brevia-Dokuments machten Schwierigkeiten. Je mehr Leute sie erwogen, desto radikaler wurden die. Viele aus der Tischrunde vertraten deutlich die Meinung, daß das öko-soziale System von Vlad und Marina, obwohl es für den Untergrund funktioniert hatte, nichts sei, was man in der Verfassung kodifizieren könne. Manche klagten, es behindere die lokale Autonomie, andere hatten mehr Zutrauen in die traditionelle kapitalistische Wirtschaft als in irgendein neues System. Antar sprach oft für diese letztere Gruppe, wobei Jackie neben ihm saß, offensichtlich zur Unterstützung. Dies zusammen mit seinen Verbindungen zur arabischen Gemeinschaft verlieh seinen Ausführungen doppeltes Gewicht; und die Leute horchten auf. Eines Tages erklärte er am runden Tisch, sein Thema wiederholend: »Diese neue Ökonomie, die hier vorgeschlagen wird, ist ein radikales und noch nie dagewesenes Eindringen einer Regierung in die Wirtschaft.«

Plötzlich stand Vlad Taneev auf. Antar hörte überrascht auf zu sprechen und schaute hinüber.

Vlad funkelte ihn an. Untersetzt, mit massigem Kopf und zottigen Augenbrauen, sprach Vlad selten, wenn überhaupt, in der Öffentlichkeit. Langsam verstummte der größere Teil des Lagerhauses und beobachtete ihn. Art empfand ein Beben der Besorgnis. Von all den glänzenden Geistern unter den Ersten Hundert war Vlad vielleicht der brillanteste — außer vielleicht der geheimnisvollen Hiroko. Schon alt, als sie die Erde verließen, hatte Vlad ganz privat die Acheron-Labors gebaut und war danach so lange wie möglich dort geblieben. Jetzt lebte er dort abgesondert mit Ursula Kohl und Marina Tokareva, zwei weiteren der Großen Ersten. Niemand wußte etwas Genaueres über diese drei. Sie waren die Illustration eines Grenzfalls der inselhaften Natur der Beziehungen anderer Leute. Aber dadurch wurde Gerüchten natürlich nicht Einhalt geboten — im Gegenteil. Die Leute redeten die ganze Zeit über sie. Eine Theorie war, daß Marina und Ursula das eigentliche Paar bildeten, während Vlad eine Art Freund oder Schoßtier wäre; oder daß Ursula den größten Teil der Arbeit ah der Langlebigkeitsbehandlung geleistet hätte und Marinas Hauptbeitrag auf wirtschaftlichem Gebiet läge; oder daß sie ein perfekt ausgeglichenes gleichseitiges Dreieck wären, das bei allem zusammenarbeitete, das von Acheron herauskäme; oder auch, daß Vlad ein Bigamist wäre, der zwei Frauen als Aushängeschilder für seine Arbeit auf den getrennten Feldern von Biologie und Ökonomie benutzte. Aber niemand wußte das genau; denn keiner der drei ließ jemals ein Wort darüber verlauten.

Wenn man ihn aber beobachtete, wie er dort am Tisch stand, kam einem ganz unwillkürlich der Verdacht, daß die Ansicht, er sei ein Strohmann, falsch war. Er schaute sich langsam mit scharfem Blick um und packte sie alle, ehe er das Auge wieder auf Antar richtete.

Er erklärte kühl: »Was du über Regierung und Wirtschaft gesagt hast, ist absurd.« Das war ein Ton, den man bis dahin im Kongreß kaum vernommen hatte — verächtlich und abweisend. »Regierungen regeln immer den Ablauf der Geschäfte, die sie zulassen. Wirtschaft ist eine legale Sache, ein System von Gesetzen. Bisher haben wir das im Untergrund des Mars eine Sache des Gesetzes genannt. Demokratie und Selbstregierung sind die angeborenen Rechte einer jeden Person; und diese Rechte sind am Arbeitsplatz nicht aufgehoben. Du« — er machte eine Handbewegung zum Zeichen, daß er Antars Namen nicht kannte —, »glaubst du an Demokratie und Selbstregierung?«

»Ja!« sagte Antar abwehrend.

»Glaubst du an Demokratie und Selbstregierung als Grundwerte, die die Regierung fördern sollte?«

»Ja!« wiederholte Antar. Er sah immer verdrießlicher aus.

»Sehr gut. Wenn Demokratie und Selbstregierung die Grundwerte sind, warum sollte das Volk dann diese Rechte aufgeben, wenn es seinen Arbeitsplatz betritt? In der Politik kämpfen wir wie die Tiger um Freiheit, für das Recht, unsere Führer zu wählen, für Freizügigkeit, für freie Wahl des Wohnsitzes, Wahl unserer Arbeit... kurzum die Wahl, unser Leben zu führen. Und dann wachen wir auf, und alle diese Rechte verschwinden. Wir bestehen nicht mehr darauf. Und so kehren wir für den größten Teil des Tages zum Feudalismus zurück. Das ist nämlich Kapitalismus: eine Version des Feudalismus, in der das Kapital das Land ersetzt und die Wirtschaftsführer die Könige. Aber die Hierarchie bleibt. Und so liefern wir immer noch das Ergebnis von unserer Hände Arbeit unter Zwang ab, um Herrscher zu ernähren, die keine echte Arbeit leisten.«

»Wirtschaftsführer arbeiten auch«, entgegnete Antar scharf. »Und sie tragen die finanziellen Risiken.«

»Das sogenannte Risiko des Kapitalisten ist nur eines der Privilegien des Kapitals.«

»Management... «

»Ja, ja. Unterbrich mich nicht! Management ist eine reale, technische Angelegenheit. Aber sie kann von den Arbeitern ebenso gut erledigt werden, wie durch Kapital. Kapital an sich ist nur das nützliche Überbleibsel des Werks früherer Arbeiter und könnte ebenso gut einem jeden gehören wie wenigen. Es gibt keinen Grund, weshalb eine winzige Minderheit das Kapital besitzen und jeder andere deshalb ihr zu Diensten sein sollte. Es gibt keinen Grund, der legitimiert, daß sie uns gerade mal die Existenzgrundlage zugestehen und alles andere, was wir produzieren, für sich behalten. Nein! Das System der sogenannten kapitalistischen Demokratie ist im Grunde überhaupt nicht demokratisch. Darum konnte es sich so rasch in das metanationale System verwandeln, in dem die Demokratie immer schwächer und Kapitalismus immer stärker wurde. In dem ein Prozent der Bevölkerung die Hälfte des Reichtums besaß und fünf Prozent der Bevölkerung fünfundneunzig Prozent der verbleibenden Hälfte für sich beanspruchten. Die Geschichte hat uns gelehrt, welche Werte in jenem System real waren. Und das Traurige ist, daß das dadurch verursachte Unrecht und Leid keineswegs notwendig waren, weil es schon seit dem achtzehnten Jahrhundert die Mittel gegeben hat, für alle die Lebensgrundlage zu liefern.

Wir müssen verändern. Es ist an der Zeit. Wenn Selbstherrschaft ein Grundwert ist, dann gibt es diesen Wert überall, einschließlich des Arbeitsplatzes, an dem wir so viel Zeit unseres Lebens verbringen. Das ist es, was Punkt vier der Übereinkunft von Dorsa Brevia aussagt. Es heißt darin, daß das Werk jedermanns sein Eigentum ist, dessen Wert nicht annektiert werden kann.

Es besagt, daß die verschiedenen Formen der Produktion jenen gehören, die sie geschaffen haben, und zum gemeinsamen Gut der künftigen Generationen zählen. Es heißt darin weiter, die Welt sei etwas, das wir alle gemeinsam pflegen. In unseren Jahren auf dem Mars haben wir ein ökonomisches System entwickelt, das all diese Versprechen halten kann. Das ist unser Werk der letzten fünfzig Jahre. In dem von uns entwickelten System sollen alle wirtschaftlichen Unternehmen kleine Kooperativen sein, Eigentum der Arbeiter und von niemand sonst. Die heuern ihr Management an oder managen selbst. Industriegilden und Ko-op-Vereinigungen werden die größeren Strukturen bilden, die notwendig sind, um Handel und Markt zu regeln, Kapital zu teilen und Kredit zu schaffen.«

»Das sind doch bloße Ideen«, erwiderte Antar ärgerlich. »Utopismus und nichts weiter.«

»Keineswegs.« Wieder winkte Vlad ab. »Das System gründet sich auf Modelle aus der terranischen Geschichte, und seine verschiedenen Teile sind alle auf beiden Welten erprobt worden und sehr erfolgreich gewesen. Du weißt davon nichts, und dafür gibt es Gründe. Erstens kennst du die Beispiele nicht, und zweitens ignoriert und bestreitet der Metanationalismus beharrlich alle Alternativen zu sich selbst. Aber das meiste unserer Mikro-Ökonomie wird seit Jahrhunderten im spanischen Mondragon praktiziert. Die verschiedenen Teile der Makro-Ökonomie wurden in der pseudometanationalen Praxis benutzt, in der Schweiz, im indischen Staat Kerala, in Bhutan, im italienischen Bologna und an vielen anderen Orten, einschließlich des Mars-Untergrundes selbst. Diese Organisationen waren die Vorläufer unseres Systems, das auf eine Weise demokratisch sein wird, die der Kapitalismus nie auch nur in Erwägung gezogen hat.«

Eine Synthese von Systemen. Und Vladimir Taneev war ein sehr großer Synthetiker. Man sagte zum Beispiel, daß alle Komponenten der Langlebigkeitsbehandlung schon dagewesen wären und daß Vlad und Ursula sie bloß zusammengefügt hätten. Jetzt bei seiner ökonomischen Arbeit mit Marina behauptete er, dasselbe gemacht zu haben. Und obwohl er die Langlebigkeitsbehandlung in dieser Diskussion nicht erwähnt hatte, stand sie doch im Raum wie der Tisch selbst, eine große zusammengeflickte Leistung und Teil vom Leben aller. Art schaute sich um und hatte den Eindruck, er könnte die Leute nachdenken sehen. Nun, Vlad hatte es einmal in der Biologie getan; und es hatte funktioniert. Konnte Ökonomie schwieriger sein?

Wieder dieser nicht ausgesprochene Gedanke, dieses ungedachte Gefühl. Antars Einwände schienen kein Gewicht zu haben. Die Verfolgung des metanationalen Kapitalismus im letzten Jahrhundert sprach wenig dafür. Im letzten Jahrhundert hatte er einen massiven Krieg heraufbeschworen, der die Erde aufgefressen und ihre Gesellschaften zerrissen hatte. Warum sollte man für die Mars-Chronik nicht etwas Neues probieren?

Jemand von Hiranyagarbha stand auf und erhob einen Einwand aus der entgegengesetzten Richtung, indem er bemerkte, daß sie die Geschenkewirtschaft aufzugeben schienen, durch die der Untergrund des Mars gelebt hatte.

Vlad schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich versichere euch, daß ich an die Ökonomie des Untergrundes glaube; aber die ist immer gemischt gewesen. Der Austausch von Geschenken hat immer gleichzeitig mit Geldaustausch existiert, in dem neoklassische Marktrationalität, das heißt der Profitmechanismus, umklammert und von der Gesellschaft so zusammengehalten war, daß er höheren Werten diente — wie Gerechtigkeit und Freiheit. Ökonomische Rationalität ist einfach nicht der höchste Wert. Sie ist ein Werkzeug zur Berechnung von Kosten und Gewinnen, nur Teil einer größeren Gleichung, die das menschliche Wohlergehen betrifft. Diese größere Gleichung nennt man gemischte Ökonomie; und das ist es, was wir hier konstruieren. Wir schlagen ein komplexes System mit öffentlichen und privaten Sphären wirtschaftlicher Aktivität vor. Es kann sein, daß wir die Leute bitten werden, während ihres Lebens etwa ein Jahr dem öffentlichen Wohl zu schenken, in etwa dem Nationaldienst in der Schweiz entsprechend. Dieses Arbeitspotential, plus Steuern auf private Kooperativen für die Nutzung des Landes und seiner Ressourcen, wird uns befähigen, die sogenannten sozialen Rechte zu garantieren, über die wir diskutiert haben: Wohnung, gesundheitliche Versorgung, Ernährung, Bildung — Dinge, die nicht der Gnade der Rationalität des Marktes unterworfen sein sollten. Denn la salute non sipaga, wie die italienischen Arbeiter zu sagen pflegten. Gesundheit ist nicht käuflich!!«

Das war für Vlad besonders wichtig, wie Art sehen konnte. Es ergab auch Sinn; denn in der metanationalen Ordnung war Gesundheit meistens käuflich gewesen; nicht nur medizinische Behandlung, Ernährung und Behausung, sondern vor allem die geriatrische Behandlung selbst, die bisher nur jenen zuteil geworden war, die sie sich leisten konnten. Vlads größte Erfindung war, mit anderen Worten, zum Besitz der Privilegierten geworden, der obersten Klasse. Langes Leben oder früher Tod, Physikalisierung einer Klasse, die fast einer anderen Spezies ähnelte. Kein Wunder, daß er ärgerlich war. Kein Wunder, denn er hatte alle seine Bemühungen darauf gerichtet, ein ökonomisches System zu entwerfen, das die Langlebigkeitsbehandlung aus ihrer katastrophalen Position zu befreien und zu einem Segen umwandeln sollte, der allen zugänglich war.

»Also wird dem Markt nichts überlassen bleiben«, sagte Antar.

»Nein, nein, nein!« sagte Vlad und gestikulierte Antar wütender zu denn je. »Der Markt wird immer existieren. Er ist der Mechanismus, durch den Dinge und Dienste ausgetauscht werden. Der Wettbewerb, das beste Produkt zum besten Preis zu liefern, ist unvermeidlich und gesund. Aber auf dem Mars wird er von der Gesellschaft auf aktivere Weise gelenkt werden. Es wird für lebenswichtige Dinge einen Status der Profitfreiheit geben; und dann wird der freie Teil des Marktes von der Existenzbasis hin zu den nicht existentiellen Dingen gelenkt werden. In diesem Bereich können dann die Kooperativen, die im Besitz der Arbeiter sind, wirken und versuchen, was immer sie wollen. Wenn die Grundlagen gesichert sind und wenn die Arbeiter ihre eigenen Geschäfte betreiben — warum nicht? Wir reden hier immerhin von einem Neuerschaffungsprozeß.«

Jackie, die Vlads Ablehnung von Antar ärgerte und die vielleicht den alten Mann ablenken oder zurechtweisen wollte, fragte: »Was ist mit den ökologischen Aspekten dieser Ökonomie, die du so herausgestrichen hast?«

»Die sind fundamental«, erwiderte Vlad. »Punkt Drei von Dorsa Brevia erklärt, daß das Land, die Luft und das Wasser niemandem gehören und daß wir deren Haushalter für alle künftigen Generationen sind. Diese Betreuung liegt in der Verantwortung eines jeden; aber im Falle von Konflikten schlagen wir strenge Umweltgerichte vor, die die realen und vollständigen Kosten ökonomischer Aktivitäten für die Umwelt beurteilen und bei der Koordinierung und den Kostenvoranschlägen für Projekte helfen, die Einfluß auf die Umwelt haben.«

»Das ist doch aber bloß eine geplante Struktur!« rief Antar.

»Ökonomien sind Pläne. Der Kapitalismus hat welche gehabt, und der Metanationalismus hat alles zu verplanen versucht. Nein, ein Wirtschaftssystem ist ein Plan.«

Antar sagte, frustriert und wütend: »Das ist doch einfach nur eine Wiederkehr des Sozialismus.«

Vlad zuckte die Achseln. »Der Mars ist eine neue Gemeinschaft. Die Namen früherer Gesamtheiten sind trügerisch. Sie sind kaum mehr als theologische Fachausdrücke. Es gibt in diesem System natürlich Elemente, die man sozialistisch nennen könnte. Wie sonst könnte man aus der Wirtschaft die Ungerechtigkeit beseitigen? Aber private Unternehmungen werden im Besitz ihrer Arbeiter sein, anstatt nationalisiert zu werden; und das ist kein Sozialismus — zumindest nicht so, wie er gewöhnlich auf der Erde aussah. Und alle Kooperativen sind Geschäftsunternehmen, kleine Demokratien, die dem einen oder anderen Werk gewidmet sind und alle Kapital brauchen. Aber in unserem System werden die Arbeiter das Kapital anmieten, und nicht umgekehrt. Dieser Weg ist demokratischer und gerechter als alle anderen, die wir analysiert haben. Ihr müßt mich verstehen: Wir haben versucht, jede Eigenschaft dieses Systems danach zu bewerten, wie gut es uns hilft, die Ziele von mehr Freiheit und Gerechtigkeit zu erreichen. Gerechtigkeit und Freiheit widersprechen einander nicht so sehr, wie behauptet wurde; denn Freiheit in einem ungerechten System verdient noch nicht einmal den Namen. Beide verschmelzen. Und es ist möglich! Es ist nur Sache der Einführung eines besseren Systems durch Kombination von Elementen, die erprobt sind und gezeigt haben, daß sie funktionieren. Das verleiht ihnen den Impuls dafür. Wir haben uns vor siebzig Jahren auf diese Gelegenheit vorbereitet. Und jetzt, da die Chance gekommen ist, sehe ich keinen Grund zurückzuweichen, bloß weil jemand vor ein paar alten Worten zurückschreckt. Falls ihr spezifische Vorschläge für Verbesserungen habt, wollen wir sie gern hören.«

Vlad blickte lange und fest auf Antar. Aber Antar sprach nicht. Er hatte keine spezifischen Vorschläge.

Der Raum war erfüllt von gespanntem Schweigen. Es war das erste und einzige Mal in dem Kongreß, daß einer der Issei aufgestanden war und in öffentlicher Debatte einen der Nisei heruntergeputzt hatte. Die meisten Issei bevorzugten eine subtilere Linie. Aber jetzt war einer der alten Radikalen wild geworden und aufgestanden, um einen der neokonservativen jungen Kraftmeier fertig zu machen, die jetzt so taten, als befürworteten sie eine neue Version der alten Hierarchie aus eigensüchtigen Motiven. Ein Gedanke, der sehr gut durch Vlads langen Blick über den Tisch auf Antar zum Ausdruck kam, voller Mißfallen, was dessen reaktionäre Selbstsucht und seine Feigheit angesichts der bevorstehenden Veränderung anbelangte. Vlad setzte sich, und Antar war erledigt.

Aber sie diskutierten weiter. Konflikt, Metakonflikt, Details, Grundsätzliches. Alles war auf dem Tisch, einschließlich eines Küchenausgusses aus Magnesium, den jemand vor drei Wochen auf einem Segment des großen Tisches angebracht hatte.

Und wirklich waren die Delegierten in dem Lagerhaus nur die Spitze des Eisbergs, der sichtbare Teil einer gigantischen Debatte zweier Welten. Überall auf dem Mars und an den meisten Stellen der Erde wurde jede Minute der Konferenz live übertragen. Und obwohl diese aktuelle Sendung in Echtzeit eine gewisse dokumentierende Langweiligkeit an sich hatte, stellte Mangalavid einen täglichen Film der Highlights zusammen, der in jeder Nacht während des Zeitrutsches gezeigt und zwecks weitester Verteilung zur Erde gesendet wurde. Er wurde ›die größte Show auf Erden‹, wie ein amerikanisches Programm ihn etwas drollig bezeichnete. »Vielleicht haben die Leute auf der Erde den alten Mist im TV satt«, sagte Art eines Nachts zu Nadia, als sie einen kurzen und wild verzerrenden Bericht über die Verhandlungen des Tages im amerikanischen TV anschauten.

»Oder in der Welt.«

»O ja, stimmt. Sie wollen etwas anderes zum Nachdenken haben.«

»Oder aber sie denken darüber nach, was sie tun könnten«, meinte Nadia. »So, daß wir ein Modell in kleinem Maßstab sind. Leichter zu verstehen.«

»Vielleicht.«

Auf jeden Fall sahen die beiden Welten zu; und der Kongreß wurde — neben allem, was er sonst war — eine tägliche Seifenoper, die aber für ihre Zuschauer irgendwie eine besondere Attraktion bot, indem sie auf seltsame Weise den eigentlichen Schlüssel für deren Leben enthielt. Und vielleicht als ein Ergebnis taten Tausende von Zuschauern mehr, als nur zu beobachten. Kommentare und Vorschläge strömten herein; und obwohl es die meisten Leute auf Pavonis für unwahrscheinlich hielten, daß etwas, das mit der Post einging, eine aufrüttelnde Wahrheit enthielt, an die sie nicht gedacht hätten, wurden alle Mitteilungen von Gruppen Freiwilliger in Sheffield und Süd-Fossa gelesen, welche einige Vorschläge ›auf den Tisch‹ durchgehen ließen. Manche Leute waren sogar dafür, alle diese Anregungen in die endgültige Verfassung aufzunehmen. Sie wollten kein ›statisch legales DokumentA sondern eine größere Sache, eine durch Zusammenarbeit entstandene philosophische oder gar spirituelle Verlautbarung, die ihre Werte, Ziele, Träume und Überlegungen ausdrücken sollte. Nadia wandte ein: »Das wäre keine Verfassung, sondern eine Kultur. Wir sind hier nicht die Bibliothek.« Aber ob aufgenommen oder nicht — es gingen weiter lange Communiques ein, von den Kuppeln und den Canyons und den überschwemmten Küstengebieten der Erde, unterschrieben von Einzelpersonen, Komitees und Bevölkerungen ganzer Städte.

Die Diskussionen im Lagerhaus waren ebenso weitgespannt wie in der eingehenden Post. Ein chinesischer Abgeordneter trat an Art heran und sprach zu ihm in Mandarin. Als er eine kleine Pause machte, begann sein Computer in einem angenehmen schottischen Akzent zu sprechen. »Um die Wahrheit zu sagen, ich bezweifle immer mehr, ob Sie das wichtige Buch von Adam Smith Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichtums genügend zu Rate gezogen haben.«

»Sie könnten recht haben«, sagte Art und verwies den Mann an Charlotte.

Viele der Abgesandten im Lagerhaus benutzten andere Sprachen als Englisch und verließen sich für die Übersetzung auf Computer, um mit den anderen zu kommunizieren. In jedem Augenblick gab es Gespräche in einem Dutzend verschiedener Sprachen, und die Übersetzungsgeräte wurden ausgiebig genutzt. Art empfand sie noch als etwas ablenkend. Er wünschte, es wäre möglich, all diese Sprachen zu beherrschen, auch wenn die jüngsten Generationen künstlicher Übersetzer wirklich recht gut waren: Angenehm modulierte Stimmen, umfangreiche und exakte Wörterbücher, die Phrasierung, die frühere Übersetzungsprogramme zu einem so großen Gesellschaftsspiel gemacht hatte, war fast frei von Fehlern. Die neuen waren so gut geworden, daß es möglich schien, die Vorherrschaft der englischen Sprache, die eine fast monoglotte Marskultur geschaffen hatte, könnte anfangen zu schwinden. Die Issei hatten natürlich alle Sprachen mitgebracht, aber Englisch war ihre Lingua franca gewesen. Darum hatten die Nisei Englisch benutzt, um untereinander zu kommunizieren, während sie ihre ›primären‹ Sprachen nur gebrauchten, um mit ihren Eltern zu sprechen. Darum war für einige Zeit Englisch die heimische Sprache der Eingeborenen geworden. Aber jetzt mit den neuen Übersetzern und einem steten Strom von Einwanderern, die das volle Spektrum terranischer Sprachen benutzten, sah es aus, als ob sich die Dinge wieder ändern könnten, da die neuen Nisei bei ihren ursprünglichen Sprachen blieben und elektronische Dolmetscher benutzten.

Diese linguistische Situation verdeutlichte Art eine Komplexität in der einheimischen Bevölkerung, die er vorher nicht bemerkt hatte. Manche Eingeborene waren Yonsei, vierte Generation oder jünger, und ganz entschieden Kinder des Mars. Aber andere Eingeborene hatten genau dasselbe Alter wie die Nisei als Kinder späterer Issei-Immigranten und neigten zu engeren Bindungen mit den terranischen Kulturen, aus denen sie stammten, samt all dem damit verbundenen Konservatismus. Somit gab es neue eingeborene ›Konservative‹ und eingeborene ›Radikale‹ aus alten Siedlerfamilien, wie man sagen konnte. Und diese Spaltung war manchmal mit völkischer oder nationaler Zugehörigkeit verknüpft, sofern das ihnen überhaupt etwas bedeutete.

Eines Nachts sprach Art mit einigen von ihnen — die eine befürwortete die globale Regierung, der andere war ein Anarchist, der hinter allen lokalen Autonomievorhaben stand, und er fragte sie nach ihrer Herkunft. Der Vater der Globalistin war halb Japaner, ein Viertel Ire und ein Viertel aus Tansania. Ihre Mutter hatte eine griechische Mutter gehabt und einen Vater mit Eltern aus Columbien und Australien. Der Anarchist hatte einen nigerianischen Vater und eine Mutter aus Hawaii und hatte damit eine gemischte Ahnenreihe von den Philippinen, Japan, Polynesien und Portugal. Art schaute sie an. Wenn man in Kategorien ethnischer Stimmblöcke denken wollte — wie würde man diese Leute einordnen? Das ging nicht. Sie waren Eingeborene des Mars. Nisei, Sansei, Yonsei — welche Generation auch immer, sie waren großenteils durch ihre Eindrücke auf dem Mars geformt — areoformt, wie Hiroko es immer vorausgesagt hatte. Sie hatten oft innerhalb ihres nationalen oder ethnischen Hintergrundes geheiratet, aber viel mehr nicht. Und ungeachtet ihrer Abstammung tendierten ihre politischen Ansichten nicht dazu, diesen Hintergrund zu reflektieren (Art fragte sich, wie man sich die gräko-columbianisch-australische Position vorzustellen hatte), sondern ihre eigene Erfahrung. Diese war an sich recht vielfältig. Manche waren im Untergrund aufgewachsen, andere in den von der UN kontrollierten großen Städten und hatten erst später im Leben des Untergrundes oder sogar erst unmittelbar bei der Revolution bemerkt, was im Gange war. Diese Unterschiede wirkten dahin, sie viel mehr zu beeinflussen als der zufällige Fakt, wo ihre terranischen Vorfahren gelebt hatten.

Art nickte, als die Eingeborenen ihm diese Dinge bei den langen durch Kava angeregten Parties, die bis tief in die Nacht liefen, erklärten. Bei diesen Parties waren die Leute zunehmend gut gelaunt, da der Kongreß, wie sie meinten, gut verlief. Sie nahmen die Debatten unter den Issei nicht sehr ernst. Sie waren zuversichtlich, daß ihre Ansichten sich im Kern durchsetzen würden. Der Mars würde unabhängig werden und von Marsianern regiert werden. Die Vorstellungen der Erde würden keine Rolle spielen. Alles weitere war nur noch eine Frage der Details. So gingen sie in den Komitees an ihre Arbeit, ohne den philosophischen Argumenten am runden Tisch viel Beachtung zu schenken. »Die alten Hunde knurren weiter«, lautete eine Mitteilung auf dem großen Anschlagebrett. Das schien eine allgemeine Ansicht der Eingeborenen auszudrücken. Und die Arbeit in den Komitees ging weiter.

Das große Anschlagebrett war ein sehr guter Indikator der Stimmung des Kongresses. Art las es wie die Kleinanzeigen in der Zeitung, und eines Tages stand da die Mitteilung: »Du liebst chinesisches Essen.« Gewöhnlich waren die Anzeigen allerdings eher politischer Natur. Oft wurden in den vorangegangenen Konferenztagen diskutierte Dinge kommentiert, wie: »Keine Kuppel ist eine Insel.« — »Wenn du dir keine Behausung leisten kannst, ist das Stimmrecht ein schlechter Scherz.« — »Abstand halten, keine Geschwindigkeitsänderung, keine Zusammenstöße!« — »La salute non sipaga.« Dann gab es Dinge, die nicht gesagt worden waren: »Benimm dich gegenüber anderen!« — »Die Roten haben grüne Wurzeln.« — »Die größte Show auf Erde.« — »Keine Könige, keine Präsidenten.« — »Der Große Mann haßt die Politik.« — »Dennoch sind wir das Kleine Rote Volk.«

Art war nicht weiter überrascht, als Leute an ihn herantraten, die Arabisch, Hindu oder eine Sprache redeten, die er nicht erkennen konnte, und ihm dann in die Augen schauten, während ihr Übersetzungsgerät Englisch mit einem Akzent aus der BBC oder Mittelamerika oder dem Staatsdienst von New Delhi sprach und irgendeine nicht unvorhersehbare politische Meinung äußerte. Es war wirklich ermutigend, auf diese Art die Distanz zu den Teilnehmern weniger extrem als bei der Teilnahme durch Fernübertragung zu erleben. Dennoch war es noch immer nicht ganz so, als ob man ›von Angesicht zu Angesicht‹ miteinander spräche, sondern eine politische Melange, die Unmöglichkeit blockweise abzustimmen oder gar in normalen Wählerschaften zu denken.

Es war wirklich eine seltsame Versammlung. Aber es ging weiter, und schließlich hatte sich jeder daran gewöhnt. Sie nahm bald jene sonderbare Qualität an, die über ihre normale Dauer hinaus Bereitschaft signalisierte, sich noch über Stunden mit einem Thema zu beschäftigen. Einmal aber, sehr spät in der Nacht, nach einem langen, bizarren Gespräch, in der der Übersetzer am Handgelenk der jungen Frau, mit der er sich unterhielt, in rhythmischen Couplets sprach (wobei Art nie erfuhr, welches ihre Ausgangssprache war), ging Art durch das Lagerhaus zu seiner Bürosuite zurück, um den runden Tisch herum, an dem immer noch gearbeitet wurde, obwohl es bereits nach dem Zeitrutsch war. Er blieb stehen, um eine Gruppe kurz zu begrüßen und stieß dann mit Schwung gegen eine Seitenwand, halb wach, halb dösend, durch seinen Kavajavarausch und die Erschöpfung überwältigt. Und ganz plötzlich kam in einer Art von schlafwandlerischer Vision das Seltsame zurück. In den Ecken waren Schatten, unzählige flimmernde Schatten, und darin Augen. Gestalten wie substanzlose Körper: Alle Toten, so schien es, und alle Ungeborenen waren da im Lagerhaus mit ihnen, um Zeugen dieses Augenblicks zu sein. Als ob die Geschichte ein Gobelin wäre und der Kongreß der Webstuhl, wo alles zusammenkam, der gegenwärtige Moment mit seiner übernatürlichen Präsenz, sein Potential direkt in den eigenen Atomen und Stimmen. Rückblick auf die Vergangenheit, imstande, alles zu sehen, ein einziger langer geflochtener Knüpfteppich von Ereignissen. Vorschau auf die Zukunft, imstande, nichts davon zu sehen, obwohl sie sich vermutlich in einer Explosion von Fäden der Möglichkeit verzweigte, und alles möglich werden konnte. Es gab zwei verschiedene Arten unerreichbarer Maßlosigkeit. Und alle wanderten zusammen vom einen ins andere, durch den großen Webstuhl der Zeit, das Jetzt. Jetzt war ihre Chance gekommen, für alle zusammen in diesem Augenblick, in dem alle Elemente, die zur Weisheit fähig waren, miteinander verwoben werden mußten — zur Weitergabe an alle künftigen Generationen.

Sie konnten alles mögliche tun. Aber gerade deshalb war es schwierig, den Kongreß zu einem Abschluß zu bringen. Unendlich viele Möglichkeiten standen vor dem Zusammenbruch bei der Wahl der einzigen Weltlinie der Geschichte. Die Zukunft wurde zur Vergangenheit. Es war etwas Enttäuschendes in dieser Passage durch den Webstuhl, dieser so jähen Verkleinerung der Unendlichkeit zu Eins, dem Zusammenbruch von Potentialität in Realität, welches die Aktion der Zeit selbst war. Das Potential war so entzückend, der Weg, den sie möglicherweise einschlagen konnten, alle die besten Teile aller Regierungen zugleich, magisch kombiniert zu einer Art von erhabener, noch nie gesehener Synthese... oder sollte man all das beiseite werfen und endlich einen neuen Weg in das Herz einer gerechten Regierung bahnen? Von dort zu der mundanen Problematik der geschriebenen Verfassung zu gehen, war ein unvermeidlicher Rückzug, den die Leute instinktiv ablehnten.

Andererseits wäre es sicher ein Vorteil, wenn ihr diplomatisches Team mit einem fertigen Dokument auf der Erde ankäme, um es den UN und dem Volk der Erde vorzulegen. Das war eigentlich unumgänglich. Sie mußten fertig werden; nicht bloß, um der Erde die vereinte Front einer etablierten Regierung zu präsentieren, sondern auch, um ihr Leben nach der Krise zu beginnen, wie das auch immer aussehen mochte.

Nadia empfand dies stark und begann sich selbst darum zu bemühen. »Es ist Zeit, den Schlußstein in den Bogen zu fügen«, sagte sie eines Morgens zu Art. Und von da an war sie unermüdlich, kam mit allen Delegationen und Komitees zusammen und bestand darauf, daß sie alle zu einem Ende ihrer Arbeit kamen, und es zur Schlußabstimmung vorzulegen. Diese ihre unerbittliche Hartnäckigkeit zeigte etwas, das zuvor nicht deutlich gewesen war, nämlich daß die meisten Fragen zur Zufriedenheit der meisten Delegationen gelöst worden waren. Sie hatten, wie die meisten zugaben, etwas Brauchbares zusammengekocht, oder zumindest etwas, das den Versuch wert war, in der Zukunft mit Ergänzungsverfahren behandelt zu werden, so daß sie Aspekte des Systems noch abändern konnten, wenn das Gerüst erst etabliert war. Besonders die jungen Eingeborenen schienen erfreut — stolz auf ihre Arbeit und zufrieden, daß es ihnen gelungen war, den Akzent auf lokale Semiautonomie zu setzen und damit den Weg zu institutionalisieren, den die meisten von ihnen unter der Übergangsbehörde gelebt hatten.

Die vielen Kontrollen gegen die Mehrheitsherrschaft kümmerten sie nicht, auch wenn sie selbst die derzeitige Majorität hatten. Um nicht durch diese Entwicklung als geschlagen auszusehen, mußten Jackie und ihr Kreis so tun, als hätten sie nie in erster Linie für eine starke Präsidentschaft und Zentralregierung gestimmt. Sie erklärten vielmehr, ein nach Schweizer Art von der Legislatur gewählter Exekutivrat wäre schon immer ihre Idee gewesen. Es lief vieles auf diese Weise ab, und Art freute sich, mit allen diesen Ansprüchen übereinzustimmen. »Ja, ich entsinne mich; wir fragten uns, was wir mit der Nacht anfangen sollten, damals, als wir aufblieben, um den Sonnenaufgang zu sehen. Ihr habt einen guten Gedanken gehabt.«

Gute Ideen überall. Und sie fingen an, sich in einer Spirale auf den Abschluß hin zu bewegen.

Die globale Regierung, wie sie sie entwarfen, sollte eine Konföderation sein, geführt durch einen Exekutivrat von sieben Mitgliedern, gewählt durch eine Legislative von zwei Kammern. Ein Zweig der Legislative, die Duma, bestand aus einer großen Schar von Repräsentanten, die aus der Bevölkerung einberufen wurden. Der andere, der Senat, war eine kleinere Gruppe, von deren Mitgliedern je einer aus jeder Stadt oder Dorfgruppe gewählt werden sollte, sofern sie mehr als 500 Personen umfaßte. Die Legislatur war alles in allem recht schwach. Sie wählte den Exekutivrat, gab Empfehlungen für die Richter ab und überließ den Städten die meisten gesetzgeberischen Pflichten. Der judizitäre Zweig war stärker. Er umfaßte nicht nur Strafgerichte, sondern auch eine Art von doppeltem obersten Gerichtshof, der zur Hälfte mit der Verfassung und zur Hälfte mit der Umwelt zu tun hatte. Die Mitglieder für beide sollten ernannt, gewählt und durchs Los ermittelt werden. Der Umwelthof würde für Dispute hinsichtlich des Terraformens und anderer Veränderungen zuständig sein, während der Verfassungshof für die Verfassungsmäßigkeit aller anderen Themen zuständig sein sollte, einschließlich in Frage gestellter Gesetze auf Städteebene. Ein Arm des Umwelthofes würde eine Landkommission sein mit der Aufgabe, die Verwaltung des Landes zu beaufsichtigen, die allen Marsbewohnern entsprechend Punkt Drei der Vereinbarung von Dorsa Brevia gemeinsam obliegen sollte. Es würde kein Privateigentum als solches geben, wohl aber verschiedene Rechte geben, die in Leasing-Kontrakten festgelegt wären; und die Landkommission sollte diese Dinge ausarbeiten. Eine entsprechende ökonomische Kommission würde unter dem Verfassungshof arbeiten. Sie wäre zum Teil zusammengesetzt aus Repräsentanten von Kooperativen der Gewerkschaften, die für die verschiedenen Berufe und Industrien eingerichtet würden. Diese Kommission sollte die Etablierung einer Version des ökologisch-ökonomischen Entwurfs des Untergrundes beaufsichtigen, einschließlich sowohl nicht auf Gewinn gerichteter Unternehmen, die sich auf die öffentliche Sphäre konzentrierten, wie steuerpflichtiger Unternehmen, deren Größe gesetzlich beschränkt war und die laut Gesetz den Beschäftigten gehörten.

Diese Erweiterung des Judizitären befriedigte das vorhandene Verlangen nach einer starken globalen Regierung, ohne einer Exekutivkörperschaft eine machtpolitische Vorrangstellung einzuräumen. Diese Lösung war auch eine Antwort auf die heroische Rolle, welche im vorigen Jahrhundert der Weltgerichtshof der Erde gespielt hatte, als fast jede andere terranische Institution gekauft oder anderweitig unter metanationalem Druck zusammengebrochen war. Nur der Weltgerichtshof hatte standgehalten in einer zumeist ignorierten und in der Tat symbolischen Aktion gegen die Räubereien der Metanationalen. Eine moralische Kraft, die, wenn sie ein stärkeres Gebiß gehabt hätte, mehr Gutes hätte tun können. Vom Untergrund des Mars aus hatten sie gesehen, wie die Schlacht geschlagen wurde, und jetzt erinnerten sie sich.

Soweit war die Regierung des Mars angelegt. Die Verfassung umfaßte auch eine lange Liste der Menschenrechte, einschließlich sozialer Rechte, ferner Richtlinien für die Landkommission und die Wirtschaftskommission, ein australisches Wahlsystem für die effektiven Ämter, sowie ein System für Verbesserungen usw. Schließlich fügte man dem Haupttext der Verfassung noch die riesige Sammlung von Materialien hinzu, die sich während des Kongresses angesammelt hatten. Man nannte sie ›Arbeitsnoten‹ oder ›Kommentar‹. Diese Aufstellung sollte den Höfen bei der Interpretation des Hauptdokuments helfen und enthielt alles, was die Delegationen am runden Tisch gesagt, auf die Bildschirme des Lagerhauses gebracht oder via Post empfangen hatten.


Damit waren die meisten schwierigen Fragen gelöst oder zumindest unter den Teppich gekehrt. Die größte noch offene Erörterung war der Einspruch der Roten. Hier trat Art in Aktion. Er veranlaßte einige späte Konzessionen an die Roten, einschließlich vieler früher Berufungen in die Umwelthöfe. Diese Konzessionen wurden später als die ›Große Geste‹ bekannt. In Erwiderungen stimmte Irishka im Namen aller Roten, die noch am politischen Geschehen teilnahmen, zu, daß das Kabel bleiben sollte, daß die UNTA in Sheffield präsent sein dürfe und daß Terraner noch würden einwandern können, wenn auch mit Einschränkungen, und schließlich, daß das Terraformen weitergehen könne, in langsamer, aber nicht zerstörerischer Form, bis der atmophärische Druck in sechs Kilometern Höhe über dem Bezugsniveau 350 Millibar betragen würde. Diese Zahl solle alle fünf Jahre überprüft werden. Und so war die rote Sackgasse beseitigt oder immerhin durch List entschärft.

Cojote schüttelte den Kopf darüber, wie sich die Dinge entwickelt hatten. »Nach jeder Evolution kommt ein Interregnum, in dem die Kommunen sich selbst regieren und alles gut ist. Und dann tritt das neue Regime auf und die Lage verschlechtert sich. Ich meine, was wir jetzt tun sollten, ist, aus den Kuppeln und Canyons herauszukommen und sie sehr höflich zu fragen, wie sie in den letzten zwei Monaten die Dinge in Gang gehalten haben. Dann sollte man diese Luxusverfassung zum Teufel jagen und lieber nach echten Lösungen suchen.«

»Aber das sagt die Verfassung ja gerade«, witzelte Art.

Cojote verstand hierbei keinen Spaß. »Du mußt sehr vorsichtig sein, du solltest keine Macht im Zentrum konzentrieren, bloß weil du dazu in der Lage bist. Macht korrumpiert, totale Macht korrumpiert total, das ist das Grundgesetz der Politik. Vielleicht ihr einziges Gesetz.«

Was die UNTA angeht, so war es schwieriger zu sagen, was die dachten, denn die Meinungen unten auf der Erde waren geteilt. Eine besonders laute Gruppe verlangte die gewaltsame Zurückholung des Mars, wobei auf Pavonis ein jeder eingesperrt oder gehängt werden solle. Die meisten Terraner waren konzilianter; und sie alle waren durch die andauernde Krise auf der Erde selbst noch abgelenkt. Für den Augenblick spielten sie eine geringere Rolle als die Roten. Das war der Spielraum, den die Revolution den Marsianern geschenkt hatte. Jetzt galt es, ihn auszufüllen.


Jede Nacht in der abschließenden Woche ging Art locker durch Cavils und Kava ins Bett und wachte trotz Erschöpfung nachts recht oft auf und wälzte sich unter der Wucht eines scheinbar brillanten Gedankens, der am Morgen wieder entschwunden war oder sich als unsinnig zu erweisen pflegte. Nadia schlief ebenso schlecht auf der Couch neben seiner oder in ihrem Sessel. Manchmal schliefen sie ein, während sie noch über den einen oder anderen Punkt sprachen, und erwachten angekleidet, aber ineinander verschlungen, wie Kinder, die sich in einem Gewitter aneinanderklammerten. Die Wärme des anderen Körpers gab ihnen den Trost, den sie brauchten. Und einmal wachten beide in dem ultravioletten Licht der frühen Dämmerung auf und redeten stundenlang inmitten des kalten Schweigens des Gebäudes eingebettet in einem kleinen Kokon aus Wärme und Kameradschaft. Es gab einen anderen Geist, mit dem man sprechen konnte. Unter Kollegen war der Weg zur Freundschaft nicht weit. Von dort zu Liebhabern? — Vielleicht. Nadia schien keine Neigung zu Romantik jeglicher Art zu besitzen. Aber Art war ohne Zweifel verliebt; und in Nadias gefleckten Augen glaubte er zu sehen, daß sie ihm eine neue Zuneigung zublinzelten. So lagen sie am Ende des langen Kongresses auf ihren Couchen und plauderten. Sie pflegte seine Schultern zu kneten, oder er die ihren, und dann fielen sie, von Erschöpfung übermannt, in Dämmerzustand. Hinter dem Erstellen dieses Dokuments steckte ein größerer Druck, als jeder von ihnen zugeben wollte, außer in diesen Momenten, wenn sie sich gegen die große kalte Welt zusammenkuschelten. Eine neue Liebe: Art konnte es trotz Nadias fehlender Sentimentalität nicht anders ausdrücken. Er war glücklich.

Und er war belustigt, wenn nicht sogar überrascht, als sie eines Morgens aufstanden und sie sagte: »Lassen wir darüber abstimmen!«


Art sprach mit den Schweizern und den Gelehrten von Dorsa Brevia. Die Schweizer schlugen dem Kongreß vor, daß sie für die derzeit auf dem Tisch liegende Version der Verfassung stimmen würden — Punkt für Punkt, wie sie es zu Beginn versprochen hatten. Es gab sofort Meinungsverschiedenheiten über Abstimmungsverfahren, im Vergleich zu denen die Börsenaktivitäten auf der Erde spitzfindig und langsam erschienen. Die Schweizer entwarfen eine Abfolge der Abstimmungen, die sie im Laufe der Tage durchgingen, wonach jede Gruppe eine Stimme bei jedem numerierten Paragraphen des Verfassungsentwurfs haben sollte. Alle 89 Paragraphen gingen durch, und die umfangreiche Sammlung von ›erläuterndem Material‹ wurde dem Haupttext offiziell angegliedert.

Danach war es Zeit, den Entwurf dem Volk des Mars zur Billigung vorzulegen. Also stimmte Ls 158, am 11. Tag des 1. Oktobers im m-Jahr 52 (auf der Erde 27. Februar 2128) die allgemeine Bevölkerung des Mars, einschließlich aller Personen, die älter als fünf m-Jahre waren, mit Handgelenkapparaten über das zustandegekommene Dokument ab. Mehr als 95 Prozent der Bevölkerung nahmen an der Abstimmung teil. Die Verfassung ging mit 78 zu 22 Prozent und etwas mehr als neun Millionen Stimmen durch. Sie hatten eine Regierung.

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