ACHTER TEIL Grün und weiss

Cadres kam in die Stadt Xiazha in Guangzhou und sagte: Um des Wohles Chinas willen müßt ihr dieses Dorf auf dem Moon Plateau des Mars neu errichten. Ihr werdet zusammen gehen, das ganze Dorf. Ihr werdet eure Familie und eure Freunde und Nachbarn mit euch haben. Zehntausend von euch alle zusammen. Wenn ihr euch in zehn Jahren entscheidet zurückzukehren, könnt ihr das tun; und in das neue Xiazha wird Ersatz geschickt werden. Wir denken aber, daß es euch gefallen wird. Es liegt einige Kilometer nördlich der Hafenstadt Nüokeras nahe dem Delta des Maumee-Flusses. Das Land istfruchtbar. Es gibt in dieser Region schon einige chinesische Dörfer und in allen großen Städten chinesische Sektionen. Es gibt viele Hektare freien Landes. Die Reise kann in einem Monat beginnen. Eisenbahn nach Hong Kong, Fähre nach Manila, und dann mit dem Raumaufzug hinauf in den Orbit. Sechs Monate durch den Weltraum zwischen Erde und Mars und mit dem Aufzug hinunter nach Pavonis Mons und noch ein Ausflugszug zum Moon Plateau. Was sagt ihr? Wir möchten eine einstimmige Entscheidung und die Dinge auf dem rechten Fuß in Gang bringen.

Später rief ein Angestellter das Praxisbüro in Hong Kong an und berichtete einem Telefonisten, was geschehen war. Praxis Hong Kong schickte die Information der demographischen Studiengruppe von Praxis in Costa Rica. Dort fügte eine Planerin namens Amy den Bericht einer langen Liste ähnlicher Meldungen hinzu und dachte einen ganzen Morgen lang nach. Am gleichen Nachmittag meldete sie sich bei einem im Ruhestand lebenden leitenden Beamten von Praxis namens William Fort, der an einem der neuen Riffs vor El Salvador surfte. Sie schilderte ihm die Lage: »Die blaue Welt ist erfüllt, die rote Welt wird immer leerer. Es wird Probleme geben. Wir sollten darüber sprechen1.« war seine lakonische Antwort.

Die demographische Gruppe und ein Teil der Polizeitruppe von Praxis, einschließlich vieler der Achtzehn Unsterblichen, versammelten sich in Forts Surfcamp an der Flanke eines Hügels. Die Demographen stellten die Lage dar. Dann eröffnete Amy: »Ab jetzt bekommt jeder die Langlebigkeitsbehandlung. Wir stecken voll im hypermalthusianischen Zeitalter.«

Die Situation war demographisch explosiv. Natürlich sahen die terrestrischen Regierungen die Emigration zum Mars oft als eine Lösung des Problems. Selbst mit diesem neuen Ozean hatte der Mars fast so viel Landfläche wie die Erde und war dennoch spärlich besiedelt. Die wirklich volkreichen Nationen, erläuterte Amy der Gruppe, schickten schon so viele Leute hinauf, wie sie nur irgend konnten. Oft waren die Emigranten Mitglieder ethnischer oder religiöser Minderheiten, die mit dem Mangel an Autonomie in ihren Heimatländern schlecht zurechtkamen und diese deshalb gern verließen. In Indien waren die Aufzugwaggons, die auf dem Suvadiva-Atoll südlich der Malediven herunterkamen, täglich voll ausgelastet, überfüllt mit Emigranten, ein Strom von Sikhs, Kashmiris, Muslimen und auch Hindus, die sich in den Weltraum erhoben und zum Mars umsiedelten. Es gab Zulus aus Südafrika. Palästinenser aus Israel Kurden aus der Türkei, Indianer aus den Vereinigten Staaten. »In diesem Sinne«, sagte Amy, »wird der Mars das neue Amerika.«

Eine Frau namens Elizabeth fügte hinzu: »Und wie im alten Amerika gibt es eine einheimische Bevölkerung, auf die man da stoßen wird. Denkt lieber noch einmal über die Anzahl, die der Mars verkraften kann, nach! Wenn jeden Tag die Waggons aller Raumaufzüge auf der Erde voll sind, sind das hundert Personen je Waggon, das heißt 2400 pro Aufzug, die täglich starten, und weitere 2400, die oben bei jedem Aufzug die Waggons verlassen und in die Shuttles umsteigen. Es gibt zehn Aufzüge, das macht also täglich 24000 Personen. Und somit wären es 876000 Menschen in jedem Jahr.«

»Nehmen wir an, es wären zehn Millionen jährlich«, sagte Amy. »Das ist eine Menge, aber selbst in diesem Tempo würde es ein Jahrhundert erfordern, auch nur eine der sechzehn Milliarden der Erde zum Mars zu befördern. Es läßt sich keine Differenz errechnen, die hier tatsächlich relevant wäre. Also macht das doch gar keinen Sinn! Es ist keine größere Umsiedlung möglich. Wir können nie einen zahlenmäßig bedeutsamen Teil der Erdbevölkerung zum Mars befördern. Wir müssen unser Augenmerk darauf richten, die Probleme der Erde eben dort zu lösen. Die Existenz des Mars kann bestenfalls als eine Art von psychologischem Ventil helfen. Im Grunde sind wir auf uns selbst angewiesen.«

»Es muß ja keinen Sinn ergeben«, sagte William Fort »Das ist richtig«, gab Elizabeth zu. »Einige irdische Regierungen versuchen es, ob es sinnvoll ist oder nicht. China, Indien, Indonesien, Brasilien — sie alle setzen darauf, und wenn sie die Emigration zum Mars bei der Kapazität des Systems beibehalten, wird sich die Bevölkerung des Mars in etwa zwei Jahren verdoppeln. Auf der Erde würde sich nicht wirklich etwas ändern, aber der Mars würde total überschwemmt sein.«

Einer der Unsterblichen bemerkte, daß ein Anschwellen der Emigration in einem ähnlichem Maßstab dazu beigetragen hatte, die erste Revolution auf dem Mars zu verursachen.

Ein anderer fragte: »Was ist mit dem Vertrag zwischen Erde und Mars? Ich dachte, daß er solche überwältigenden Zuflüsse sowieso verbieten würde.«

»Das tut er auch«, erklärte Elizabeth. »Er legt fest, daß in jedem Erdjahr nicht mehr als zehn Prozent der Marsbevölkerung eingebürgert werden dürfen. Aber er sagt auch, daß der Mars mehr aufnehmen darf, wenn er kann.«

»Außerdem...«, sagte Amy, »seit wann haben Verträge jemals Regierungen davon abgehalten, zu tun, was sie wollten?«

»Wir müssen sie woanders hinschicken«, sagte William Fort.

Die anderen schauten ihn an.

» Wohin denn ? «fragte Amy.

Niemand antwortete. Fort schwenkte undeutlich die Hand.

»Wir sollten lieber an woanders denken, Alternativen finden«, sagte Elizabeth grimmig. »Die Chinesen und Inder sind bisher gute Verbündete für die Marsianer gewesen und beachten den Vertrag auch nicht besonders. Man hat mir eine Bandaufzeichnung von einer indischen Polizeiversammlung geschickt, und da redete man ganz ungeniert davon, ihr Programm mit voller Leistung einige Jahrhunderte laufen zu lassen, dann würde man sehen, was erreicht werden könne.«


Der Waggon des Aufzugs senkte sich, und der Mars unter ihren Füßen wurde riesengroß. Endlich bremste man über Sheffield, und alles wirkte normal. Wieder Marsschwere, ohne daß die Corioliskraft einen nach der Seite zog. Und sie waren in der Sockelmuffe — wieder daheim.

Freunde, Reporter, Delegationen, Mangalavid. In Sheffield eilten die Leute ihren Geschäften nach. Gelegentlich erkannte man Nirgal und winkte ihm fröhlich zu. Manche blieben sogar stehen, um ihm die Hand zu schütteln oder ihn an sich zu ziehen und sich nach seiner Reise oder seiner Gesundheit zu* erkundigen. »Wir freuen uns, daß du zurück bist!«

Aber in den Augen der meisten Leute... Krankheit war so selten. Einige schauten auch weg. Magisches Denken. Nirgal erkannte plötzlich, daß für viele Menschen die Langlebigkeitsbehandlungen mit Unsterblichkeit gleichgesetzt wurden. Sie wollten nichts Gegenteiliges erfahren und sahen fort.

Aber Nirgal hatte Simon sterben sehen, obwohl man ihm die Knochen mit Nirgals jungem Mark injiziert hatte. Er hatte gefühlt, wie sein Körper sich auflöste, hatte den Schmerz in seinen Lungen und in jeder seiner Zellen empfunden. Er wußte, daß der Tod eine Realität war. Die Unsterblichkeit war nicht zu ihnen gekommen und würde das auch nie tun. Verzögertes Greisentum, das war alles. Nirgal war sich dessen bewußt. Und die Leute sahen dieses Wissen in ihm und wichen zurück. Er war unrein, und sie sahen weg. Das ärgerte ihn.


Er nahm den Zug nach Cairo und blickte auf die weit geneigte, eisenhaltige und in Trockenheit brachliegende Wüste von Ost-Tharsis. Die Urlandschaft des roten Mars. Sein Land. Seine Augen fühlten das. Sein Geist und Körper glühten in dieser Erkenntnis.

Unwohl fühlte er sich nur unter den Gesichtern der Leute im Zug, die ihn anschauten und dann wieder wegsahen.

Er war der Mann gewesen, dem es nicht gelungen war, sich der Erde anzupassen. Die Heimatwelt hatte ihn fast umgebracht. Er war eine alpine Blume, unfähig, der wahren Welt zu widerstehen, ein Exot, für den die Erde wie die Venus war. Das war es, was ihre Augen mit ihren durchbohrenden Blicken sagten. Ewiges Exil.

Nun, das waren die Bedingungen des Mars. Einer von je fünfhundert auf dem Mars Geborenen, die die Erde besuchten, starb. Es war mit das Gefährlichste, das ein Marsianer tun konnte; gefährlicher als von den Klippen zu stürzen, ein Besuch des äußeren Sonnensystems oder das Kindbett. Eine Art russisches Roulette, gewiß mit vielen leeren Kammern im Magazin, aber die scharfe Patrone war eben da.

Und er hatte dem getrotzt. Es war kein Erfolg auf der ganzen Linie, aber immerhin. Er war am Leben, er war daheim! Diese Gesichter im Zug, was wußten diese Leute schon? Sie dachten, er wäre von der Erde besiegt worden. Aber sie dachten auch, daß er Nirgal, der Held, war, der nie zuvor eine Niederlage erfahren hatte. Sie nahmen ihn als eine Legende, als Idee. Sie wußten nichts von Simon oder Jackie oder Daö oder Hiroko. Sie wußten gar nichts über ihn. Er war jetzt 26 m-Jahre alt, ein Mann im mittleren Alter, der all das erlitten hatte, was jeder Mann in mittleren Jahren durchmachen muß — Tod der Eltern, Tod der Liebe und Verrat durch Freunde. So etwas traf jeden. Aber das war nicht der Nirgal, den die Leute mochten.

Der Zug fuhr durch die ersten gekrümmten Vorderwälle der unterminierten Canyons des Labyrinths der Nacht und glitt in den alten Bahnhof von Cairo. Nirgal ging in die überkuppelte Stadt hinaus und schaute sich neugierig um. Es war eine Festung der Metanats gewesen, die er noch nie von innen gesehen hatte. Es war interessant, die alten Gebäude zu sehen. Die physikalische Fabrik war während der Revolution von der Roten Armee zerstört worden und noch durch die zerbrochenen schwarzen Mauerreste zu erkennen. Die Leute winkten ihm zu, als er den breiten Zentralboulevard zu den Stadtbüros hinunterging.

Da war sie nun, im Saal des Rathauses, an einem der Fenster lehnend, die das U von Nilus Noctis überschauten. Nirgal blieb stehen und hielt den Atem an. Sie hatte ihn noch nicht gesehen. Ihr Gesicht war runder geworden, aber sonst war sie so groß und gewandt wie immer, gekleidet in eine grüne Seidenbluse und einen dunkelgrünen Rock aus einem gröberen Stoff. Ihr schwarzes Haar floß als glänzende Mähne über ihren Rücken. Er konnte den Blick nicht abwenden.

Dann erblickte sie ihn und zuckte leicht zusammen. Vielleicht hatten die Bilder auf dem Armbandgerät ihr nicht das Ausmaß vermittelt, in dem ihn die Krankheit auf der Erde getroffen hatte. Bei dem Wiedererkennen streckte sie die Hände aus und folgte ihnen, während ihre Augen überlegten und die Miene bei seinem Erscheinen sorgsam für die Kameras, die sie immer umgaben, angepaßt wurde. Aber Nirgal liebte diese Hände. Er fühlte die Wärme im Gesicht, als er errötete, während sie sich küßten, Wange an Wange wie befreundete Diplomaten. Aus der Nähe sah sie immer noch aus wie fünfzehn m-Jahre, eben die makellose Jugend hinter sich, in diesem Lebensabschnitt, der noch schöner ist als die Jugend selbst. Das Gerücht kursierte, sie hätte die Behandlung seit dem Alter von zehn Jahren bekommen.

»Es ist also wahr«, sagte sie. »Die Erde hat dich fast getötet.«

»Es war eigentlich ein Virus.«

Sie lachte, aber ihre Augen behielten den berechnenden Blick bei. Sie nahm ihn am Arm und führte ihn wie einen Blinden zu ihrer Begleitung zurück. Obwohl er einige von denen kannte, stellte sie sie trotzdem vor, nur um zu betonen, wie sehr sich der innere Kreis der Partei verändert hatte, seit er abgereist war. Aber das konnte er natürlich nicht bemerken, und so war er recht guter Dinge, als sie plötzlich durch ein großes Geschrei unterbrochen wurden. Unter ihnen befand sich ein Baby.

»Oh!« rief Jackie und schaute auf ihr Armband. »Sie hat Hunger. Komm, ich stell dir meine Tochter vor.« Sie ging zu einer Frau hinüber, die ein Wickelkind trug. Das Mädchen war ein paar Monate alt, hatte dicke Backen und eine dunklere Haut als Jackie. Es kreischte lauthals. Jackie nahm es der Frau ab und brachte es in einen Nebenraum.

Nirgal war stehengeblieben und erblickte Tiu, Rachel und Frantz am Fenster.

Er ging zu ihnen hinüber und schaute in Jackies Richtung. Sie rollten mit den Augen und zuckten die Achseln. Jackie hat nicht gesagt, wer der Vater ist, erklärte Rachel rasch und halblaut. Das war kein ungewöhnliches Verhalten. Viele Frauen von Dorsa Brevia hatten es ebenso gemacht.

Die Frau, die das Mädchen gehalten hatte, betrat wieder den Raum und sagte Nirgal, daß Jackie mit ihm sprechen möchte. Er folgte der Frau ins nächste Zimmer.

Auch dieser Raum hatte ein großes Aussichtsfenster mit Blick auf Nilus Noctis. Jackie saß in einem Sessel am Fenster, stillte das Kind und genoß den Anblick. Das Kind war hungrig und nuckelte, zwischen kleinen Seufzern und Quietschen, gierig und mit geschlossenen Augen. Die kleinen Fäustchen verkrampften sich, wie an Zweigen oder Fell in einem durch die Erinnerung an Bäume und Flucht geprägten Verhalten. In diesem Griff zeigte sich Evolutionsgeschichte.

Jackie erteilte Anweisungen, sowohl an Personal im Zimmer wie über das Armband. »Ganz gleich, was sie in Bern sagen, wir müssen die Flexibilität haben, um nötigenfalls die Quoten zu drücken. Die Inder und Chinesen werden sich eben daran gewöhnen müssen.«

Einiges wurde für Nirgal jetzt klarer. Jackie war im Exekutivrat, aber der hatte keine besondere Macht. Sie war auch noch eine der Führerinnen der Partei Freier Mars. Und obwohl diese auf dem Planeten vielleicht weniger Einfluß haben mochte,’ da die Macht sich in die Kuppeln verlagerte, hatte sie bei den Beziehungen zwischen Erde und Mars das Potential, eine bestimmende Institution zu werden. Selbst wenn sie Politik auch nur koordinierte, würde sie alle Macht erhalten, über die ein Koordinator verfügen konnte. Und die war nicht zu unterschätzen. Es war immerhin das gesamte Machtpotential, das Nirgal je besessen hatte. In vielen Situationen konnte eine solche Koordination das Äquivalent für die Bestimmung der terranischen Politik durch den Mars sein, da alle lokalen Regierungen sich mehr um ihre lokalen Angelegenheiten kümmerten und der Freie Mars seine Chance nutzte, die globalen Machtstrukturen zu dominieren und Positionen mit Mitgliedern der eigenen Partei zu besetzen. Und natürlich gab es eine Tendenz, wonach die Beziehung zwischen Erde und Mars das Potential besaß, alles andere in den Schatten zu stellen. Somit konnte Jackie auf dem Weg sein, eine interplanetare Macht zu werden.

Nirgals Aufmerksamkeit wandte sich wieder dem Baby an ihrer Brust zu. Die Prinzessin des Mars. Jackie deutete mit einem Kopfnicken auf die Bank neben sich. »Nimm Platz! Du siehst müde aus.«

»Mir geht es gut«, versicherte Nirgal, setzte sich aber. Jackie warf einer ihrer Assistentinnen einen Blick zu und machte mit dem Kopf eine heftige Bewegung zur Seite. Sehr bald waren sie mit dem Kind allein.

»Die Chinesen und Inder halten den Mars für ein leeres neues Land«, sagte Jackie. »Das geht aus allem hervor, was sie sagen. Sie sind verdammt zu freundlich.«

»Vielleicht mögen sie uns«, sagte Nirgal. Jackie lächelte, aber er fuhr fort: »Immerhin haben wir ihnen geholfen, die Metanats los zu werden. Sie dürfen nun aber nicht daran denken, daß sie ihre überschüssige Bevölkerung hier abladen könnten. Es sind einfach zu viele, als daß eine Auswanderung irgendeinen Unterschied für sie machten würde.«

»Mag sein, aber sie träumen davon. Und mit Raumaufzügen können sie einen ständigen Strom schicken. Das summiert sich schneller auf, als du denkst.«

Nirgal schüttelte den Kopf. »Es wird nie genug sein.«

»Woher willst du das wissen? Du bist doch in keinem dieser Länder gewesen.«

»Jackie, eine Milliarde ist eine große Zahl. Zu groß, als daß wir sie uns überhaupt vorstellen können. Die Erde hat siebzehn Milliarden. Sie können keinen nennenswerten Bruchteil dieser Zahl hierher schicken. Es gibt nicht genug Shuttles dafür.«

»Sie könnten es irgendwie versuchen. Die Chinesen haben Tibet mit Han-Chinesen überschwemmt; und das hat gar nichts zur Lösung ihrer Bevölkerungsprobleme beitragen. Trotzdem tun sie es immer noch.«

Nirgal zuckte die Achseln. »Das hier ist Tibet. Wir werden auf Distanz bleiben.«

»Ja«, erwiderte Jackie ungeduldig. »Aber das dürfte nicht leicht sein, wenn es kein wir gibt. Wenn sie nach Margaritifer hinausgehen und mit den arabischen Karawanen dort einen Handel machen, wer wird sie daran hindern?«

»Die Umweltgerichtshöfe?«

Jackie stieß zwischen den Lippen Luft aus, und das Baby riß sich los und wimmerte. Jackie wechselte das Kind an die andere Brust. Eine olivfarbene Kurve mit blauen Adern. »Antar rechnet nicht damit, daß die Umweltgerichtshöfe lange funktionieren werden. Wir hatten einen Streit mit ihnen, als du fort warst, und kamen bloß mit ihnen zurecht, indem wir dem Prozeß eine Chance gaben. Aber diese Leute waren nicht geeignet. Sie konnten sich nicht durchbeißen. Alles, was auch immer jemand tut, hat Einfluß auf den Umweltpakt. Darum sollten sie wohl alles beurteilen. Aber in den geringeren Höhenlagen werden Kuppeln abgebaut, und nicht einer von hundert tritt an die Gerichte heran, um für das um Erlaubnis zu erbitten, was sie vorhaben, sobald ihre Stadt im Freien steht. Warum sollten sie auch? Jetzt ist jeder ein Ökopoet. Nein! Das System der Gerichtshöfe wird untergehen.«

»Du kannst nicht sicher sein«, sagte Nirgal. »Ist Antar der Vater?«

Jackie zuckte die Achseln.

Jeder konnte der Vater sein — Antar, Dao, Nirgal selbst, zum Teufel, auch John Boone könnte es sein, wenn eine Probe seines Samens zufällig noch im Vorrat gewesen wäre.

Das sähe Jackie ähnlich, falls sie es nicht allen Leuten erzählt hätte. Sie zog den Kopf des Kindes an sich.

»Glaubst du wirklich, daß es richtig ist, ein vaterloses Kind aufzuziehen?«

»So bist du doch auch aufgewachsen, oder? Und ich hatte keine Mutter. Wir waren alle Kinder mit nur einem Elternteil.«

»Aber war das gut?«

»Wer weiß?«

Jackies Gesicht zeigte einen Ausdruck, den Nirgal nicht deuten konnte. Ihr Mund war leicht zusammengepreßt — vor Unwillen? und vor Trotz? — unmöglich zu sagen. Sie wußte, wer ihre beiden Eltern waren; aber nur einer war bei ihr geblieben, und Kasei hatte sich nicht besonders gekümmert. Und wurde in Sheffield getötet, zum Teil aufgrund der brutalen Antwort auf den Angriff der Roten, den Jackie selbst befürwortet hatte.

»Du wußtest nichts von Cojote, bis du sechs oder sieben Jahre alt wärest«, sagte sie. »Ist das richtig?«

»Wahr, aber nicht richtig.«

»Was?«

»Es war nicht richtig.« Und er schaute ihr in die Augen.

Aber sie sah weg, auf das Baby hinunter. »Besser, als wenn die Eltern einander vor den Augen des Kindes in Stücke reißen.«

»Ist es das, was du mit dem Vater tun würdest?«

»Wer weiß?«

»Es ist auf diese Weise also sicherer.«

»Vielleicht. Eine Menge Frauen in Dorsa Brevia halten es so.«

»In Dorsa Brevia.«

»Überall. Die biologische Familie ist nicht gerade eine Institution des Mars.«

»Ich weiß nicht.« Nirgal überlegte. »Ich habe wirklich eine Menge Familien in den Canyons gesehen.

Wir kommen in dieser Hinsicht aus einer ungewöhnlichen Gruppe.«

»In vielerlei Hinsicht.«

Ihr Kind wich zurück, und Jackie stopfte ihre Brust in den Büstenhalter und zog das Hemd herunter. »Marie?« rief sie, und ihre Assistentin kam herein. »Ich denke, ihre Windel muß gewechselt werden.« Sie übergab das Kleinkind der Frau, die ohne ein Wort hinausging.

»Jetzt Bedienstete?« fragte Nirgal.

Jackie preßte den Mund wieder zusammen und stand auf. Sie rief: »Mem?«

Eine andere Frau kam herein, und Jackie sagte: »Mem, wir werden mit diesen Leuten vom Umweltgerichtshof wegen dieses chinesischen Ersuchens zusammenkommen müssen. Es könnte sein, daß wir es als Hebel benutzen können, damit die Wasserzuteilung für Cairo neu erwogen wird.«

Mem nickte und verließ den Raum.

»Du triffst einfach die Entscheidungen?« fragte Nirgal.

Jackie entließ ihn mit einer Handbewegung. »Es ist hübsch, dich wieder zurück zu haben, Nirgal. Aber bemühe dich aufzuholen, okay?«


Aufholen. Der Freie Mars war jetzt eine politische Partei, die größte auf dem Planeten.

Das war nicht immer so gewesen. Es hatte eher als ein Netz von Freunden begonnen, oder als der Teil des Untergrundes, der in der Demimonde lebte. Zumeist frühere Studenten der Universität in Sabishii oder später Mitglieder einer sehr lockeren Gemeinschaft in den überkuppelten Canyons und heimlichen Clubs in den Städten und so fort. Eine Art vager Schirm für Leute, die mit dem Untergrund sympathisierten, aber keiner spezielleren politischen Bewegung oder Philosophie anhingen. Wie sie sagten: Einfach Freier Mars.

In vieler Hinsicht war das von Nirgal begründet worden. So viele Eingeborene waren an Autonomie interessiert gewesen; und die verschiedenen Issei-Parteien, die auf den Gedanken des einen oder anderen Siedlers beruhten, sprachen sie nicht an. Sie hatten etwas Neues gewollt. Und so war Nirgal um den Planeten gereist und hatte sich bei Leuten aufgehalten, die Meetings oder Diskussionen organisierten. Das war so lange gegangen, daß die Leute schließlich auf einem Namen bestanden. Man wollte die Dinge beim Namen nennen können.

Daher also: Freier Mars. Und in den Revolutionsjahren wurde die Organisation ein Treffpunkt für die Eingeborenen, der aus der Gesellschaft als ein Phänomen auftauchte, zu dem sich viel mehr Leute als zugehörig erklärten, als man hätte für möglich halten können. Millionen.

Die Majorität der Einheimischen. Das war die eigentliche Definition der Revolution. Das war der Hauptgrund für ihren Erfolg. Freier Mars als Motto und Imperativ. Und das hatten sie durchgesetzt.

Aber dann war Nirgal zur Erde abgereist, entschlossen, ihre Sache dort zu vertreten. Und während seiner Abwesenheit war im Verfassungskongreß der Freie Mars von einer Bewegung zu einer Organisation geworden. Das war gut so, es war der normale Gang der Ereignisse, ein notwendiger Teil der Institutionalisierung ihrer Unabhängigkeit. Niemand konnte sich darüber beklagen oder den guten alten Tagen nachtrauern, ohne Sehnsucht nach einer heroischen Zeit zu offenbaren, die eigentlich gar nicht heroisch gewesen war und auch unterdrückt und beschränkt gewesen war und darüber hinaus als unpassend und gefährlich galt. Nein, Nirgal war es nicht nach Nostalgie zumute. Der Sinn des Lebens lag nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart; nicht im Widerstand, sondern in der positiven Äußerung. Nein, er wollte nicht, daß es so sein sollte wie früher. Er war glücklich, daß sie (wenigstens teilweise) ihr Schicksal selbst bestimmten. Das war nicht das Problem. Noch machte ihm der enorme Zuwachs der Parteigänger Sorgen, die der Freie Mars hatte. Die Partei schien an der Schwelle zur Supermajorität zu stehen. Drei der sieben Mitglieder des Exekutivrates kamen aus der Parteiführung, und auch die meisten anderen globalen Positionen nahmen Parteimitglieder ein. Jetzt trat ein hübscher Prozentsatz neuer Emigranten der Partei bei, genau wie alte Emigranten und Eingeborene, die vor der Revolution kleinere Parteien unterstützt hatten, und last not least eine ganze Anzahl von Leuten, die das UNTA-Regime unterstützt hatten und jetzt nach der neuen Macht Ausschau hielten, die folgen würde. Alles in allem ergab das eine riesige Gruppe. Und in den ersten Jahren einer neuen sozioökonomischen Ordnung hatte diese Ballung politischer Macht, von Meinung und Glauben, ohne Zweifel einige Vorteile. Man konnte etwas durchsetzen.

Aber Nirgal war sich nicht sicher, ob er dazugehören wollte.


Eines Tages, als er an der Stadtmauer entlangging und durch die Kuppelfolie blickte, sah er auf einem Flugplatz im Westen der Stadt am Rande der Klippe eine Menschengruppe stehen. Es gab dort eine Anzahl verschiedener Typen einsitziger Flugzeuge: Segler und Ultraleichte, die von einer Schleuder gestartet wurden und in der morgendlichen Thermik aufstiegen. Dann waren da kleinere Hängegleiter sowie verschiedene Ausführungen der neuen Einsitzer, die aussahen wie kleine Segelflugzeuge, die man unter Miniatur-Luftschiffen befestigt hatte. Diese Maschinen waren nur wenig länger als die Menschen, die in die Schlingen oder Sitze unter dem Flugzeug kletterten. Viele von ihnen waren transparent und fast unsichtbar, so daß der Himmel manchmal aussah, als ob auf dem Bauch liegende oder sitzende Personen von ganz alleine durch die Luft flögen. Andere Maschinen waren bunt und erschienen aus der Entfernung einiger Kilometer wie grüne oder blaue Striche in der Luft. An den gestutzten Flügeln waren kleine ultraleichte Strahltriebwerke angebracht, mit Hilfe derer die Piloten Richtung und Höhe steuern konnten. In dieser Hinsicht waren sie wie Flugzeuge, aber mit dem zusätzlichen Auftrieb eines Luftschiffs, was sie sicherer und wendiger machte. Ihre Piloten landeten fast überall, und es schien unmöglich, daß sie in Sturzflug übergehen und abstürzen oder sich in Bruchlandungen retten sollten.

Die Hängegleiter andererseits sahen noch immer so gefährlich aus wie das erste Modell. Die Leute, die sich ihrer bedienten, waren die ruppigsten Mitglieder der fliegenden Schar. Als Nirgal hinausging, konnte er dort waghalsige Typen sehen, die die Kanten der Klippe herunterliefen und in durch Adrenalin gesteigerter Erregung brüllten, daß es in den Interkoms nur so klirrte. Jedenfalls gleichgültig, an was für ein Gerüst sie angebunden waren — ihre Körper sahen immer, was geschah. Kein Wunder, daß ihre Schreie diesen Klang hatten!

Nirgal nahm die U-Bahn und begab sich, angelockt durch das besondere Schauspiel, zum Flugplatz. Alle diese Menschen, frei im Himmel... Natürlich erkannte man ihn auch hier. Er schüttelte Hände und nahm die Einladung einer Gruppe von Fliegern an, aufzusteigen und zu sehen, wie das war. Die Hanggleiter erboten sich, ihn das Fliegen zu lehren, aber er sagte, er wolle erst die kleinen Luftschiffgleiter ausprobieren. Er fand einen zweisitzigen Apparat, etwas größer als die anderen, festgemacht zum Start; und eine Frau namens Monica lud ihn nach oben ein. Sie tankte das Ding auf, setzte sich neben ihn; sie stiegen am Startmast auf, um dann mit einem Ruck in die starken Winde des Nachmittags freigelassen und über die Stadt getrieben zu werden, die sich von oben als ein kleines Gewächshaus voller Grünzeug erwies, das an der Kante des nordwestlichsten Teils des Labyrinths aus Canyons am Hang von Tharsis hockte.

Fliegen über Noctis Labyrintus! Der Wind blies scharf über den straffen durchsichtigen Stoff des Gleiters; und sie hüpften im Wind unvorhersehbar auf und ab, während sie gleichzeitig in einem scheinbar unkontrollierten Spin horizontal rotierten. Aber dann lachte Monica und bediente die Steuerung. Bald flogen sie durch das Labyrinth nach Süden und über einen nach dem anderen sich kreuzenden Canyons. Dann über das Compton Chaos und das zerrissene Land des Illyrischen Tores, wo es sich zum oberen Ende des Marineris-Gletschers absenkte.

Monica sagte im Kopfhörer: »Die Düsen dieses Dings sind sehr viel stärker, als sie es sein müßten. Man kann sich in den Wind stürzen bis auf zweihundertfünfzig Kilometer in der Stunde, obwohl man das kaum riskieren sollte. Man benutzt die Strahltriebwerke auch, um dem Auftrieb entgegenzuwirken, damit man wieder herunterkommt. Hier, versuch es einmal! Das ist der Gashebel für den linken Jet und das ist der für den rechten. Und hier sind die Stabilisierungsflossen. Die Düsen verrecken leicht, und der Gebrauch des Stabilisators erfordert einige Übung.«

Vor Nirgal befand sich eine volle Garnitur von Kontrollgeräten. Er legte die Hände auf die Jet-Drosseln und gab Schub. Das Luftschiff schwenkte nach links und dann nach rechts. »Oha!«

»Man fliegt mit Sicherheitsautomatik, so daß das Ding sich einfach abschaltet, wenn man einen verhängnisvollen Befehl gibt.«

»Wie viele Flugstunden braucht man, um das zu lernen?«

»Du bist ja schon dabei!« Sie lachte. »Nein, es erfordert etwa hundert Stunden. Kommt darauf an, was man dabei unter Lernen versteht. Die statistische Todesschwelle liegt zwischen hundert und tausend Stunden, nachdem Leute sich entkrampft haben und wirklich gut sind und in Schwierigkeiten kommen. Aber das sind meistens Gleitschirmflieger. Bei diesen hier sind Simulatoren genau das Richtige, um darin seine Stunden zu verbringen. Und wenn man dann wirklich oben ist, ist alles verdrahtet, auch wenn man noch nicht die offizielle Flugzeitgrenze erreicht hat.«

»Wirklich interessant!«

Das war es auch. Die sich kreuzenden Canyons von Noctis Labyrinthus lagen unter ihnen wie ein gewaltiger Irrgarten. Die jähen Auf- und Abstiege, wenn die Winde sie schüttelten, gingen Nirgal ins Blut. Das laute Brausen des Windes über ihren teilweise geschlossenen Sitzen in den Gondeln... »Das ist so, als ob man ein Vogel wäre!«

»Genau.«

Und ein Teil von ihm sah, daß es gutgehen würde. Das Herz freut sich über eine Sache nach der anderen.


Danach verbrachte er die Zeit in einem Flugsimulator in der City und hatte mehrere Male in der Woche eine Verabredung mit Monica oder einem ihrer Freunde und ging zu einer weiteren Lektion hinaus an den Rand der Klippe. Das war keine komplizierte Sache, und bald hatte er den Eindruck, daß er einen selbständigen Flug unternehmen könnte. Sie mahnten ihn zur Geduld. Er hielt sich daran. Die Simulatoren fühlten sich ganz wie das wirkliche Ding an. Wenn man sie durch einen Fehler testete, pflegte der Sitz zu kippen und sehr überzeugend zu hüpfen. Mehr als einmal bekam er die Geschichte von der Person zu hören, die einen Ultraleichtflieger in der Simulation in eine so verheerende Todesspirale gebracht hatte, daß der Simulator sich aus seiner Verankerung gerissen hatte und durch die nächste Glaswand gekracht war, wobei er einige Herumstehende getroffen und dem Flieger den Arm gebrochen hatte.

Nirgal vermied solche Schreckensgeschichten und auch die meisten anderen. Er ging fast jeden Morgen zu den Versammlungen von Freier Mars in den Stadtbüros und jeden Nachmittag zum Fliegen. Im Laufe der Tage stellte er fest, daß er die Morgensitzungen nicht mochte. Er wollte bloß noch fliegen. Er hatte den Freien Mars nicht gegründet, ganz gleich, was man redete. Alles, was er in jenen Jahren getan hatte, war keine Politik in diesem Sinne gewesen. Vielleicht hatte es ein politisches Element gehabt; aber meistens hatte er sein eigenes Leben geführt und mit Leuten in der Demimonde und den Städten an der Oberfläche darüber gesprochen, wie sie ihr Leben gestalten und dennoch einige Freiheiten und Vergnügungen haben wollten. Okay, das war politisch gewesen, jede Aktion hatte auch eine politische Dimension. Aber es schien, daß er an Politik nicht wirklich interessiert war. Oder waren es die Regierungsgeschäfte?

Natürlich war Politik besonders uninteressant, wenn sie von Jackie und ihrer Schar dominiert wurde. Das war Politik einer anderen Art. Er hatte vom ersten Augenblick seiner Rückkehr an gesehen, daß Jackies innerem Kreis seine Rückkehr von der Erde nicht willkommen war. Er war den größten Teil eines m-Jahres fort gewesen; und während dieser Zeit war eine neue Gruppe von der Revolution in Schwung gebracht worden und in den Vordergrund getreten. Nirgal war für sie eine Bedrohung von Jackies Führungsrolle in der Partei und für ihren Einfluß auf Jackie. Sie waren entschieden, wenn auch subtil gegen ihn. Nein. Einige Zeit war er der Anführer der Eingeborenen gewesen, der Charismatiker des Stammes, der aus dem eingeborenen Volk des Mars bestand, der Sohn von Hiroko und Cojote — eine sehr mächtige Elternschaft, der man sich nur sehr schwer widersetzen konnte. Aber diese Zeit war vorbei. Jetzt hatte Jackie die Führung; und ihm gegenüber hatte sie ihre eigene mythische Abstammung von John Boone, wie ihre gemeinsamen Anfänge in Zygote und auch den parallelen (partiellen) Rückhalt des minoischen Kultes in Dorsa Brevia.

Ganz zu schweigen von ihrer direkten Macht über ihn in der ihr eigenen intensiven Dynamik. Aber ihre Berater konnten das nicht verstehen oder auch nur voll erkennen. Für sie war Nirgal eine bedrohende Macht, die durch die Krankheit auf der Erde keineswegs beseitigt worden war. Eine immerwährende Bedrohung für ihre eingeborene Königin.

So saß er die morgendlichen Versammlungen in den Stadtbüros ab, bemüht, ihre kleinen Manöver zu ignorieren und sich auf die Themen zu konzentrieren, die vom ganzen Planeten hereingingen und von denen viele Landprobleme oder kleine Streitigkeiten zum Thema hatten. Viele Städte wollten ihre Kuppeln abbauen, sobald der Luftdruck das ermöglichte; und kaum welche von ihnen waren bereit einzuräumen, daß das eine Maßnahme war, bei der die Umweltgerichtshöfe ein Mitspracherecht hatten. Manche Gebiete waren so trocken, daß Wasser der kritische Punkt war, und deren Ersuchen um Wasserzuteilungen gingen ein, bis es schien, daß das Nordmeer um einen Kilometer abgesenkt werden würde, wollte man durch Abpumpen die durstigen Städte des Südens versorgen. Diese und tausend andere Angelegenheiten stellten die vielen verfassungsmäßigen Netzwerke für die Verbindung lokaler Autonomie mit globalen Erwägungen auf die Probe. Die Debatten würden ewig dauern.

Nirgal, obwohl im Grunde an den meisten dieser Streitigkeiten nicht interessiert, schien sie dennoch der Parteipolitik vorzuziehen, die sich in Cairo abspielte. Er war von der Erde zurückgekommen ohne irgendeine offizielle Position in der neuen Regierung oder der alten Partei; und eines, was er sich in diesen Tagen abspielen sah, war der Streit darüber, ihn unterzubringen, ihm einen neuen Job mit begrenzter Macht zu geben — oder für jene, die ihn unterstützten, ihn in eine Position mit anwendbarer realer Macht zu bringen. Einige Freunde rieten ihm abzuwarten und für den Senat zu kandidieren, wenn die nächsten Wahlen kämen. Andere sprachen vom Exekutivrat, von Parteiposten oder einem Posten im Globalen Exekutivrat. Alle diese Jobs fand Nirgal in der einen oder anderen Weise abscheulich; und wenn er mit Nadia über Bildschirm sprach, stellte er fest, daß sie sich für ihn nur als Bürde erweisen würden. Obwohl Nadia sich emsig genug abmühte, war deutlich, daß ihr der Exekutivrat zuwider war. Aber er verzog keine Miene und hörte genau zu, wenn Leute ihm ihren Rat anboten.

Jackie ihrerseits hatte ihre eigene beratende Versammlung. Wenn Leute bei Meetings vorschlugen, Nirgal solle eine Art Minister ohne Portefeuille werden, blickte sie ihn noch ausdrucksloser als gewöhnlich an, was Nirgal auf den Gedanken brachte, daß ihr diese Möglichkeit am wenigsten von allen zusagte. Sie wollte ihn in irgendeiner Position festgenagelt sehen, die ihrem derzeitigen Posten untergeordnet war. Aber er blieb völlig außerhalb des Systems...

Da saß sie nun, das kleine Kind in den Armen. Es könnte sein Kind sein. Und Antar beobachtete sie mit der gleichen Miene, dem gleichen Gedanken. Ohne Zweifel hätte das auch Dao getan, wenn er noch leben würde. Nirgal wurde plötzlich durch einen Schauer von Kummer um seinen Halbbrüder geschüttelt, seinen Quälgeist, seinen Freund. Er und Dao hatten sich bekämpft, so weit er zurückdenken konnte. Sie waren aber trotz allem Brüder gewesen.

Jackie hatte Dao offenbar schon vergessen, genau wie Kasei. So wie sie Nirgal vergessen würde, sollte er getötet werden. Sie hatte zu den Grünen gehört, die befohlen hatten, den Angriff der Roten auf Sheffield zu zerschmettern. Sie hatte die starke Erwiderung der Kampfhandlungen befürwortet. Vielleicht mußte sie die Toten vergessen.

Das Kind schrie. Bei dem von Fett gerundeten Gesicht war es unmöglich, eine Ähnlichkeit mit irgendeinem Erwachsenen zu erkennen. Der Mund sah wie der von Jackie aus. Aber sonst... Es war erschreckend, diese Macht, die von anonymer Elternschaft ausging. Natürlich konnte ein Mann dasselbe tun, sich ein Ei besorgen, es befruchten und durch Ektogenese wachsen lassen und dann das Kind selbst aufziehen. Ohne Zweifel würde das auch passieren, besonders wenn noch mehr Frauen den Weg Jackies einschlugen. Eine Welt ohne Eltern. Nun, Freunde bildeten die wahre Familie. Aber er erschauerte doch vor dem, was Hiroko getan hatte und was Jackie tat.

Um seinen Geist von alledem zu klären, ging er fliegen. Eines Abends nach einem prächtigen Flug in den Wolken, als man im Lokal des Startplatzes saß, nahm die Konversation eine andere Richtung als gewöhnlich, und jemand erwähnte Hirokos Namen. »Ich höre, sie ist in Elysium und arbeitet da oben an einer neuen Kommune.«

»Wo hast du das gehört?« fragte Nirgal die Frau, wohl etwas zu scharf.

Sie sagte überrascht: »Du kennst doch diese Flieger, die letzte Woche hereingeschneit sind. Die um die Welt fliegen. Die waren im letzten Monat auf Elysium und sagten, sie hätten sie dort gesehen.« Sie zuckte die Achseln. »Das ist alles, was ich gehört habe. Nicht sehr zuverlässig. Ich weiß.«

Nirgal lehnte sich im Sessel zurück. Immer Information aus dritter Hand. Aber einige Geschichten schienen dennoch Hiroko widerzuspiegeln. Und ein paar, die zu sehr nach Hiroko aussahen, waren wohl erfunden. Nirgal wußte nicht, was er denken sollte. Sehr wenige Leute schienen sie für tot zu halten. Auch aus dem Rest der Gruppe wurden Sichtungen berichtet.

»Sie wünschen einfach, daß sie hier wäre«, sagte Jackie, als Nirgal das am nächsten Tage erwähnte.

»Wünschst du es denn nicht?«

»Doch, natürlich...« — obwohl das nicht stimmte —, »aber nicht genug, um Geschichten darüber zu erfinden.«

»Hältst du die wirklich alle für erfunden? Ich meine, wer sollte das tun? Was würden sie in diesem Falle unter sich erzählen?«

»Nirgal, die Menschen sind nicht vernünftig. Das mußt du lernen. Die Leute sehen irgendwo eine ältliche Japanerin und denken, die sieht aus wie Hiroko. Am Abend erzählen sie ihren Zimmergenossen, sie hätten heute Hiroko gesehen. Sie war auf dem Markt und hat Pflaumen gekauft. Der Partner geht zu seinem Arbeitsplatz und sagt: ›Mein Zimmergenosse hat gestern Hiroko gesehen, wie sie Pflaumen gekauft hat.‹«

Nirgal nickte. Das war ohne Zweifel richtig, wenigstens für die meisten Geschichten. Aber was war mit dem Rest, den wenigen Geschichten, die nicht in dieses Muster paßten... ?

»Inzwischen mußt du eine Entscheidung über diese Position im Umweltgerichtshof treffen«, sagte Jackie. Es handelte sich um ein Provinzgericht, das dem Globalen unterstand. »Wir können es so einrichten, daß Mem einen Posten in der Partei erhält, der wirklichen Einfluß hat; oder du könntest diesen nehmen, wenn du willst, oder beide, nehme ich an. Aber wir müssen es wissen.«

»Ja,ja.«

Es kamen Leute herein, um über etwas anderes zu diskutieren, und Nirgal zog sich zum Fenster zurück, in die Nähe des Kindermädchens und des Babys. Er war nicht an dem interessiert, was sie machten, an nichts davon. Das war bloß alles häßlich und abstrakt, eine ständige Manipulation von Menschen, ohne ihnen, die doch so viel Arbeit für sie verrichteten, je irgendeine Erkenntlichkeit zu erweisen. Jackie würde sagen, das ist Politik. Und es war klar, daß sie es genoß. Aber Nirgal nicht. Es war seltsam. Er hatte sein ganzes Leben offenkundig für diese Situation gearbeitet; und als sie jetzt gekommen war, gefiel sie ihm nicht.

Höchstwahrscheinlich könnte er genug lernen, um die Arbeit zu leisten. Er müßte die Feindseligkeit der Leute überwinden, die ihn nicht wieder in der Partei haben wollten; er müßte sich eine eigene Machtbasis schaffen, das heißt eine Gruppe von Menschen um sich sammeln, die ihm in ihren offiziellen Positionen helfen würden. Er müßte ihnen Gefälligkeiten erweisen, ihre Gunst erschmeicheln, sie gegeneinander ausspielen, so daß ein jeder seinem Wunsch willfahren würde, um gegenüber den anderen Überlegenheit zu gewinnen... Er konnte gerade hier in diesem Raum alle diese Prozesse in Aktion sehen, wenn Jackie mit einem Berater nach dem anderen zusammenkam und diskutierte, was gerade sein Spezialgebiet betraf, und ihn dann bearbeitete, um ihn sich noch stärker zu verpflichten. Natürlich würde sie sagen, wenn er sie darauf hinwies: so ist eben die Politik. Sie hatten jetzt die Kontrolle über den Mars, und wenn sie die neue Welt schaffen wollten, auf die sie gehofft hatten, dann mußten sie Politiker in letzter Konsequenz sein. Man konnte nicht allzu wählerisch sein, man mußte realistisch handeln. Man hielt sich die Nase zu und tat es. Darin lag wirklich ein gewisser Adel. Es war die notwendige Arbeit.

Nirgal wußte nicht, ob diese Rechtfertigungen der Wahrheit entsprachen oder nicht. Hatten sie wirklich ihr ganzes Leben lang gearbeitet, um die Herrschaft der Erde über den Mars zu überwinden, nur damit sie ihre eigene lokale Version des gleichen Systems an deren Stelle setzen konnten? Konnte Politik jemals etwas anderes sein als Politik — praktisch, zynisch, häßlich?

Nirgal konnte das nicht beantworten. Er saß am Fenster und sah auf das Gesicht von Jackies schlafender Tochter hinunter. Auf der anderen Seite des Raums schüchterte Jackie die Delegierten des Freien Mars aus Elysium ein. Jetzt, da Elysium eine vom Nordmeer umgebene Insel war, waren sie dort entschlossener denn je, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, einschließlich der Einwanderungsbeschränkungen, die verhindern sollten, daß sich die Bevölkerung weit über ihre jetzige Anzahl hinaus entwickelte. »Das ist ja alles schön und gut«, sagte Jackie, »aber es ist jetzt eine sehr große Insel, eigentlich ein Kontinent, und noch dazu von Wasser umgeben, so daß er besonders feucht sein wird. Außerdem mit einer Küstenlinie von Tausenden von Kilometern, einer Menge guter Hafenplätze, die ohne Zweifel als Fischereihäfen nutzbar sind. Ich kann mit eurem Wunsch sympathisieren, die Entwicklung im Griff zu behalten, das ist uns allen klar; die Chinesen haben jedoch ein besonderes Interesse bekundet, einige dieser Plätze zu entwickeln. Und was erwartet man, das ich ihnen sagen soll? Daß die auf Elysium Ansässigen die Chinesen nicht leiden können? Daß wir ihre Hilfe in einer Krise annehmen, aber nicht wollen, daß sie in die Nachbarschaft ziehen?«

»Doch nicht deshalb, weil sie Chinesen sind!« rief der Delegierte.

»Ich verstehe. Wirklich! Ich sage Ihnen: Gehen Sie nach Südfossa zurück und erklären Sie dort die Schwierigkeiten, vor denen wir stehen, und ich werde alles tun, was in meiner Möglichkeit steht, um Ihnen zu helfen. Ich kann keine Resultate garantieren, werde aber tun, was ich kann.«

»Danke«, sagte der Delegierte und ging.

Jackie wendete sich an ihre Assistentin. »Idiot! Wer kommt als nächster? Ah, natürlich der chinesische Gesandte. Gut, laß ihn rein!«

Der chinesische Gesandte, eine Frau, war recht groß. Sie sprach Mandarin, und ihr Computer übersetzte in klares britisches Englisch. Nach dem Austausch der üblichen Höflichkeiten bat die Frau um die Einrichtung einiger chinesischer Siedlungen, vorzugsweise in den äquatorialen Provinzen.

Nirgal sah fasziniert hin. So hatte man ganz von Anfang an mit dem Siedeln begonnen. Gruppen terranischer Nationaler waren angekommen und hatten eine Kuppelstadt oder eine Klippensiedlung errichtet oder einen Krater überkuppelt... Aber jetzt zeigte Jackie eine höfliche Miene und sagte: »Das ist möglich. Natürlich wird man alles den Umweltgerichtshöfen zur Beurteilung vorlegen müssen. Aber es gibt auf dem Elysium-Massiv große Mengen bewohnbaren Landes. Vielleicht ließe sich hier etwas arrangieren, besonders wenn China gewillt ist, zur Errichtung einer Infrastruktur beizutragen.«

Sie besprachen Details. Nach einiger Zeit ging die Gesandte fort.

Jackie drehte sich um und schaute Nirgal an. »Nirgal, könntest du Rachel hereinrufen? Und versuche dich bald zu entscheiden, was du in Zukunft tun willst, bitte!«

Nirgal ging aus dem Haus durch die Stadt zu seinem Zimmer. Er packte seine kleine Sammlung von Kleidungsstücken und Toilettenartikeln zusammen, nahm die U-Bahn zum Flugplatz und bat Monica, einen der einsitzigen Luftschiffgleiter benutzen zu dürfen. Er war für den Alleinflug gerüstet und hatte genügend Stunden in Simulatoren und mit Lehrern verbracht. Unten in Marineris auf Candor Mesa gab es eine weitere Flugschule. Er sprach mit den Beamten auf dem Flugplatz. Sie gestatteten ihm, den Luftgleiter dorthin zu fliegen und ihn später von einem anderen Piloten zurückbringen zu lassen.

Es war Mittag. Die hangabwärts gehenden Winde von Tharsis hatten eingesetzt und würden im Laufe des Nachmittags noch stärker werden. Nirgal zog sich an und stieg in den Pilotensitz. Der kleine Luftgleiter kletterte, am Bug gehalten, am Startmast empor und wurde freigelassen.

Er stieg über Noctis Labyrinthus auf und wandte sich ostwärts. Er flog über das Gewirr verschachtelter Canyons. Ein Land, das durch große Spannungen von unten her aufgerissen worden war. Ein Flug aus dem Labyrinth. Ein Ikarus, der zu nahe an die Sonne herangeflogen war und verbrannt worden war, hatte den Sturz überlebt und flog jetzt wieder, diesmal abwärts, immer nach unten. Er nutzte den Vorteil, den ein starker Rückenwind ihm bot. Ritt auf einer Windsbraut und schoß über das zerrissene schmutzige Eisfeld hinab, das als Compton Chaos bezeichnet wurde, wo 2061 der große Kanalausbruch seinen Ausgang genommen hatte. Jene immense Flut war Ius Chasma hinuntergeflossen; aber Nirgal bog nach Norden ab, weg vom Gletscherfluß und dann wieder nach Osten, hinunter in den Kopf von Tithonium Chasma, das parallel zu Ius Chasma direkt nach Norden verlief.

Tithonium war einer der tiefsten und schmälsten Marineris-Canyons, vier Kilometer tief und zehn breit. Er konnte knapp über die Plateauränder fliegen und sich dennoch Tausende von Metern über dem Canyonboden befinden. Tithonium war höher als Ius, wilder und von Menschenhand unberührt; selten bereist, da er nach Osten hin eine Sackgasse bildete, wo er sich verengte und der Boden aufrauhte und schroffer wurde, um dann jäh gegen riesenhohe Felswände zu branden. Nirgal erkannte die Straße, die sich rückwärts den östlichen Kopfwall nach oben wandte, die er in seiner Jugend oft gefahren war, als noch der ganze Planet seine Heimat gewesen war.

Die nachmittägliche Sonne hinter ihm versank. Die Schatten auf dem Land wurden länger. Der Wind blies weiter heftig, summte und winselte, fauchte und fuhr beißend über den Gleiter. Er blies ihn wieder über die Deckschicht des Randplateaus hinaus, wo Tithonium in eine Reihe ovaler Mulden überging, die das Plateau narbten: die Tithonia Catena, jede Senke eine riesige schüsseiförmige Eintiefung im Land.

Und dann fiel die Welt plötzlich wieder ab, und er flog hinaus über den immensen offenen Canyon von Candor Chasma, Shining Canyon, dessen Ostwände in diesem Moment im Sonnenlicht bernstein- und bronzefarben leuchteten. Im Norden lag der tiefe Eingang in Ophir Chasma, den zentralen Giganten des Marineris-Systems. Das war die Mars-Version vom Concordiaplatz, nur viel größer als die auf der Erde. Wilder, unberührter, urtümlich, gigantisch, jenseits aller menschlichen Maßstäbe, als ob er um zwei Jahrhunderte oder zwei Äonen in die Vergangenheit zurück geflogen wäre in eine Zeit vor der Anthropogenese. Roter Mars!

Und dort in der Mitte des breiten Candor war eine hohe rhombische Mesa, eine Insel aus Deckschicht, die fast zwei Kilometer über dem Boden des Canyons aufragte. Und in dem dunstigen Licht des Sonnenuntergangs konnte Nirgal ein Nest von Lichtern erkennen, eine Kuppelstadt im südlichsten Punkt des Rhombusses. Stimmen begrüßten ihn auf der allgemeinen Frequenz seines Interkoms und leiteten ihn dann zum Landeplatz der Stadt hinunter. Die Sonne verglomm über den Klippen im Westen, als er den Gleiter langsam gegen den Wind schwenkte und ihn genau auf der als Zielmarke auf den Landeplatz gemalten Figur Kokopelis niedergehen ließ.

Shining Mesa hatte einen breiten Gipfel, mehr von der Form eines Kinderdrachens als eines richtigen Rhombusses, dreißig Kilometer lang und zehn breit, der sich in der Mitte von Candor Chasma wie ein großes ValleyMonument erhob. Die Kuppelstadt nahm nur eine kleine Anhöhe an der Südspitze des Drachens ein. Die Mesa war genau das, was man auf den ersten Blick vermutete: ein abgetrenntes Fragment des Plateaus, welches die Marineris-Canyons aufgesplittert hatten. Sie war ein großartiger Aussichtspunkt, um die großen Wände von Candor zu betrachten, mit Blicken durch die tiefen, steilen Lücken hinein nach Ophir Chasma im Norden und Melas Chasma im Süden.

Natürlich hatte eine so spektakuläre Aussicht im Laufe der Jahre Menschen angezogen, und die Hauptkuppel war von kleineren umgeben. In einer Höhe von fünf Kilometern über Null war die Stadt immer noch überkuppelt, obwohl man darüber sprach, die Kuppel zu entfernen. Der Boden von Candor Chasma, nur drei Kilometer über Null, war von wachsenden dunkelgrünen Wäldern gefleckt. Viele Leute, die in Shining Mesa wohnten, flogen jeden Morgen hinunter, um sich agronomisch oder botanisch zu betätigen, und flogen am späten Nachmittag wieder auf den Gipfel der Mesa herauf. Ein paar dieser fliegenden Förster waren alte Bekannte von Nirgal und freuten sich, ihn herumführen zu können, die Canyons zu zeigen und was sie darin machten.

Die Böden der Marineris-Canyons verliefen im allgemeinen von Westen nach Osten. In Candor bogen sie um die große Zentralmesa herum und fielen dann steil nach Melas ab. Auf den höheren Teilen des Bodens lag Schnee, besonders unter den westlichen Wänden, wo die Stationen nachmittags im Schatten lagen. Das Schmelzwasser von diesem Schnee lief in den schmalen sandigen Betten gewundener Bäche hinunter, um dann gesammelt in einige seichte, schlammige rote Flüsse einzumünden, die sich gerade über dem Candor-Kap sammelten und in wilden, schäumenden Fällen auf den Boden von Melas Chasma stürzten, wo das Wasser vor dem Rest des Gletschers 61 in einen Teich strömte und rötlich gegen seine Nordflanke brandete.

An den Ufern all dieser trüben roten Flüsse bildeten sich Waldgalerien. Sie bestanden zumeist aus kältefesten Balsas und anderen sehr schnell wachsenden tropischen Baumarten, die sich über dem Krummholz in neue Baldachine auswuchsen. In diesen Tagen war es auf dem Canyonboden, der großen windgeschützten, die Sonne reflektierenden Schüssel warm. Die Balsa-Schutzdächer gewährten einer großen Anzahl von Pflanzen- und Tierarten einen Platz, um sich zu entwickeln. Nirgals Bekannte erklärten, daß es sich hierbei um die vielfältigste biotische Gemeinschaft auf dem Mars handele. Wegen der Bären, Schneeleoparden und anderer Raubtiere mußten sie Gewehre mit Betäubungspfeilen mit sich führen. Manche Baumalleen zu durchqueren war schwierig wegen der Dickichte aus Schneebambus und Espen.

All dieses Wachstum war durch große Vorkommen von Natriumnitrat in Candor und Ophir-Canyons — große weiße Terrassenbänke aus extrem wasserlöslichem weißem Salpeter — unterstützt worden. Diese Mineralablagerungen schmolzen jetzt auf den Canyonboden und flössen die Ströme hinab, so daß sie die neuen Böden mit reichlich Stickstoff versorgten. Leider waren einige der größten Nitratvorkommen unter Moränenabgängen begraben worden. Das Wasser, das das Natriumnitrat auflöste, durchfeuchtete auch die Canyonwände und destabilisierte sie durch die radikale Beschleunigung der ständig laufenden Massenabgänge. Niemand begab sich mehr an den Fuß der Canyonwände. Die Flieger sagten, es sei zu gefährlich. Und während sie in ihren Luftgleitern umhersausten, besah sich Nirgal die Narben von Erdrutschen, die überall zu finden waren. Etliche hohe und bewachsene Moränen waren verschüttet worden. Die Verfahren zur Fixierung der Wände gehörten zu den vielen Gesprächsthemen an den Mesa-Abenden, wenn ihnen das Omegandorph ins Blut gegangen war. Man konnte aber wirklich nicht viel tun. Wenn Brocken an einer zehntausend Fuß hohen Felswand nachgeben wollten, würde sie nichts aufhalten. Daher konnte man auf Shining Mesa von Zeit zu Zeit, etwa einmal in der Woche, den Boden erzittern fühlen und beobachteten, wie die Kuppel flimmerte, und in der Magengrube das tiefe Rumpeln eines Zusammenbruchs hören. Oft gelang es, den Bergrutsch zu orten, der sich vor einer bräunlichen Staubwolke durch den Canyon wälzte. Flieger, die sich in der Nähe befunden hatten, kamen erschüttert und schweigend zurück oder gesprächig mit wilden Geschichten, wie sie mit ohrenzerreißendem Getöse über den Himmel geschleudert worden waren. Eines Tages war Nirgal in Bodennähe unterwegs, als er selbst in den Genuß kam. Es war wie ein sonischer Knall, der viele Sekunden anhielt. Die Luft zitterte wie ein Pudding. Dann war es ebenso rasch vorbei, wie es angefangen hatte.

Meistens führte er selbständig Erkundungen durch, und manchmal flog er mit seinen alten Bekannten. Die Luftgleiter waren für den Canyon perfekt, langsam, stabil und leicht zu steuern. Mehr Auftrieb, als nötig war, mehr Energie... Der Apparat, den er — mit von Cojote geliehenem Geld — gemietet hatte, erlaubte ihm, morgens nach unten zu schweben, um bei der botanischen Arbeit in den Wäldern zu helfen oder an den Flüssen spazieren zu gehen. Dann stieg er nachmittags immer weiter in die Höhe. Damit bekam man einen guten Begriff davon, wie hoch Candor Mesa eigentlich war, genau wie die noch höheren umgebenden Wände. Immer weiter hinauf, zur Kuppel, zu seinen langen Mahlzeiten und Partyabenden. Tag für Tag verfolgte Nirgal diese Routine, erkundete die mannigfachen Regionen der Canyons in der Tiefe und beobachtete das überschäumende Nachtleben der Kuppel. Aber er sah alles wie durch das falsche Ende eines Teleskops, eines Teleskops, das aus der Frage bestand: Ist dies das Leben, das wir führen wollen? Diese distanzierende und irgendwie verkleinernde Frage verfolgte ihn immer wieder, erregte ihn, wenn er im Sonnenschein kurvte, und suchte ihn in den schlaflosen Stunden zwischen dem Zeitrutsch und der Dämmerung heim. Der Erfolg der Revolution hatte ihn ohne eine Aufgabe zurückgelassen. Sein ganzes Leben war er über den Mars gewandert und hatte zu den Leuten über einen freien Mars gesprochen, über friedliches Bewohnen statt Kolonisierung, darüber, im Land einheimisch bis zu den Wurzeln zu werden. Diese Aufgabe war jetzt beendet. Das Land gehörte ihnen, um nach Wunsch darin zu leben. Aber er fand in dieser neuen Situation keine Rolle für sich. Er mußte sehr differenziert darüber nachdenken, wie er in dieser neuen Welt weitermachen sollte, nicht länger als Stimme des Kollektivs, sondern als ein Individuum in seinem eigenen Privatleben.

Er hatte herausgefunden, daß er nicht weiter im Kollektiv arbeiten wollte. Es war gut und notwendig, daß manche Leute sich dazu berufen fühlten, aber er gehörte nicht zu ihnen. Er konnte in der Tat nicht an Cairo denken ohne einen Stich von Ärger über Jackie zu verspüren, manchmal war es auch einfacher Schmerz wegen des Verlustes dieser öffentlichen Welt, dieses ganzen Lebensstils. Es war hart, ein Revolutionärsdasein aufzugeben. Darauf schien nichts zu folgen, weder logisch noch emotional. Aber es mußte etwas getan werden. Dieses Leben war vergangen. Inmitten eines langsamen Sinkfluges mit Querneigung im Luftgleiter verstand er plötzlich Maya und ihr besessenes Gespräch über Inkarnationen. Er war jetzt 27 m-Jahre alt, er hatte den Mars kreuz und quer bereist, er war auf der Erde gewesen und in eine freie Welt zurückgekehrt. Zeit für die nächste Seelenwanderung.

So flog er nun durch die ungeheuren Weiten von Candor und suchte nach einem Bild seiner selbst. Die zerrissenen, geschichteten, vernarbten Canyonwände waren so viele erstaunliche mineralische Spiegel. Und ihm wurde vor Augen geführt, daß er eine winzige Kreatur war, kleiner als eine Mücke in einer Kathedrale. Er flog herum und studierte jedes große Palimpsest von Facetten; ihm offenbarten sich zwei sehr starke innere Impulse, getrennt und sich gegenseitig ausschließend, aber dennoch verflochten wie das Grün und das Weiß. Einerseits wollte er ein Wanderer bleiben, über die Welt fliegen, gehen und segeln, für immer ein Nomade, der unablässig in Bewegung blieb, bis er den Mars besser kannte als jeder andere. O ja! Das war eine vertraute Euphorie. Er hatte das sein ganzes Leben lang getan. Es wäre die Form seines früheren Lebens jedoch ohne dessen Inhalt. Und die Einsamkeit dieses Lebens war ihm vertraut, die Wurzellosigkeit, die ihn so abgesondert machte und ihm diesen Blick durch das falsche Ende des Teleskops bescherte. Er hatte keine Heimat. Und so wünschte er sich jetzt diese private Anlaufstelle ebenso sehr wie die Freiheit oder noch mehr. Eine Heimat. Er wollte sich in einem vollen menschlichen Leben niederlassen, einen Ort suchen und dort bleiben, ihn vollständig kennenlernen, in allen Jahreszeiten, seine Nahrung ziehen, sein Haus und seine Geräte bauen und Teil einer Gemeinschaft von Freunden werden.

Diese Wünsche existierten, stark und nebeneinander — oder genauer, in einer subtilen raschen Oszillation, die seine Emotionen reizte und ihn schlaf- und ruhelos machte. Er sah keinen Weg, sie miteinander zu vereinbaren. Sie schlössen einander aus. Niemand, mit dem er redete, hatte auch nur einen nützlichen Vorschlag, wie diese Schwierigkeit zu lösen wäre. Cojote hatte Bedenken dagegen, Wurzeln zu schlagen. Aber auch er war Nomade und konnte es nicht wissen. Art hielt das Wanderleben für unmöglich. Aber ihm gefielen die Plätze, die er gefunden hatte.

Nirgals nichtpolitische Ausbildung war Ingenieurwesen im Mesokosmos; aber er fand, daß ihm das bei seinen Überlegungen wenig half. In größeren Höhen pflegte man immer noch in Kuppeln zu leben, und mesokosmische Ingenieurkunst wurde benötigt. Aber das wurde mehr und mehr verwissenschaftlicht und der künstlerische Aspekt würde mit zunehmender Erfahrung in der Lösung der Probleme zur bloßen Routine verkommen. Außerdem — strebte er nach einem Leben in der Kuppel, wenn so viele von den tiefer gelegenen Regionen des Planeten zu Land wurde, auf dem man frei gehen konnte?

Nein. Er wollte in der freien Luft leben. Ein Stück Land finden, eigenen Boden haben, seine Pflanzen und Tiere, sein Wetter und seinen Himmel und alles sonst — das wünschte er sich. Ein Teil von ihm, einen Teil der Zeit.

Inzwischen wurde ihm klar, daß — was er auch wählen würde — Candor Chasma nicht der Ort für die Art von Siedlung war, die er sich vorstellte. Seine ungeheuren Perspektiven machten es schwer, es als einen Platz für sein Zuhause zu sehen. Condor Chasma war zu weit, zu unmenschlich. Die Canyonböden waren als Wildnis geplant und bestimmt; und in jedem Frühling würden die durch die Schneeschmelze angeschwollenen Flüsse über die Ufer treten, neue Kanäle graben und unter enormen Erdrutschen verschüttet werden. Das war alles faszinierend. Aber keine Heimat. Die Eingesessenen würden oben auf Shining Mesa bleiben und die Canyons nur bei Tag aufsuchen. Die Mesa würde ihr wahres Heim sein. Das war ein guter Plan. Aber die Mesa war eine Insel am Himmel, ein großartiges Touristenziel, eine Stätte für Flugferien, für nächtliche Parties, für teure Hotels, für die Jungen und die Verliebten — für alles, was fein und schön war. Aber überfüllt, vielleicht sogar überlaufen und gegen den Einfluß der Besucher ankämpfend. Die neu niedergelassenen Bewohner waren verzückt durch die herrlichen Aussichten. Leute, die ankamen wie Nirgal selbst, die irgendwann bei Dämmerung eintrafen und nie wieder fortgingen, während die alten Einwohner hilflos zusahen und über die guten alten Tage murrten, als die Welt neu und nicht so voll gewesen war.

Nein — das war nicht die Art von Heimat, die ihm vorschwebte. Obwohl er es liebte, wenn die Morgendämmerung die Westwände von Candor erleuchtete, im ganzen Spektrum des Mars strahlend, wenn sich der Himmel indigo- oder malvenfarben tönte oder in einem aufregenden irdischen Himmelblau... ein schöner Ort, so schön, daß er an manchen Tagen beim Fliegen das Gefühl hatte, es würde sich lohnen, auf Shining Mesa zu stehen, diesen Grund zu besitzen und zu versuchen, ihn zu erhalten; hinunterzugleiten und den knorrigen wilden Boden zu erforschen und an jedem Nachmittag zum Dinner wieder hinaufzuschweben. Würde ihm das ein Gefühl von Heimat geben? Und wenn er Wildnis wünschte — gab es da nicht andere weniger spektakuläre aber entlegenere Stellen, die dadurch noch wilder und anziehender wären?

Er drehte sich im Kreis, was dieses Thema betraf. Eines Tages, als er über die schäumende trübe Reihe von Katarakten und Wasserfällen in der Candor- Lücke flog, erinnerte er sich, daß John Boone dieses Gebiet unmittelbar nach dem Bau der TransmarinerisFernstraße in einem Solorover durchquert hatte. Was würde dieser meisterhafte Wortverdreher zu dieser erstaunlichen Gegend gesagt haben?

Nirgal rief in Pauline, dem Computer von Boone, Candor auf und fand ein gesprochenes Tagebuch, das während einer Fahrt durch den Canyon 2046 gemacht worden war. Nirgal ließ das Band laufen, während er von oben auf das Land hinunterschaute, und horchte auf die rauhe Stimme mit dem angenehmen amerikanischen Akzent, eine Stimme, der es nichts ausmachte, zu einem Computer zu sprechen. Beim Zuhören wünschte sich Nirgal, mit John’selbst reden zu können. Manche Leute sagten, Nirgal wäre erfolgreich in John Boones leere Fußstapfen getreten und hätte die Arbeit geleistet, die John getan hätte, wenn er noch lebte. Wenn das so wäre, was hätte John danach getan? Wie würde er gelebt haben?

»Dies ist die unglaublichste Gegend, die ich jemals gesehen habe. Sie ist wirklich das, an was man denkt, wenn man an Valles Marineris denkt. Hinten in Melas ist der Canyon so weit, daß man von der Mitte aus die Wände überhaupt nicht sehen kann. Sie liegen hinter dem Horizont! Die Krümmung dieses kleinen Planeten erzeugt Effekte, die man sich nie vorgestellt hat. All die alten Simulationen gingen so sehr an der Wahrheit vorbei. Die Vertikalen waren um Faktoren von fünf oder zehn übertrieben, soweit ich mich entsinne. Dadurch sah es aus, als ob man in einen Schlitz blickte. Es ist aber kein Schlitz. Oha, hier ist eine Felsensäule, die aussieht wie eine Frau in einer Toga. Ich nehme an, das würde Lots Weib sein. Ich frage mich, ob das Salz ist. Es ist weiß, aber ich glaube, das will nicht viel heißen. Ich muß Ann fragen. Ich möchte wissen, was die Schweizer Straßenbauer sich dabei gedacht haben, als sie diese Straße anlegten. Sie ist nicht sehr alpin. Eine Art von Gegenalpen, wo es nach unten geht, anstatt nach oben, rot statt grün, und es Basalt statt Granit gibt. Nun, es schien ihnen aber irgendwie zu gefallen. Natürlich sind sie Anti-Schweiz- Schweizer, darum ergibt das irgendwie Sinn. Oha, hier ist die ganze Gegend voller Schlaglöcher. Der Rover springt herum. Ich könnte es mit dieser Bank versuchen. Das sieht glatter aus als hier. Hoppla, dahin geht es, genau wie eine Straße. Oh, es ist die Straße. Ich bin wohl ein wenig vom Weg abgekommen. Ich fahre manuell, um des Vergnügens willen; aber es ist schwierig, ein Auge auf die Transponder zu halten, wenn es so viel anderes anzuschauen gibt. Die Transponder sind mehr für einen automatischen Piloten gemacht als das menschliche Auge. He, das ist die Bruchstelle nach Ophir Chasma hinein. Was für eine Lücke! Diese Wand muß — ich weiß nicht — zwanzigtausend Fuß hoch sein. Mein Gott! Da die letzte Candor Gap hieß, muß diese Ophir Gap sein, richtig? Ophir Gate wäre hübscher. Sehen wir auf die Karte! Hmm, das Vorgebirge auf der Westseite der Lücke heißt Candor Labes. Das bedeutet doch Lippen? Candor-Kehle. Oder — hmm — ich glaube nicht. Es ist aber doch eine höllische Öffnung. Sechs- oder siebenmal höher als die Klippen von Yosemite. Na ja! Eigentlich sehen sie gar nicht soviel höher aus, um ehrlich zu sein. Ohne Zweifel perspektivische Verkürzung. Sie sehen etwa doppelt so hoch aus oder — wer weiß? Ich kann mich nicht erinnern, wie Yosemite wirklich ausgesehen hat, zumindest hinsichtlich der Größe. Dies hier ist der erstaunlichste Canyon, den man sich vorstellen kann. Ah, da ist zu meiner Linken Candor Mesa. Das ist das erste Mal, daß ich sehen kann, daß es sich nicht um einen Teil der Candor Labes handelt. Ich würde wetten, daß der Mesagipfel eine phantastische Aussicht bietet. Man sollte ein Fly-in-Hotel dort errichten. Ich wünschte, ich könnte dort hinaufkommen und es sehen! Das wäre ein lustiger Platz, um hinzufliegen und ihn zu sehen! Allerdings gefährlich. Ich sehe ab und zu Windhosen, boshafte kleine Wirbel, dicht und dunkel. Dort trifft ein Sonnenstrahl durch den Staub auf die Mesa. Wie ein Riegel Butter, der in der Luft hängt. O Gott, was für eine schöne Welt!«

Nirgal konnte nur zustimmen. Er mußte lachen, als er die Stimme des Mannes vernahm und war überrascht zu hören, daß John vom Fliegen in der Höhe sprach. Nun konnte er etwas besser verstehen, weshalb die Issei so bewundernd über Boone sprachen, und daß der Schmerz über seinen Verlust bei ihnen nie verschwand. Wieviel besser wäre es, John hier zu haben als bloß diese Aufzeichnungen in einem Computer. Ein wie großes Abenteuer wäre es gewesen zuzusehen, wie John mit der wilden Geschichte des Mars fertig geworden wäre! Und Nirgal unter anderem die Bürde dieser Rolle erspart hätte. Aber so hatten sie nur diese freundliche, glückliche Stimme. Und das löste Nirgals Problem nicht.


Wieder zurück auf Candor Mesa, trafen sich die Flieger abends in einem Ring von Kneipen und Restaurants auf dem hohen südlichen Bogen ihrer Kuppelmauer, wo sie auf Terrassen eben noch innerhalb der Kuppel sitzen und den weiten Blick über die bewaldete Welt ihres Reichs genießen konnten. Nirgal saß unter diesen Leuten. Er aß und trank, hörte zu, redete manchmal, machte sich seine Gedanken über sie und fühlte sich wohl. Ihnen war es gleich, was ihm auf der Erde widerfahren war. Ihnen war es auch gleich, daß er unter ihnen weilte. Das war gut. Er war oft so abgelenkt, daß er seine Umgebung vergaß. Er fiel oft in Träumereien und erwachte wieder aus ihnen und erkannte, daß er wieder einmal in den schwül heißen Straßen von Port of Spain gewesen war, oder in der Flüchtlingssiedlung beim sturzbachartigen Monsun. Wie oft fand er sich da wieder! Alles, was seither geschehen war, verblaßte im Vergleich damit.

Aber eines Abends erwachte er aus einer Träumerei, als ihm war, als hätte eine Stimme gesagt: »Hiroko.«

»Was ist das?« fragte er.

»Hiroko. Wir haben sie beim Flug rund um Elysium getroffen, oben auf dem Nordhang.«

Das sagte eine junge Frau. Ihr Gesicht ließ nicht erkennen, ob sie wußte, wer das war.

»Hast du sie selbst gesehen?« fragte er scharf.

»Ja. Sie versteckt sich nicht oder sonstwas. Sie sagte, mein Flieger gefiele ihr.«

»Ich weiß nicht«, sagte ein älterer Mann. Ein Marsveteran, ein Issei-Immigrant aus den frühen Jahren, das Gesicht durch Wind und kosmische Strahlung so verwittert, daß es wie Leder aussah. Mit rauher Stimme sagte er: »Ich hörte, sie war unten im Chaos, wo die erste versteckte Kolonie war, und arbeitete an den neuen Häfen in der Südbucht.«

Andere Stimmen mischten sich ein. Hiroko war hier gesehen worden und war dort gesehen worden, war für tot erklärt worden und zur Erde gegangen. Nirgal hatte sie auf der Erde gesehen.

»Der hier ist Nirgal«, sagte einer zu der letzten Bemerkung und zeigte grinsend auf ihn. »Er sollte imstande sein, das zu bestätigen oder zu verneinen.«

Nirgal nickte überrascht und sagte: »Ich habe sie auf der Erde nicht gesehen. Es gab bloß Gerüchte.«

»Also genau wie hier.«

Nirgal zuckte die Achseln.

Die junge Frau errötete, weil sie nun wußte, daß er Nirgal war, und bestand darauf, Hiroko persönlich getroffen zu haben. Nirgal beobachtete sie genau. Das war etwas anderes. Bis jetzt hatte niemand ihm gegenüber eine so direkte Behauptung aufgestellt (außer in der Schweiz). Sie sah verwirrt und abwehrend aus, blieb aber fest. »Ich sage, daß ich mit ihr gesprochen habe!«

Warum derartig lügen? Und wie war es möglich, daß jemand deswegen zum Narren gehalten würde? Schauspielerei? Aber warum?

Nirgals Puls hatte sich gegen seinen Willen beschleunigt, und ihm war wärmer geworden. Tatsächlich war es möglich, daß Hiroko so etwas tun würde, sich verstecken und gleichzeitig nicht verstecken. Irgendwo leben, ohne sich um Kontakt mit der zurückgelassenen Familie zu kümmern. Es gab dafür kein deutliches Motiv, es wäre seltsam und durchaus unmenschlich, lag aber völlig im Bereich von Hirokos Charakter. Seine Mutter war eine verrückte Person, das war ihm vor Jahren klar geworden, eine Charismatikerin, die mühelos Menschen lenkte, aber wahnsinnig war. Zu fast allem fähig.

Falls sie lebte.

Er wollte nicht wieder hoffen. Er wollte nicht auf die Jagd nach ihr gehen; nur aufgrund der bloßen Erwähnung ihres Namens! Aber er beobachtete das Gesicht dieses Mädchens, als könne er die Wahrheit daraus lesen, als ob er sogar das Bild Hirokos noch dort in ihren Pupillen sehen könnte! Andere stellten die Fragen, die er gestellt hätte. Darum konnte er still sitzen bleiben und zuhören. Er mußte sie nicht allzu selbstsicher machen. Sie erzählte langsam die ganze Geschichte. Sie und einige Freundinnen waren im Uhrzeigersinn um Elysium herum geflogen; und als sie für die Nacht auf der neuen Halbinsel, die die Phlegra Montes gebildet hatten, haltmachten, waren sie zum Eis-Ufer des Nordmeers hinuntergegangen, wo sie eine neue Siedlung entdeckt hatten. Und dort waren sie inmitten der Bauleute auf Hiroko gestoßen. Einige der beim Bau Beschäftigten waren ihre alten Gefährten Gene, Rya und Iwao und der Rest der Ersten Hundert, die Hiroko schon seit den Tagen der verlorenen Kolonie gefolgt waren. Die Fliegergruppe war erstaunt gewesen, aber die verschollen geglaubten Kolonisten hatten sich über deren Erstaunen geradezu verblüfft gezeigt. »Niemand versteckt sich mehr«, hatte Hiroko der jungen Frau gesagt, nachdem sie ihr Komplimente für ihren Flieger gemacht hatte. »Wir verbringen die meiste unserer Zeit in der Nähe von Dorsa Brevia, sind aber jetzt schon seit Monaten hier oben.«

Und so war das nun. Die Frau schien vollkommen ehrlich zu sein; es gab keinen Grund anzunehmen, daß sie log oder an Halluzinationen litt.

Nirgal wollte nicht darüber nachdenken. Aber er hatte sowieso daran gedacht, Shining Mesa zu verlassen und sich an anderen Orten umzusehen. Also konnte er.

Und — nun — er mußte mindestens einen Blick darauf werfen. Shigata ga nai!

Am nächsten Tage wirkte das Gespräch weniger verpflichtend. Nirgal wußte nicht, was er denken sollte. Er rief Sax über den Handgelenkapparat an und berichtete ihm, was er gehört hatte. »Sax, ist es möglich? Kann es überhaupt möglich sein?«

Ein seltsamer Ausdruck zog über Sax’ Gesicht. Er sagte: »Es ist möglich. Ja, natürlich. Als du krank und bewußtlos warst, habe ich dir erzählt, daß sie... « — er suchte seine Worte wie so oft mit einem Blinzeln der Konzentration —, »daß ich sie selbst gesehen habe. In jenem Sturm, als ich draußen festsaß. Sie hat mich zu meinem Wagen gebracht.«

Nirgal starrte auf das kleine flimmernde Bild. »Daran erinnere ich mich nicht.«

»Oh, ich bin nicht überrascht.«

»Also denkst du — daß sie von Sabishii entkommen ist?«

»Ja.«

»Aber wie wahrscheinlich ist das?«

»Ich kenne die Wahrscheinlichkeit nicht. Die ist schwierig zu beurteilen.«

»Aber hätte sie sich davonschleichen können?«

»Der Hügel des Sabishii-Moholes ist ein Irrgarten.«

»Du denkst also, sie ist entkommen?«

Sax zögerte. »Ich habe sie gesehen. Sie hat mein Handgelenk gepackt. Ich muß es glauben.« Plötzlich verzog er das Gesicht. »Ja, sie ist da draußen! Sie ist draußen! Ich habe keinen Zweifel! Keinen Zweifel! Unzweifelhaft erwartet sie, daß wir... daß wir zu ihr kommen.«

Und Nirgal erkannte, daß er nachsehen mußte.

Er verließ Candor, ohne sich von irgend jemandem zu verabschieden. Seine Bekannten dort würden es verstehen. Sie flogen oft selbst für einige Zeit fort. Irgendeines Tages würden sie alle wieder zurück sein, über die Canyons flitzen und ihre Abende zusammen in Shining Mesa verbringen. Und so reiste er einfach ab. Hinunter in das ungeheure Melas Chasma, dann wieder den Canyon hinab, ostwärts nach Coprates hinein. Viele Stunden lang flog er durch diese Welt, über den Gletscher 61, an Einbuchtungen und Vorsprüngen vorbei, bis er durch das Dover Gate hindurchkam und sich unter ihm die Gabelung von Chasmas Capri und Eos öffnete. Danach über die eisgefüllten Chasmaflächen, deren brüchige Oberflächen viel glatter waren, als es das überschwemmte Land darunter gewesen war. Dann über das rauhe Gewirr von Margaritifer Terra und schließlich nordwärts entlang der Piste nach Burroughs. Als diese sich Lybia Station näherte, schwenkte er ab nach Nordosten auf Elysium zu.

Das Elysium-Massiv war jetzt zu einem Kontinent im Nordmeer geworden. Die schmale Wasserstraße, die es vom südlichen Festland trennte, war ein flacher schwarzer Streifen, der mit weißen Eisschollen und gesprenkelt durch die Inselgruppen, die einmal Aeolis Mensa gewesen waren, an Farbe gewann. Die Hydrologen des Nordmeeres wollten diese Straße flüssig halten, damit Strömungen von Isidis Bay nach Amazonis Bay passieren konnten. Um das zu erreichen, hatten sie einen Kernreaktorkomplex am Westende der Straße errichtet und pumpten die meiste Energie dort ins Wasser, so daß sie eine künstliche, das ganze Jahr eisfreie Fläche erzielten und ein gemäßigtes Mesoklima auf den Abhängen zu beiden Seiten der Straße. Die Dampfwolken der Reaktoren konnte Nirgal von weitem auf der Großen Böschung erkennen; und als er den Hang hinunterschwebte, überquerte er sich verdichtende Tannen- und Gingkowälder. Über das westliche Tor der Passage war ein Kabel gespannt, um in der Strömung schwimmende Eisberge abzufangen. Er flog westlich des Kabels direkt über das Packeis und schaute auf treibende Eisschollen hinunter. Dann ging es über das offene Wasser der Straße, den größten Streifen freien Wassers, den er je auf dem Mars gesehen hatte. Er flog zwanzig Kilometer lang über die offene Wasseroberfläche und stieß bei dem Anblick einen lauten Ruf aus. Dann wölbte sich vor ihm eine immense leichte Brücke über die Straße. Das schwarzviolette Wasser darunter war gesprenkelt mit Segelbooten, Fähren und langen Lastkähnen, die alle ein weißes V-Kielwasser nach sich zogen. Nirgal glitt über sie hinweg und umrundete die Brücke zweimal, um den Anblick zu genießen, der mit nichts zu vergleichen war, was er bisher jemals auf dem Mars gesehen hatte: Wasser und Meer, eine Welt der Zukunft.



Er flog weiter nach Norden, stieg über den Ebenen von Cerberus auf, vorbei an dem Vulkan Albor Tholus, einem steilen Aschenkegel auf der Seite von Elysium Mons. Auch der viel größere Elysium Mons war steil, mit einem dem Fujiyama ähnlichen Profil, das vielen in der Region tätigen Ackerbaukooperativen als Markenzeichen diente. Unter dem Vulkan über die Fläche verstreut waren Farmen, an den Rändern meistens verwildert, oft terrassiert und gewöhnlich durch Heckenstreifen oder kleine Wäldchen unterteilt. Junge unreife Obstgärten punktierten die höheren Teile der Flächen, jeder Baum in einem Topf. Näher am Meer gab es große Weizen- und Maisfelder, durchschnitten von Reihen aus Oliven- und Eukalyptusbäumen als Windbrecher. Gerade zehn Grad nördlich vom Äquator, gesegnet mit regenreichen milden Wintern und vielen heißen Sonnentagen. Die Leute dort nannten es die mediterrane Region des Mars.

Weiter nördlich folgte Nirgal der Westküste, die aus einer Kette von Eisbergen, die den Rand des Eismeeres säumten, aufstieg. Während er auf das weite Land unter sich hinabblickte, mußte er der allgemeinen Ansicht zustimmen: Elysium war schön. Dieser westliche Küstenstreifen war, wie er gehört hatte, die am dichtesten bevölkerte Region des Mars. Die Küste war durch eine Anzahl von Fossae unterbrochen; und breite Häfen wurden gebaut, wo diese Canyons in das Eis tauchten: Tyrus, Sidon, Pyriphlegeton, Hertzka und Morris. Oft wurde das Eis durch steinerne Wellenbrecher abgehalten. Sie waren mit Flotten kleiner Boote gefüllt, die alle auf eine offene Passage warteten.

Bei Hertzka wandte sich Nirgal nach Osten zum Inland hin und flog den sanften Hang des elysäischen Massivs hinauf. Dabei kam er über Gürtel von Gärten, die das Land begrenzten. Hier lebten die meisten der Tausenden von Elysium in intensiv kultivierten Ackerbau- und Wohnzonen, die sich in das höhere Gebiet zwischen Elysium Mons und dem Kegel an dessen nördlichen Vorsprung, Hecates Tholus, hinzogen. Zwischen dem großen Vulkan und seiner Tochterbergspitze flog Nirgal durch den kahlen Felssattel des Passes, wie eine kleine Wolke vom Bergwind getrieben.

Der Osthang Elysiums sah ganz anders aus als der westliche. Er war kahles, rauhes, zerrissenes Gestern mit schwerer Sanddrift, in fast seinem ursprünglichen Zustand erhalten durch den Regenschatten des Massivs. Nur in Nähe der Ostküste sah Nirgal wieder grüne Flächen, unter sich. Ohne Zweifel genährt durch Passatwinde und winterlichen Nebel. Die Städte an der Ostseite waren wie Oasen, aufgereiht an einer die Insel umrundenden Piste.

Am fernen Nordostende der Insel liefen die zerklüfteten alten Hügel der Phlegra Montes weit in das Eis hinaus und bildeten eine spitzige Halbinsel. Irgendwo hier war es gewesen, daß jene junge Frau Hiroko gesehen hatte. Als Nirgal an der Westseite der Phlegras hochflog, hatte er den Eindruck, daß das ein Ort war, wo man sie wohl finden könnte. Es war wildes und typisches Marsgebiet. Das Phlegra-Gebirge war, wie viele der großen Bergketten auf dem Mars, der einzige verbliebene Bogen des Randes eines alten Einsturzbeckens. Jeder andere Aspekt dieses Beckens war längst verschwunden. Aber die Phlegras standen immer noch da als Zeugen eines Augenblicks unvorstellbarer Gewalt, des Aufpralls eines Asteroiden von hundert Kilometern Durchmessern. Große Stücke der Lithosphäre waren geschmolzen und beiseite geschoben worden; andere Stücke waren in die Luft geschleudert worden und in konzentrischen Ringen um den Aufschlagspunkt heruntergefallen, wobei ein großer Teil des Gesteins sofort zu metamorphen Mineralien verwandelt worden war, die viel härter waren als ihre Originale. Nach diesem Trauma hatte der Wind an den Trümmern genagt und schließlich nur noch diese harten Hügel hinterlassen.

Natürlich gab es auch hier draußen Siedlungen, wie überall in den Senken und blinden Tälern und auf den Pässen, die über das Meer schauten. Isolierte Farmen, Dörfer mit zehn, zwanzig oder hundert Einwohnern. Es sah aus wie Island. Überall gab es Leute, die diese entlegene Gegend liebten. Ein Dorf klebte auf einer flachen Kuppe hundert Meter über der See. Es hieß Nuannaarpoq, was Inuit war für ›extravagantes Vergnügen am Leben haben‹. Diese Dorfbewohner und alle anderen in den Phlegras konnten mit kleinen Luftschiffen den Rest von Elysium erreichen oder zu der um Elysium herumführenden Piste absteigen und eine Fahrgelegenheit erwischen. Speziell für diese Küste wäre die nächste Stadt ein wohlgestalteter Hafen namens Firewater auf der Westseite der Phlegras, wo sie zuerst eine Halbinsel geworden waren. Die Stadt stand auf einer Bank am Ende einer breiten Bucht. Als Nirgal sie entdeckte, landete er auf der kleinen Rollbahn am oberen Ende der Stadt und mietete sich in einer Herberge am Hauptplatz hinter den Docks ein. Sie lag oberhalb der von Eis bedeckten Meeresküste.

An den folgenden Tagen flog er in beiden Richtungen an der Küste entlang und besuchte eine Farm nach der anderen. Er traf eine Menge interessanter Leute; aber niemand davon war Hiroko oder sonstwer von der Zygote-Schar, nicht einmal einer ihrer Genossen. Es war sogar etwas verdächtig. In der Region lebten ziemlich viele Issei, aber jeder von ihnen bestritt, Hiroko oder jemanden aus ihrer Gruppe je getroffen zu haben. Indessen trieben sie alle sehr erfolgreich Ackerbau in einer steinigen Wildnis, die nicht leicht zu bewirtschaften schien. Sie kultivierten vorzügliche kleine Oasen mit landwirtschaftlichem Ertrag. Sie lebten als Anhänger von Viriditas, aber niemand hatte Hiroko getroffen. Sie erinnerten sich kaum, wer sie war. Ein amerikanischer Mummelgreis lachte Nirgal ins Gesicht: »Wasde nich sagst, wir ha’m ’nen Guru? Wir soll’n dich zu unserm Gurü bringen?«

Nach drei Wochen hatte Nirgal überhaupt keine Spur von ihr gefunden. Er mußte die Phlegra Montes aufgeben. Es blieb ihm nichts anderes übrig.


Unablässig wandern. Es war sinnlos, auf der riesigen Oberfläche einer ganzen Welt nach einer einzelnen Person zu suchen. Das war ein unmögliches Vorhaben. Aber in manchen Dörfern gab es Gerüchte und bisweilen Sichtungen. Immer ein weiteres Gerücht. Sie war überall und nirgends. Viele Beschreibungen, aber nie ein Foto; viele Geschichten, aber nie eine Computernachricht. Sax war überzeugt, daß sie irgendwo da draußen war. Cojote war vom Gegenteil überzeugt. Das spielte keine Rolle. Sie war da draußen, sie versteckte sich. Oder führte ihn bei seinem fruchtlosen Unterfangen an der Nase herum. Er wurde ärgerlich, wenn er daran dachte. Er würde nicht nach ihr suchen.

Indessen konnte er nicht aufhören herumzuziehen. Wenn er länger als eine Woche an einer Stelle blieb, fing er an, nervös und mürrisch zu werden wie noch nie in seinem Leben. Es war wie eine Krankheit. Alle seine Muskeln waren angespannt, aber scheinbar in seinem Magen konzentriert. Er hatte erhöhte Temperatur, war unfähig, sich auf seine Gedanken zu konzentrieren. Er hatte den Drang zu fliegen. Und so flog er nun von Dorf zu Station zu Karawanserei. Manche Tage ließ er sich vom Wind treiben, wohin der auch wollte. Er war immer ein Nomade gewesen. Kein Grund jetzt aufzuhören. Ein Wechsel in der Regierungsform — warum sollte das einen Unterschied für seine Lebensweise machen? Die Winde des Mars waren erstaunlich. Stark, unregelmäßig, laut, unablässig.

Manchmal führte ihn der Wind hinaus über das Nordmeer; und er flog den ganzen Tag und sah nichts als Eis und Wasser, ganz so, als ob der Mars ein Ozeanplanet wäre. Da war Vastitas Borealis, der weite Norden, der jetzt zu Eis geworden war. Das Eis war an manchen Stellen flach, an anderen zerbrochen. Manchmal weiß, manchmal fleckig. Entweder Staubrot oder das Schwarz der Eis-Algen oder kaltes Blau von klarem Eis. An manchen Stellen waren große Stürme niedergegangen und hatten ihre Gewitterlast abgeladen; und dann hatte der Wind den Schutt gekerbt, so daß kleine Dünenfelder entstanden waren, die genau wie die alte Vastitas aussahen. An manchen Stellen war das von Flüssen beförderte Eis über die Ränder von Krater-Riffen gekracht und hatte kreisrunde Druckwülste erzeugt. An anderen war das Eis verschiedener Ströme zusammengestoßen und hatte Druckgrate erzeugt, die wie die Rücken von sauren Drachen in der Landschaft lagen.

Das offenes Wasser war schwarz oder zeigte die verschiedenen Purpurtöne des Himmels. Es gab viel davon: Eisfreie Stellen, Rinnen, Flecken — vielleicht bereits ein Drittel der Meeresoberfläche. Noch häufiger waren Schmelzteiche auf der Oberfläche des Eises. Deren Wasser war weiß und auch himmelsfarben, was zu Zeiten ein helles Violett ergab, sich aber bisweilen in dessen zwei Farben trennte. Ja, das war eine andere Version in Grün und Weiß — die umhüllte Welt, zwei in einem. Wie immer fand er den Anblick einer doppelten Farbe störend und fesselnd zugleich. Das Geheimnis der Welt.

Viele der großen Bohrplattformen in Vastitas waren von den Roten erobert und in die Luft gejagt worden. Schwarze Trümmer in weißes Eis gestreut. Andere Plattformen waren von den Grünen verteidigt worden und dienten jetzt dazu, das Eis zu schmelzen. Große offene Stellen erstreckten sich im Westen dieser Plattformen, und das Wasser dampfte, als ob Wolken aus einem Himmel unter der See aufstiegen.

In den Wolken, im Wind. Die Südküste des Nordmeers war eine Folge aus Golfen und Festland, Buchten und Halbinseln, Fjorden und Kaps, Klippen und flachen Archipelen. Nirgal erforschte den Lauf der Küste jeden Tag und landete spätnachmittags in den kleinen Siedlungen am Meer. Er sah Kraterinseln, deren Innenseiten tiefer lagen als das Eis und das Wasser außerhalb des Randes. Er sah einige Stellen, an denen das Eis zurückzuweichen schien, so daß unter dem Rand schwarze Strände zum Vorschein kamen, in parallele Linien gekämmt, die nach unten zu einem angetriebenen Gemisch von Fels und Eis verliefen. Würden diese Strände wieder geflutet werden, oder sie sich verbreitern? Niemand in diesen Küstenstädten wußte das. Niemand wußte, wo sich die Küstenlinie letztendlich stabilisieren würde. Die Siedlungen hier waren so eingerichtet, daß man mit ihnen umziehen konnte. Polder mit Deichen zeigten, daß manche Leute offenbar die Fruchtbarkeit des neu freigelegten Landes testeten. Von weißem Eis eingerahmt lagen grüne Getreidefelder wie ein weiß-grüner Traum am Ufer.

Nördlich von Utopia kam Nirgal über eine niedrige Halbinsel, die sich von der Großen Böschung die ganze Strecke bis zur nördlichen Polarinsel hinzog — die einzige Unterbrechung in dem die Welt umspannenden Ozean. Eine große Siedlung auf diesem flachen Land, namens Boone’s Neck, war halb überkuppelt und halb offen. Ihre Bewohner waren damit beschäftigt, einen Kanal durch die Halbinsel zu schneiden.

Eine Boe trieb ihn nach Norden, und Nirgal folgte ihr. Der Wind summte, fauchte und biß. An manchen Tagen kreischte er. Im Meer lagen zu beiden Seiten der langen, niedrigen Halbinsel Eisschollen. Hohe Berge aus Jade-Eis brachen durch diese weißen Schelfe. Da oben lebte niemand; aber Nirgal war ohnehin nicht mehr auf der Suche. Er hatte nahe der Verzweiflung aufgegeben und schwebte einfach dahin und ließ sich vom Wind treiben wie der Samen eines Löwenzahns. Über das weiße, zerrissene Eismeer, über freies purpurnes Wasser; gesäumt von im Sonnenlicht strahlenden Wellen. Die Halbinsel verbreitete sich zur Pol-Insel, einem weißen buckligen Landfleck im Eis des Meeres. Kein Anzeichen von den urtümlichen Wirbelmustern der Schmelztäler. Diese Welt war dahin.

Dann über die andere Seite der Welt und des Nordmeeres, über die Orcas-Insel auf der Ostflanke von Elysium und wieder hinab über Cimmeria. Schwebend wie ein Same. An manchen Tagen wurde die Welt schwarz und weiß. Auf dem Meer Eisberge in der Sonne, Tundraschwäne vor schwarzen Klippen, schwarze Lummen, die über das Eis flogen, Schneegänse. Den ganzen Tag nichts anderes.

Unablässiges Wandern. Er flog zwei- oder dreimal in die nördlichen Teile der Welt, schaute auf das Land und das Eis hinunter, registrierte alle Veränderungen, die stattfanden, und alle kleinen Siedlungen, die sich in ihre Zelte kuschelten oder im Freien den kalten Winden trotzten. Aber aller Blick in die Welt konnte seinen Kummer nicht vertreiben.


Eines Tages kam er zu einer neuen Hafenstadt am Eingang des langen schmalen Fjords von Marwth Vallis und traf dort seine Krippengefährten aus Zygote, Rachel und Tiu, an. Nirgal umarmte sie und betrachtete während eines Dinners und danach mit Freude ihre ach so vertrauten Gesichter. Hiroko war fort, aber seine Brüder und Schwestern waren geblieben, und das war schon etwas. Ein Beweis dafür, daß seine Kindheit real war. Und trotz all der Jahre sahen sie genau so aus wie damals, als sie Kinder gewesen waren. Es gab keinen echten Unterschied. Rachel und er waren befreundet gewesen. Sie hatte mit ihm in den frühen Jahren einen Flirt gehabt, und sie hatten sich in den Bädern geküßt. Er erinnerte sich mit leichtem Zittern an eine Zeit, wo sie ihn auf ein Ohr geküßt hatte und Jackie auf das andere. Und obwohl er es fast vergessen hatte, hatte er seine Unschuld eines Nachmittags in den Bädern mit Rachel verloren, kurz bevor Jackie ihn zu den Dünen am Teich herausgeführt hatte. Ja, eines Nachmittags, fast zufällig, als ihre Küsserei plötzlich drängend und erforschend geworden war, und sich ihre Körper ohne Willen bewegt hatten.

Jetzt betrachtete sie ihn freundlich und zugetan, eine Frau in seinem Alter, deren Gesicht wie eine Karte von den Linien ihres Lachens gezeichnet war, heiter und stolz. Vielleicht erinnerte sie sich auch nur ebenso wenig wie er an ihre erste Begegnung. Schwer zu sagen, an was sich seine Geschwister aus ihrer gemeinsamen bizarren Kindheit erinnerten. Jetzt sah sie aber aus, als ob sie sich erinnerte. Sie war immer lieb gewesen und war es auch jetzt. Er erzählte ihr von seinen Flügen um die Welt, getragen von den ständigen Winden, und vom langsamen Hinabsinken gegen den Auftrieb des Luftschiffs zu einer kleinen Siedlung nach der anderen auf der Suche nach Hiroko.

Rachel schüttelte den Kopf und lächelte ironisch. »Wenn sie hier draußen ist, dann ist sie eben hier draußen. Aber du könntest ewig suchen und würdest sie niemals finden.«

Nirgal stieß einen bekümmerten Seufzer aus, und sie lachte und zauste ihm das Haar.

»Such nicht nach ihr!«

An diesem Abend ging er am Strand spazieren, knapp oberhalb der verwüsteten, mit Eisbrocken übersäten Küstenlinie des Nordmeeres. Er hatte die körperliche Empfindung, gehen und laufen zu müssen. Fliegen war so einfach; es war eine Trennung von der Welt. Die Dinge wurden wieder klein und fern. Es war das falsche Ende des Teleskops. Er mußte wieder gehen.

Dennoch flog er. Immerhin sah er sich beim Fliegen das Land näher an. Heide, ein Moor am Flußufer. Ein Bach, der über eine kleine Stufe direkt ins Meer stürzte, und ein anderer, der einen Strand überquerte. An manchen Stellen hatte man Wälder gepflanzt, in dem Versuch, Staubstürme abzuhalten, die in dieser Gegend entstanden. Es gab immer noch welche, und die Bäume waren noch Schößlinge. Hiroko könnte imstande sein, das zu beheben. Schau dich nicht nach ihr um! Schau auf das Land!


Er flog nach Sabishii zurück. Dort war noch eine Menge Arbeit zu tun — Entsorgung der verbrannten Trümmer und Neuaufbau. Manche Bau-Kooperativen nahmen noch Mitglieder auf. Die eine machte Rekonstruktionen, baute aber auch Kleinluftschiffe und andere Fluggeräte einschließlich einiger experimenteller Vogelanzüge. Nirgal sprach mit ihnen über seinen Beitritt.

Er ließ seinen Luftschiffgleiter in der Stadt und lief weit hinaus auf die Hochmoore östlich von Sabishii. In seinen Studentenjahren war er hier oft entlanggegangen. Viele Laufstrecken waren ihm noch vertraut. Dahinter neues Gelände. Ein hohes Land mit seinem moorgemäßen Leben. Große kami-Steine standen da und dort wie Wächter auf dem zerknitterten Land.

Eines Nachmittags beim Lauf durch eine unbekannte Bodenwelle blickte er nach unten in ein kleines hohes Becken, wie eine flache Schüssel, die eine Öffnung zu einem niedrigeren Land im Westen hatte. Wie ein eiszeitlicher Zirkus, obwohl es wahrscheinlicher ein erodierter Krater mit einer Bruchstelle im Rand war, so daß ein hufeisenförmiger Grat entstanden war. Ungefähr einen Kilometer im Durchmesser und nicht besonders tief. Bloß eine Runzel unter den vielen Runzeln des Tyrrhena-Massivs. Von dem umgebenden Grat aus waren die Horizonte weit entfernt und das Land in der Tiefe klumpig und unregelmäßig.

Das wirkte vertraut. Vielleicht hatte er es bei einer Übernachttour in seinen Studentenjahren besucht. Er kletterte langsam in das Becken hinunter und hatte noch immer den Eindruck, sich auf dem Gipfel des Massivs zu befinden. Das klare dunkle Indigo des Himmels und die weiträumige Aussicht durch die Lücke nach Westen verstärkten diesen Eindruck. Wolken rollten über seinem Kopf dahin wie große runde Eisberge. Trockener körniger Schnee fiel aus ihnen herab, der durch den scharfen Wind völlig in Spalten oder aus dem Becken hinausgetrieben wurde. Auf dem runden Grat, nahe dem nordwestlichen Punkt des Hufeisens, befand sich ein Felsblock in Form einer Steinhütte. Er stand an vier Stellen auf dem Grat, ein Dolmen, der zur Glätte eines alten Zahnes abgewetzt war. Der Himmel darüber war lapislazuli.

Nirgal ging wieder nach Sabishii hinunter und erkundigte sich danach. Das Becken wurde laut den Karten und Aufzeichnungen der Behörde für Areographie und Ökopoetik des Tyrrhenamassivs nicht gewartet. Sie freuten sich, daß er interessiert war und sagten ihm: »Die hohen Becken sind hart. Da wächst nur sehr wenig. Es ist ein langes und aufwendiges Projekt.«

»Gut.«

»Man wird die meiste Nahrung in Treibhäusern ziehen müssen. Natürlich Kartoffeln, vorausgesetzt, es gibt genug Boden.«

Nirgal nickte.

Sie sagten ihm, er solle beim Dorf Dingoche vorbeischauen, das dem Becken am nächsten läge, und sich vergewissern, daß dort niemand andere Pläne dafür hätte.

So fuhr er wieder hinauf in einer kleinen Karawane mit Tariki, Rachel, Tiu und einigen anderen Freunden, die sich versammelt hatten, um zu helfen. Sie fuhren über eine niedrige Bodenwelle und fanden Dingoche, das in einem kleinen Wadi lag, das jetzt landwirtschaftlich betrieben wurde, zumeist mit schwer zu bearbeitenden Kartoffelfeldern. Es hatte einen Schneesturm gegeben, und alle Felder hatten sich in weiße Rechtecke verwandelt, unterteilt durch niedrige schwarze Mauern aus aufgetürmten Steinen. Eine Anzahl langer, niedriger Steinhäuser mit Dächern aus Steinplatten und dicken quadratischen Kaminen stand über die Felder verstreut, und einige weitere drängten sich am oberen Ende des Dorfes. Das längste Gebäude in dieser Gruppe war ein zweistöckiges Teehaus mit einem großen Zimmer voller Matratzen zur Unterbringung von Besuchern.

In Dingoche, wie in vielen Gebirgen des Südens, herrschte noch die Geschenkwirtschaft vor; und Nirgal mit seinen Gefährten mußten ein wahres Gelage mit wechselseitigen Gaben erdulden, wenn sie über Nacht blieben. Die Einheimischen waren sehr froh, als er sie nach dem hohen Becken befragte, das sie entweder das kleine Hufeisen oder die obere Hand nannten. »Man muß sich darum kümmern.« Sie boten ihm Starthilfe an.

So gingen sie in einer kleinen Karawane auf den hohen Zirkus und luden eine Menge Gerät auf der Bodenwelle nahe dem Hausfelsen ab. Sie blieben lange genug, um ein erstes kleines Feld von Steinen zu säubern und es mit dem abgeräumten Material einzuzäunen. Einige erfahrene Bauleute halfen Nirgal, die ersten Einschnitte in den Felsen der Falte zu machen. Während dieser geräuschvollen Bohrarbeiten meißelten einige Einwohner von Dingoche in Sanskrit die Buchstaben Om Mani Padme Hum ein, wie man sie auf unzähligen Manisteinen im Himalaya sieht und jetzt auch im ganzen südlichen Bergland. Sie schlugen auch den Stein zwischen den fetten Kursivlettern weg, so daß sie in Hochrelief vor einem roheren, helleren Hintergrund standen. Was den Hausfelsen selbst anging, so würde man zuletzt vier Räume daraus ausgehauen haben, mit dreischichtigen Fenstern, Sonnenpaneelen für Wärme und Energie, Wasser aus einer Schneeschmelze, das in einen Tank weiter oben gepumpt würde, sowie eine Kompostiertoilette und eine Abwassereinrichtung.

Dann waren sie weg, und Nirgal hatte das Becken für sich.

Er ging lange Tage herum, ohne etwas anderes zu tun als zu schauen. Nur der allerkleinste Teil des Beckens würde seine Farm sein. Nur ein paar kleine Felder zwischen niedrigen Steinmauern und ein Treibhaus für Gemüse. Und eine Hüttenindustrie, er wußte nicht recht, welche. Er würde nicht ganz autark sein, aber es käme schon hin. Ein Projekt.

Und dann war da das Becken selbst. Ein kleiner Kanal lief schon durch die Öffnung nach Westen, als ob er eine Ablaufmöglichkeit andeuten würde. Die gekappte Felshand bot schon ein Mikroklima, zur Sonne geneigt und leicht windgeschützt. Er würde Okopoet sein.

Zuerst mußte er das Land kennenlernen. Mit diesem seinem Projekt war es erstaunlich, wie geschäftig jeder Tag wurde. Es gab eine endlose Menge von Dingen zu tun. Aber keine Struktur, kein Zeitplan, keine Eile, niemand zu konsultieren. Und jeden Tag ging er in den letzten Stunden des Sommerlichts um den Kamm des Hügels und inspizierte das Becken im schwindenden Sonnenschein. Es war schon mit Flechten und den anderen ersten Siedlern bewachsen. Moor füllte die Höhlungen, und es gab kleine Mosaike arktischen Bodenbewuchses an den freien, sonnigen Stellen. Weniger als ein Zentimeter dicke Buckel aus grünem Moos auf rotem Untergrund. Schneeschmelzwasser lief in etlichen kleinen Bächen, die sich vereinigten und über viele etwaige künftige Wiesenterrassen fielen, kleine Oasen von Kieselalgen. Dann’ gelangte das Wasser über das Becken schließlich in das Kieselwadi am Tor zu dem darunter liegenden Land, um hinter dem letzten Rand eine ebene spätere Wiese zu bilden. Höher im Becken gelegene Rippen waren natürliche Dämme; und nach einiger Überlegung schaffte Nirgal einige Windprodukte zu diesen niedrigen Querfalten und ordnete sie mit ihren Flächen so an, daß die Rippen um die Höhe eines oder zweier Steine "höher wurden. Schmelzwasser würde sich in Wiesenteichen sammeln, von Moos eingerahmt. Die Moore gleich westlich von Sabishii ähnelten bereits dem, was er anstrebte; und er wandte sich an Ökopoeten, die auf jenen Mooren lebten, und erkundigte sich nach Artenverträglichkeit, Wachstumsraten, Bodenverbesserung und dergleichen. In seinem Geist entwickelte sich eine Vision des Beckens. Dann kam im zweiten März der Herbst, als das Jahr sich der Sonnenferne näherte, und er konnte allmählich sehen, wieviel die Gestaltung des Landes durch Wind und Winter leiden würde. Er würde abwarten müssen und schauen.

Er streute Samen und Sporen von Hand aus. Er trug sie in am Gürtel befestigten Beuteln und Düngerschalen bei sich. Dabei fühlte er sich wie eine Gestalt von Van Gogh oder aus dem Alten Testament. Es war eine besondere Empfindung, eine Mischung von Kraft und Hilflosigkeit, von Aktion und Schicksal. Er ließ Ladungen von Humus anfahren und auf ein paar kleine Felder abladen. Dann verteilte er sie in dünner Schicht von Hand. Er holte Würmer von der Universitätsfarm in Sabishii. Cojote hatte Stadtbewohner immer als Würmer in einer Flasche bezeichnet. Nirgal grauste es beim Anblick der wimmelnden Masse feuchter nackter Röhrchen. Er setzte die Würmer auf seinen neuen kleinen Feldern frei. Geh, kleiner Wurm, und laß das Land gedeihen!

Er selbst war, wenn er an sonnigen Sommermorgen nach einer Dusche umherging, auch nicht mehr als feuchte, verschlungene, nackte kleine Röhren.

Nach den Würmern kämen Maulwürfe und Wühlmäuse. Dann Mäuse. Danach Schneekaninchen, Hermelin und Murmeltiere. Vielleicht würden auch einige Schneekatzen, die durch die Moore streiften, erscheinen. Füchse. Das Becken war hoch gelegen; aber der Druck, auf den sie in dieser Höhe hofften, betrug 500 Millibar, mit 40 Prozent Sauerstoff. Sie waren dem schon ziemlich nahe gekommen. Die Verhältnisse waren ungefähr wie im Himalaya. Vermutlich würde die gesamte Flora und Fauna großer Höhen auf der Erde hier leben können. Und bei so vielen Ökopoeten, die kleine Flecken des Hochlandes bewirtschafteten, würde das Problem zumeist nur eine Sache der Vorbereitung des Bodens sein. Man mußte nur das gewünschte Ökosystem einführen und dann unterstützen; und das alles unter Beachtung dessen, was mit dem Wind eintraf oder hereinflog. Diese Zugänge konnten natürlich problematisch sein; und es gab viel Gerede auf den Armbändern über Invasionsbiologie und integriertes Mikroklimamanagement. Ein großer Teil der laufenden Arbeit an der Ökopoesis war die Herausarbeitung von Verbindungen der lokalen Besiedlung mit der umliegenden Region.

Nirgal interessierte sich im nächsten Frühling für diese Frage der Ausbreitung noch wesentlich stärker, als im Ersten November die Schneeschmelze einsetzte und aus dem Matsch auf den flachen Terrassen an der Nordseite des Beckens Schößlinge der Schnee-Alaunwurzel herausschauten. Er hatte sie nicht gepflanzt und war sich nicht einmal in seiner Identifikation sicher, bis sein Nachbar Yoshi nach einer Woche vorbeikam und es bestätigte: Heuchera nivealis. Vom Wind hergeweht, sagte Yoshi. Im Escalante-Krater im Norden gab es eine Menge davon. Dazwischen war nicht viel. In diesem Fall war es Springverbreitung.

Ausbreitung durch Springen, Streuen und Fließen — alle drei Arten kamen auf dem Mars vor. Moose und Bakterien verbeiteten sich durch Streuung, hydrophile Pflanzen durch die Flüsse längs der Gletscher, Flechten und etliche andere Pflanzen erreichten ihre Ausbreitung, indem sie ihre Springsamen den starken Winden überließen. Menschliche Ausbreitung zeigte alle drei Muster, wie Yoshi bemerkte, als sie über das Becken gingen und über diesen Begriff sprachen. Sie verstreuten sich über Europa, Asien und Afrika, sie strömten durch die amerikanischen Kontinente und längs der australischen Küsten, sie sprangen hinaus zu den pazifischen Inseln (oder zum Mars). Man konnte beobachten, daß alle drei Methoden gewöhnlich von hoch anpassungsfähigen Spezies benutzt wurden. Das Tyrrhena-Massiv ragte in den Wind. Es fing die westlichen und auch die sommerlichen Monsune ab, so daß beide Seiten Niederschläge bekamen. Nirgends mehr als zwanzig Zentimeter im Jahr; aber in der südlichen Hemisphäre des Mars bedeutete das bereits eine regenreiche Insel. Auf diese Weise auch eine Falle für Dispersion und so sehr zugänglich für Invasionen.

Da lag es also — hohes, unfruchtbares, steiniges Land, mit Schnee bestäubt, wo immer Schatten vorherrschte, so daß die Schatten weiß zu sein pflegten. Kein Zeichen von Leben, mit Ausnahme in den Becken, wo die Ökopoeten ihren kleinen Kollektionen nachhalfen. Wolken erschienen im Winter von Westen und im Sommer von Osten. Die Südhemisphäre hatte wegen des Zyklus von Sonnennähe und Sonnenferne verstärkte Jahreszeiten, so daß sie wirklich eine Rolle spielten. Auf Tyrrhena waren die Winter hart.

Nirgal wanderte, nach dem die Stürme abgeflaut waren, durch das Becken und sah nach, was hereingeblasen worden war. Gewöhnlich war es eine Ladung eisigen Staubes; aber einmal fand er ein ungepflanztes Büschel Jakobsleitern (Polemonium caeruleum) in einer Felsspalte. Er sah in den Botanikdateien nach, wie die Pflanze mit den schon vorhandenen wechselwirken könnte. Zehn Prozent der eingeführten Arten überlebten, und zehn Prozent davon wurden dann Schädlinge. Das war laut Yoshi die erste Regel der Disziplin. »Zehn bedeutet natürlich fünf bis zwanzig.«

Einmal jätete Nirgal ein im Frühling angekommenes gewöhnliches Straßengras aus, weil er fürchtete, es würde alles überwuchern. Genau wie die Tundradisteln. Ein andermal fiel eine schwere Staubfracht bei Herbstwind herunter. Diese Staubstürme waren klein im Vergleich mit den alten globalen Südsommerstürmen; aber gelegentlich riß ein scharfer Wind irgendwo den Wüstenboden auf, so daß der Staub darunter wegflog. An solchen Tagen wurde die Atmosphäre rasch dichter, durchschnittlich um fünfzehn Millibar jährlich. Jedes Jahr hatten die Winde mehr Kraft. Daher bestand Gefahr, daß dickere Deckschichten weggerissen würden. Der herunterfallende Staub bildete aber gewöhnlich eine sehr dünne Schicht, die oft reich an Nitraten war. Darum wirkte er wie ein Dünger, der vom nächsten Regen in den Boden gewaschen wurde.

Nirgal kaufte eine Position in der Konstruktionskooperative von Sabishii, in die er hineingeschnuppert hatte. Er ging oft hin, um an den Gebäuden der Stadt zu arbeiten. Oben im Becken beschäftigte er sich etwas mit Montage und Testreihen von einsitzigen Luftgleitern. Seine Werkstatt war ein kleines Gebäude mit Wänden aus aufgestapelten Steinen, gedeckt mit Platten aus Sandstein als Schindeln. Zwischen dieser Arbeit und der Bewirtschaftung des Treibhauses und seines Kartoffelbeetes und der Okopoesis im Becken waren seine Tage erfüllt.

Er flog die fertigen Luftgleiter nach Sabishii hinunter und blieb in einem kleinen Studio oberhalb des wiedererbauten Hauses seines alten Lehrers Tariki in der alten City, der dort unter alten Issei wohnte, die Hiroko sehr ähnlich sahen und sich auch so anhörten. Art und Nadia lebten hier und zogen ihre Tochter Nikki auf. Auch waren Vijika, Reull und Annette in der Stadt, alles alte Freunde aus seinen Studientagen. Und dann war da die Universität selbst, die nicht mehr Universität des Mars hieß, sondern Sabishii-College — eine kleine Schule, die noch in dem amorphen Stil der Demimondejahre geführt wurde, so daß die anspruchsvolleren Studenten nach Elysium, Sheffield oder Cairo gingen. Diejenigen, die nach Sabishii gingen, waren fasziniert von der Mystik der Jahre der Demimonde oder an der Arbeit eines der Issei-Professoren interessiert.

Bei all diesen Leuten und Aktivitäten fühlte Nirgal sich fremd, wenn nicht gar unbehaglich. Er schob lange Tage als Maurer, Gipser und Monteur bei den verschiedenen Bauarbeiten ein, die seine Koop in der Stadt hatte. Er aß in Reisküchen und Kneipen. Er schlief auf dem Dachboden in Tarikis Garage und sah den Tagen entgegen, da er wieder zum Becken zurückkehrte.

Eines Abends ging er von einer Kneipe spät heim und schlief fast im Stehen ein, als er an einem kleinen Mann vorbei kam, der auf einer Parkbank schlief: Cojote.

Nirgal blieb sofort stehen und ging zu der Bank. Er starrte hin. In manchen Nächten hatte er Cojoten oben im Becken heulen gehört. Dies war sein Vater. Er erinnerte sich an alle jene Tage der Suche nach Hiroko, ohne einen Hinweis, wo man sich umschauen sollte. Aber hier schlief sein Vater auf einer Bank im Stadtpark. Nirgal konnte ihn jederzeit anrufen und erhielt dieses helle verrückte Grinsen. Trinidad selbst. Ihm traten Tränen in die Augen. Er schüttelte den Kopf und gewann wieder die Fassung. Ein alter Mann lag auf einer Parkbank. Das sah man recht oft. Eine Menge Issei waren hierher gekommen und irgendwie endgültig im Hinterland verschwunden, so daß sie, wenn sie in eine Stadt kamen, in den Parks schliefen.

Nirgal ging hin und setzte sich ans Ende der Bank, direkt neben dem Kopf seines Vaters. Graue schäbige Haarzotteln. Wie ein Betrunkener. Nirgal saß bei ihm und schaute auf die Unterseiten der Linden, die um die Bank herum standen. Es war eine ruhige Nacht. Sterne blitzten durch die Blätter.

Cojote rührte sich, drehte den Kopf und schaute auf. »Wer’s das?«

»He!« sagte Nirgal.

»He!« sagte Cojote und setzte sich auf. Er rieb sich die Augen. »Nirgal, Mann! Du schreckst mich hier auf.«

»Tut mir leid. Ich kam vorbei und sah dich. Was machst du?«

»Schlafen.«

»Haha!«

»Nun, ich tat es. Soweit ich weiß, war das alles, was ich machte.«

»Cojote, hast du kein Bett hier?«

»Wieso — nein.«

»Macht dir das nichts aus«

»Nein.« Cojote grinste ihn scharf an. »Ich bin wie das schreckliche Videoprogramm. Die Welt ist mein Zuhause.«

Nirgal schüttelte bloß den Kopf. Cojote machte ein mißtrauisches Gesicht, als er sah, daß Nirgal nicht erfreut war. Er starrte ihn lange unter halb geschlossenen Lidern hervor an und holte tief Luft. Schließlich sagte er träumerisch: »Mein Junge!« Die ganze Stadt war still. Cojote murmelte, als ob er einschliefe. »Was tut der Held, wenn die Geschichte aus ist? Schwimmt über den Wasserfall. Treibt mit der Flut hinaus.«

»Was?«

Cojote öffnete die Augen ganz und beugte sich zu Nirgal vor. »Erinnerst du dich, wie wir Sax nach Tharsis Nodus hineingeschafft haben und du bei ihm gesessen hast und man danach sagte, du hättest ihn ins Leben zurückgebracht? So war das ungefähr. Denk darüber nach!« Er schüttelte den Kopf und lehnte sich wieder auf die Bank zurück. »Das stimmt nicht. Es ist bloß eine Geschichte. Warum sich um diese Geschichte Gedanken machen, wenn sie sowieso nicht deine ist. Was du jetzt machst, ist besser. Du kannst Geschichten dieser Art hinter dich lassen. Einfach weggehen und bei Nacht in einem Park sitzen wie jeder gewöhnliche Mensch. Überall hingehen, wo es dir gefällt.«

Nirgal nickte unsicher.

»Was mir zu tun gefällt«, sagte Cojote schläfrig, »ist, in ein Straßencafe zu gehen, etwas Kava reinzuschütten und mir alle Gesichter anzuschauen. Einen Spaziergang durch die Straßen machen und die Gesichter der Leute ansehen. Ich schaue mir gern Frauengesichter an. So schön. Und manche von ihnen so... so irgendwas. Ich weiß nicht. Ich liebe sie.« Er schlief wieder ein. »Du wirst deinen Weg zu leben finden.«


Zu den Gästen, die ihn gelegentlich im Becken besuchten, gehörten Sax, Cojote, Art, Nadia und Nikki, die jedes Jahr größer wurde. Sie war schon jetzt größer als Nadia und schien diese für eine Art Kinderfrau oder Urgroßmutter zu halten, etwa sowie Nirgal selbst sie in Zygote angesehen hatte. Nikki hatte Arts Sinn für Spaß geerbt, und Art hatte das selbst ermutigt und sie angestachelt, mit ihr gegen Nadia zusammengesteckt und sie mit dem strahlendsten Vergnügen betrachtet, das Nirgal jemals im Gesicht eines Erwachsenen gesehen hatte. Einmal sah Nirgal, wie die drei auf dem Steinwall bei seinem Kartoffelfeld saßen und hilflos über etwas, das Nirgal gesagt hatte, lachten. Er fühlte einen Stich, als er mitlachte. Seine alten Freunde waren jetzt verheiratet, mit einem Kind. Sie lebten in diesem höchst altertümlichen Stil. Demgegenüber schien sein Leben auf dem Lande gar nicht so gehaltvoll zu sein. Aber was konnte er tun? Nur ein paar Leute in dieser Welt waren so glücklich, an ihre richtigen Partner zu geraten. Es gehörte ungemeines Glück dazu, daß es passierte und dann brauchte man den Sinn, es zu erkennen und den Mut zu handeln. Es war zu erwarten, daß nur wenige das alles hätten und daß es dann gut ginge. Der Rest mußte so tun, als ob.


So lebte er in diesem hohen Becken, zog einiges von seiner Nahrung und beteiligte sich an Koop-Projekten, um den Rest zu bestreiten. Er flog einmal im Monat in einem neuen Flugzeug nach Sabishii hinunter, genoß seinen Aufenthalt für eine oder zwei Wochen, und kehrte wieder heim. Art, Nadia und Sax kamen öfter herauf, und seltener hatte er Maya und Michel oder Spencer zu Gast, die alle in Odessa lebten, oder Zeyk und Nazik, die Nachrichten aus Cairo und Mangala mitbrachten, die er nicht hören wollte. Nachdem sie gegangen waren, trat er auf die gewölbte Bodenwelle hinaus, setzte sich auf einen seiner Felsblöcke und schaute auf die Wiesen hinunter, die sich durch den Abhang zogen. Er konzentrierte sich auf das, was er hatte, auf die Welt der Sinne, von Stein und Flechten und blühendem Moos.

Das Becken entwickelte sich. In den Wiesen gab es mittlerweile Maulwürfe und Murmeltiere. Am Ende der langen Winter kamen die Murmeltiere früh aus dem Winterschlaf, fast verhungert. Ihre inneren Uhren waren noch auf Erdenwinter eingestellt. Nirgal streute Futter für sie in den Schnee und sah von den oberen Fenstern seines Hauses zu, wie sie es verzehrten. Sie brauchten Hilfe, um durch die langen Winter bis zum Frühling zu kommen. Sie betrachteten sein Haus als Quelle von Nahrung und Wärme. Und so lebten zwei Murmeltierfamilien in den Steinen darunter und stießen ihre Warnpfiffe aus, wenn sich jemand näherte. Einmal kündigten sie ein paar Leute vom Tyrrhena-Komitee für die Einführung neuer Spezies an. Diese baten ihn um ein Verzeichnis der Arten und eine grobe Zählung. Sie stellten eine Liste ›lokaler Einwohner‹ auf, die es ihnen dann gestatten würde, über jede spätere Einführung sich rasch verbreitender Arten Urteile zu fällen. Nirgal freute sich, bei diesem Unternehmen mitzuarbeiten, und so ging es offenbar allen, die auf dem Massiv Ökopoesie betrieben. Da es sich um eine Insel mit Niederschlägen handelte, entwickelten sie ihre eigene Mischung aus Fauna und Flora großer Höhen. Es bildete sich zunehmend die Meinung, diese Mischung für Tyrrhena als ›natürlich‹ anzusehen, die nur durch Konsens verändert werden sollte.

Die Gruppe des Komitees verließ ihn, und Nirgal blieb mit seinen Hausmurmeltieren zurück und hatte ein komisches Gefühl. »Nun, jetzt sind wir einheimisch«, sagte er zu ihnen.


Er war glücklich in seinem Becken, über der Welt mit ihren Sorgen. Im Frühling erschienen aus dem Nirgendwo neue Pflanzen. Manche begrüßte er mit einer Kelle Kompost, andere riß er aus und machte sie zu Kompost. Das Grün des Frühlings unterschied sich von allen anderen grünen Farben — heller elektrischer Jade und limonenfarbene Knospen und Blätter, neue Blätter aus smaragdenem Gras, blaue Nesseln und rote Blätter. Und dann später die Blüten, jene gewaltige Verausgabung pflanzlicher Energie, der Drang zum Überleben, der Fortpflanzungsdrang von allem um ihn herum... Manchmal, wenn Nadia und Nikki von ihren Spaziergängen zurückkehrten mit Miniatursträußen in ihren großen Händen, erschien Nirgal die Welt sinnvoll. Er schaute sie an und dachte an Kinder und fühlte plötzlich einen nagenden Kummer, den er sonst nicht kannte.

Das war offenbar ein allgemein geteiltes Gefühl. Der Frühling nach dem rauhen Winter des Aphels dauerte in der südlichen Hemisphäre 143 Tage. Im Verlauf der Frühlingsmonate erblühten immer mehr Pflanzen. Erste frühe wie Schneeglöckchen und Leberblümchen, dann spätere wie Phlox und Heide, danach Steinbrech und Tibetischer Rhabarber, Leimkraut, alpiner Nelkenwurz, Kornblumen und Edelweiß — immer weiter und weiter, bis jeder Fleck in dem grünen Teppich der steinigen Fläche des Beckens mit leuchtenden Punkten cyanblau, dunkelrot, gelb und weiß gesprenkelt war. Jede Farbe fügte sich in der charakteristischen Höhe für die betreffende Pflanze ein, und alle glühten in der Dämmerung wie Tropfen aus Licht, das aus dem Nirgendwo quoll. Ein pointillistischer Mars, das gerippte eingesäumte Becken durch diese farbige Halde in die Luft geprägt. Nirgal stand in einer Handfläche, die ihr Schneeschmelzwasser in einer Lebenslinie hinabführte in die weite Welt, die so weit unten lag, eine ausgedehnte schattige Welt, die unter der Sonne nach Westen hin undeutlich zu sehen war, dunstig und tief. Das letzte Licht des Tages schien leicht nach oben gerichtet zu sein.

An einem klaren Morgen erschien Jackie auf seinem häuslichen Computerschirm und verkündete, sie wäre auf der Piste von Odessa nach Livya und wollte vorbeikommen. Nirgal sagte zu, bevor er Zeit hatte nachzudenken.

Er ging den Weg am Abflußbach hinunter, um sie zu begrüßen. Ein kleines hohes Becken... es gab eine Million solcher Krater im Süden. Ein kleiner alter Impakt. Nicht die kleinste Kleinigkeit, die ihn auszeichnete. Er erinnerte sich an Shining Mesa und die tolle gelbe Aussicht in der Früh.

Sie kamen in drei Wagen an, die wild über das Gelände hüpften wie kleine Kinder. Jackie fuhr den ersten Wagen, und Antar den zweiten. Sie lachten ausgelassen, als sie ausstiegen. Antar schien es nichts auszumachen, daß er das Rennen verloren hatte. Sie hatten eine Gruppe junger Araber dabei. Jackie und Antar sahen selbst erstaunlich jung aus. Es war lange her, daß Nirgal sie gesehen hatte, aber sie hatten sich überhaupt nicht verändert. Die Behandlungen. Die gängige Volksmeinung war, sie früh und oft zu nehmen, um ewige Jugend zu sichern und jede der seltenen Krankheiten zu bannen, die immer noch ab und zu Menschen umbrachten. Sie sahen immer noch aus, als wären sie fünfzehn m-Jahre alt. Aber Jackie war ein Jahr älter als Nirgal, und der zählte jetzt fast 33 Jahre und fühlte sich noch älter. Als er in ihre lachenden Gesichter schaute, dachte er: Ich muß eines Tages die Behandlung machen lassen.

So wanderten sie umher, traten auf das Gras, riefen bei den Blumen Ah und Oh; und das Becken wirkte kleiner bei jedem Ausruf, den sie taten. Gegen Ende ihres Besuches nahm Jackie ihn mit ernster Miene beiseite.

Sie sagte: »Wir haben Ärger, die Terraner fernzuhalten, Nirgal. Sie schicken jährlich fast eine Million herauf. Du hast behauptet, daß sie das nie könnten. Und diese Neuankömmlinge treten nicht dem Freien Mars bei, wie es üblich war. Sie unterstützen immer noch ihre heimatlichen Regierungen. Der Mars verändert sich für sie nicht schnell genug. Wenn das so weitergeht, wird die ganze Idee eines freien Mars ein Witz sein. Manchmal frage ich mich, ob es nicht doch ein Fehler war, das Kabel oben zu lassen.«

Sie runzelte die Stirn, und zwanzig Jahre sprangen plötzlich auf ihr Gesicht. Nirgal unterdrückte einen leichten Schauder.

»Es würde helfen, wenn du dich nicht hier verstecktest«, rief sie in jäher Wut und tat das Becken mit einer Handbewegung ab. »Wir brauchen jeden, den wir bekommen können, zur Hilfe. Die Leute erinnern sich noch an dich, aber in einigen Jahren... «

Er dachte, er müßte bloß noch ein paar Jahre warten. Er beobachtete sie. Gewiß, sie war schön. Aber Schönheit war eine Sache des Geistes, von Intelligenz, Munterkeit und Einfühlungsvermögen. Während Jackie also immer schöner wurde, verlor sie zu gleicher Zeit an Schönheit. Wieder eine mysteriöse Verquickung. Und Nirgal war in keiner Weise über diesen inneren Verlust in Jackie erfreut. Das war wirklich nur eine Saite in dem Akkord von Jackies Schmerz. Er wünschte, es wäre nicht wahr.

»Wir können ihnen wirklich nicht helfen, indem wir immer mehr Einwanderer aufnehmen«, sagte sie. »Das war falsch, als du das auf der Erde gesagt hast. Sie wissen es auch. Sie können es ohne Zweifel sogar besser sehen als wir. Aber sie schicken trotzdem Leute. Bloß um sich zu vergewissern, daß es keinen Ort gibt, wo Menschen es richtig machen. Das ist ihr einziger Grund.«

Nirgal zuckte die Achseln. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Wahrscheinlich war etwas Richtiges in dem, was sie gesagt hatte; aber es gab gerade eine Million verschiedener Gründe für Leute zu kommen. Und es gab keinen Grund, das festzulegen.

Schließlich sagte sie: »Du willst also nicht zurückkommen. Es ist dir gleich.«

Nirgal schüttelte den Kopf. Wie könnte er ihr auch ins Gesicht sagen, daß sie nicht um den Mars besorgt war, sondern um ihre Macht? Er war nicht der Mann, der ihr das sagen konnte. Sie würde ihm nicht glauben. Und vielleicht war es irgendwie auch nur für ihn richtig.

Sie hielt abrupt inne in ihrem Versuch, ihn zu erreichen. Ein herrischer Blick auf Antar; und Antar bemühte sich, ihren Kreis in die Wagen zu sammeln. Ein letzter fragender Blick, ein Kuß voll auf den Mund, ohne Zweifel, um Antar zu ärgern oder ihn oder sie beide. Wie ein elektrischer Schlag für die Seele. Und sie war weg.


Er verbrachte den Nachmittag und den nächsten Tag, indem er wanderte, still auf Steinen saß und zusah, wie die kleinen Bäche ins Tal flössen. Einmal fiel ihm ein, wie schnell das Wasser auf der Erde floß. Unnatürlich. Nein. Aber dies hier war sein Platz, den er kannte und liebte, jedes Zellenpaar und jedes Nelkenbeet, sogar die Geschwindigkeit des Wassers, wenn es über den Stein strömte und in glatten, silbrigen Gebilden herabplatschte. Die Art, wie das Moos sich unter den Fingerspitzen anfühlte. Seine Besucher waren Leute, für die der Mars für immer eine Idee gewesen war, ein Staat im Entstehen, ein politischer Sachverhalt. Sie lebten in den Kuppeln, aber sie hätten ebenso irgendwo in irgendeiner Stadt wohnen können, und ihre Hingabe, obwohl real, war einer Sache oder einer Idee geweiht, einem Mars des Geistes. Das war schön. Aber für Nirgal war es jetzt das Land, auf das es ankam. Die Stellen, wo das Wasser hinkam, wenn es über das Milliarden Jahre alte Gestein auf Stellen mit neuem Moos tröpfelte. Die Politik möge man den jungen Leuten überlassen, er hatte seinen Teil geleistet. Er wollte nichts mehr tun. Oder zumindest wollte er warten, bis Jackie fort war. Macht war ja doch wie Hiroko. Sie entglitt einem. Oder etwa nicht? Inzwischen war das Rund des Beckens wie eine offene Hand.


Aber als er dann eines Morgens zu einem Spaziergang in der Frühdämmerung aufbrach, hatte sich etwas verändert. Der Himmel war klar, in seinem reinsten Morgenpurpur, aber die Nadeln eines Wacholders hatten einen gelblichen Stich bekommen, und ebenso das Moos und das Kartoffelkraut auf dem kleinen Beet.

Er pflückte die am meisten vergilbten Nadeln, Schößlinge und Blätter und brachte sie zur Werkbank, die in seinem Treibhaus stand. Zwei Stunden Arbeit mit Mikroskop und Computer erbrachten keine Lösung; und er ging zurück und zog einige Wurzelproben heraus und steckte noch mehr Nadeln, Blätter, Halme und Blüten in kleine Beutel. Ein großer Teil des Grases sah wie verwelkt aus, obwohl es kein heißer Tag war.

Mit pochendem Herzen und verkrampftem Magen arbeitete er den ganzen Tag bis in die Nacht. Er konnte nichts entdecken. Keine Insekten, keine Pathogene. Aber besonders die Blätter der Kartoffeln sahen vergilbt aus. An diesem Abend rief er Sax an und schilderte die Lage. Zufällig besuchte Sax gerade die Universität in Sabishii; und er erschien am nächsten Morgen in einem kleinen Rover, dem jüngsten Erzeugnis aus Spencers Koop.

»Hübsch«, sagte Sax, als er ausstieg und sich umschaute. Er untersuchte Nirgals Proben im Gewächshaus. »Hmm. Ich wundere mich«, sagte er.

Er hatte in seinem Wagen einige Instrumente mitgebracht, und sie schleppten sie in das Felshaus. Er machte sich ans Werk. Am Ende eines langen Tages stellte er fest: »Ich kann nichts finden. Wir werden einige Proben nach Sabishii hinunterbringen müssen.«

»Du kannst gar nichts finden?«

»Kein Pathogen. Keine Bakterien, kein Virus.« Er zuckte die Achseln. »Laß uns ein paar Kartoffeln holen.«

Sie gingen nach draußen und gruben Kartoffeln aus. Einige davon waren verkrümmt, verlängert oder rissig. »Was ist das?« rief Nirgal.

Sax machte ein etwas finsteres Gesicht. »Sieht nach einer Spindelknollen-Erkrankung aus.«

»Was verursacht die?«

»Ein Viroid.«

»Und was ist das?«

»Ka.« Nirgal spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. »Wie ist das hierher gekommen?«

»Wahrscheinlich auf einem Parasiten. Diese Art scheint zuerst das Gras zu infizieren. Wir müssen das herausfinden.«

Also sammelten sie die Proben, die sie benötigten, und fuhren nach Sabishii hinunter.

Nirgal saß auf einem Polstergestell in Tarikis Wohnzimmer und fühlte sich elend. Tariki und Sax hatten nach dem Essen eine lange Lagebesprechung. Andere Viroide waren von Tharsis aus in rapider Verbreitung erschienen. Offenbar hatten sie es geschafft, die sanitären Schutzmaßnahmen des Weltraums zu durchdringen und waren in eine Welt eingebrochen, die vorher von ihnen unbehelligt gewesen war. Sie waren kleiner als Viren, viel kleiner, und erheblich einfacher gebaut. Nichts als RNA-Fasern, sagte Tariki, etwa 50 Nanometer lang. Die Individuen hatten ein Molekulargewicht von ungefähr 130000, während dieses bei den kleinsten bekannten Viren über einer Million lag. Sie waren so klein, daß man sie mit über 100000 Ge zentrifugieren mußte, um sie aus einer Suspension herauszuholen.

Das Spindelknollenviroid war wohlbekannt, sagte Tariki ihnen, der auf seinem Bildschirm herumtastete und auf die dort erschienenen Schemata zeigte. Eine Kette von bloß 359 Nukleotiden in einer einzigen geschlossenen Faser ausgerichtet und in kurzen Abschnitte doppelfaserig verflochten. Viroide wie dieses verursachten etliche Pflanzenkrankheiten einschließlich blasser Bohnenkrankheit, Chrysanthemenverkümmerung, chlorotischer Fleckung, Cadang Cadang und Citrus exocortis. Viroide sind als Agens in einigen Gehirnkrankheiten bei Tieren bestätigt, zum Beispiel Krätze und Kuru und die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit bei Menschen. Die Viroiden benutzen Gast-Enzyme zur Fortpflanzung und werden dann für regelnde Moleküle in den Kernen infizierter Zellen gehalten, die insbesondere die Produktion von Wachstumshormonen behindern.

Das spezielle Viroid in Nirgals Becken, sagte Tariki, war aus dem Spindelviroid der Kartoffel mutiert. Man war in den Labors der Universität noch dabei, es zu identifizieren, aber das kranke Gras machte ihn sicher, daß sie etwas anderes, neues finden würden.

Nirgal fühlte sich übel. Dafür hatten schon allein die Namen der Krankheiten gesorgt. Er starrte auf seine Hände, die tief zwischen den infizierten Pflanzen gewühlt hatten. Durch die Haut ins Gehirn, irgendeine Form spongiformer Encephalopathie, Pilzwachstum überall.

»Können wir etwas tun, urn es zu bekämpfen?« fragte er.

Sax und Tariki schauten ihn an.

»Erst müssen wir herausfinden, was es ist«, erwiderte Sax.


Das erwies sich als nicht einfach. Nach ein paar Tagen kehrte Nirgal wieder zu seinem Becken zurück. Dort konnte er zumindest etwas tun. Sax hatte vorgeschlagen, alle Kartoffeln aus ihren Feldern zu entfernen. Das war eine lange schmutzige Arbeit, eine Art negativer Schatzsuche, als er eine kranke Knolle nach der anderen ausgrub. Vermutlich würde auch der Boden das Viroid enthalten. Es war möglich, daß er das Feld oder sogar das Becken würde aufgeben müssen. Am besten, etwas anderes pflanzen. Man verstand noch nicht, wie sich Viroide fortpflanzten; und aus Sabishii hieß es, daß es sich nicht einmal um ein Viroid im früheren Sinne handeln könne.

»Es ist eine kürzere Faser als üblich«, sagte Sax. »Entweder ein neues Viroid oder etwas ähnliches, viel kleineres. In den Labors von Sabishii nennen sie es das Virid.«

Eine lange Woche später kam Sax wieder zum Becken herauf. Beim Essen sagte er: »Wir können versuchen, es physisch zu beseitigen. Und dann verschiedene Pflanzen einsetzen, die gegen Viroide resistent sind. Das ist das Beste, was wir tun können.«

»Wird das funktionieren?«

»Die für Infektion anfälligen Pflanzen sind recht speziell. Du bist von einer neuen betroffen worden; aber wenn du die Gräser und Kartoffelsorten wechselt und vielleicht etwas von dem Boden deines Kartoffelfeldes austauschst...« Sax zuckte die Achseln.

Nirgal aß mit mehr Appetit, als er in der vorangegangenen Woche gehabt hatte. Schon die Andeutung einer möglichen Lösung war eine große Erleichterung für ihn. Er trank etwas Wein und fühlte sich immer besser. Bei einem Verdauungsbrandy seufzte er: »Das sind sonderbare Dinge, nicht wahr? Damit muß das Leben zurechtkommen.«

»Wenn du es Leben nennst.«

»Ja, natürlich.«

Sax antwortete nicht.

»Ich habe mir die Nachrichten im Netz angeschaut«, sagte Nirgal. »Es gibt eine Menge Infektionen. Ich habe das nie beachtet. Parasiten, Viren... «

»Ja. Manchmal mache ich mir Sorgen wegen einer globalen Seuche. Etwas, das wir nicht stoppen können.«

»Ka! Könnte das geschehen?«

»Es sind alle Arten von Invasionen im Gange. Bevölkerungsanstieg, plötzliche Todesfälle. Alles vorbei. Die Dinge sind ins Ungleichgewicht geraten. Störung von Gleichgewichten, deren Existenz wir nicht einmal geahnt hatten. Dinge, die wir nicht verstehen.« Dieser Gedanke machte Sax wie immer unglücklich.

»Die Biome werden schließlich ins Gleichgewicht kommen«, schlug Nirgal vor.

»Ich bin nicht sicher, ob es so etwas gibt.«

»Wie, Gleichgewicht?«

»Ja. Vielleicht ist es eine Sache von...« Er schwenkte die Hände wie Möwen. »Ein unterbrochenes Gleichgewicht ohne Gleichgewicht.«

»Unterbrochene Veränderung?«

»Ständige Veränderung. Geflochtene Veränderung, aufsteigende Veränderung... «

»Wie eine springende Rekombination?«

»Vielleicht.«

»Ich habe gehört, daß es eine Mathematik gibt, die nur ein Dutzend Leute wirklich verstehen.«

Sax machte ein überraschtes Gesicht. »Das stimmt nie. Oder es gilt für jede Mathematik. Es kommt darauf an, was du mit Verstehen meinst. Aber ich kenne etwas von der, die du meinst. Du kannst sie benutzen, um etwas von diesem Zeug zu modellieren. Aber nicht vorhersagen. Und ich weiß nicht, wie ich sie benutzen kann, um irgendwelche Reaktionen unsererseits vorzuschlagen. Ich bin nicht sicher, ob sie so benutzt werden kann.«

Er redete eine Weile über Vlads Begriff von Holonen, die organische Einheiten waren, die Untereinheiten hatten und auch selbst Untereinheiten größerer Holonen waren, wobei sich auf jeder Ebene Kombinationen bilden, die in aufsteigender Reihe die höheren bilden, den ganzen Weg nach oben und unten in der großen Kette des Seins. Vlad hatte mathematische Beschreibungen aller Formen dieses Zutagetretens entwickelt, die bei mehr als einer Art auftraten, mit verschiedensten Klassen von Eigenschaften für jede Art. Wenn man daher genügend Information über das Verhalten einer Ebene von Holonen und der nächsthöheren Ebene bekommen konnte, könnte man versuchen, sie in diese mathematischen Formeln einzupassen, und sehen, welche Erscheinungsform sie hatten, und vielleicht Wege finden, sie zu bekämpfen. »Das ist der beste Annäherungsversuch, den wir für Dinge, die so klein sind, haben.«

Am nächsten Tag riefen sie Gewächshäuser in Xanthe an, um nach neu angekommenen Sendungen zu fragen, nach Sendungen von neuen Grasarten auf Himalayabasis. Bis sie im Laufe der Zeit eintrafen, hatte Nirgal alles Riedgras im Becken ausgerissen und viel von dem Moos. Die Arbeit machte ihn krank, er konnte nichts dagegen tun. Einmal, als er sah, wie ein betroffener Murmeltierpatriarch ihn empört anschnatterte, setzte er sich hin und brach in Tränen aus. Sax hatte sich in sein gewohntes Schweigen zurückgezogen, was die Dinge nur noch schlimmer machte, weil es Nirgal immer an Simon erinnerte und an den Tod im allgemeinen. Er brauchte Maya oder sonst einen mutigen, redegewandten Sprecher über das innere Leben, von Angst und Tapferkeit. Aber er hatte nur Sax, verloren in Gedanken, die in einer Art fremder Sprache stattfanden, in einem privaten Idiom. Das er nicht gewillt war zu übersetzen.

Sie machten sich daran, neue Arten von Himalayagräsern im ganzen Becken zu pflanzen, wobei sie sich auf die Ufer der Gewässer und deren Geäder unter Rinnsalen und Eis konzentrierten. Ein starker Frost half, da er die infizierten Pflanzen schneller tötete als die gesunden. Sie verbrannten die kranken Pflanzen in einem Schachtofen am Fuße des Massivs. Aus den umliegenden Becken kamen Leute zu Hilfe und brachten Pflanzen zum späteren Setzen.

Es vergingen zwei Monate, und die Invasion wurde schwächer. Die verbliebenen Pflanzen schienen widerstandsfähiger zu sein. Neu gepflanzte Gewächse wurden nicht angesteckt und starben nicht. Das Becken sah herbstlich aus, obwohl es Mittsommer war. Aber das Sterben hatte aufgehört. Die Murmeltiere sahen mager aus und bekümmerter denn je. Sie waren eine Rasse, die sich Sorgen machen konnte. Und Nirgal konnte die Tiere verstehen. Das Becken sah wüst aus. Aber es schien, daß das Biom überleben würde. Das Viroid verschwand allmählich. Schließlich konnten sie es kaum noch finden, ganz gleich, wie scharf und lange sie Proben zentrifugierten. Es schien das Becken verlassen zu haben. Sein Verschwinden war ebenso mysteriös wie seine Ankunft.

Sax schüttelte den Kopf. »Wenn die Viroide, die auch Tiere befallen, jemals robuster werden...« Er seufzte. »Ich wünsche, ich könnte mit Hiroko darüber reden.«

»Ich habe sagen hören, sie wäre am Nordpol«, sagte Nirgal säuerlich.

»Ja.«

»Aber?«

»Ich glaube nicht, daß sie dort ist. Und ich glaube auch nicht, daß sie mit mir reden will. Aber ich... warte immer noch.«

»Daß sie anruft?« fragte Nirgal sarkastisch.

Sax nickte.

Sie starrten trübe in die Flamme von Nirgals Lampe. Hiroko — Mutter, Geliebte — hatte sie beide verlassen.

Aber das Becken würde leben. Als Sax zu seinem Rover ging, um aufzubrechen, nahm Nirgal ihn wie einen Bären in die Arme, hob ihn hoch und wirbelte ihn herum. »Danke!«

»Es war meinerseits ein Vergnügen«, sagte Sax. »Sehr interessant.«

»Was wirst du jetzt machen?«

»Ich denke, ich werde mit Ann sprechen. Versuchen, mit ihr zu reden.«

»Ah! Viel Glück!«

Sax nickte, als wollte er sagen, das hätte er nötig. Dann fuhr er ab und winkte noch einmal, ehe er die Hände ans Lenkrad legte. Eine Minute später war er über der Rippe verschwunden.


Nun machte Nirgal sich an die harte Arbeit, das Becken wieder herzurichten, und tat, was er konnte, um ihm mehr pathogene Widerstandskraft zu verleihen. Mehr Vielfalt, mehr einheimische Parasitenfracht. Von den chasmoendolithischen Felsbewohnern bis hin zu den Insekten und mikrobischen Fliegern in der Luft. Ein volleres, zäheres Biom. Er kam selten nach Sabishii hinunter. Er ersetzte den ganzen Boden im Tomatenfeld und pflanzte eine andere Kartoffelart an.

Sax und Spencer waren wiedergekommen, um ihn zu besuchen, als ein großer Staubstürm in der Gegend von Ciaritas nahe Senzeni Na auf ihrer Breite begann, und dann um die ganze Welt lief. Sie hörten in den Nachrichten davon und verfolgten ihn während der nächsten paar Tage auf den Satellitenwetterfotos. Er kam wie immer von Osten. Es sah aus, als ob er südlich an ihnen vorbeiziehen würde. Aber in letzter Minute schwenkte er nach Norden.

Sie saßen im Wohnzimmer seines Felsenhauses und blickten nach Süden. Und da kam er, eine dunkle Masse, die den Himmel verfinsterte. Furcht erfüllte Nirgal wie die statische Elektrizität, die Spencer zum Schreien brachte, wenn er etwas anfaßte. Die Furcht war sinnlos. Sie hatten schon ein Dutzend Staubstürme mitgemacht. Es war nur der kleine Rest Angst, der die Viroidenseuche überlebt hatte. Und selbst die hatten sie durchgestanden.

Aber diesmal wurde das Licht des Himmels braun und trübe, bis es ebenso gut hätte Nacht sein können. Eine Schokoladennacht, die über den Fels heulte und an den Fenstern rüttelte. »Die Winde sind so stark geworden«, bemerkte Sax nachdenklich.

Dann ließ das Geheul nach, während es draußen dunkel wurde. Nirgal fühlte sich immer schlechter, je weniger der Wind heulte, bis die Luft ruhig war. Und selbst dann noch war ihm so übel, daß er kaum am Fenster stehen konnte. Globale Staubstürme waren manchmal so: Sie endeten abrupt, wenn der Wind auf einen Gegenwind traf oder eine besondere Landform. Und dann ließ der Sturm seine Fracht an Staub und Grus fallen. Tatsächlich regnete es jetzt auch Staub. Die Fenster zeigten ein schmutziges Grau. Als ob sich Asche über die Welt senken würde. In alten Tagen, brummte Sax unwillig, würden selbst die stärksten Stürme am Ende ihres Laufes nur ein paar Millimeter Grus fallen gelassen haben. Aber bei einer so viel dichteren Atmosphäre und so viel stärkeren Winden wurden große Mengen an Staub und Sand aufgewirbelt; und wenn die dann alle auf einmal herunterkamen, wie es manchmal geschah, konnte die Drift viel tiefer sein als ein paar Millimeter.

Obwohl einige Partikel fast im Schwebezustand waren, hatten sich binnen einer Stunde alle bis auf die feinsten aus der Luft auf sie niedergesenkt. Danach war es nur noch ein dunstiger Nachmittag, die Luft erfüllt von etwas wie einem dünnen Rauch, so daß sie das ganze Becken sehen konnten, das von einer schweren Staubschicht bedeckt war.

Nirgal ging wie immer mit aufgesetzter Maske hinaus und grub verzweifelt mit einer Schaufel und dann mit bloßen Händen. Sax kam heraus und stolperte durch die weichen Ablagerungen, um Nirgal eine Hand auf die Schulter zu legen. »Ich glaube nicht, daß man da etwas tun kann.« Die Staubschicht war einen Meter tief oder mehr.

Im Laufe der Zeit würden die Winde einiges von diesem Staub fortblasen. Auf den Rest würde Schnee fallen, der resultierende Schlamm würde weggespült, und ein neues Adersystem von Kanälen würde ein neues, dem alten sehr ähnliches fraktales Muster bilden. Wasser würde den Staub und Grus forttragen, das Massiv hinunter und in die Welt. Aber bis das geschehen war, wäre jede Pflanze und jedes Tier in dem Becken tot.

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