ELFTER TEIL Viriditas

Es war eine wirre Zeit. Der Bevölkerungsdruck bewegte jetzt alles. Der allgemeine Plan, um die hypermalthusianischen fahre zu überstehen, war ausgearbeitet und wirkte recht gut. Jede Generation wurde kleiner. Nichtsdestoweniger gab es jetzt 18 Milliarden Menschen auf der Erde und 18 Millionen auf dem Mars. Und es wurden ständig mehr geboren, und es zogen auch während der ganzen Zeit immer mehr Menschen von der Erde zum Mars um. Die Leute in beiden Welten schrien: Genug, genug!

Wenn die Terraner hörten, wie die Marsianer »Genug!« schrien, wurden einige von ihnen wütend. Der Begriff der Beförderungskapazität bedeutete nichts vor den reinen Zahlen und den Bildern auf den Schirmen. Die Globale Regierung des Mars tat unablässig, was sie konnte, um mit dieser Wut fertig zu werden. Sie erklärte, daß der Mars mit seiner dünnen neuen Biosphäre nicht so viele Leute ernähren könnte wie die fette alte Erde. Sie setzte auch die Raketenindustrie des Mars auf das Shuttlegeschäft an und erweiterte rasch ein Programm zur Umwandlung von Asteroiden in schwebende Städte. Dieses Programm war ein unerwarteter Ableger von dem, was als Teil ihres Strafvollzugswesens gedient hatte. Seit vielen Jahren war die Strafe für schwere Verbrechen auf dem Mars die totale Verbannung vom Planeten gewesen, die mit einigen Jahren Haft und Sklavenarbeit in einer neuen Asteroidensiedlung begann. Nachdem sie ihre Strafe abgedient hatten, war der Marsregierung gleichgültig, wohin die Verbannten gingen, solange sie nicht auf den Mars zurückkehrten. Also gab es unvermeidlicherweise einen ständigen Strom von Menschen nach Hebe. Sie wurden ausgeschifft und dienten ihre Zeit ab, um dann woanders hin zu ziehen. Manchmal hinaus zu den immer noch dünn bevölkerten äußeren Satelliten, manchmal zurück ins innere System, aber oft zu einer der vielen Kolonien in den ausgehöhlten Asteroiden, die gerade eingerichtet wurden. Da Vinci und einige andere Koops stellten sie her und verteilten Aktien für den Start dieser Siedlungen, und viele andere Organisationen taten dasselbe; denn das Programm war eigentlich recht einfach. Kontrollteams hatten im Asteroidengürtel zu Tausenden Kandidaten für die Bearbeitung gefunden und hinterließen für die Besten von ihnen die Ausrüstung für ihre Umgestaltung. Dann machte sich eine Schar von sich selbst vermehrenden Grabe-Roboter an einem Ende des Asteroiden an die Arbeit, die sich wie Hunde ins Gestein wühlten, den meisten Abraum in den Weltraum schleuderten und den Rest zur Herstellung und Betankung weiterer Mineure benutzten. Wenn der Fels ausgehöhlt war, wurde das offene Ende abgedeckt und das ganze Ding in Rotation versetzt, so daß die Zentrifugalkraft innen ein Äquivalent zur Schwerkraft herstellte. Starke Lampen, die Sonnenreihen oder Sonnenflecke hießen, wurden in den Zentren dieser hohlen Zylinder angebracht und lieferten eine Beleuchtung, die dem Tag auf der Erde oder dem Mars entsprach. Das Ge wurde auch so eingestellt, daß es kleine den auf dem Mars und der Erde äquivalente Städte gab, genau wie für alles andere auch, zumindest was das Licht anging. Viele der kleinen Welten experimentierten mit recht geringen Ge-Stärken.

Es gab zwischen diesen neuen Stadtstaaten einige Allianzen und oft auch Verbindungen zu Gründerorganisationen auf der Heimatwelt. Aber es gab keine Gesamtorganisation. Seitens der unabhängigen, besonders jener, die größtenteils von Exilanten des Mars besetzt waren, hatte es in den frühen Tagen einiges recht feindseliges Verhalten gegenüber Durchgangsreisenden gegeben, einschließlich der Versuche, auf Raumschiffe Passagezölle zu erheben, die so schreiend hoch waren, daß es an Piraterie grenzte. Aber neue Shuttles bewegten sich mit sehr hohen Geschwindigkeiten durch den Gürtel und hielten sich etwas oberhalb oder unterhalb der Ebene der Ekliptik, um Staub und Schmutz zu vermeiden, die mittlerweile in großen Mengen vor den Asteroiden dümpelten. Es war schwierig, von diesen Schiffen ohne ihre völlige Zerstörung Zoll zu erheben, was schwere Entschädigungen herausforderte. Darum hatte sich der Trend zum Zoll als kurzlebig erwiesen.

Jetzt, da sowohl die Erde als auch der Mars einen Bevölkerungsdruck erfuhren, der immer schärfer wurde, taten die Koops des Mars alles, was sie konnten, um die rasche Entwicklung neuer Asteroidenstädte anzuregen. Sie errichteten auch große neue Siedlungen unter Kuppeln auf den Monden von Jupiter und Saturn und neuestens auch Uranus. Neptun und vielleicht Pluto würden folgen. Die großen Satelliten der inneren Gasriesen waren gigantisch, praktisch kleine Planeten, und hatten jetzt alle Bewohner, die mit Terraformprojekten anfingen, die, je nach lokaler Gegebenheit, mehr oder weniger langfristig angelegt waren. Keiner von ihnen konnte rasch terraformt werden; aber bei allen schien es, zumindest in gewissem’Umfang, doch möglich. Ein paar boten gar die verlockende Gelegenheit einer ganzen neuen Welt. Zum Beispiel kam Titan allmählich aus seinem Stickstoffdunst heraus, da Siedler, die auf den kleineren Monden in der Nähe lebten, die Oberfläche des großen Mondes erwärmten und Sauerstoff in seine Atmosphäre pumpten. Titan hatte die richtigen flüchtigen Substanzen für Terraformung, und obwohl er wegen seiner großen Entfernung von der Sonne nur ein Prozent der Einstrahlung der Erde bekam, lieferte eine umfangreiche Serie von Spiegeln ständig mehr zusätzliches Licht; und die Einheimischen erwogen die Möglichkeit freier Deuteriumfusionslampen, die Titan umkreisen und noch stärker erhellen würden. Das wäre eine Alternative zu einer anderen Einrichtung, genannt Gaslaterne, die die Leute vom Saturn bisher nicht hatten einsetzen wollen. Diese Gaslaternen flogen durch die oberen Atmosphären von Jupiter und Uranus. Sie sammelten und verbrannten Helium, dessen Licht durch elektromagnetische Scheiben nach außen gespiegelt wurde. Aber am Saturn hatte man sie abgelehnt, weil man das Aussehen des Ringplaneten nicht stören wollte.

Also waren in all diesen äußeren Orbits die Kooperativen des Mars sehr geschäftig und halfen den Marsianern und Terranern, in eine der neuen kleinen Welten auszuwandern. Und als der Prozeß weiterging, und hundert und dann tausend Asteroiden und kleine Monde eine Bevölkerung und einen Namen erhielten, fing der Prozeß Feuer und wurde zu etwas, das manche die ›explosive Diaspora‹ nannten und andere einfach das ›A ccelerando ‹.

Die Leute fanden an der Idee Gefallen; und das Projekt gewann einen Schwung, der überall bemerkt wurde und ein zunehmendes Gefühl für die menschliche Schaffenskraft, ihre Vitalität und Vielfalt ausdrückte. Man verstand das Accelerando auch als Reaktion der Menschheit auf die extreme Krise durch den Bevölkerungsanstieg, die so hart gewesen war, daß sie die Überschwemmung der Erde von 2129 vergleichsweise nur wie eine etwas größere Sturmflut erscheinen ließ. Es war eine Krise, die eine endgültige Katastrophe hätte auslösen können, ein Absinken in Chaos und Barbarei. Statt dessen wurde ihr aber frontal mit dem größten Aufblühen von Zivilisation in der Geschichte begegnet. Einer neuen Renaissance.

Viele Historiker, Soziologen und andere Beobachter des gesellschaftlichen Lebens versuchten, die lebensprühende Natur dieses höchst selbstbewußten Zeitalters zu deuten. Eine Schule von Historikern, genannt die Sintflutgruppe, blickte auf die große Überschwemmung der Erde zurück und erklärte, daß sie die Ursache der neuen Renaissance gewesen sei. Ein erzwungener Sprung auf eine höhere Ebene. Eine andere Schule von Denkern zog die sogenannte Technische Deutung vor. Die Menschheit hatte wieder einen Übergang zu neuer technischer Kompetenz durchgemacht, der, wie sie behaupteten, etwa jedes halbe Jahrhundert seit der ersten industriellen Revolution stattfände. Die Sintflutgruppe neigte dazu, den Ausdruck Diaspora zu verwenden, die Techniker bevorzugten Accelerando.

Dann schrieb und veröffentlichte die Marshistorikerin Charlotte Dorsa Brevia eine gewichtige vielbändige Metageschichte, wie sie sie nannte, die behauptete, daß die große Flut tatsächlich der Auslösepunkt gewesen sei, der zu technischen Fortschritten geführt und den Mechanismus zu neuen Möglichkeiten in Gang gesetzt hätte; aber der spezifische Charakter der neuen Renaissance sei durch etwas viel Elementareres verursacht werden, nämlich den Übergang von einem globalen sozio-ökonomischen System zum nächsten. Sie beschrieb, was sie einen ›residual-emergenten Komplex überlappender Paradigmem nannte, wonach jede große sozio-ökonomische Ära zu etwa gleichen Teilen aus benachbarten Systemen ihrer unmittelbaren Vergangenheit und Zukunft zusammengesetzt wäre. Die Perioden direkt davor und danach waren indessen nicht als einzige beteiligt. Sie bildeten den Großteil eines Systems und enthielten dessen widersprüchlichste Komponenten; aber zusätzliche wichtige Merkmale kamen von besonders ausdauernden Aspekten archaischer Systeme sowie auch schwachen zögernden Vorahnungen von Entwicklungen, die erst viel später aufblühen würden.

Darum bestand, um ein Beispiel anzuführen, Feudalismus für Charlotte aus den Resten des überkommenen Systems absoluter religiöser Monarchie und dem aufkommenden System des Kapitalismus — mit wichtigen Nachklängen noch archaischeren Kastenwesens und leichten Andeutungen eines späteren individualistischen Humanismus. Der Zusammenstoß dieser Kräfte verlagerte sich im Laufe der Zeit, bis die Renaissance des sechzehnten Jahrhunderts das Zeitalter des Kapitalismus einleitete. Danach bestand der Kapitalismus aus widersprüchlichen Elementen eines absterbenden Feudalismus und einer emporkommenden künftigen Ordnung, die nur in ihrer eigenen Zeit definiert werden konnte, die Charlotte Demokratie nannte. Und jetzt, so behauptete Charlotte, befand man sich — zumindest auf dem Mars — im demokratischen Zeitalter selbst. Darum war Kapitalismus wie alle anderen Epochen die Kombination zweier scharf gegensätzlicher Systeme gewesen. Die Unverträglichkeit seiner wesentlichen Bestandteile wurde durch die unglückliche Erfahrung mit dem kritischen Schatten des Kapitalismus, dem Sozialismus, unterstrichen, der über wahre Demokratie theoretisiert und nach ihr gerufen hatte. Aber im Versuch ihrer Realisierung hatte er die in jener Zeit verfügbaren Methoden benutzt, nämlich die gleichen feudalen Methoden, wie sie im Kapitalismus vorherrschten. Darum hatten sich beide Versionen der Mischung am Ende als ebenso destruktiv und ungerecht erwiesen wie ihr gemeinsamer Vorfahr. Die feudalen Hierarchien im Kapitalismus hatten sich in den lebendigen sozialistischen Experimenten gespiegelt. Und so war die ganze Ära ein scharfer chaotischer Kampf geblieben, der etliche unterschiedliche Versionen des dynamischen Kampfes zwischen Feudalismus und Demokratie zum Ausdruck brachte.

Aber auf dem Mars war endlich dem kapitalistischen Zeitalter das demokratische Zeitalter entsprungen. Und auch dieses Zeitalter war gemäß der Logik von Charlottes Paradigma zwangsweise ein Aufeinandertreffen von Altem und Neuem, von den strittigen konkurrierenden Resten des kapitalistischen Systems und einigen sich abzeichnenden Aspekten einer Ordnung jenseits von Demokratie, die man noch nicht voll beschreiben konnte, da es sie bisher nie gegeben hatte, die aber Charlotte ›Harmonie‹ oder Allgemeinen Guten Willem zu nennen wagte. Diesen spekulativen Sprung machte sie teils durch genaue Untersuchung der Unterschiede zwischen kooperativer Ökonomie und Kapitalismus und teils durch Annahme einer noch weiteren metahistorischen Perspektive und Identifikation. Sie legte eine breitere allgemeine Entwicklung in der Geschichte, die Kommentatoren ihre ›Große SchaukeUnannten, eine Bewegung von den tiefen Hierarchien unserer urtümlichen Vorfahren auf der Savanne zu der sehr langsamen, unsicheren, schwierigen und nicht determinierten freien Erscheinung einer reinen Harmonie und Gleichheit zugrunde, die dann die allerrichtigste Demokratie kennzeichnen würde. Diese beiden langfristigen zusammenstoßenden Elemente hatte es immer gegeben, wie Charlotte behauptete, und diese hätten die große Schaukel erzeugt, wobei die Balance sich bisher in der ganzen menschlichen Geschichte zwischen ihnen langsam und unregelmäßig verlagerte. Dominante Hierarchien hatten jedem jemals realisierten System zugrunde gelegen; aber zur gleichen Zeit waren demokratische Werte immer eine Hoffnung und ein Ziel gewesen, das im Selbstbewußtsein jedes Primaten zum Ausdruck kam und damit in der Ablehnung von Hierarchien, die ja immer gewaltsam aufgezwungen werden mußten. Und so, wie die Schaukel dieser Metageschichte im Laufe der Jahrhunderte die Balance verlagerte, so hatten die bemerkenswert unvollkommenen Versuche der Errichtung einer Demokratie langsam an Kraft gewonnen. Einst hatte ein sehr kleiner Prozentsatz von Menschen in sklavenhalterischen Gesellschaften wie dem antiken Griechenland oder dem revolutionären Amerika als Gleiche unter Gleichen gegolten; und hatte sich in den späteren kapitalistischen DemokratienA nur wenig erweitert. Jedesmal wenn aber ein System zum nächsten überging, war der Kreis gleicher Bürger mehr oder weniger weiter aufgeblüht, bis jetzt nicht nur alle Menschen (theoretisch beinahe) gleich waren, sondern auch Tiere in Betracht gezogen wurden und sogar Pflanzen, Ökosysteme und die Elemente selbst. Diese Erweiterungen der ›Bürgerschaft‹ betrachtete sie als einen der Vorläufer des sich abzeichnenden Systems, das nach der Demokratie an sich kommen könnte — Charlottes postulierte Periode utopischer ›Harmonie‹. Diese dunklen Ahnungen waren schwach und Charlottes fernes erhofftes System eine vage Hypyothese. Als Sax Russell die späteren Bände ihres Werkes las und eifrig über den endlosen Beispielen und Argumenten (denn dieser Bericht ist eine strenge Verkürzung ihrer Arbeit, nur eine Zusammenfassung) brütete und aufgeregt ein allgemeines Paradigma zu finden suchte, das ihm die Geschichte endlich verdeutlichen würde, fragte er sich, ob dieses vermeintliche Zeitalter universeller Harmonie und guten Willens jemals ausbrechen würde. Er hielt es für möglich oder sogar wahrscheinlich, daß es eine Art von asymptotischer Kurve in der menschlichen Geschichte geben könnte — vielleicht wie der Ballast eines Körpers —, der vom Zeitalter der Demokratie noch festgehalten, stets aufwärts kämpfend, nie zurückfallend, aber auch nie weit vorankommend, sich weiterbewegte. Aber er war auch der Meinung, daß dieser Zustand an sich schon gut genug wäre, um als eine erfolgreiche Zivilisation zu gelten. Genug war schließlich eine Wohltat.

Auf jeden Fall war Charlottes Metageschichte sehr einflußreich und lieferte der sich explosiv beschleunigenden Diaspora eine Art Lehrbeispiel, an dem man sich orientieren konnte. Damit wurde sie in die kleine Liste von Historikern aufgenommen, die den Lauf ihrer eigenen Zeit beeinflußt hatten, und in der sich Denker wie Piaton, Plutarch, Bacon, Gibbon, Chamfort, Carlyle, Emerson, Marx und Spengler befanden — und auf dem Mars vor Charlotte Michel Duval. Die Leute begriffen jetzt in der Regel, daß der Kapitalismus die Kollision von Feudalismus und Demokratie gewesen war, und daß die Gegenwart das demokratische Zeitalter war, wo Kapitalismus und Harmonie aufeinander prallten. Und sie verstanden auch, daß ihre Ära auch immer noch etwas anderes werden konnte. Charlotte beharrte darauf, daß es so etwas wie historischen Determinismus nicht gäbe, sondern nur die wiederholten Anstrengungen der Menschen, ihre Hoffnungen zu verwirklichen. Daraus schufen die Analytiker durch retroaktive Erkenntnis solcher Hoffnungen eine Illusion von Determinismus. Es hätte aber alles Mögliche geschehen können. Die Menschen hätten in allgemeine Anarchie verfallen können. Es hätte sich ein universeller Polizeistaat herausbilden können, um die fahre der Krise zu ›kontrollieren‹. Aber da sich die großen Metanationalen auf der Erde in Wirklichkeit alle zu Kooperativen im Besitz der Arbeiter gewandelt hatten, und das Volk seine eigene Arbeit kontrollierte, war es für den Moment eine Demokratie. Das hatte diese Hoffnung letztendlich bewirkt.

Und jetzt war ihre demokratische Zivilisation dabei, etwas auszuführen, wozu das vorige System niemals imstande gewesen wäre, das bloß ein Überbleibsel der hypermalthusianischen Periode war. Jetzt konnten sie allmählich den fundamentalen Wechsel in den Systemen erkennen, in diesem zweiundzwanzigsten Jahrhundert, das sie im Zuge waren zu verwirklichen. Sie hatten das Gleichgewicht verlagert, um auch in den neuen Verhältnissen zu überleben. In der kooperativen demokratischen Ökonomie sah jeder, daß viel auf dem Spiel stand. Und ein jeder profitierte von dem frenetischen Ausbruch koordinierter Konstruktion, der überall im Sonnensystem um sich griff.

Die blühende Zivilisation schloß nicht bloß das Sonnensystem jenseits des Mars ein, sondern auch die inneren Planeten. In dem üppigen Wachstum von Energie und Vertrauen arbeitete sich die Menschheit in Areale vor, die zuvor als unbewohnbar gegolten hatten. Plötzlich zog auch die Venus eine Schar neuer Terraformer an, der Geste von Sax Russellfolgend, die die großen Spiegel des Mars umgesetzt und eine grandiose Vision für die letztliche Besiedelung jenes Planeten ausgearbeitet hatte, der in so vieler Hinsicht die Schwester der Erde war.

Selbst der Merkur hatte seine Siedlung. Obwohl man zugeben mußte, daß er für die meisten Belange der Sonne zu nahe war. Sein Tag währte 59 Erdentage, sein Jahr 88 Erdentage, so daß drei seiner Tage gleich zwei Jahren waren. Das war kein Zufall, sondern ein Knoten auf dem Weg zur Gezeitenkopplung, die beim Mond um die Erde herrschte. Die Kombination dieser zwei Perioden ließ den Merkur sehr langsam durch seinen Sonnentag rollen, während dessen Hemisphäre der hellen Seite viel zu heiß wurde und auf der Nachtseite extrem abkühlte. Darum war die einzige derzeit auf dem Planeten befindliche Stadt eine Art enormer Eisenbahnzug, der auf Gleisen um den Planetenfuhr, die sich auf 45° nördlicher Breite befanden. Diese Schienen waren aus einer metallkeramischen Legierung hergestellt, die den ersten der vielen alchemistischen Tricks der Merkurphysiker darstellte und der Hitze von 800 K auf der hellen Mittagsseite widerstand. Die Stadt selbst hieß Terminator undfuhr über diese Schienen mit ungefähr drei Kilometern in der Stunde, wodurch sie innerhalb des Terminators blieb, der Zone des der Frühdämmerung vorausgehenden Schattens, der auf den meisten Stellen des Gelände etwa zwanzig Kilometer breit war. Eine leichte Ausdehnung der Gleise, wenn sie der Morgensonne ausgesetzt waren, führte die Stadt täglich nach Westen, da sie auf eng sitzenden Buchsen ruhte, die so gestaltet waren, daß sie die Stadt von der Ausdehnung fort bewegten. Diese Bewegung war so unerbittlich, daß Widerstand gegen sie an einer anderen Stelle der Buchsen große Mengen elektrischer Energie erzeugte, wie auch die von der Stadt hinterhergeschleppten Sonnenkollektoren, die ganz oben auf der hohen Dämmerungswand saßen und die ersten scharfen Strahlen des Sonnenlichts einfingen. Selbst in einer Zivilisation, in der Energie billig war, war Merkur erstaunlich gesegnet. Und so verband er sich mit den weiter draußen befindlichen Welten und wurde zu einer ihrer hellsten. Und hundert neue sich bewegende Welten wurden jedes Jahr eröffnet. Rollende Städte, kleine Stadtstaaten, jeder mit seiner eigenen Verfassung, einer bunten Mischung aus Siedlern, Landschaft und Lebensart.

Und dennoch lag, bei allem aufblühenden menschlichen Bemühen und Vertrauen in das Accelerando, ein Gefühl von Spannung, von Gefahr in der Luft. Denn trotz Bautätigkeit, Emigration, Siedlungen und Wohnraum gab es immer noch achtzehn Milliarden Menschen auf der Erde und achtzehn Millionen auf dem Mars. Und die halbdurchlässige Membran zwischen den zwei Planeten war von dem osmotischen Druck dieses demographischen Ungleichgewichts stark gekrümmt. Die Beziehungen zwischen den beiden waren gespannt, und viele fürchteten, daß ein Stich in die gespannte Membran alles zerreißen würde. In dieser bedrängten Lage bot die Geschichte wenig Trost. Bisher war man mit ihr gut zurechtgekommen; aber noch nie zuvor hatte die Menschheit auf eine kritische Notlage mit langfristiger sinnvoller Vernunft reagiert. Massenhysterien hatte es schon immer gegeben. Und sie waren noch immer dieselben Tiere, die in früheren Jahrhunderten, wenn es für sie um Existenz und Überleben gegangen war, einander rücksichtslos abgeschlachtet hatten. Also konstruierten und diskutierten die Leute, wurden wild, warteten unbehaglich auf erste Anzeichen, daß die ältesten Superalten sterben würden. Sie blickten scheel auf jedes Kind, das sie sahen. Eine gestresste Renaissance, die eilends am Rande eines manischen goldenen Zeitalters lebte. Das Accelerando. Und niemand konnte sagen, was als nächstes geschehen würde.


Zo saß hinten in einem Raum voller Diplomaten und blickte aus dem Fenster in Terminator, während die ovale Stadt majestätisch über die versengten Wüstengebiete des Merkurs rollte. Der halbelliptische Raum unter der hohen klaren Kuppel der Stadt wäre ein schöner Luftraum zum Fliegen gewesen; aber die örtlichen Behörden hatten das als zu gefährlich verboten — eine der vielen faschistischen Vorschriften, die das Leben hier behinderten. Der Staat als Kindermädchen, was Nietzsche so treffend als Sklavenmentalität bezeichnet hatte, lebte hier am Ende des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts immer noch prächtig und tauchte praktisch überall wieder auf. Die Hierarchie baute ihre behagliche Struktur in all diesen neuen Provinzsiedlungen wieder auf: Merkur, die Asteroiden, die äußeren Systeme — überall außer auf dem edlen Mars.

Hier auf dem Merkur war es besonders schlimm. Seit Wochen liefen in Terminator Verhandlungen zwischen der Marsdelegation und den Merkuriern; und Zo war ihrer überdrüssig — sowohl der Versammlungen wie der Verhandelnden vom Merkur, einer geheimnistuerischen eingebildeten Gruppe oligarchischer Mullahs, die gleichzeitig hochnäsig und katzbuckelnd waren und die neue Ordnung der Verhältnisse im Sonnensystem noch nicht begriffen hatten. Zo wollte sie und ihre kleine Welt vergessen, nach Hause gehen und fliegen.

Aber andererseits war sie in ihrer Tarnung als untergeordnete Stabsassistentin bisher eine ganz unbedeutende Figur bei den Verhandlungen gewesen. Und jetzt, als die Verhandlungen wegen der sturen Verständnislosigkeit dieser glücklichen Sklaven knirschend zum Stehen kamen, nahm sie einen Adjutanten des höchsten Anführers in Terminator beiseite, den man recht malerisch den Löwen des Merkurs nannte, und bat ihn um eine private Zusammenkunft. Der junge Mann, ein Ex-Terraner, war freundlich. Zo hatte sich seines Interesses schon lange zuvor vergewissert — und sie zogen sich auf eine Terrasse außerhalb der Stadtbüros zurück.

Zo legte dem Mann eine Hand auf den Arm und sagte freundlich: »Wir sind sehr besorgt, daß, wenn Merkur und Mars eine solide Partnerschaft eingehen, Terra sich zwischen uns einkeilen und uns gegeneinander ausspielen könnte. Wir haben die zwei größten der verbleibenden Schwermetallressourcen, die es noch im Sonnensystem gibt; und je mehr sich die Zivilisation ausbreitet, desto wertvoller wird das. Und die Zivilisation breitet sich ganz gewiß weiter aus. Das ist schließlich ja das Accelerando. Metalle sind wertvoll.«

Und der natürliche Bestand an Metallen auf dem Merkur war, obwohl schwer zu gewinnen, wirklich eindrucksvoll. Der Planet war nur etwas größer als der Mond, und dennoch kam seine Schwerkraft fast der des Mars gleich, ein sehr handfestes Anzeichen seines schweren Eisenkerns. Dazu kamen verschiedene noch edlere Metalle, die durch Risse in der von Meteoriten zerfurchten Oberfläche erkennbar waren.

»Ja...?« fragte der junge Mann.

»Wir meinen, wir brauchen eine deutlichere Form von...«

»Kartell?«

»Partnerschaft.«

Der junge Merkurier lächelte. »Wir glauben nicht, daß wir von irgend jemand gegen den Mars ausgespielt werden.«

»Offenbar. Aber wir.«

Einige Zeit, zu Beginn der Kolonisation, hatte es so ausgesehen, als ob es dem Merkur ausgezeichnet ginge. Die Kolonisten besaßen nicht nur Metalle, sondern waren auch der Sonne so nahe, daß sie die Möglichkeit hatten, einen großen Teil solarer Energie anzuzapfen. Allein schon der Widerstand zwischen den Buchsen der Stadt und den sich ausdehnenden Schienen hatte große Mengen davon erzeugt; und noch mehr steckte im Potential der Solarkollektoren. Kollektoren im Orbit schickten inzwischen etwas von diesem Sonnenlicht zu den neuen Kolonien im äußeren Sonnensystem hinaus. Von der ersten Flotte schienenlegender Wagen 2142 an über die rollende Konstruktion von Terminator in den 2150ern und während der ganzen 2160er und 70er hatten die Merkurier sich für reich gehalten.

Aber jetzt war das Jahr 2181, und mit der erfolgreichen weiten Verbreitung verschiedener Arten von Fusionsenergie war Energie spottbillig, und Licht war reichlich vorhanden. Die sogenannten Lampensatelliten und die in der Hochatmosphäre der Gasriesen brennenden Gaslaternen erhellten das ganze äußere System. Infolgedessen waren die reichen Solarressourcen des Merkur unbedeutend geworden. Merkur war wieder einmal nicht mehr als ein metallreicher, aber furchtbar heißer und gleichzeitig kalter Ort geworden, eine mühsame Aufgabe. Und nicht einmal terraformbar, um ihn auszubeuten.

Ein erheblicher Absturz in ihrem Wohlstand, wie Zo den jungen Mann ohne große Feinheit erinnerte. Das bedeutete, sie müßten mit ihren günstiger plazierten Verbündeten im System zusammenarbeiten. »Sonst besteht ein sehr reales Risiko, daß die Terraner wieder die Vorherrschaft übernehmen.«

»Die Erde ist viel zu sehr in ihre eigenen Problemen verstrickt, um jemand andern zu gefährden«, erwiderte der junge Mann.

Zo schüttelte entschieden den Kopf. »Je größer die Schwierigkeiten sind, in denen Terra steckt, desto größer ist die Gefahr für uns übrige. Wir sind besorgt. Darum denken wir, daß wir, wenn ihr kein Abkommen mit uns treffen wollt, ein eigenes Stadt- und Schienensystem auf dem Merkur werden errichten müssen, unten in der südlichen Hemisphäre, das dort im Terminator fahren wird, wo es einige der besten Metallvorkommen gibt.«

Der junge Mann war schockiert. »Das könntet ihr nicht ohne unsere Erlaubnis tun!«

»Wirklich?«

»Auf dem Merkur kann es keine Stadt geben, wenn wir das nicht wünschen.«

»Wieso, was wollt ihr machen?«

Der junge Mann schwieg.

»Jeder kann tun, was er will, oder?« sagte Zo. »Das gilt für jeden.«

Der junge Mann überlegte. »Es gibt nicht genug Wasser.«

»Nein.« Der gesamte Wasservorrat des Merkur bestand aus ein paar kleinen Eisablagerungen innerhalb von Kratern an den beiden Polen, aber viel mehr gab es nicht. »Immerhin würden ein paar direkt zu den Polen gelenkte Kometen helfen.«

»Und ihr Aufprall das Wasser an den Polen wegsprengt! Nein, das würde nicht funktionieren. Das in diesen polaren Kratern ist nur ein winziger Teil des Wassers aus Jahrmillionen von Kometen, die mit dem Planeten kollidiert sind. Das meiste Wasser ging beim Aufschlag in den Weltraum verloren oder ist weggebrannt. Das selbe würde geschehen, wenn jetzt Kometen hier aufschlügen. Es wäre für euch ein Nettoverlust.«

»Die Computermodelle schlagen Möglichkeiten aller Art vor. Wir könnten es immerhin versuchen und abwarten.«

Der junge Mann trat gekränkt zurück. Und richtig so. Man konnte eine Drohung nicht viel deutlicher ausdrücken, als es gerade geschehen war. Aber bei Sklavenmoral waren das Gute und das Dumme oft dasselbe. Darum mußte man deutlicher werden. Zo änderte ihre Miene nicht, obwohl die Empörung des jungen Mannes fast eine Qualität von Commedia dell’arte angenommen hatte, die recht komisch war. Sie trat näher an ihn heran und betonte damit den Größenunterschied zwischen ihnen. Sie überragte ihn um einen halben Meter.

Er sagte zwischen den Zähnen: »Ich werde dem Löwen Ihre Mitteilung überbringen.«

»Vielen Dank!« sagte Zo und beugte sich hinunter, um ihn auf die Wange zu küssen.

Diese Sklaven hatten für sich eine herrschende Kaste von Physiker-Priestern geschaffen, die für Außenstehende ein Buch mit sieben Siegeln waren, aber wie alle guten Oligarchien vorhersehbar und stark in ihrem äußeren Handeln. Es würde eine Allianz geben. So verließ Zo ihr Büro und ging vergnügt die Stufen der Dämmerungswand hinunter. Ihre Arbeit war getan, und so würde die Gesandtschaft höchstwahrscheinlich bald zum Mars zurückkehren.

Sie betrat das Konsulat des Mars auf halbem Weg durch die Wand und schickte einen Anruf an Jackie, um ihr mitzuteilen, daß der nächste Zug getan war. Danach ging sie auf den Balkon, um zu rauchen.

Ihr Farbsehvermögen steigerte sich unter dem Einfluß der chromotropischen Substanzen, die ihrer Zigarette beigemischt waren; und die kleine Stadt unter ihr wurde ganz phänomenal, wie die Phantasie eines Fauvisten. Vor der Dämmerungswand erhoben sich die Terrassen in immer schmaleren Steifen, bis die höchsten Gebäude (natürlich die Amtsräume der Stadtherrscher) nur noch eine Linie von Fenstern unter den Großen Toren und der klaren Kuppel darüber waren. Die Dächer und Balkone drängten sich unter den grünen Baumwipfeln unter ihr. Die Balkone hatten alle Mosaikfußböden und -wände. Unten auf der ovalen Fläche, die den größeren Teil der Stadt einnahm, waren die Dächer größer und dichter beisammen; das Grünzeug war in bebauten Feldern zusammengefaßt, die unter dem Licht schimmerten, das von gefilterten Spiegeln in der Kuppel herunterkam. Alles zusammen sah wie ein Faberge-Ei aus, fein ausgeführt, bunt und hübsch in der Art, wie alle Städte es waren. Aber in einer davon gefangen zu sein... Nun, man konnte nichts weiter damit anfangen, als die Stunden möglichst unterhaltsam zu verbringen, bis es hieß heimzukehren. Ein Teil der Vornehmheit war ja schließlich aufopfernde Pflichterfüllung.

So schlenderte sie die Treppenstraße der Wand hinunter zu Le Dome, um sich gesellig mit Miguel, Arlene und Xerxes zu treffen und der Schar von Komponisten, Musikern, Autoren und anderen Künstlern und Ästheten, die sich in dem Cafe herumtrieben.

Das war ein wilder Haufen. Die Krater des Merkur waren vor Jahrhunderten alle nach den berühmtesten Künstlern in der Geschichte der Erde benannt worden. Und so rollte Terminator vorbei an Dürer und Mozart, Phidias und Purcell, Turgenjev und Van Dyke. Anderswo auf diesem Planeten waren Beethoven, Imhotep, Mahler, Matisse. Murasaki, Milton und Mark Twain. Homer und Holbein berührten sich mit den Rändern, Ovid schmückte den Rand des viel größeren Puschkin, Goya überlappte Sophokles. Van Gogh lag innerhalb von Cervantes, Chao Meng-Fu war voller Eis und so weiter in höchst kapriziöser Weise, als ob das Nominierungskomitee der Internationalen Astronomischen Union eines Abends betrunken gewesen wäre und fröhlich Wurfpfeile mit Namen auf eine Karte geschleudert hätte. Es gab sogar einen Hinweis zur Erinnerung an diese Party: eine große Böschung namens Pourquoi Pas.

Zo billigte dieses Verfahren durchaus. Aber die Auswirkungen auf die derzeit auf dem Merkur lebenden Künstler war äußerst katastrophal gewesen. Da sie ständig mit dem unbestreitbaren Kanon der Erde konfrontiert waren, hatte sie eine überwältigende Besorgnis um Beeinflussung verkrüppelt. Immerhin hatten ihre Parties eine entsprechende Großartigkeit gewonnen, die Zo durchaus genoß.

An diesem Abend zog die Schar nach einem ausgiebigen Trinkgelage in der Kuppel, während die Stadt gerade zwischen Strawinski und Vyasa durchrollte, durch die engen Gassen der Stadt auf der Suche nach Krawall. Einige Blocks entfernt platzten sie in eine Zeremonie von Mithraverehrern oder Zoroastriern — auf jeden Fall Sonnenanbetern — hinein, die in der lokalen Regierung Einfluß hatten und vielleicht sogar ihr Kern waren. Ihr schrilles Pfeifen löste rasch die Versammlung auf und führte zu einem Handgemenge. Sie mußten rasch verschwinden, um eine Arrestierung durch die lokalen Ordnungskräfte zu vermeiden, die die Menge in der Kuppel als Spaßpolizei bezeichnete.

Danach gingen sie zum Odeon, wurden aber wegen ungebührlichen Benehmens rausgeworfen. Dann kreuzten sie die Gassen des Vergnügungsviertels und tanzten vor einer Bar, wo lauter schlechter Kommerz gespielt wurde. Aber es fehlte einfach etwas. Zo fand ihre erzwungene Heiterkeit zu traurig, als sie ihre verschwitzten Gesichter ansah. Sie schlug vor: »Laßt uns hinaus auf die Oberfläche gehen und an den Toren der Dämmerung Dudelsack spielen!«

Niemand außer Miguel zeigte Interesse. Sie waren Würmer in einer Büchse. Sie hatten vergessen, daß es einen Boden gab. Aber Miguel hatte versprochen, sie oft nach draußen zu führen. Und jetzt, da ihre Zeit auf Merkur nur noch kurz war, war er schließlich fast gezwungen, sie zu begleiten.


Die Gleise von Teminator waren zahlreich. Jeder glatte graue Zylinder erfaßte etliche Meter über dem Boden eine endlose Reihe dicker Pfeiler und bewegte sich daran entlang. Während die Stadt majestätisch nach Westen glitt, passierte sie kleine Plattformen, die zu unterirdischen Transferbunkern führten, gehärteten Rollbahnen für Raumschiffe ä la Ballard und Schutzräumen in Kraterrändern. Das Verlassen der Stadt wurde streng überwacht, was nicht überraschend war. Aber Miguel hatte einen Paß, und so aktivierten die beiden damit das südliche Stadttor, traten in die Schleuse und in eine U-Bahnstation namens Hammersmith. Dort zogen sie sperrige, aber geräumige Schutzanzüge an und gingen durch eine Schleuse in einen Tunnel und hinauf auf den versengten Staub des Merkur.

Nichts hätte sauberer und karger sein können als diese schwarzgraue Wüste. In diesem Zusammenhang war Zo das betrunkene Kichern von Miguel noch lästiger als sonst; und sie drehte das Interkom ihres Helm so weit herunter, bis es nur noch ein Flüstern war.

Es war gefährlich, von der Stadt nach Osten zu gehen. Selbst stillzustehen war gefährlich. Aber sie hatten vor, den Rand der Sonne zu sehen. Zo trat gegen die Steine, während sie nach Südwesten wanderten, um einen Blick auf die Seite der Stadt zu werfen. Sie wünschte, sie könnte über diese schwarze Welt fliegen. Vermutlich würde irgendein Raketenrucksack das ermöglichen; aber soweit sie wußte, hatte sich hier niemand bemüßigt gesehen, einen zu bauen. Also trotteten sie statt dessen dahin und hielten nach Osten Ausschau. Bald würde die Sonne über diesem Horizont aufgehen. Jetzt wurde über ihnen in der ultradünnen Atmosphäre aus Neon und Argon feiner, durch Elektronenbeschuß aufgewirbelter Staub in dem Bombardement durch die Sonne zu einem schwachen weißen Nebel. Hinter ihnen war das Oberteil der Dämmerungswand ein blendendes reines Weiß, das man selbst durch die schweren Differentialfilter ihrer Helmmasken nicht anschauen konnte.

Dann verwandelte sich der flache Horizont vor ihnen in Nähe des Kraters Strawinski in ein Silbernitratbild seiner selbst. Zo starrte hingerissen auf die explosive und phosphoreszierende tanzende Linie. Die Sonnenkorona, wie ein Brand in einem silbernen Wald knapp über dem Horizont. Zos Geist wurde gleichermaßen entflammt. Wenn sie könnte, wäre sie wie Ikarus in die Sonne geflogen in einer Art von spirituellem sexuellem Hunger; und in der Tat stieß sie genau die gleichen orgiastischen Schreie aus. Solch ein Feuer, solch eine Schönheit! In der Stadt nannte man das den Sonnenrausch — ein guter Name. Auch Miguel empfand das so. Er sprang von einem Felsen nach Osten mit weit ausgebreiteten Armen, wie Ikarus, der zu starten versucht.

Dann kam er unbeholfen im Staub herunter; und Zo konnte seinen Schrei auch mit fast heruntergedrehter Lautstärke ihres Interkoms hören. Sie lief zu ihm und sah den unmöglichen Winkel seines linken Knies, stieß selbst einen Schrei aus und kniete sich neben ihn. Selbst durch den Anzug fühlte sich der Boden kalt an. Sie half ihm auf, indem sie sich seinen Arm über die Schulter legte. Dann drehte sie die Lautstärke ihres Interkoms hoch, obwohl er laut stöhnte. Sie sagte: »Halt den Mund! Nimm dich zusammen und paß auf!«

Sie fielen in einen Rhythmus und hüpften nach Westen hinter der zurückweichenden Dämmerungswand her, die am oberen Ende ihrer hohen Glockenkurve hell leuchtete. Sie wich vor ihnen zurück. Es gab keine Zeit zu verlieren. Aber sie stürzten immer wieder. Beim dritten Mal schrie Miguel, im Staub hingestreckt, während die Landschaft eine blendende Mischung von reinem Weiß und reinem Schwarz war, vor Schmerzen auf und stöhnte: »Geh weiter, Zo, geh und rette dich selbst! Es gibt keinen Grund, weshalb wir beide hier draußen sterben!«

»Halt’s Maul!« sagte Zo grob und raffte sich auf.

»Geh!«

»Das werde ich nicht! Sei jetzt still, und laß mich dich tragen!«

Er wog ungefähr ebenso viel, wie er auf dem Mars gewogen hätte. Siebzig Kilo mit dem Anzug, schätzte sie. Es war mehr eine Sache des Gleichgewichts als sonst etwas. Während er hysterisch plapperte: »Laß mich los, Zo! Wahrheit ist Schönheit und Schönheit ist Wahrheit. Das ist alles, was du weißt und wissen mußt«, beugte sie sich vor und legte ihre Arme unter seinen Rücken und seine Knie, was ihn wieder zum Schreien brachte. »Sei still!« schrie sie. »Genau das ist die Wahrheit und deshalb schön.« Und sie lachte, während sie, ihn auf den Armen, lostrabte.

Er versperrte ihr die Sicht auf den Boden direkt vor ihnen. Darum mußte sie sich mit Schweiß in den Augen in dem blendenden Weiß und Schwarz nach vorn orientieren. Aber sie stapfte mit befriedigender Geschwindigkeit auf die Stadt zu.

Dann fühlte sie Sonnenlicht im Rücken. Das war wie Nadelstiche, sogar durch ihren stark isolierten Anzug. Ein massiver Anstieg des Adrenalinspiegels. Vom Licht geblendet, stolperte sie durch eine Art von Tal, das tiefer hinein in die Dämmerung führte. Dann zurück in die scheckige Zone von Licht durchschossener Schatten, ein verrücktes Chiaroscuro. Danach langsam zurück in die eigentliche Schattenzone, wo alles düster war, außer der von oben herunterblitzenden feurigen Stadtmauer. Zo schnappte nach Luft und war jetzt eher von der Anstrengung erhitzt als vom Sonnenlicht. Und doch genügte der Anblick des leuchtenden Bogens am Gipfel des Stadt, um einen zum Mithras-Verehrer zu machen.

Natürlich gab es, selbst wenn die Stadt direkt über ihnen war, keinen direkten Weg, wieder in sie hineinzugelangen. Sie mußte an ihr vorbeilaufen zur nächsten Untergrundstation. Minute um Minute völlig aufs Laufen konzentriert. Schmerz machte sich bemerkbar, eine Folge der Milchsäure in ihren Muskeln. Und da war sie endlich, voraus am Horizont: eine Tür im Hügel neben den Schienen. Weiter und weiter über den glatten Regolith stapfend. Sie hämmerte heftig an die Tür, und sie wurden in die Schleuse und dann ins Innere gelassen, wo man sie verhaftete. Aber Zo lachte die Spaßpolizei nur an und setzte ihren und Miguels Helm ab. Dann küßte sie den stöhnenden Miguel mehrere Male für seine Ungeschicklichkeit. In seinem Schmerz merkte er das nicht. Er war an sie geklammert wie ein Ertrinkender an einen Lebensretter. Sie schaffte es nur, sich aus seiner Umklammerung zu befreien, indem sie ihn leicht an sein verletztes Knie stieß. Bei seinem Geheul lachte sie laut auf und fühlte, wie ein Ruck durch sie ging. Soviel Adrenalin, so wundervoll, noch weit seltener als jeder sexuelle Orgasmus und deshalb noch kostbarer.

Also küßte sie Miguel immer und immer wieder — Küsse, die er nicht bemerkte. Und dann drängte sie sich durch die Spaßpolizei. Sie beanspruchte diplomatischen Status und dringende Hilfe. Sie sagte: »Schaut nicht so dumm. Gebt ihm ein paar Medikamente! Heute abend geht ein Shuttle zum Mars. Ich muß abreisen.«

»Vielen Dank, Zo!« rief Miguel. »Ich danke dir, du hast mir das Leben gerettet!«

»Ich habe meine Heimreise gerettet«, sagte sie lachend. Sie kehrte um und küßte ihn noch einmal. »Ich bin es, der dir danken sollte! So eine Gelegenheit! Vielen, vielen Dank!«

»Nein, ich danke dir!«

»Nein, ich danke dir!«

Und er lachte selbst in seinem Schmerz. »Zo, ich liebe dich.«

»Und ich liebe dich.«

Aber wenn sie sich nicht beeilte, würde sie ihr Shuttle verpassen.

Das Shuttle war eine gepulste Fusionsrakete, und sie würden die Erde innerhalb von zwei Tagen erreichen. Und die ganze Zeit bei anständiger Schwere, außer natürlich während des Saltos.

Wegen dieser plötzlichen Schrumpfung des Sonnensystems änderte sich allerhand. Eines der kleineren Ergebnisse war, daß die Venus nicht mehr als Gravitationshebel für den Raketenflug gebraucht wurde. Darum war es nur ein Zufall, daß Zos Shuttle, die Nike von Samothrake, ziemlich nahe an dem beschatteten Planeten vorbeiflog. Zo kam mit den übrigen Passagieren in dem großen Ballsaal mit Oberlicht zusammen, um die Passage zu beobachten. Die Wolken der überhitzten Atmosphäre des Planeten waren dunkel. Der Planet erschien vor dem Schwarz des Weltraums als grauer Kreis. Das Terraformen auf der Venus ging rasch voran. Der ganze Planet lag im Schatten, der alten Soletta des Mars, die als Sonnenschirm fungierte. Ihre Spiegel waren so geschwenkt worden, daß sie das genaue Gegenteil von dem bewirkten, was für den Mars vorgesehen gewesen war. Statt Licht auf den Planeten umzulenken, reflektierten sie alles fort. Die Venus rollte in Dunkelheit dahin.

Das war der erste Schritt eines Terraformprojekts, das viele Leute für verrückt hielten. Die Venus hatte kein Wasser, aber eine erstaunlich dicke Atmosphäre aus Kohlendioxid; ihr Tag währte länger als ein Jahr, und ihre Oberflächentemperatur brachte Blei und Zink zum Schmelzen. Keine aussichtsreiche Kombination von Anfangsbedingungen, das stimmte, aber die Leute versuchten es dennoch. Der Zugriff der Menschheit wurde immer mächtiger, wurde allmählich göttergleich. Zo fand das wunderbar. Die Leute, die das Projekt auf den Weg gebracht hatten, behaupteten sogar, daß es schneller gehen würde als das Terraformen des Mars. Die völlige Beseitigung des Sonnenlichts hatte tiefe Auswirkungen. Die Temperatur in der dichten (95 Bar an der Oberfläche) Kohlendioxidatmosphäre war im letzten halben Jahrhundert jährlich um 5 K gesunken. Bald würde der ›Große Regen‹ einsetzen, und in nur ein paar hundert Jahren würde sich das ganze Kohlendioxid auf dem Planeten befinden und in Gletschern aus Trockeneis die niedrig gelegenen Teile der Oberfläche bedecken. Der Plan war, das Trockeneis dann durch eine isolierende Schicht aus Diamantfolie oder aufgeschäumtem Fels zu bedecken; und wenn es erst einmal versiegelt wäre, könnten Ozeane angelegt werden. Das Wasser müßte von anderswo her kommen, da der natürliche Bestand der Venus sie höchstens bis zu einer Tiefe von einem Zentimeter bedecken würde.

Die Terraformer der Venus, Mystiker einer neuen Form von Viriditas, verhandelten gerade mit der Saturn-Liga über die Rechte für den Eismond Enceladus, den sie in den Venus-Orbit zu schieben und in wiederholten Passagen durch die Atmosphäre aufzubrechen hofften. Wenn das Wasser dieses Mondes auf die Venus herunterregnete, würde es flache Ozeane über ungefähr 70 Prozent des Planeten erzeugen, die die abgedeckten Kohlendioxidgletscher völlig überfluten würden. Es würde eine Atmosphäre aus Sauerstoff und Wasserstoff zurückbleiben, man würde etwas Licht durch den Sonnenschirm dringen lassen; und an diesem Punkt würden menschliche Siedlungen auf den zwei hohen Kontinenten Ishtar und Aphrodite möglich sein. Danach hätte man noch alle Probleme, mit denen der Mars es zu tun gehabt hatte. Darüber hinaus gäbe es die sehr langwierigen, für die Venus typischen Probleme, nämlich die Decken aus CO2-Eis irgendwie zu beseitigen und den Planeten auch genügend in Rotation zu versetzen, daß ein vernünftiger Tageszyklus zustande käme. Auf kurze Sicht könnte man kurze Tage und Nächte durch Verwendung des Sonnenschirms als gigantische Jalousie darstellen; aber auf lange Sicht wollte man sich nicht auf etwas so Zerbrechliches verlassen. Sie stellte sich schaudernd vor: In einigen Jahrhunderten wären eine Biosphäre und Zivilisation auf der Venus etabliert, die zwei Kontinente bewohnt, der schöne Diana-Spalt ein hübsches Tal, es gäbe Milliarden von Menschen und Tieren; und dann würde eines Tages der Sonnenschirm abknicken, und — sssssss — eine ganze Welt würde geröstet werden. Keine erquickende Aussicht. Deshalb versuchte man schon jetzt, noch vor dem massiven Erguß des Großen Regens, metallische Windungen als materialisierte Breitenkreise um den Planeten zu legen, die, sobald eine Flotte solar angetriebener Generatoren in fluktuierenden Bahnen um den Planeten installiert wäre, diese Armatur praktisch zu einem gigantischen Elektromotor machen würden, dessen Magnetkräfte den Drehimpuls schaffen würden, um die Rotation des Planeten zu beschleunigen. Die Planer des Systems behaupteten, in etwa der gleichen Zeit, die es erfordern würde, die Atmosphäre auszufrieren und einen Ozean herunterfallen zu lassen, könnte der Schwung dieses ›Dyson-Motors‹ für die Venus genug Rotation liefern, daß es in vielleicht dreihundert Jahren auf der umgeformten Welt Getreidefelder geben würde. Natürlich wäre die Oberfläche stark erodiert und noch sehr vulkanisch, mit unter den Meeren eingesperrtem Kohlendioxid, das bereit war auszubrechen und sie zu vergiften und sie während wochenlanger Tage und Nächte zu sieden und einzufrieren. Aber sie würden trotzdem da sein, und alles wäre nackt, roh und neu.

Der Plan war verrückt. Er war schön. Zo schaute durch die Decke des Ballsaals auf den buckligen grauen Globus und hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen, erschreckt und voller Bewunderung und in der Hoffnung, einen Blick auf die kleinen Punkte der neuen Asteroidenmonde zu erhaschen, auf denen die terraformenden Mystiker wohnten, oder vielleicht auch den koronalen Bogen eines Reflexes von dem Ringspiegel, der auf dem Mars benutzt worden war. Aber sie hatte kein Glück. Nur die graue Scheibe des beschatteten Abendsterns, das Symbol für ein Vorhaben, das die Menschheit in einen neuen Zusammenhang stellte als eine Art Bakterien Gottes, die Welten beknabberten und abstarben, um den Boden für späteres Leben zu bereiten. Im kosmischen Schema der Dinge äußerst verkleinert in einem fast calvinistisch masochistischem Heroismus, einer parodistischen Travestie des Marsprojekts und dennoch ebenso großartig. Sie waren Staubkörner in diesem Universum... Staub! Aber was für Ideen sie hatten!

Um einer Idee willen würden die Menschen alles tun — wirklich alles.


Selbst einen Besuch auf der Erde. Dampfend, klumpig, ansteckend, ein menschlicher Ameisenhaufen, in den man einen Stock gestoßen hatte. Die panische Vermehrung ging weiter, vom entsetzlichen Brei der Geschichte zum denkbar schlimmsten hypermalthusianischen Alptraum, heiß, feucht und schwer. Und dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, ein großartiger Ort für Besuche. Und Jackie wollte sowieso, daß sie bei einigen Leuten in Indien vorspräche. Also hatte Zo die Nike genommen und würde später ein MarsShuttle von der Erde aus benutzen.

Aber ehe sie nach Indien ging, um mit Jackies Kontaktpersonen zu sprechen, machte sie ihre gewohnte Pilgerfahrt nach Kreta, um die Ruinen zu sehen, die man hier immer noch minoisch nannte, obwohl man sie in Dorsa Brevia gelehrt hatte, sie nach Ariadne zu benennen. Minos war es schließlich gewesen, der das antike Matriarchat abgeschafft hatte. Darum war es eine der vielen Travestien terranischer Geschichte, daß die vernichtete Zivilisation jetzt nach ihrem Vernichter genannt wurde. Aber Namen konnte man ändern.

Zo trug ein gemietetes Exoskelett, das für Besucher von anderen Welten gedacht war, die unter der Erdschwere litten. Schwerkraft war, wie sie sagten, Schicksal; und die Erde hatte viele Schicksale zu ertragen. Diese Anzüge waren wie Vogelkleider ohne Schwingen, bequeme Overalls, die sich mit den Muskeln des Trägers bewegten und dabei einige Unterstützung boten. Büstenhalter für den Körper. Sie erleichterten nicht alle Auswirkungen der Anziehungskraft, Atmen war immer noch anstrengend, und Zos Glieder fühlten sich in dem Anzug irgendwie schwer an, unbequem gegen den Stoff gepreßt. Sie hatte sich bei früheren Reisen daran gewöhnt, in den Anzügen umherzugehen. Es war eine faszinierende Übung, wie Gewichtheben, aber keine, die ihr besonders gefiel. Immerhin war es besser, als die Alternative, die sich ihr bot. Sie hatte auch die probiert, aber es war eine furchtbare Belastung, die sie ablenkte und daran hinderte, richtig zu sehen und wirklich dort zu sein.

So ging sie nun in dem merkwürdigen, irgendwie unterwasserartigen Fließen des Gewandes an der alten Stätte von Gournia spazieren. Gournia war ihr von allen Ruinen der Ariadne-Zeit am liebsten, das einzige gewöhnliche Dorf aus jener Zivilisation, das gefunden und ausgegraben wurde. Die anderen Stätten waren alle Paläste. Dieses Dorf war wahrscheinlieh ein Satellit des Palastes von Malia gewesen, geblieben war allerdings nur ein Gewirr hüfthoher Mauern aus übereinandergeschichteten Steinen auf einem Hügel mit Blick auf die Ägäis. Alle Räume waren sehr klein, oft nur ein mal zwei Meter, mit Gängen zwischen weißgetünchten Wänden, wie sie immer noch auf dem Lande zu sehen waren. Man sagte, Kreta sei von der großen Flut schwer getroffen und die Aradnier von den Folgen der Explosion von Thera überrascht worden. Und es stimmte, daß all die hübschen kleinen Fischerhäfen mehr oder weniger überschwemmt und die Ariadne-Ruinen von Zakros und Malia völlig überflutet worden waren. Sie hatte keine Stelle auf der Erde entdeckt, die so gut mit dem Bevölkerungswachstum umging. Überall klammerten sich kleine, weißgetünchte Dörfer wie Bienenkörbe an das Land. Sie bedeckten Hügelkuppen, füllten Täler und waren von Getreidefeldern und Obstgärten umgeben, während die buckligen Berge hoch aus dem landwirtschaftlich genutzten Land herausragten und in plastischen Gebirgsketten bis zum zentralen Rückgrat der Insel aufstiegen. Die Bevölkerung der Insel war auf über vierzig Millionen angestiegen, wie sie gehört hatte; und dennoch sah die Insel immer noch ziemlich genau so aus wie sie sie von früher her kannte. Es gab bloß mehr Dörfer, die zu dem Muster nicht nur der bestehenden, sondern auch der antiken wie Gournia und Itanos paßten. Städteplanung mit einer fünftausend Jahre andauernden Kontinuität seit jenem ersten Gipfel der Zivilisation oder letztem Höhepunkt der Vorgeschichte — so hoch, daß sie selbst vom klassischen Griechenland tausend Jahre später, allein durch mündliche Überlieferung als der Mythos von Atlantis und dann auch in den Gestalten aller Nachfolger, nicht nur auf Kreta, sondern auch in Dorsa Brevia noch undeutlich erkannt wurde. Wegen der in Dorsa Brevia benutzten Namen und der Wertschätzung dieser Kultur des Matriarchats von Ariadne hatten die beiden Stellen eine Verwandtschaft entwickelt. Viele Marsianer kamen nach Kreta, um die antiken Stätten zu besuchen. Es gab nahegelegene neue Hotels, die in etwas größerem Maßstab gebaut waren, um es den hochgewachsenen jungen Pilgern bequem zu machen, welche die heiligen Stätten besuchten: Phaistos, Gournia, Itanos, Mali und Zakros unter Wasser, sogar die lächerliche ›Rekonstruktion‹ von Knossos. Sie kamen und sahen, wie alles begonnen hatte, fern am frühen Morgen der Welt. Auch Zo, die in dem strahlend blauen Licht der Ägäis auf einer fünftausend Jahre alten Steinallee stand, fühlte, wie der Widerhall dieser Größe in sie einströmte, durch die porösen roten Steine unter den Füßen aufstieg und bis in ihr Herz gelangte. Eine Erhabenheit, die nie enden würde.


Der Rest der Erde entsprach allerdings Kalkutta. Nun, das war eigentlich nicht fair. Aber Kalkutta selbst war entschieden Kalkutta. Stinkende Menschheit in ihrer kompaktesten Form. Immer wenn Zo ihr Zimmer verließ, hatte sie mindestens fünfhundert Menschen vor Augen und oft ein paar tausend. Der Anblick all dieses-Lebens in den Straßen war auf schreckliche Weise erheiternd. Eine Welt von Zwergen und Knirpsen und allerhand anderen kleinen Leuten, die sie alle erblickten und sich zusammendrängten wie Nestlinge an ihre Eltern, um sich füttern zu lassen. Obwohl Zo einräumen mußte, daß das Gedränge etwas freundlicher war als jenes, mehr durch Neugier veranlaßt als durch Hunger. Man schien sich tatsächlich mehr für ihr Exoskelett zu interessieren als für sie selbst. Und sie schienen recht fröhlich zu sein, mager, aber nicht abgezehrt, selbst wenn sie offenbar auf den Straßen wohnten. Die Straßen selbst waren jetzt in Kooperativen aufgeteilt. Die Menschen hatten Besitzanspruch, fegten sie und regelten die Unzahl kleiner Märkte, zogen auf jedem Platz Getreide und schliefen auch dazwischen. So war das Leben auf der Erde im Ausgang des Holozäns gewesen. Nach Ariadne war es ständig bergab gegangen.

Zo ging hinauf zu Prahapore, einer Enklave in den Bergen nördlich der Stadt. Hier wohnte eine von Jackies weiblichen terranischen Spionen in einem Wohnheim, das gedrängt voll war mit geplagtem Verwaltungspersonal. Die Leute wohnten neben ihren Bildschirmen und schliefen unter ihren Pulten. Jackies Kontaktperson war eine Progammiererin von Übersetzungsgeräten, eine Frau, die Mandarin, Urdu, Drawidisch und Vietnamesisch ebenso beherrschte wie Hindi und Englisch. Sie spielte eine wichtige Rolle in einem ausgedehnten Lauschnetz und konnte Jackie über manch indisch-chinesische Konversation, die den Mars betraf, auf dem laufenden halten.

Als sie sich draußen in dem kleinen Kräutergarten des Grundstücks befanden, sagte die beleibte Frau zu Zo: »Natürlich werden sie beide mehr Menschen auf den Mars schicken. Das ist sicher. Aber es sieht so aus, als glaubten beide Regierungen, für ihre Bevölkerung eine langfristige Lösung zu haben. Man erwartet von niemandem mehr, daß er mehr als ein Kind hat. Das ist nicht nur das Gesetz, es ist die Tradition.«

»Das Gesetz der Gebärmutter«, sagte Zo.

Die Frau zuckte die Achseln. »Möglicherweise. Auf jeden Fall eine sehr strenge Tradition. Die Leute sehen sich um und erkennen das Problem. Sie erwarten, die Langlebigkeitsbehandlung zu bekommen und dabei auch das Sterilitätsimplantat. Und in Indien freuen sie sich, wenn sie die Genehmigung erhalten, das Implantat zu entfernen. Wenn sie dann ein Kind haben, erwarten sie die endgültige Sterilisation. Sogar die Hindufundamentalisten sind dazu übergegangen. Der soziale Druck auf sie war zu groß. Und die Chinesen praktizieren das seit Jahrhunderten. Die Langlebigkeitsbehandlung hat nur das verstärkt, was sich ohnehin schon eingebürgert hatte.«

»Also hat der Mars von ihnen weniger zu befürchten, als Jackie denkt.«

»Nun, sie wollen immer noch Emigranten schicken. Das ist ein Teil der allgemeinen Strategie. Und der Widerstand gegen das Einkindgesetz war in einigen katholischen und muslimischen Ländern stärker. Einige dieser Nationen möchten den Mars kolonisieren, als wäre er leer. Die Bedrohung verlagert sich jetzt von Indien und China zu den Philippinen, nach Brasilien und Pakistan.«

»Hmm«, machte Zo. Gespräche über Immigration bedrückten sie immer. Bedrohung durch Lemminge. »Was ist mit den Exmetas?«

»Die alte Elfergruppe kommt wieder auf Unterstützung der stärksten unter den alten Metanats zurück. Sie werden sich nach Plätzen zur Entwicklung umsehen. Sie sind viel schwächer als vor der Flut, haben aber immer noch starken Einfluß in Amerika, Rußland, Europa und Südamerika. Sag Jackie, sie soll aufpassen, was Japan in den nächsten Monaten tut. Sie wird verstehen, was ich damit meine.« Sie verbanden die Armbandgeräte, damit die Frau eine sichere Übertragung detaillierter Information für Jackie machen konnte.

»Okay«, sagte Zo. Sie war plötzlich müde, als wäre ein fetter Mann zu ihr ins Exoskelett gekrochen und zöge sie nach unten. Die Erde war eine Belastung. Manche Leute sagten, sie liebten das Gewicht, als ob sie diesen Druck brauchten, um von ihrer Realität überzeugt zu sein. Zo war nicht so. Die Erde war für sie der Inbegriff von Exotik. Das war fein, aber sie hatte plötzlich das Verlangen, daheim zu sein. Sie stöpselte ihr Armband von dem Übersetzer aus und stellte sich den perfekten Mittelweg vor, jenen perfekten Test von Willen und Fleisch — die exquisite Schwerkraft des Mars.

Dann ging es am Raumaufzug von Clarke hinunter — eine Reise, die länger dauerte als der Flug von der Erde; und sie war wieder zurück in der Welt, der einzig realen Welt, dem prächtigen Mars. »Es geht nichts über die Heimat«, sagte Zo zu der Menge am Bahnhof in Sheffield. Und dann setzte sie sich vergnügt in einen der Züge, die über die Pisten von Tharsis hinunter und darauf nach Norden zu Echus Overlook fuhren.

Die kleine Stadt war seit ihren frühen Tagen als Hauptquartier des Terraform-Projekts nicht besonders schnell gewachsen. Sie lag etwas abseits und war in die steile Ostwand von Echus Chasma gebaut, so daß man nicht viel von ihr wahrnahm — ein paar Häuser auf dem Plateau oben auf der Klippe, ein Paar am Boden, aber mit drei Kilometern zwischen den beiden, so daß diese sich gegenseitig nicht sehen konnten, mehr wie zwei getrennte Dörfer, die mit einer vertikalen U-Bahn verbunden waren. Wenn die Flieger nicht gewesen wären, Echus Overlook hätte in dieser Position allenfalls als verschlafenes historisches Monument überleben können wie Underhill oder Senzeni Na oder die eisigen Refugien im Süden. Die Ostwand von Echus Chasma aber stand direkt den vorherrschenden Westwinden im Weg, die vom Tharsis- Buckel herunterströmten und zu erstaunlich starken Luftströmungen nach oben führten. Das machte es zu einem Paradies des Vogelflugs.

Zo hätte sich bei Jackie und den für sie arbeitenden Apparatschiki des Freien Mars melden sollen; aber ehe sie in all dies verwickelt wurde, wollte sie fliegen. Also holte sie am Segelflughafen ihren alten Falkenanzug von Santorini aus dem Lager, ging zum Umkleideraum und schlüpfte hinein. Sie fühlte das glatte muskulöse Gewebe vom Exoskelett des Anzugs. Dann ging es hinaus auf den glatten Weg, die Schwanzfedern nachschleppend, und auf das Tauchbrett, einen natürlichen Überhang, der künstlich mit einer Betonplatte verlängert worden war. Sie ging bis zum Ende dieser Platte und erblickte weit unter sich, dreitausend Meter tief, die Sohle von Echus Chasma. Mit dem gewohnten Adrenalinstoß kippte sie nach vorn und fiel senkrecht von der Klippe nach unten. Mit dem Kopf voran immer weiter abwärts. Als sie die Endgeschwindigkeit erreichte, was sie an der Tonhöhe des Brausens erkannte, ergriff sie der Wind am Helm; sie breitete die Arme aus, ließ den Anzug sich versteifen und helfen, die schönen Flügel gespreizt zu halten. Dann kurvte sie mit einem laut dröhnenden Knirschen des Windes in die Sonne empor, wandte den Kopf, krümmte den Rücken, streckte die Zehen und stellte die Schwanzfedern ein — links, rechts, links. Der Wind zog sie immer weiter hoch. Sie legte Füße und Arme aneinander und machte eine enge Drehung und sah erst die Klippe und dann den Boden des Chasmas — immer wieder rund herum im Flug. Zo, der Falke, wild und frei! Sie lachte glücklich. Tränen strömten in ihrer Schutzbrille, wohin der Sog sie trug, und wurden schließlich von der Kraft der Beschleunigung fortgerissen.

Die Luft über Echus war an diesem Morgen fast leer. Nachdem sie sich im Aufwind hatten hochtragen lassen, schwenkten die meisten Flieger nach Norden. Sie stiegen auf oder schössen in eine der Schluchten in der Wand hinunter, wo der Auftrieb nachließ, und es möglich war, mit hoher Geschwindigkeit auf und ab zu sausen. Auch Zo, nachdem sie ungefähr die Höhe von fünftausend Metern über Overlook erreicht hatte und den reinen Sauerstoff des geschlossenen Luftsystems ihres Helms atmete, wandte den Kopf nach rechts, kippte über den rechten Flügel und kurvte fröhlich gegen den Wind, den sie in raschen Griffen über ihren Körper streichen fühlte. Kein Laut außer dem harten Brausen in ihren Schwingen. Der physische Druck auf ihren Körper war eine zarte empfindsame Massage. Sie hatte durch den dichten Anzug hindurch ein Gefühl, als wäre er gar nicht da, als wäre sie nackt und spürte den Wind direkt auf ihrer Haut, so wie sie es sich wünschte, daß es wäre. Ein guter Anzug verstärkte natürlich diesen Eindruck; und sie hatte diesen drei m-Jahre lang benutzt, ehe sie zum Merkur abgereist war. Er paßte wie ein Handschuh. Es was großartig, wieder in ihm zu stecken.

Sie zog nach oben wie ein Falke und stürzte sich dann vorwärts in dem Manöver, das man den fallenden Jesus‹ nannte. Tausend Meter in die Tiefe. Sie zog die Flügel ein und beschleunigte mit Delphinstößen ihren Sturzflug, bis der Wind laut über sie brauste. Sie passierte den Rand der großen Wand mit deutlich mehr als der Endgeschwindigkeit. Der Vorbeiflug an der Klippe war das Zeichen zum Hochziehen; denn so hoch die Klippe auch war, raste doch der Boden des Chasmas auf sie zu wie ein Schlag ins Gesicht, und es erforderte doch einige Zeit hochzuziehen, selbst bei ihrer Kraft, Geschicklichkeit und Nervenstärke und der Verstärkung durch den Anzug. Also krümmte sie den Rücken und spreizte die Flügel. Sie fühlte die Anstrengung in Brust und Bizeps, einen ungeheuren Druck, obwohl ihr der Anzug mit logarithmisch zunehmendem Prozentanteil der Belastung half. Schwanzfedern nach unten, los! Vier harte Flügelschläge. Und dann parierte sie den Sturz so knapp über dem Sandboden des Chasmas, daß sie eine Maus davon hätte aufgreifen können.

Sie wendete, kam in den Aufwind und schwenkte wieder zurück in sich neu entwickelnde hohe Wolken. Der Wind war an diesem Tage unberechenbar. Und es war ein alle Aufmerksamkeit forderndes Vergnügen, sich darin zu tummeln und zu spielen. Das war der Sinn des Lebens, der Zweck des Universums: reine Freude, das Gefühl der Selbstvergessenheit, wobei der Geist nicht mehr als ein Spiegel des Windes wurde. Überschwenglichkeit. Man sagte, sie fliege wie ein Engel. Manchmal flog man wie eine Drohne, manchmal wie ein Vogel; und in seltenen Fällen flog man wie ein Engel. Das war schon lange her gewesen.

Sie kam wieder zu sich und schwebte an der Wand hinunter auf Overlook zu. Sie fühlte Erschöpfung in den Armen. Dann sichtete sie einen Falken. Wie viele Flieger verfolgte sie einen Vogel, wenn sie ihn erblickte. Sie beobachtete ihn näher, als es jemals zuvor ein Vogelfreund getan hatte, ahmte jeden Übergang und jede Flügelbewegung nach, die Genialität seines Fluges zu erkennen. Manchmal kreisten die Falken harmlos über dieser Klippe auf der Suche nach Futter, und ein ganzes Geschwader von Fliegern folgte ihren Bewegungen oder versuchte es wenigstens. Es machte Spaß.

Jetzt beschattete sie den Falken, kurvte, wenn er es tat, und ahmte die Stellung von Flügeln und Schwanz nach. Seine Beherrschung der Luft war ein Talent, nach dem sie sich sehnte, das sie aber nie besitzen würde. Aber sie konnte es immerhin versuchen. Helle Sonne in eilenden Wolken, indigofarbener Himmel, der Wind gegen ihren Körper, kleine Verzückungen im Leib bei geringem Gewicht, wenn sie zum Sturz überging... ewige Momente ohne Bewußtsein. Die beste und sauberste Verwendung menschlicher Zeit.

Aber die Sonne senkte sich im Westen, und Zo wurde durstig. Darum überließ sie den Falken seinem Tun, drehte ab und schwebte in weiten, lässigen S-Kurven zu Overlook hinunter, wo sie ihre Landung mit einem Flügelschlag stehend ausführte, genau auf dem grünen Kokopelli, als ob sie nie fort gewesen wäre.


Die Nachbarschaft hinter dem Startkomplex hieß Topside und war eine Ansammlung billiger Herbergen und Restaurants, die fast nur von Fliegern und Touristen, die sich das Fliegen ansehen wollten, bewohnt waren. Sie alle aßen, tranken und streiften umher, redeten und tanzten und schauten sich nach jemanden um, mit dem man die Nacht verbringen konnte. Und dort waren auch, keineswegs überraschend, ihre Fliegerkameraden Rose und Imhotep und Ella und Estavan, alle in einer Gruppe im Adler-Bräuhaus. Sie waren schon beschwipst und entzückt, Zo wieder unter sich zu sehen. Sie tranken im Adler etwas zur Feier der Wiedervereinigung, gingen dann nach Overlook-Overlook und setzten sich auf die Brüstung, um den Klatsch nachzuholen. Sie ließen einen großen Humpen kreisen, dessen Inhalt mit Pandorph versetzt war, machten freche Bemerkungen über die unter dem Geländer vorbeiziehenden Leute und riefen Freunden zu, die sie in der Menge erspähten.

Schließlich verließen sie Overlook-Overlook und begaben sich in die Mengen von Topside hinunter. Langsam drehten sie ihre Runde durch die Kneipen zu den Badehäusern. Sie legten im Umkleideraum ihre Kleidung ab und wanderten nackt durch die dunklen warmen, mit Wasserbecken ausgestatteten Räume. Das Wasser war hüfttief, knöcheltief, brusttief; heiß, kalt und lauwarm. Sie verteilten sich und fanden später wieder zusammen, sie hatten in der Düsternis Sex mit kaum sichtbaren fremden Personen. Zo arbeitete sich langsam durch mehrere Partner zu ihrem Orgasmus durch und schnurrte behaglich, als ihr Körper sich in sich verkrampfte und ihr Bewußtsein schwand. Sex, Sex — nur Sex ähnelte dem Fliegen. Die Verzückung des Körpers, ein anderes Echo des Urknalls, der erste Orgasmus. Freude beim Anblick der Sterne im Oberlicht des Raums, beim Gefühl von warmem Wasser und einem Burschen, der in sie eindrang und drin blieb ohne ganz zu erschlaffen, sich drei Minuten später wieder versteifte und wieder anfing zu stoßen und über das Heraufkommen eines neuen Orgasmus lachte.

Danach schlenderte sie in die relative Helligkeit der Bar und fand dort die anderen. Estevan erklärte, daß der dritte Orgasmus eines Abends gewöhnlich der beste wäre, mit einer langen Annäherung an den Höhepunkt und doch noch einem Rest Sperma zum Ejakulieren. »Danach ist es immer noch fein, aber anstrengender. Man muß ganz wild werden, um es zu schaffen, und dann ist es doch nicht mehr so wie beim dritten Mal.« Zo und Rose und die übrigen Frauen waren sich einig, daß es in diesem wie in so vielen anderen Fällen überlegen wäre, weiblich zu sein. Sie hatten in einer Nacht in den Bädern routinemäßig etliche wundervolle Orgasmen; und selbst diese waren nichts im Vergleich mit dem Status orgasmus, einer Art von ständig andauerndem Orgasmus, der eine halbe Stunde dauern konnte, wenn man Glück und einen geschickten Partner hatte. Es gab dabei eine Geschicklichkeit, die sie eifrig studierten; aber alle waren sich einig, daß es mehr eine Kunst war als eine Wissenschaft. Man mußte high sein, aber nicht allzusehr, in einer Gruppe, aber keinem großen Haufen... Sie sagten Zo, daß sie in letzter Zeit dabei recht gut und sicher geworden wären; und Zo verlangte fröhlich den Beweis dafür. Estevan brüllte: »Kommt schon, ich will eine Tischnummer erleben!« Er führte sie und den Rest in einen Raum hinunter, in dem ein großer Tisch aus dem Wasser ragte. Imhotep, der für die Lektion Zos Matrazenpartner war, legte sich darauf auf den Rücken. Sie wurde von den anderen auch in Rückenlage hochgehoben, rutschte auf ihn hinunter; und dann war die ganze Gruppe mit ihr beschäftigt. Hände, Münder und Genitalien, im Mund und in jedem Ohr und in eine Zunge, Kontakt überall. Nach einiger Zeit war alles eine undifferenzierte Masse erotischer Sinnesreize. Rundum Sex total. Zo schnurrte laut. Als sie dann anfing zu kommen und sich mit krampfhafter Heftigkeit aufbäumte und Imhotep abschüttelte, machten sie alle weiter, jetzt sanfter. Sie reizten sie und ließen sie nicht zur Landung kommen. Und dann war sie gestartet und flog. Die Berührung eines kleinen Fingers hielt sie in Gang, bis sie schrie: »Nein, ich kann nicht!« Sie lachten und sagten: »Du kannst!« und hielten sie in Gang, bis sich die Muskeln ihres Magens verknoteten und sie gewaltsam von Imhotep herunterrollte und von Rose und Estavan aufgefangen wurde. Sie konnte nicht einmal mehr stehen. Jemand sagte, sie hätten sie zwanzig Minuten lang in Schwung gehalten. Es hatte sich angefühlt wie eine Ewigkeit. Alle ihre Bauchmuskeln schmerzten, ebenso ihre Schenkel und ihr Hinterteil. Sie verlangte nach einem kalten Bad und kroch zum kühlen Wasser in einem nahen Raum.

Aber nach der Tisch-Orgie gab es kaum noch etwas, das in den Bädern von Reiz war. Alle weiteren Orgasmen würden schmerzen. Zo half Estevan und Xerxes auf dem Tisch und dann einer kleinen Frau, die sie nicht kannte. Das machte alles Spaß; aber dann wurde es ihr langweilig. Fleisch, Fleisch, Fleisch. Manchmal kam man danach immer höher; aber ein anderes Mal war es bloß Haut und Haar und Fleisch, innen und außen. Wenn kümmerte das?

Zo ging in den Garderobenraum, zog sich an und ging nach draußen. Es war schon Morgen, und die Sonne strahlte hell über den kahlen Flächen von Lunae. Sie begab sich durch die leeren Straßen zu ihrer Herberge. Sie fühlte sich entspannt, sauber und schläfrig. Ein üppiges Frühstück, ins Bett fallen und mit Genuß schlafen.

Aber in dem Hotelrestaurant wartete Jackie. »Wenn das nicht unsere Zoya ist...?« Sie hatte den Namen nie gemocht, den Zo selbst für sich gewählt hatte.

»Bist du mir hierher gefolgt?« fragte Zo überrascht.

Jackie machte ein empörtes Gesicht. »Du solltest dich daran erinnern, daß es auch meine Koop ist. Warum hast du dich nicht bei deiner Rückkehr gemeldet?«

»Ich wollte gern fliegen.«

»Das ist keine Entschuldigung.«

»Es sollte auch keine sein.«

Zo ging zum Büffet und belud einen Teller mit Rührei und Teegebäck. Sie kam an Jackies Tisch zurück und küßte ihre Mutter auf den Kopf. »Du siehst gut aus.«

Tatsächlich sah Jackie jünger aus als Zo, die oft in der Sonne war und darum Falten hatte — jünger, und irgendwie gut erhalten, als wäre sie eine Schwester von Zo, die einige Zeit auf Flasche gezogen und erst kürzlich dekantiert worden war. Sie wollte Zo nicht sagen, wie oft sie die gerontologischen Behandlungen gehabt hatte; aber Rachel hatte erzählt, daß sie immer neue Varianten ausprobierte, von denen etwa zwei oder drei jedes Jahr herauskämen, und daß sie die Grundbehandlung beinahe alle drei Jahre erfuhr. Daher sah sie, obwohl sie irgendwo in der fünften m-Dekade stand, fast wie eine Altersgenossin von Zo aus, mit Ausnahme der bewahrten Qualität, die nicht so sehr den Körper als vielmehr den Geist betraf — ein Augenausdruck, eine gewisse Härte, eine Anspannung, eine Bedachtsamkeit oder Stumpfheit. Es war harte Arbeit, Jahr für Jahr das Alpha-Weibchen zu sein, ein heroischer Kampf, der sichtbare Spuren hinterlassen hatte, ganz gleich wie babyglatt ihre Haut war oder wie sehr sie die umkämpfte Schönheit blieb. Und sie war durchaus noch eine Schönheit, ohne Zweifel. Aber sie wurde allmählich alt. Bald würden sich ihre jungen Männer nicht mehr um die Finger wickeln lassen und abhauen.

Inzwischen hatte sie eine große Präsenz entwickelt und wirkte darüber hinaus im Moment recht verärgert. Die Leute schauten weg, als ob ihr Blick sie töten könnte, was Zo zum Lachen brachte. Nicht gerade die höflichste Art, die Mutter zu begrüßen, aber was konnte man sonst machen? Zo war zu entspannt, um sich zu ärgern.

Aber dennoch war es wohl ein Fehler, sie anzulachen. Jackie schoß finstere Blicke, bis Zo sich zusammennahm.

»Erzähl mir, was auf dem Merkur geschehen ist!«

Zo zuckte die Achseln. »Ich habe es dir berichtet. Die denken immer noch, daß die äußeren Planeten auf ihre Sonnenlichtlieferungen angewiesen seien. Das haben sie sich in den Kopf gesetzt.«

»Ich meine, daß ihr Sonnenlicht da draußen immer noch nützlich ist.«

»Energie kann man immer brauchen; aber die äußeren Welten sollten jetzt imstande sein, das zu erzeugen, was sie benötigen.«

»Also bleiben den Merkuriern noch die Metalle.«

»Das stimmt.«

»Aber was wollen sie dafür haben?«

»Alle wollen frei sein. Keine dieser kleinen Welten ist groß genug, um autark zu sein. Darum müssen sie etwas haben, womit sie handeln können, wenn sie frei bleiben wollen. Merkur besitzt Sonnenlicht und Metalle; die Asteroiden haben Metalle, die äußeren Satelliten haben flüchtige Substanzen. Also bieten sie das zum Tausch, was sie haben, und versuchen, Allianzen zu bilden, um eine Beherrschung durch die Erde oder den Mars zu vermeiden.«

»Es ist keine Beherrschung.«

»Natürlich nicht.« Zo verzog keine Miene. »Aber die großen Welten, du weißt...«

»Sind groß«, bestätigte Jackie. »Aber wenn man alle diesen kleinen Dinge zusammenzählt, ist das auch etwas Großes.«

»Wer addiert sie?« fragte Zo.

Jackie ignorierte die Frage. Die Antwort war ohnehin klar. Jackie würde es tun. Jackie befand sich in einem langen Kampf mit verschiedenen Mächten auf der Erde, sofern es die Kontrolle des Mars betraf. Sie versuchte zu verhindern, daß sie von der immensen Heimatwelt überflutet würden. Und die menschliche Zivilisation breitete sich ständig weiter durch das ganze Sonnensystem aus. Jackie betrachtete die neuen kleinen Siedlungen als Bauern im Schachspiel dieses großen Kampfes. Und es gab in der Tat genug von ihnen. Sie könnten durchaus einen Unterschied bedeuten.

»Es gibt keinen großen Grund, sich um den Merkur Sorgen zu machen«, versicherte ihr Zo. »Er ist eine Sackgasse, eine kleine provinzielle Stadt, die von einer Kultgemeinde betrieben wird. Niemand kann viele Menschen dort ansiedeln, wirklich niemand. Wenn es uns also doch gelingt, sie an Bord zu bringen, wird das keinen großen Unterschied machen.«

Jackies Gesicht nahm wieder seinen weltmüden Ausdruck an, als ob Zos Analyse der Lage das Werk eines Kindes wäre, und als ob es ausgerechnet auf dem Merkur verborgene Quellen politischer Macht gäbe. Das war störend, aber Zo nahm sich zusammen und zeigte ihren Ärger nicht.

Antar kam herein, um nach ihnen zu sehen. Er sah sie und lächelte, kam herüber und gab Jackie einen schnellen Kuß und Zo einen längeren. Er und Jackie sprachen flüsternd eine Weile über die eine oder andere Sache, und dann sagte Jackie ihm, er solle gehen.

In Jackie steckte eine große Portion vom Willen zur Macht, wie Zo wieder einmal erkannte. Das selbstverständliche Herumkommandieren von Antar war ein Zurschautragen von Macht, die man bei vielen Nisei-Frauen beobachten konnte, die in Patriarchaten aufgewachsen waren und deshalb scharf dagegen reagierten. Sie hatten nicht ganz begriffen, daß das Patriarchat keine Rolle mehr spielte, daß dieses immer im Griff des Gesetzes der Gebärmutter gewesen war, welches außerhalb von Patriarchie mit einer biologischen Kraft wirkte, die durch keine bloße Politik beherrscht werden konnte. Das Weibliche hielt sich an den männlichen Geschlechtsgenuß, an das Leben selbst. Das waren für Patriarchen Realitäten so gut wie jede andere — trotz all der Unterdrückung und ihrer Furcht vor dem Weiblichen, das in allen Zeiten so vielfältigen Ausdruck gefunden hatte: Schleier, Exzision, Fußverkrüppelung und so weiter. Wirklich eine häßliche Sache, eine letzte verzweifelte grausame Verteidigung der letzten Bastion, die gewiß eine Weile erfolgreich gewesen, aber jetzt spurlos weggewischt war. Jetzt mußten die armen Kerle sich alleine durchschlagen, und das war hart. Frauen wie Jackie hatten sie ausgepeitscht. Und so etwas gefiel Frauen wie Jackie.

»Ich möchte, daß du zum Uranus-System gehst«, sagte Jackie. »Die sind da draußen gerade dabei, sich niederzulassen, und ich möchte sie frühzeitig bekommen. Du kannst auch denen auf den galileischen Jupitermonden ein Wort sagen. Die tanzen aus der Reihe.«

»Ich sollte eine Koop-Arbeit übernehmen, sonst wird allzu deutlich, daß es nur ein Aushängeschild ist«, erwiderte Zo.

Nach vielen Jahren der Tätigkeit mit einer verwilderten Kooperative in Lunae war Zo einer der Koops beigetreten, die zum Teil als Tarnung für den Freien Mars fungierten und es Zo und anderen Mitarbeitern ermöglichten, Parteiarbeit zu leisten, ohne daß deutlich wurde, daß das ihre Hauptaktivität war. Die Koop, zu der Zo gegangen war, baute und installierte Kraterschirme; aber sie hatte seit mehr als einem Jahr keine echte Arbeit mehr übernommen.

Jackie nickte. »Verbring einige Zeit dort und dann nimm wieder Urlaub! In einem Monat oder so.«

»Okay.«

Zo war daran interessiert, die äußeren Satelliten zu sehen, darum fiel es ihr leicht zuzustimmen. Aber Jackie nickte nur und ließ nicht erkennen, ob es ihr lieber gewesen wäre, wenn Zo nicht zugestimmt hätte. Ihre Mutter war keine sehr einfallsreiche Person, wenn alles gesagt und getan war. Ohne Zweifel war Zos Vater die Quelle dieser Eigenschaft bei Zo, Ka möge ihn segnen! Zo wollte seine Identität nicht erfahren, die für sie jetzt nur eine Einschränkung ihrer Freiheit gewesen wäre. Aber sie fühlte einen Anflug von Dankbarkeit für seine Gene und ihre Rettung davor, genau wie Jackie zu werden.

Zo stand auf, zu müde, ihre Mutter noch länger zu ertragen. »Du siehst müde aus«, sagte sie, »und ich bin erschöpft.« Sie küßte Jackie auf die Wange, als sie das Zimmer verließ. »Ich liebe dich. Vielleicht solltest du daran denken, wieder die Behandlung zu nehmen.«


Ihre Kooperative befand sich im Krater Moreux in den Protonilus Mensae, zwischen Mangala und Bradbury Point. Das war ein großer Krater auf dem langen Abhang der Großen Böschung, in Richtung von Boones Halbinsel. Die Koop entwickelte ständig neue Variationen von molekularem Netzwerk als Ersatz für ältere Netze und die alten Kuppelstoffe. Das von ihnen über Moreux gespannte Gewebe war die jüngste Errungenschaft. Der Kunststoff seiner Fasern aus Polyhydroxybutyrat wurde aus Sojabohnen gewonnen, die genetisch manipuliert waren, um in ihren Chloroplasten das PHB zu erzeugen. Das Gewebe hielt das Äquivalent einer täglichen Inversionsschicht zurück, wodurch die Luft im Innern des Kraters dicker und beträchtlich wärmer wurde als die Außenluft. Derartige Netze erleichterten es, Biome durch den zähen Übergang vom Zelt zur freien Luft zu bekommen; und wenn sie permanent installiert waren, erzeugten sie in größeren Höhen oder Breiten angenehme Mesoklimata. Moreux reichte bis 43° Nord, und die Winter außerhalb des Kraters waren für gewöhnlich recht streng. Mit Hilfe des Netzes konnten sie einen warmen Wald für große Höhen anlegen, der mit einer exotischen Vielfalt an Pflanzen prahlte, die geneologisch gesehen von den ostafrikanischen Vulkanen, Neuguinea und dem Himalaya stammten. Unten auf dem Kraterboden waren die Sommertage sehr heiß, und die seltsamen dornigen Bäume dufteten wie würziges Parfüm.

Die Bewohner des Kraters lebten in geräumigen Appartements, die in den nördlichen Bogen des Kraterrandes eingelassen waren, in vier zurückgesetzten Ebenen von Balkons und breiten Fensterwänden, aus denen man einen Blick auf das grüne Laub des Waldes am Kilimandscharo-Abhang darunter hatte. Im Winter würden die Balkons von der Sonne gebraten und lagen im Sommer unter von Reben bedeckten Jalousien, wenn die Tagestemperaturen bis 305 K anstiegen. Es war im Gespräch, ein gröberes Geflecht zu verwenden, damit mehr heiße Luft entweichen könnte, oder sogar ein System zu entwickeln, bei dem man die Abdeckung während des Sommers einfach aufrollen könnte.

Zo verbrachte den größten Teil jeden Tages mit der Arbeit an der äußeren Moräne. Sie leistete so viel Arbeit zur Tarnung, wie sie konnte, ehe es Zeit war für die Fahrt zu den äußeren Satelliten. Die Arbeit war diesmal interessant. Dazu gehörten auch lange Fahrten durch die Bergwerksstollen, um mineralische Adern und Bodenschätze in der alten Kratermoräne aufzuspüren. Die Breccienbildung durch den Aufprall hatte alle Arten nützlicher metamorpher Mineralien gebildet, und Treibhausgas enthaltende Gesteine waren überdies allgemein vertreten. Darum arbeitete die Kooperative an neuen Verfahren des Bergbaus und daran, Rohmaterialien für die Zeltstangen zu extrahieren. Man hoffte, vermarktbare Verbesserungen der Schürfmethoden zu entdecken, bei denen die Oberfläche ungestört bliebe, während der Regolith darunter intensiv abbaubar wäre. Die meiste Arbeit unter Tage war natürlich robotisch; aber es gab immer noch verschiedene Aufgaben, bei denen der Mensch unersetzbar war, wie es beim Bergbau immer sein wird.

Zo fand es sehr befriedigend, in der düsteren Welt unter dem Mars Höhlenforschung zu betreiben und ihre Tage in den Eingeweiden des Planeten zwischen den großen Steinplatten der Höhlen, deren enge rauhe schwarze Wände im Licht der starken Lampen von Kristallen blitzten, zu verbringen, Proben zu untersuchen und neu angelegte Gänge in einem Wald aus leblosen Magnesiumstempeln, die von den Schürfrobotern eingerammt worden waren, zu erkunden. Sie arbeitete wie ein Troglodyt auf der Suche nach kostbaren Schätzen, und stieg dann aus dem Aufzugwaggon und blinzelte benommen in das Sonnenlicht des späten Nachmittags. Die Luft war bronze-, lachsoder bernsteinfarben, wenn die Sonne wie ein alter Freund durch die purpurne Linie des Horizonts strahlte und sie wärmte, während sie mühsam die Moräne hinauf zum oberen Tor marschierte, wo der runde Wald von Moreux unter ihr lag, eine verlorene Welt, in der Jaguare und Geier hausten. Dann im Innern des Geflechts befand sich eine Seilbahn, die auf Drahtschleifen zur Siedlung führte. Aber Zo ging gewöhnlich statt dessen zum Torhaus, holte ihren Vogelanzug aus dem Schließfach, schlüpfte hinein, zog den Reißverschluß zu, lief auf eine Plattform hinaus, breitete ihre Schwingen aus und flog in sanften Spiralen zu der Stadt am Nordrand, um auf einer der Speiseterrassen zu dinieren und Papageien, Sittiche und Loris zu beobachten, die auf der Suche nach einer Mahlzeit umherschossen. Das war ein Arbeitsalltag, den Zo nicht übel fand, und sie schlief gut.

Eines Tages kam eine Gruppe von Atmosphäreningenieuren, um zu sehen, wieviel Luft in der mittäglichen Hitze des Sommers durch das Geflecht entwich. Unter den Leuten waren viele der Alten, mit den verdorbenen Augen und dem zerstreuten Benehmen des langgedienten Areologen. Einer dieser Issei war Sax Russell selbst, ein kleiner, kahler Mann mit einer krummen Nase und einer Haut, die so runzlig war wie die der Schildkröten, die auf dem Kraterboden herumkrochen. Zo starrte den alten Mann immer und immer wieder an, der eine der berühmtesten Persönlichkeiten in der Geschichte des Mars war. Es war bizarr, wenn eine solche Figur aus den Büchern sie begrüßte, so als ob George Washington oder Archimedes demnächst herbeigewackelt kämen, und die tote Hand der Vergangenheit, verblüfft durch alle die jüngsten Entwicklungen, noch unter ihnen lebte.

Russell wirkte gewiß verblüfft. Er machte während der ganzen Einführungssitzung ein erstauntes Gesicht, überließ die Fragen zur Atmosphäre seinen Kollegen und verbrachte die Zeit damit, auf den Wald unter der Stadt zu starren. Als jemand ihm beim Dinner Zo vorstellte, blinzelte er sie an mit der matten Schlauheit einer Schildkröte. »Ich habe einmal deine Mutter unterrichtet.«

»Ja«, sagte Zo.

»Würdest du mir den Kraterboden zeigen?« fragte er.

»Gewöhnlich fliege ich darüber«, erwiderte Zo überrascht.

»Ich hatte gehofft zu gehen«, sagte er und zwinkerte ihr zu.

Sein Erscheinen war so enorm, daß sie zusagte, ihm Gesellschaft zu leisten.


Sie gingen in der Kühle des Morgens los und folgten dem Schlagschatten unter dem Ostrand. Balsa- und Saalbäume wechselten sich über ihnen ab und bildeten einen hohen Baldachin, durch den Lemuren heulten und hüpften. Der alte Mann ging langsam dahin, schaute sich die sorglosen Geschöpfe im Wald an und redete nur selten, meistens um zu fragen, ob Zo die Namen der verschiedenen Farne und Bäume kannte. Alles, was sie identifizieren konnte, waren die Vögel. Sie gab fröhlich zu: »Die Namen von Pflanzen gehen durchs eine Ohr rein und durchs andere raus.«

Seine Stirn furchte sich dabei.

»Ich denke, das hilft mir, sie besser zu erkennen«, fügte sie hinzu.

»Tatsächlich.« Er schaute sich wieder um, als ob er es ausprobieren wollte. »Bedeutet das, du erkennst die Vögel nicht so gut wie die Pflanzen?«

»Sie sind anders. Sie sind meine Brüder und Schwestern und müssen Namen haben. Das gehört zu ihnen. Aber dieses Zeug« — sie zeigte auf das Laub um sie herum, riesige Farne unter dornigen blühenden Bäumen — »ist wirklich namenlos. Wir erfinden Namen; aber sie haben die nicht wirklich.«

Er dachte darüber nach.

»Wohin fliegst du?« fragte er nach einem Kilometer abwärts auf dem zugewachsenen Weg.

»Überall hin.«

»Hast du Lieblingsplätze?«

»Ich mag Echus Overlook.«

»Gute Aufwinde?«

»Sehr gute. Ich war dort, bis Jackie mich überfiel und an die Arbeit schickte.«

»Ist das nicht deine Arbeit?«

»O doch, gewiß. Aber meine Koop ist gut, um die Zeit herumzubringen.«

»Aha! Dann wirst du hier eine Weile bleiben?«

»Nur bis das galileische Shuttle startet.«

»Du willst also auswandern?«

»Keineswegs. Eine Reise, für Jackie. Diplomatische Mission.«

»Ah! Wirst du den Uranus aufsuchen?«

»Ja.«

»Ich würde gern Miranda sehen.«

»Ich auch. Das ist einer der Gründe für meine Reise.«

»Aha!«

Sie querten einen seichten Bach, indem sie auf freie flache Steine traten. Vögel sangen, Insekten schwirrten. Sonnenschein füllte jetzt die ganze Kraterschüssel, aber unter dem Baldachin des Waldes war es noch kühl. Die Luft war von parallelen Streifen schrägen gelben Lichts durchsetzt. Russell bückte sich, um in den Bach zu schauen, den sie überquert hatten.

»Wie war meine Mutter als Kind?« fragte Zo.

»Jackie?« Er dachte darüber nach. Es verging eine lange Zeit. Gerade, als Zo enttäuscht zu dem Schluß kam, daß er die Frage vergessen hätte, sagte er: »Sie war eine schnelle Läuferin. Sie stellte viele Fragen. Warum, warum, warum? Das gefiel mir. Ich denke, sie war die Älteste in dieser Generation von Exogenen. Auf jeden Fall die Anführerin.«

»War sie in Nirgal verliebt?«

»Ich weiß nicht. Wieso, ist dir Nirgal begegnet?«

»Ich glaube, ja. Einmal mit den Wilden. Was ist mit Peter Clayborne, war sie in ihn verliebt?«

»Verliebt? Vielleicht. Als wir älter waren. In Zygote — ich weiß nicht.«

»Du bist keine große Hilfe.«

»Allerdings.«

»Alles vergessen?«

»Nicht alles. Aber an was ich mich erinnere, ist schwer zu beschreiben. Ich entsinne mich, daß Jackie eines Tages nach John fragte, genau so, wie du dich nach ihr erkundigst. Mehr als einmal. Sie freute sich, seine Enkelin zu sein. War stolz auf ihn.«

»Das ist sie noch. Und ich bin stolz auf sie.«

»Und ich erinnere mich, daß sie einmal geweint hat.«

»Warum? Und sag nicht, ich weiß es nicht!«

Das machte ihn stutzig. Endlich schaute er zu ihr auf, mit einem fast menschlichen Lächeln. »Sie war traurig.«

»Oh, sehr gut!«

»Weil ihre Mutter fortgegangen war. Esther?«

»Richtig.«

»Kasei und Esther brachen auf; und Esther begab sich — wohin weiß ich nicht. Aber Kasei und Jackie blieben in Zygote. Und eines Tages ging sie an einem Tag, an dem ich unterrichtete, früh zur Schule. Sie fragte viel, warum. Und diesmal auch, aber wegen Kasei und Esther. Und dann weinte sie.«

»Was hast du zu ihr gesagt?«

»Ich weiß nicht... Ich glaube, nichts. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Hmm... Ich dachte, sie wäre vielleicht mit Esther mitgegangen. Die mütterliche Bindung ist ganz wesentlich.«

»Na, mach schon!«

»Stimmst du nicht zu? Ich dachte, ihr jungen Eingeborenen wäret alle Soziobiologen.«

»Was ist das?«

»Na — jemand, der glaubt, daß alle kulturellen Eigenschaften eine biologische Erklärung haben.«

»O nein. Natürlich nicht. Wir sind viel freier als so. Mutterschaft kann jede beliebige Sache sein. Manchmal sind Mütter nichts als Brutapparate.«

»Ich nehme an, daß... «

»Ich geb dir mein Wort darauf.«

»...Aber Jackie hat geweint.«

Sie stiegen schweigend weiter. Wie bei vielen großen Kratern stellte sich heraus, daß Moreux mehrere kleine Rinnsale besaß, die in einem zentralen Sumpf und Teich zusammenkamen. In diesem Falle war der Teich klein und nierenförmig. Er krümmte sich um die rohen niedrigen Buckel eines zentralen Seekomplexes. Zo und Russell kamen unter dem Dach des Waldes zu einem undeutlichen Pfad, der im tiefen Elefantengras verschwand. Sie hätten sich schnell verirrt ohne den Fluß, der in U-förmigen Schleifen durch eine Wiese und dann den morastigen Teich floß. Selbst die Wiese war von Elefantengras beherrscht, von dem ihnen große kreisförmige Klumpen bis über den Kopf reichten, so daß sie oft nichts als Gras und Himmel sehen konnten. Die langen Halme schimmerten unter dem violetten mittäglichen Zenit. Russell stapfte hinter Zo her. Die runden Brillengläser in seinem Gesicht spiegelten die Grasbüschel, während er sich alles ansah. Er schien von der Umgebung höchst fasziniert zu sein und sprach leise in ein altes Armbandgerät, das wie eine Fessel an seinem Handgelenk hing.

Eine letzte Kurve in den Teich hinein hatte einen schönen Strand mit Sand und Kies geschaffen. Und nachdem sie mit einem Stock an der Wasserlinie eine Treibsandprobe gemacht hatte, zog Zo ihren verschwitzten Einteiler aus und ging ins Wasser, das einige Meter vom Ufer entfernt angenehm und kühl war. Sie tauchte, schwamm eine Runde und fand mit dem Kopf den Grund. Über einer tieferen Stelle stand ein Felsblock. Sie kletterte hinauf und tauchte dreioder viermal, immer mit einem Salto vorwärts ins Wasser. Dieser Salto, der in der Luft schwierig und ungraziös war, erzeugte in ihrer Magengrube einen leichten Ruck gewichtslosen Vergnügens, ein Gefühl, das einem Orgasmus so nahe kam wie jeder Nichtorgasmus, den sie je erlebt hatte. Also tauchte sie mehrere Male, bis die Sensation abklang und ihr kalt wurde. Dann ging sie aus dem Teich heraus und legte sich auf den Sand mit der Empfindung, daß dessen Wärme und die Sonnenstrahlung sie von beiden Seiten kochten. Ein echter Orgasmus wäre perfekt gewesen; aber obwohl sie wie in einem Sex-Album vor ihm hingespreizt lag, saß Russell mit gekreuzten Beinen im seichten Wasser, offenbar vom Schlamm fasziniert, selbst nackt bis auf Sonnenbrille und Armbandgerät. Ein kleiner, kahlköpfiger und runzliger Primat, wie ihr Bild von Gandhi oder Homo habilis. Es war sogar ein bißchen sexy, anders wie er war, so alt und klein, wie das Männchen einer Schildkrötenart ohne Panzer. Sie zog das Knie zur Seite und hob ihr Hinterteil zu einer unmißverständlichen Präsentationspose. Die Sonne schien heiß auf ihre dargebotene Vulva.

»Was für ein erstaunlicher Schlamm!« sagte er und starrte auf den Kloß in seiner Hand. »Ich habe nie so etwas gesehen wie dieses Biom.«

»Nein?«

»Gefällt es dir?«

»Dieses Biom? Das nehme ich an. Es ist etwas heiß und überwuchert, aber interessant. Es verändert sich.«

»Also hast du nichts dagegen. Du bist keine Rote.«

»Eine Rote?« Sie lachte. »Nein, ich bin eine Liberale.«

Er dachte darüber nach. »Willst du sagen, daß Grüne und Rote nicht mehr eine zeitgenössische politische Teilung darstellen?«

Sie zeigte auf das Elefantengras und die Bäume hinter der Wiese. »Wie könnten sie das sein?«

»Sehr interessant.« Er räusperte sich. »Wenn du zum Uranus gehst, wirst du eine Freundin von mir einladen?«

»Vielleicht«, sagte Zo und schob ihre Hüften etwas zurück.

Er verstand den Hinweis, strich ihr über den Schenkel und massierte ihn. Es fühlte sich auf ihrer Haut an wie die kleinen Pfoten eines Affen, geschickt und wissend. Er konnte seine ganze Hand in ihrem Schamhaar verstecken, was ihm zu gefallen schien; denn er wiederholte es mehrfach und bekam eine Erektion, die sie steif hielt, als sie kam. Das war natürlich nicht wie jene Orgie auf dem Tisch, aber jeder Orgasmus war etwas Herrliches, besonders draußen im heißen Schauer der Sonnenstrahlen. Und obwohl er gründlich mit ihr umging, zeigte er nichts von dem Schmachten nach gleichzeitiger Zuneigung, das so viele alte Leute hatten, eine Sentimentalität, die bei den viel stärkeren Genüssen störte, die jeweils eine Person bewirken konnte. Als ihr Zittern aufgehört hatte, rollte sie auf die Seite und umschloß sein Glied mit den Lippen. Sie konnte ihre Zunge wie um einen kleinen Finger ganz herumwickeln, während sie ihm gleichzeitig einen verlockenden Anblick ihres Körpers bot. Sie hielt einmal inne, um selbst ihre üppigen straffen Kurven zu betrachten, und sah, daß der Bogen ihrer Hüften fast so hoch reichte wie seine Schultern. Dann wieder zur Sache — Vagina dentata. Wie absurd waren doch diese fürchterlichen patriarchalischen Mythen! Zähne waren gänzlich überflüssig. Brauchte ein Python Zähne? Man packe nur diese armen Kreaturen am Glied und drücke zu, bis sie wimmern. Was wollten sie denn machen? Sie könnten versuchen, sich aus dem Griff zu befreien, aber zugleich war es die Stelle, wo es ihnen am meisten guttat, so daß sie sich in der zwiespältigen Situation befanden, sich dieser doppelten Bindung zu verweigern oder sich dem Risiko der Zähne auszusetzen und jede Chance zu ergreifen, die sich ihnen bot. Sie knabberte an ihm, um ihn an seine Situation zu erinnern. Dann ließ sie ihn kommen. Männer hatten so ein Glück, daß sie nicht telepathisch waren.

Danach stiegen sie noch einmal in den Teich; und wieder auf dem Sand, holte er einen Brotlaib aus seinem Tragbeutel. Sie brachen das Brot in zwei Teile und aßen.

»Hast du vorhin geschnurrt?« fragte er beim Schlucken.

»Mm-hmm.«

»Hast du diese Eigenschaft einfügen lassen?«

Sie nickte und schluckte. »Beim letzten Mal, als ich die Behandlung bekam.«

»Die Gene stammen von Katzen?«

»Von Tigern.«

»Aha!«

»Es läuft auf eine geringfügige Veränderung in der Kehle und den Stimmbändern hinaus. Du solltest es probieren. Es ist wirklich ein gutes Gefühl.«

Er blinzelte, ohne zu antworten.

»Wer ist nun diese Freundin, die ich zum Uranus mitnehmen soll?«

»Ann Clayborne.«

»Ah! Deine alte Nemesis.«

»So ungefähr.«

»Wie kommst du darauf, daß sie gehen würde?«

»Es könnte sein, daß sie nicht will. Aber vielleicht doch. Michel sagt, daß sie manche neuen Sachen ausprobiert. Und ich denke, daß Miranda sie interessieren würde. Ein Mond, der bei einem Meteoriteneinschlag auseinandergebrochen und dann wieder zusammengewachsen ist, Mond und Stoßkörper in einem. Das ist ein Bild, das ich... das sie bestimmt gern sehen würde. Alles aus Fels, weißt du. Sie schwärmt für Felsen.«

»Das habe ich gehört.«

Russell und Clayborne, die Grünen und die Roten... zwei der berühmtesten Gegner in der ganzen melodramatischen Saga der ersten Jahre der Besiedlung. Jene ersten Jahre: eine so klaustrophobe Situation, daß es Zo schauderte, daran zu denken. Das Erlebnis hatte sicher die Geister all derer, die es durchlitten hatten, zermürbt. Und dann hatte Russell einen noch beachtlicheren Schaden erlitten, wie sie sich entsann. Es war schwer, sich zu erinnern. Alle die Geschichten über die Ersten Hundert schienen vor ihr zu verschwimmen. Der Große Sturm, die verlorene Kolonie, Mayas Intrigen; all die Streitereien, Affären, Morde, Rebellionen und so weiter, mit kaum einem Moment der Freude an der ganzen Sache, soweit sie sagen konnte. Als ob die Alten anaerobe Bakterien gewesen waren, die in Gift gelebt und langsam die notwendigen Bedingungen für das Aufkommen eines Lebens auf Sauerstoffbasis ausgeschieden hatten.

Vielleicht mit Ausnahme von Ann Clayborne, die, den Geschichten nach zu urteilen, es verstanden hatte, daß man in einer steinernen Welt Freude empfinden konnte, daß man nur den Felsen lieben mußte. Zo gefiel diese Haltung, und so sagte sie: »Sicher, ich werde sie fragen. Oder du solltest das tun, nicht wahr? Du fragst sie; und ich sage, daß ich einverstanden bin. Wir können in der diplomatischen Gruppe Platz schaffen.«

»Ist es eine Gruppe des Freien Mars?«

»Ja.«

»Hmm.«

Er stellte ihr Fragen nach Jackies politischen Ambitionen, und sie antwortete, wenn sie konnte. Dabei schaute sie auf ihren Körper hinunter und seine Kurven, die harten Muskeln, die durch das Fett unter der Haut geglättet waren, die Hüftknochen an der Seite von Bauch und Nabel, drahtiges schwarzes Schamhaar (sie wischte Brotkrumen heraus) und lange, kräftige Schenkel. Die weiblichen Körper waren viel schöner proportioniert als die männlichen. Michelangelo hatte sich darin geirrt, obwohl sein David entschieden für ihn sprach — der Körper eines Fliegers, wenn es jemals einen gegeben hatte.

»Ich wünschte, wir könnten zum Rand hinauf zurückfliegen«, sagte sie.

»Ich weiß nicht, wie man die Vogelanzüge bedient.«

»Ich könnte dich auf meinem Rücken tragen.«

»Wirklich?«

Sie sah ihn an. Dreißig oder fünfunddreißig Kilo mehr... »Sicher. Das käme auf den Anzug an.«

»Es ist erstaunlich, was diese Anzüge leisten können.«

»Es sind nicht bloß die Anzüge.«

»Nein. Aber wir wurden nicht zum Fliegen geschaffen. Schwere Knochen und das alles. Du weißt schon.«

»Gewiß. Natürlich sind die Anzüge notwendig. Aber doch nicht ausreichend.«

»Allerdings.« Er sah ihren Körper an. »Es ist interessant, wie groß die Leute werden.«

»Besonders die Genitalien.«

»Meinst du?«

Sie lachte. »Bloß ein Witz.«

»Ah!«

»Aber man könnte doch meinen, daß die Teile wachsen würden, die uns vergrößert haben, he?«

»Ja. Wie ich sehe, ist das Volumen der Brustkästen größer geworden.«

Sie lachte wieder. »Die dünne Luft, nicht wahr?«

»Vermutlich. In den Anden stimmt das auf jeden Fall. Die Distanzen vom Rückgrat zum Brustbein sind bei den Eingeborenen der Anden doppelt so groß wie bei Menschen, die auf Meereshöhe leben.«

»Tatsächlich! Wie die Brustkapazität der Vögel, nicht wahr?«

»Das nehme ich an.«

»Wenn du dann große Brustmukeln hinzufügst und große Brüste... «

Er antwortete nicht.

»Also entwickeln wir uns langsam in Vögel.«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist phänotypisch. Wenn du deine Kinder auf der Erde aufzögest, würden ihre Brustkästen wieder schrumpfen.«

»Ich weiß nicht, ob ich Kinder haben werde.«

»Ah! Wegen des Bevölkerungsproblems?«

»Ja. Wir müssen abwarten, bis ihr Issei gestorben seid. Selbst all diese neuen kleinen Welten helfen nicht viel. Erde und Mars werden beide zu Ameisenhaufen. Ihr habt uns wirklich unserer Welt beraubt. Ihr seid Kleptoparasiten.«

»Das klingt übertrieben.«

»Nein, das ist ein realer Fachausdruck für Tiere, die in außergewöhnlich harten Wintern Nahrung von ihren Jungen stehlen.«

»Sehr passend.«

»Wir sollten wohl euch alle töten, wenn ihr hundert Jahre alt werdet.«

»Oder sobald wir Kinder kriegen.«

Sie grinste. Er war so unerschütterlich! »Was auch immer zuerst kommt.«

Er nickte, als wäre das ein vernünftiger Vorschlag. Sie lachte, obwohl es auch ärgerlich war. »Natürlich wird das nie geschehen.«

»Nein. Aber es wird auch nicht notwendig sein.«

»Nicht? Wollt ihr es wie die Lemminge machen und von den Klippen springen?«

»Nein. Es kommen Krankheiten auf, gegen die es keine Behandlung gibt. Ältere Leute sterben. So muß es sein.«

»Wirklich?«

»Ich denke, ja.«

»Meinst du nicht, daß man neue Wege finden wird, um diese neuen Krankheiten zu besiegen und die Dinge weiter ihren Gang gehen zu lassen?«

»In einigen Fällen. Aber Greisentum ist komplex; und früher oder später...« Er zuckte die Achseln.

»Das ist ein schlimmer Gedanke«, erwiderte Zo.

Sie stand auf und zog sich den getrockneten Stoff ihres Einteilers über die Beine. Auch er stand auf und zog sich an.

»Bist du jemals Bao Shuyo begegnet?« fragte er.

»Nein. Wer ist sie?«

»Eine Mathematikerin. Sie wohnt in Da Vinci.«

»Nein. Warum fragst du?«

»Bloß aus Neugier.«

Sie stiegen durch den Wald auf und blieben ab und zu stehen, um einem rasch davonhuschenden Tier nachzuschauen. Ein großes Jungtier, das wie eine einsame Hyäne aussah, blickte aus einer Mulde auf sie herunter... Zo stellte fest, daß sie vergnügt war. Dieser Issei war nicht zu verärgern und durch nichts zu erschüttern, und seine Ansichten waren unvorhersehbar, was bei den Alten ein ungewöhnlicher Zug war — bei ihnen allen. Die meisten alten Leute, die Zo kennengelernt hatte, schienen fest in der engen Raumzeit ihrer Werte gefangen zu sein. Und da das Maß, in dem die Menschen nach ihren Werten lebten, im umgekehrten Verhältnis zu dem standen, wie sie darin gebunden waren, waren die alten Männer als Tartüffs geendet, als Heuchler, denen gegenüber sie keine Geduld aufbrachte. Sie verachtete die Alten und ihre kostbaren Werte. Aber dieser hier schien keine zu besitzen. Darum hätte sie gerne länger mit ihm geplaudert.

Als sie ins Dorf zurückkamen, tätschelte sie ihm den Kopf. »Das war ein Vergnügen. Ich werde mit deiner Freundin reden.«

»Danke!«

Ein paar Tage später rief sie Ann Clayborne an. Das auf dem Schirm erscheinende Gesicht war so abschreckend wie ein Schädel.

»Hallo, ich bin Zoya Boone.«

»Ja?«

»Das ist mein Name. So pflege ich mich Fremden vorzustellen«, sagte Zo.

»Boone?«

»Jackies Tochter.«

»Ah.«

Es war deutlich, daß sie Jackie nicht mochte. Eine äußerst gewöhnliche Reaktion. Jackie war so wunderbar, daß eine Menge Leute sie haßten.

»Ich bin auch mit Sax Russell befreundet.«

»Ah.«

Unmöglich zu verstehen, was sie damit meinte.

»Ich habe ihm gesagt, daß ich eine Reise zum Uranus-System vorhabe; und er sagte, du könntest daran interessiert sein, mitzukommen.«

»Hat er das gesagt?«

»Allerdings. Darum rufe ich an. Ich gehe zum Jupiter und dann zum Uranus, mit zwei Wochen auf Miranda.«

»Miranda! Wer bist du gleich wieder?« sagte sie.

»Ich bin Zo Boone! Was ist mit dir los? Bist du senil?«

»Miranda, sagtest du?«

»Ja. Zwei Wochen. Vielleicht mehr, wenn es mir gefällt.«

»Wenn es dir gefällt?«

»Ja. Ich bleibe nicht an Orten, die ich nicht mag.«

Clayborne nickte, als ob das nur zu verständlich wäre. Darum fuhr Zo wie zu einem Kind fort: »Dort gibt es eine Menge Steine.«

»Ja,ja.«

Eine lange Pause. Zo studierte das Gesicht auf dem Schirm. Hager und runzlig wie das Russells, nur verliefen bei ihr fast alle Falten vertikal. Ein Gesicht, wie aus Holz geschnitzt. Endlich sagte sie: »Ich werde darüber nachdenken.«

»Man erwartet, daß du neue Dinge versuchst«, erinnerte Zo sie.

»Was?«

»Du hast mich gehört.«

»Hat Sax dir das gesagt?«

»Nein. Ich habe Jackie nach dir gefragt.«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie noch einmal und trennte die Verbindung.

Nadja, dachte Zo. Was soll’s. Immerhin hatte sie es versucht und fühlte sich deshalb anständig. Eine unangenehme Situation. Diese Issei hatten eine Art, jemanden in ihre Realitäten zu zerren, als wären sie alle verrückt.

Und auch unberechenbar. Am nächsten Tag rief Clayborne zurück und sagte, sie käme mit.


Clayborne erwies sich in persona wirklich als ebenso verwittert und von der Sonne ausgedörrt wie Russell, aber noch schweigsamer und seltsamer — reizbar, lakonisch und zu kurzen Ausbrüchen schlechter Stimmung neigend. Sie erschien in letzter Minute mit einem einzigen Rucksack und einem glatten schwarzen Handgelenkgerät, einem der neuesten Modelle.

Ihre Haut war nußbraun und von Grützbeuteln, Warzen und Narben gezeichnet, wo man Hautfehler entfernt hatte. Ein langes, im Freien verbrachtes Leben, und noch dazu in den frühen Jahren, wo das UV-Bombardement heftig gewesen war. Kurzum — sie war geröstet. Ein Bratkopf, wie man in Echus sagte. Ihre Augen waren grau, der Mund ein Eidechsenschlitz und die Falten vom Mund zu den Nasenlöchern wie tief gehackte Spalten. Nichts konnte strenger sein als dieses Gesicht.

Während der Woche der Fahrt zum Jupiter verbrachte sie die meiste Zeit in dem kleinen Park des Schiffs und wandelte zwischen den Bäumen. Zo bevorzugte den Speisesaal oder die große Aussichtsblase, wo sich während der Abendwache eine kleine Gruppe zusammenfand, um Pandorphtabletten zu schlucken oder Go zu spielen oder Opium zu rauchen und die Sterne zu betrachten. Darum sah sie bei der Ausreise Ann nur selten.

Sie schössen über den Asteroidengürtel, etwas außerhalb der Ebene der Ekliptik und sicher über einige der ausgehöhlten kleinen Welten hinweg, obwohl das schwer zu sagen war. Innerhalb der Steinkartoffeln, die die Schirme des Schiffs zeigten, könnten sich rohe Schalen wie ausgeraubte Minen befinden, oder Städte in schönen Landschaften; anarchistische oder gefährliche Gesellschaften, oder Ansiedlungen religiöser Gruppen oder nur mühsam zu befriedender utopischer Kollektive. Die Existenz einer solchen Vielfalt von Systemen, die in semi-anarchischem Zustand lebten, ließ Zo daran zweifeln, ob die Organisierung der äußeren Satelliten unter einem Schirm des Mars jemals gelingen würde. Sie hatte den Eindruck, daß der Asteroidengürtel als ein Modell für das dienen würde, was aus der politischen Organisation des ganzen Sonnensystems werden könnte.

Aber Jackie war anderer Ansicht. Sie sagte, der Asteroidengürtel würde das bleiben, was er war, wegen seiner besonderen Natur verstreut in einem breiten Band rings um die Sonne. Die äußeren Satelliten hingegen waren in Gruppen um ihre Gasriesen geballt und würden deshalb sicher Ligen bilden. Und sie waren große Welten im Vergleich mit den Asteroiden, so daß es schließlich einen Unterschied machen würde, mit wem im inneren System sie sich verbündeten.

Zo war davon nicht überzeugt. Aber die Abbremsung führte sie in das Jupitersystem, wo sie eine Chance bekommen sollte, Jackies Theorien zu überprüfen. Das Schiff fuhr in einer sich verengenden Kurve zwischen den galileischen Monden hindurch, um noch langsamer zu werden, wobei sie die vier großen Monde aus der Nähe betrachten konnten. Für alle vier gab es ehrgeizige Pläne für ein Terraformen, dessen Realisierung bereits begonnen hatte. Die äußeren drei — Callisto, Ganymed und Europa — hatten ähnliche Ausgangsbedingungen, ein Umstand, dem man Rechnung tragen mußte. Sie waren alle mit Schichten aus Wasser-Eis bedeckt; Callisto und Ganymed bis in tausend Kilometer Tiefe, Europa hundert Kilometer tief. Wasser war im äußeren Sonnensystem nicht selten, aber auch keineswegs überall vorhanden.

Darum hatten diese Welten etwas zu verkaufen. Alle drei Monde hatten große Mengen an Gestein, das über ihre eisigen Oberflächen verstreut war; größtenteils Reste von Meteortreffern — aus chondritischem Schutt, einem sehr nützlichen Baumaterial. Die Siedler auf den drei Monden hatten bei ihrer Ankunft vor dreißig m-Jahren die Chondrite ausgeschmolzen und Kuppelgerüste aus karbonischen Nano-Rohren hergestellt, ähnlich den im Raumaufzug des Mars verwendeten, und damit Flächen von zwanzig oder fünfzig Kilometern Durchmesser mit vielschichtigen Folien überdacht. Unter ihren Kuppeln hatten sie zerstampftes Gestein verteilt, um eine dünne Bodenschicht zu schaffen. Den Permafrost hatten sie aufgeschmolzen, wodurch von Eis umgebene Seen entstanden waren.

Auf Callisto wurde die auf diese Weise geschaffene Kuppelstadt Genfer See genannt. Dort sollte die Delegation vom Mars mit den verschiedenen Leitern und politischen Gruppen der Jupiterliga zusammenkommen. Wie gewöhnlich begleitete Zo die Delegation als untergeordnete Funktionärin und Beobachterin und sah sich nach Gelegenheiten um, die Botschaften Jackies Leuten zu überbringen, die in aller Diskretion etwas damit anfangen könnten.

Dieses Treffen war Teil einer zweimal jährlich stattfindenden Versammlung, in der die Terraformung der galileischen Monde erörtert wurde, und war daher eine gute Gelegenheit, um Jackies Ideen unter die Leute zu bringen. Zo saß hinten im Raum dicht bei Ann, die sich entschlossen hatte, an dem Treffen teilzunehmen. Die technischen Probleme des Terraformens dieser Monde waren groß im Maßstab, aber einfach in der Konzeption. Callisto, Ganymed und Europa wurden, wenigstens zu Anfang, in der gleichen Weise behandelt: Mobile Fusionsreaktoren krochen über ihre Oberflächen, erwärmten das Eis und pumpten Gase in die entstehenden Atmosphären aus Wasserstoff und Sauerstoff. Man hoffte, schließlich Äquatorgürtel zu schaffen, wo gesammeltes Gestein zermalmt wurde, um über dem Eis Boden zu gewinnen. Die atmosphärischen Temperaturen würden dann in Nähe des Gefrierpunkts gehalten, so daß Tundra-Ökologien eingerichtet werden könnten. Rund um den Äquator sollten Streifen von Seen entstehen, sowie atembare Atmosphären aus Sauerstoff und Wasserstoff.

Io, der innerste galileische Mond, war schwieriger, aber verlockend. Sogenannte Railguns, Beschleuniger nach dem Prinzip der Magnetschwebebahn, schleuderten von den großen Monden Ladungen von Eis und Chaldaten auf ihn hinunter. Wegen seiner Nähe zu Jupiter hatte er nur sehr wenig Wasser. Seine Oberfläche bestand aus vermischten Schichten von Basalt und Schwefel. Der Schwefel wurde in eindrucksvollen vulkanischen Wolkengebilden aus der Oberfläche gepreßt, angetrieben durch die Gezeitenwirkungen von Jupiter und den anderen Galileern. Der Plan für das Terraformen von Io war längerfristig als die meisten anderen und sollte zum Teil durch Einspritzung Schwefel fressender Bakterien in die heißen Schwefelquellen bei den Vulkanen angetrieben werden.

All diese vier Projekte wurden durch den Mangel an Licht verzögert; und enorm große Raumspiegel waren an den Lagrangepunkten Jupiters im Bau, wo die Komplikationen durch die Schwerefelder des Jupiters reduziert waren. Sonnenlicht würde von diesen Spiegeln auf die Äquatorzonen der vier Galileer gerichtet werden. Alle vier Monde waren in Gezeitenkopplung mit Jupiter, so daß ihre Sonnentage von der Länge ihrer Umlaufperioden um den Jupiter abhingen, die von 42 Stunden für Io bis zu 15 Tagen für Callisto reichten. Und ohne Rücksicht auf die Länge ihrer Tage erhielten sie nur vier Prozent von dem Sonnenlicht, das der Erde zur Verfügung stand. Aber in Wahrheit war der auf die Erde treffende Betrag des Sonnenlichts erstaunlich üppig, so daß vier Prozent noch eine Menge Licht bedeuteten, wenn es auf die Beleuchtungsstärke ankam: tausendmal so viel wie der Vollmond für die Erde — aber eben nicht viel Wärme, wenn man terraformen wollte. Darum schnorrten sie Licht auf jede nur mögliche Weise. Der Genfer See und alle Siedlungen auf den anderen Monden waren so plaziert, daß sie dem Jupiter zugewandt waren, um von dem Sonnenlicht zu profitieren, das von dem riesigen Globus am Himmel reflektiert wurde. Und fliegende ›Gaslaternen‹ waren in die obere Atmosphäre des Jupiters hinabgelassen worden, die bündelweise etwas vom Heliurri3 des Planeten in Lichtpunkten verbrannten, die so hell waren, daß man sie nicht länger als eine Sekunde anschauen konnte. Die Fusionsbrenner waren vor elektromagnetisch reflektierenden Schüsseln aufgehängt, die alles Licht in die Ebene der Ekliptik des Planeten abstrahlten. Damit war die monströse Kugel mit ihren Bändern jetzt durch die schmerzhaft hellen Diamantpunkte von mehr als zwanzig Gaslaternen, die über sein Gesicht wanderten, ein noch schmerzhafterer Anblick geworden.

Der Raumspiegel und die Gaslaternen zusammen würden den Siedlungen immer noch weniger als halb so viel Sonnenlicht spenden, wie es der Mars bekam, aber es war das beste, was sie tun konnten. So war das Leben im äußeren Sonnensystem alles in allem ein recht düsteres Geschäft, fand Zo. Schon das Sammeln von so viel Licht erforderte eine komplexe Infrastruktur. Und hier trat nun die Delegation vom Mars auf den Plan. Jackie hatte ein großes Hilfsangebot arrangiert, das mehr Fusionsungeheuer, mehr Gaslaternen und auch die Erfahrung des Mars bei Raumspiegeln und Terraformtechnik allgemein beinhaltete. Mit von der Partie war eine Assoziation von Koops für Luft- und Raumfahrt, die daran interessiert waren, jetzt, da sich die Lage im Mars-Raum weithin stabilisiert hatte, neue Aufträge zu bekommen. Sie würden Kapital und Knowhow im Austausch für günstige Handelsabkommen, Lieferungen von Helium3 aus der Hochatmosphäre des Jupiters und der Möglichkeit von Expeditionen und Schürfungen beisteuern. Möglicherweise würden sich sogar gemeinsame Bemühungen um das Terraformen der Jupiter-Brut — insgesamt 18 kleinere Monde — ergeben.

Investiertes Kapital, Knowhow, Handel — das war die Rübe für den Esel, und zwar eine große. Gewiß würden die Fühler zu einer Assoziation mit dem Mars ausgestreckt sein, und Jackie könnte dann mit allerhand politischen Weiterungen folgen und die Jupiterleute in ihr Netz ziehen. Diese Eventualität war denen aber so klar wie jedem anderen, und sie taten, was sie konnten, um das zu bekommen, was sie wollten, ohne zuviel Gegenleistung erbringen zu müssen. Ohne Zweifel würden sie die Marsianer mit ähnlichen Gegenangeboten seitens der terranischen Exmetas und anderer Organisationen ausspielen.

Hier trat nun Zo auf den Plan. Sie war der Stock. Öffentliche Rübe an einem privaten Stock, das war Jackies Methode in allen Phasen des Lebens.

Zo enthüllte Jackies Drohungen in winzigen indirekten Andeutungen, um sie noch drohender zu machen. Kurze Begegnungen mit den Offiziellen von Io: der ökopoetische Plan greife, wie Zo beiläufig ihnen gegenüber bemerkte, viel zu langsam. Es würde Jahrtausende dauern, bis ihre Bakterien den Schwefel in nützliche Gase verdaut hätten; und inzwischen würde das Strahlungsfeld des Jupiter, das Io einhüllte und ihre Probleme noch verschärfte, die Bakterien bis zur Unkenntlichkeit verändern. Sie brauchten eine Ionosphäre, sie brauchten Wasser; es war möglich, daß sie sogar daran denken mußten, den Mond in eine höhere Umlaufbahn ihres großen Gasgottes zu liften. Mars, Heimat terraformenden Knowhows und der gesündesten, reichsten Zivilisation im Sonnensystem, konnte mit all dem helfen und spezielle Unterstützung gewähren. Oder sogar mit den Bewohnern der anderen galileischen Monde darüber verhandeln, das Projekt zu übernehmen, um es zu beschleunigen.

Danach gab es gelegentliche Besprechungen mit verschiedenen Autoritäten der Eis-Galileer. Bei Cocktailparties nach den Workshops, nach den Parties in Bars, bei gemeinsamen Spaziergängen längs der Seepromenade der Stadt, unter den an den Trägern der Kuppel hängenden Straßenlampen. Die Delegierten von Io, so erzählte sie diesen Leuten, hätten vor, einen besonderen Handel für sich abzuschließen. Sie hatten die stärkste Position inne, wenn alles gesagt und getan war. Festen Boden, auf dem man stehen kann, Wärme, Schwermetalle und ein großes Touristenpotential. Zo wagte die Behauptung, daß sie bereit zu sein schienen, diese Vorteile für sich auszunutzen und die Jupiterliga zu spalten.

Ann begleitete Zo und die anderen bei einem dieser Spaziergänge, und Zo ließ sie einige dieser Unterredungen mitanhören, gespannt zu sehen, was sie daraus würde machen können. Sie folgte ihnen zur Wasserpromenade hinunter, die sich auf dem tiefen Rande des Meteoritenkraters befand, den sie mit dem See gefüllt hatten. Die Geröllkrater hier übertrafen jeden ähnlichen auf dem Mars bei weitem. Der vereiste Rand hier war nur wenige Meter höher als die durchschnittliche Oberfläche des Mondes und bildete einen runden Damm, von dem aus man über das Wasser des Sees, zurück auf die grasbewachsenen Straßen der Stadt, oder über die Straßen hinaus auf die mit Schotter bedeckte Eisfläche blicken konnte, die sich deutlich dem nahen Horizont entgegen krümmte. Die extrem flache Landschaft außerhalb der Kuppel gab einen Hinweis auf ihre Natur: ein Gletscher, der eine ganze Welt bedeckte, tausend Kilometer tiefes Eis, das jeden Meteoritenaufprall und Gezeitenbruch verdaut hatte und rasch wieder zur Ebene zerflossen war.

Auf der Oberfläche des Sees bildeten kleine schwarze Wellen Interferenzmuster. Die Wasserfläche war weiß wie der Boden des Sees und gelblich getönt durch den großen Ball des Jupiter, der bucklig über ihren Köpfen hing. Alle seine Ringe in milchigem Gelb und Orange wirbelten sichtlich an ihren Rändern und um die nadelstichgroßen Laternen herum.

Die kleine Gruppe kam an einer Reihe hölzerner Gebäude vorbei, deren Holz von den bewaldeten Inseln, die wie Flöße auf der anderen Seite des Sees schwammen, stammte. Straßengras schimmerte grünlich, und Gärten wuchsen in übergroßen Pflanzkästen hinter den Gebäuden unter langen hellen Leuchtstoffröhren. Zo zeigte ihren Begleitern auf dem Spaziergang, verwirrten Funktionären von Ganymed, etwas von dem Stock mit der Rübe. Sie erinnerte sie an die militärische Macht des Mars und erwähnte wieder, daß Io einen Abfall von ihrer Liga in Erwägung ziehe.

Die Ganymedleute gingen mit mißmutigen Gesichtern zum Essen fort. »Ganz schön raffiniert«, bemerkte Ann, als sie außer Hörweite waren.

»Jetzt sind wir sarkastisch«, erwiderte Zo.

»Du bist ein Schurke. Hör auf damit!«

»Ich werde mich in die Rote Schule für diplomatische Feinheiten einschreiben. Vielleicht arrangieren, daß Assistenten mit mir kommen und etwas von deren Besitz in die Luft jagen.«

Ann zischte etwas zwischen den Zähnen. Sie ging weiter auf der Promenade, und Zo hielt mit ihr Schritt.

»Seltsam, daß der Große Rote Fleck verschwunden ist«, bemerkte Zo, als sie auf einer Brücke einen Kanal mit weißem Boden überquerten. »Wie ein Omen. Ich warte ständig, daß er wieder auftaucht.«

Die Luft war kühl und feucht. Die Leute, an denen sie vorbeikamen, waren meistens terranischer Herkunft, ein Teil der Diaspora. Einige Flieger zogen lässige Spiralen oben unterm Gestänge der Kuppel. Zo beobachtete, wie sie über das Antlitz des großen Planeten schwebten. Ann blieb oft stehen, um abgehauene Steinflächen zu untersuchen. Sie ignorierte die Stadt auf dem Eis und ihre vielen Menschen mit ihrer zehenspitzigen Grazie und der Regenbogenkleidung, wie eine Schar junger Eingeborener, windhundartig. Zo sagte, halb bewundernd, halb gereizt: »Du interessierst dich wirklich mehr für Steine als für Menschen.«

Ann schaute sie mit dem Blick eines Basilisken an. Aber Zo zuckte nur die Achseln, nahm sie beim Arm und zog sie mit sich. »Die jungen Eingeborenen hier sind weniger als fünfzehn m-Jahre alt, sie haben ihr ganzes Leben bei einem Zehntel Ge verbracht und kümmern sich nicht um die Erde oder den Mars. Sie glauben an die Jupitermonde, an das Wasser, ans Schwimmen und ans Fliegen. Die meisten haben ihre Augen dem schwachen Licht anpassen lassen. Manche von ihnen lassen sich Kiemen wachsen. Sie planen, diese Monde so zu terraformen, daß es ihnen fünftausend Jahre bringt. Sie sind der nächste Schritt in der Evolution, um Ka’s willen; und du stehst hier und starrst auf Steine, die genau die selben Steine sind wie überall anderswo in dieser Galaxis. Du bist wirklich so verrückt, wie man sich erzählt.«

Das prallte von Ann ab wie ein hingeworfener Kieselstein. »Du sagst dasselbe wie ich, als ich versuchte, Nadia von Underhill weg zu bekommen«, erwiderte sie.

Zo zuckte die Achseln und sagte: »Komm schon, ich habe noch ein Treffen.«

»Die Arbeit der Mafia hört nie auf. So ist das.« Aber sie kam mit und schaute sich um wie ein runzliger Hoffnarr, zwergenhaft und komisch gekleidet in ihrem altmodischen Jumper.

Einige Mitglieder des Rates von Genfer See begrüßten sie, etwas nervös, bei den Docks. Sie bestiegen eine kleine Fähre, die sich den Weg durch eine Flotte kleinerer Segelboote bahnte. Draußen auf dem See war es windig. Sie knatterten zu einer der Waldinseln. Große Exemplare von Balsa und Teak standen über der sumpfigen Matte auf dem geheizten Boden der Insel, an deren Ufer Holzarbeiter an einer kleinen Sägemaschine beschäftigt waren. Die Maschine war schallgedämpft, aber ein Winseln der Sägeblätter begleitete die Unterhaltung trotzdem. Wenn man auf dem See eines Jupitermondes schwamm, wurden alle Farben durch das Grau der weit entfernten Sonne beeinträchtigt. Zo fühlte mit der Begeisterung des Fliegers und sagte zu den Einheimischen: »Das ist so schön. Ich kann verstehen, warum es in Europa Leute gibt, die davon sprechen, ihre ganze Welt zu einer Wasserwelt zu machen, in der man rings herum segeln kann. Sie würden sogar Wasser zur Venus schaffen, um an festes Land für Inseln heranzukommen. Ich weiß nicht, ob sie das euch gegenüber erwähnt haben. Vielleicht ist es bloß ein Gerede wie die Idee, von der ich gehört habe, daß man ein kleines Schwarzes Loch erzeugen und in die obere Atmosphäre Jupiters absenken will. Den Jupiter zum Stern machen! Dann hättet ihr alles Licht, das ihr benötigt.«

»Würde Jupiter dabei nicht aufgezehrt werden?« fragte ein Einheimischer.

»Nun, das würde sehr lange dauern. Man sprach von Jahrmillionen.«

»Und dann gäbe es eine Nova«, erklärte Ann.

»O ja. Alles außer Pluto würde vernichtet werden. Aber dann werden wir alle längst weg sein — auf die eine oder andere Art. Und falls nicht, wird uns schon etwas einfallen.«

Ann lachte rauh. Die Einheimischen dachten intensiv nach und schienen das nicht zu bemerken.

Zurück am Ufer des Sees gingen Ann und Zo über die Promenade. »Du bist so grob«, sagte Ann.

»Im Gegenteil. Das ist eine sehr delikate Angelegenheit. Die wissen nicht, ob ich für mich oder für Jackie oder für den Mars spreche. Es könnte bloß Gerede sein. Aber es erinnert sie an den größeren Zusammenhang. Es wäre für sie nur allzu einfach, sich hier beim Jupiter abzukapseln und den ganzen Rest zu vergessen. Das ganze Sonnensystem als ein einziger politischer Körper. Daran müssen die Leute denken. Es fällt ihnen schwer, sich das vorzustellen.«

»Du brauchst selber Hilfe. Du weißt, es ist nicht die italienische Renaissance.«

»Macchiavelli wird immer recht haben, wenn es das ist, was du meinst. Und sie müssen hier daran erinnert werden.«

»Du erinnerst mich an Frank.«

»Frank?«

»Frank Chalmers.«

»Der war ein Issei, den ich bewundere«, erklärte Zo. »Jedenfalls nach dem, was ich über ihn gelesen habe. Er war der einzige von euch, der kein Heuchler gewesen ist. Und er war derjenige, der am meisten geleistet hat.«

»Davon hast du keine Ahnung«, entgegnete Ann.

Zo zuckte die Achseln. »Die Vergangenheit ist für uns alle gleich. Ich weiß darüber so viel wie du.«

Es kam eine Gruppe von Jupiterleuten vorbei, blaß und mit großen Augen, völlig in ihr Gespräch vertieft. Zo zeigte hin: »Sieh sie dir an! Die sind so konzentriert. Ich bewundere sie wirklich. Sie stürzen sich so energisch auf ein Projekt, das erst lange nach ihrem Tod abgeschlossen sein wird. Es ist eine absurde Geste, eine Geste von Trotz und Freiheit, ein göttlicher Wahnsinn, als ob sie Sperma wären, das wild auf ein unbekanntes Ziel hin schwänzelt.«

»Das gilt für uns alle«, erwiderte Ann. »Das ist Evolution. Wann starten wir zu Miranda?«

Rund um den Uranus, viermal so weit von der Sonne entfernt wie der Jupiter, wurden die Objekte nur von einem Viertel Prozent des Lichts, das die Erde erreichte, getroffen. Das war ein Problem für die Energieversorgung größerer Terraformungsprojekte, obwohl Zo beim Eintritt in das Uranus-System festgestellt hatte, daß die Beleuchtung immer noch für gute Sichtverhältnisse ausreichte. Das Sonnenlicht war immerhin noch 1300mal heller als der Vollmond auf der Erde, und die Sonne immer noch ein blendender Splitter in dem schwarzen Sternenfeld. Obwohl die Dinge in der Landschaft etwas trübe und farblos wirkten, konnte man sie tadellos gut erkennen. Somit funktionierte die große Kraft des menschlichen Auges auch noch in großer Entfernung von daheim.

Aber es gab keine großen Monde um den Uranus, die für ein größeres Terraformungsprojekt attraktiv gewesen wären. Die Familie des Uranus bestand aus fünfzehn sehr kleinen Monden, keiner größer als Titania und Oberon, mit 600 Kilometern Durchmesser. Die meisten waren sogar beträchtlich kleiner — eigentlich eine Sammlung kleiner Asteroiden, die größtenteils nach Shakespeares Frauengestalten benannt waren und alle den sanftesten aller Gasriesen, den blaugrünen Uranus, umkreisten, der mit seinen Polen in der Ekliptik seine Runden zog, und dessen dünne, zauberhafte Schleifen seiner elf schmalen Graphitringe kaum sichtbar waren. Alles in allem, kein aussichtsreiches System für Besiedlung.

Nichtsdestoweniger waren Menschen angereist und hatten sich angesiedelt. Das war für Zo keine Überraschung. Es gab Leute, die forschten und zu bauen begannen, auf Triton, auf Pluto, auf Charon; und falls ein zehnter Planet entdeckt und eine Expedition zu ihm entsandt werden sollte, würde man ohne Zweifel eine Kuppelstadt dort finden, deren Bürger untereinander zerstritten sein und sich gegen jede Zumutung einer Einmischung in ihre Angelegenheiten von außen zur Wehr setzen würden. So war nun einmal das Leben in der Diaspora.


Die größte Kuppelstadt im Uranussystem war auf Oberon, dem größten und entferntesten der fünfzehn Monde. Zo und Ann und die übrigen Reisenden vom Mars parkten in einem planetaren Orbit knapp außerhalb von Oberon und nahmen eine Fähre, um der Hauptsiedlung einen kurzen Besuch abzustatten.

Diese Stadt, Hippolyta, überspannte eines der großen Grabentäler, die auf allen größeren Uranusmonden zu finden waren. Da die Schwere noch dürftiger war als das Licht, war die Stadt als ein dreidimensionaler Raum angelegt, mit Geländern und Gleitseilen, zur Klippe gewandten Balkons, Rutschen und Leitern, Sprungbrettern und Trampolins, hängenden Restaurants und Sockelpavillons, alle beleuchtet mit hellen, weißen, schwebenden Kugellampen.

Zo erkannte sofort, daß soviel Drum und Dran das Fliegen im Kuppelinnern unmöglich machte. Aber bei dieser Schwere war schon das alltägliche Leben eine Art Flugerlebnis. Als sie mit einer Fußbewegung in die Luft abhob, entschloß sie sich, mit den Bewohnern zusammenzukommen, die sich im täglichen Leben so benahmen; sie tanzte. Und wirklich versuchten nur sehr wenige Leute, auf terranische Art zu gehen. Hier fand die menschliche Fortbewegung von Natur aus in der Luft statt, wellenförmig, voller Voltien und Drehsprüngen und langen Tarzanschwüngen Die unterste Ebene der Stadt war mit einem Netz versehen.

Die Leute, die hier draußen lebten, kamen von überall her im Sonnensystem, obwohl sie natürlich meistens Marsianer oder Terraner waren. Es gab derzeit noch keine eingeborenen Uranier, mit Ausnahme einer Krippe Kleinkinder, die von Müttern geboren worden waren, die an der Errichtung der Siedlung gearbeitet hatten. Sechs Monde waren inzwischen besetzt, und kürzlich hatten sie einige Gaslaternen in die obere Atmosphäre von Uranus geschickt, die um seinen Äquator kreisten. Sie brannten jetzt im Blaugrün des Planeten wie Nadelstiche aus Sonnenlicht und bildeten einen Diamantengürtel um den Riesen. Diese Laternen hatten das Licht in dem System so weit verstärkt, daß jeder, den sie auf Oberon trafen, ihnen versicherte, wieviel farbiger die Dinge jetzt doch geworden waren. Aber Zo war nicht beeindruckt. Sie sagte zu einem Enthusiasten: »Ich bedaure, das nicht vorher gesehen zu haben. Es ist eine monochrome Welt.« Tatsächlich waren alle Gebäude in der Stadt hell mit breiten bunten Streifen bemalt; aber welche Farbe das gerade war, konnte Zo manchmal nicht sagen. Sie hätte einen Pupillen-Erweiterer gebraucht.

Aber den Einheimischen schien es zu gefallen. Natürlich sprachen einige von ihnen von einem Umzug nach Triton, sobald die Uranus-Städte fertig wären, als dem ›nächsten großen Probleme oder Pluto oder Charon. Sie waren Bauleute. Aber andere ließen sich hier auf Dauer nieder und nahmen Drogen oder genetische Transkriptoren ein, um sich der geringen Schwerkraft anzupassen, die Empfindlichkeit ihrer Augen zu steigern usw.

Sie sprachen davon, Kometen aus der Oortschen Wolke zu holen, um für Wasser zu sorgen, und vielleicht zwei oder drei der kleineren unbewohnten Monde zusammenstoßen zu lassen, um größere und wärmere Körper zu erzeugen, mit denen man arbeiten könnte — ›künstliche Mirandas‹ nannte sie jemand.

Ann kam von der Konferenz oder zog sich vielmehr an einem Geländer entlang, unfähig, mit der MiniGravitation fertigzuwerden. Nach einer Weile folgte Zo ihr auf Straßen, die von üppigem grünem Gras bedeckt waren. Sie blickte nach oben: Ein Riese aus Aquamarin mit schmalen matten Ringen. Ein kalter, weltentrückter Anblick, nach jeder menschlichen Vorstellung reizlos und auf die Dauer vielleicht unhaltbar wegen der niedrigen Gravitation der kleinen Monde. Aber in der Konferenz eben hatten die Uranier die subtilen Schönheiten ihres Planeten gepriesen und eine Ästhetik entwickelt, die es ihnen möglich machte, ihre Liebe auf einen wissenschaftlichen Grund zu stellen, selbst wenn sie planten, alles zu verändern — wozu sie imstande wären. Sie betonten die zarten Abstufungen der Farben, die angenehm kühle Luft in der Kuppel, die einem Flug ähnliche Art der Fortbewegung, wie ein Tanz im Traum... Einige von ihnen waren sogar schon solche Patrioten geworden, daß sie gegen eine radikale Umgestaltung plädierten. Sie waren mehr auf Erhaltung versessen, als dieser ungastliche Ort vernünftigerweise vertragen konnte.

Und jetzt entdeckten einige dieser Konservationisten Ann. Sie kamen in einer Gruppe zu ihr, standen im Kreis um sie herum, schüttelten ihr die Hand, drückten sie an sich, küßten sie oben auf den Kopf, und eine kniete sich hin, um ihr die Füße zu küssen. Zo sah Anns Miene und mußte lachen. »Na na!« sagte sie zu der Gruppe, die offenbar als eine Art Leibwache für den Mond Miranda bestimmt war. Die lokale Version der Roten, die hier entstanden war, wo das gar keinen Sinn ergab, und lange nachdem das Rotsein, selbst auf dem Mars, kein wichtiges Thema mehr war. Sie formierten sich um einen Tisch herum, der bei einer schlanken Säule mitten in der Kuppel aufgestellt war, und verzehrten eine Mahlzeit, während die Diskussion das ganze System umspannte. Der Tisch war eine Oase in der trüben Luft der Kuppel, wobei das Diamantcollier in seiner runden Fassung aus Jade auf sie herunterschien. Er schien das Zentrum der Stadt zu bilden; aber Zo sah in der Luft noch weitere solche Oasen hängen, die aus der entsprechenden Position sicher auch wie das Zentrum wirkten. Hippolyta war eine kleine Stadt, aber Oberon konnte Dutzende ihresgleichen aufnehmen, und ebenso Titania, Ariel und Miranda, so klein sie auch waren. Alle diese Satelliten hatten Oberflächen von Hunderten von Quadratkilometern. Das was das Verlockende an diesen von der Sonne vergessenen Monden: freies Land, offener Raum, eine neue Welt, eine Grenze mit ihrer immer neuen Chance eines weiteren Neuanfangs und der Gründung einer neuen Gesellschaft ganz von vorn. Für die Uranier war diese Freiheit mehr wert als Licht oder Schwerkraft. Und so hatten sie die Programme und die Roboter für den Anfang zusammengebracht und waren mit Plänen für eine Kuppel und eine Verfassung zu der fernen Grenze aufgebrochen, um ihre eigenen Ersten Hundert zu werden.

Aber gerade diese Leute waren am wenigsten daran interessiert, etwas über Jackies Pläne für eine systemweite Allianz zu hören. Immerhin hatte es schon lokale Meinungsverschiedenheiten gegeben, die stark genug waren, um Unruhe zu stiften. Unter den um den Tisch sitzenden Leuten gab es einige ernsthafte Feinde, wie Zo bemerkte. Sie beobachtete genau ihre Gesichter, als Marie, die Leiterin ihrer Delegation, den Vorschlag des Mars in ganz allgemeiner Form darlegte: Eine Allianz mit dem Ziel, mit der massiven historisch-ökonomischen und zahlenmäßigen Überlegenheit der Erde zurechtzukommen, die gewaltig, strotzend, überquellend und in ihrer Vergangenheit wie ein Schwein versumpft in seinem Stall steckte und dennoch die dominierende Kraft in der Diaspora war. Es lag im vitalen Interesse aller Siedlungen im Sonnensystem, sich mit dem Mars zu verbünden und eine geeinte Front zu bilden, die ihre Einwanderung, ihren Handel, ihr Wachstum und ihr weiteres Schicksal kontrollierte.

Von allen Uraniern sah jedoch niemand, aller Streitigkeiten untereinander zum Trotz, überzeugt aus. Eine ältere Frau, die Bürgermeisterin von Hippolyta, ergriff das Wort, und sogar die ›Roten‹ von Miranda nickten. Sie würden selbst und unabhängig mit der Erde verhandeln. Erde und Mars seien für die Freiheit der Uranier gleichermaßen gefährlich. Hier draußen planten sie, mit allen potentiellen Allianzen oder Kontrahenten frei zu agieren, in zeitweiliger Zusammenarbeit oder Opposition mit gleichen Partnern, je nach den Umständen. Es bestand einfach keine Notwendigkeit für formalere Vereinbarungen. Die Frau schloß: »All dieses Allianz-Zeug riecht nach Kontrolle von oben. Auf dem Mars ruf ihr das ja auch nicht; warum es hier ausprobieren?«

»Wir tun es sehr wohl auf dem Mars«, versicherte Marie. »Das Maß der Kontrolle hängt von dem Komplex kleinerer Systeme darunter ab und ist nützlich für die Behandlung von Problemen auf holistischer Ebene. Und jetzt auf der interplanetaren Ebene. Ihr verwechselt Totalisation mit Totalitarismus. Das ist ein gravierender Fehler.«

Sie waren keineswegs überzeugt. Vernunft mußte von Hebelkraft unterstützt werden. Und deshalb war Zo mitgekommen. Und die Anwendung von Druckmitteln würde leichter fallen, wenn die Überlegung vorher so dargelegt wurde.

Ann blieb während des ganzen Essens schweigsam, bis die allgemeine Diskussion endete und die Mirandagruppe ihre Fragen stellte. Da wurde sie munter, wie eingeschaltet, und fragte sie ihrerseits nach der laufenden lokalen Planetologie, der Klassifikation verschiedener Gebiete von Miranda als Teile der zwei kollidierten Planetesimale, nach der neueren Theorie, wonach die kleinen Monde Ophelia, Desdemona, Bianca und Puck bei der Miranda-Kollision ausgeschleuderte Teile seien und so weiter. Ihre Fragen waren detailliert und verständig. Die Wächter waren aufgeregt und begeistert. Ihre Augen waren so groß wie die von Lemuren. Auch die übrigen Uranianer waren erfreut, Anns Interesse festzustellen. Sie war Die Rote. Jetzt verstand Zo, was das wirklich bedeutete. Sie war eine der berühmtesten Personen der Geschichte. Und es schien möglich, daß alle Uranier etwas Rot in sich hatten. Anders als die Siedler der Systeme von Jupiter und Saturn hatten sie keine Pläne für langfristiges Terraformen; sie wollten für den Rest ihres Lebens in Kuppeln wohnen und auf den urtümlichen Fels hinausgehen. Und sie fühlten, zumindest ihre Wächtergruppe, daß Mfranda so ungewöhnlich war, daß man sie völlig in Ruhe lassen müßte. Das war natürlich eine Rote Idee. Nichts, was die Menschen hier taten, sagte ein uranischer Roter, würde etwas anderes bewirken, als das zu vermindern, was am wertvollsten wäre. Sie hatte einen Wert an sich, der sogar ihren Wert als planetologisches Exemplar überstieg. Miranda hatte ihre eigene Würde.

Ann paßte genau auf, als man das sagte; und Zo sah in ihren Augen, daß sie nicht zustimmte oder auch nur ganz verstand. Für sie war es eine Sache der Wissenschaft, für diese Leute jedoch eine Sache des Geistes. Zo sympathisierte eigentlich mehr mit der Ansicht der Lokalen als der von Ann mit ihrem verkrampften Beharren auf dem Objekt. Aber das Resultat war dasselbe. Beide enthielten die Rote Ethik in reiner Form: Natürlich kein Terraformen auf Miranda, auch keine Kuppeln, Zelte oder Spiegel. Nur eine einzige Station für Besucher und einige wenige Start- und Landeplätze für Raketen (obwohl selbst das innerhalb der Gruppe der Wächter umstritten war); alles verboten außer sanftem Fußverkehr und Raketensprüngen, die hoch genug über die Oberfläche führten, daß die Staubschicht nicht verletzt würde. Die Gruppe der Wächter verstand Miranda als Wildnis, durch die man wandern, auf der man aber niemals leben konnte, und die nie verändert werden dürfte. Eine Welt für Bergsteiger oder, noch besser, für Flieger. Die man sich ansah und nichts weiter. Ein natürliches Kunstwerk.

Ann nickte bei all diesem. Und da war es nun in ihr, etwas mehr als die quälende Angst, eine Leidenschaft für Fels, für eine Welt aus Stein. Fetischismus konnte sich auf alles fixieren. Und alle diese Leute teilten den gleichen Fetisch. Zo fand es drollig, unter ihnen zu sein. Drollig und verlockend, ihr Hebelpunkt wurde jetzt deutlich. Die Wächterguppe hatte eine Fähre nach Miranda besorgt, um Ann diesen Mond zu zeigen. Niemand sonst würde dort sein. Ein privater Ausflug zu dem seltsamsten aller Monde für die seltsamste aller Roten. Zo lachte und sagte ernsthaft: »Ich würde gern mitkommen.«


Und das große Nein sagte Ja. Das war Ann auf Miranda.

Miranda war der kleinste der fünf großen Monde des Uranus, nur 470 Kilometer Durchmesser. In seiner Jugend vor etwa 3,5 Milliarden Jahren war sein kleinerer Vorläufer mit einem anderen Mond von ungefähr gleicher Größe kollidiert. Die beiden waren zertrümmert worden, hatten sich dann zusammengeballt und waren in der Hitze der Kollision zu einer einzigen Kugel verschmolzen. Aber der neue Mond war abgekühlt, ehe die Verschmelzung ganz abgeschlossen war.

Das Ergebnis war eine Landschaft, die einem Traum hätte entsprungen sein können, äußerst wild und ungeordnet. Manche Gebiete waren glatt wie eine neue Haut, andere roh und zerfressen; manche waren metamorphe Flächen aus zwei Proto-Monden, andere bestanden aus den freigelegtem Innereien des Planeten. Und dann gab es da die tief eingekerbten Risse, wo die Fragmente unvollkommen zusammenstießen. Hier bogen ausgedehnte parallele Bruchsysteme in spitzen Winkeln mit dramatischen Zickzackformationen ab, ein deutliches Zeichen für die enormen Scherkräfte, die bei der Kollision aufgetreten waren. Die großen Spalten waren so breit, daß man sie auch aus dem Raum als Hackspuren erkennen konnte, Dutzende von Kilometern tiefe Einschnitte in der Seite der grauen Sphäre.


Sie landeten auf einem Plateau dicht bei der größten dieser Hackspalten, genannt Prosperos Rift. Sie schlüpften in ihre Anzüge, verließen das Raumschiff und gingen zur Kante der Schlucht hinaus. Ein düsterer Abgrund, und so tief, daß der Boden zu einer anderen Welt zu gehören schien. Zusammen mit der leichten Mikrogravitation vermittelte der Anblick Zo ein deutliches Gefühl vom Fliegen. Allerdings einer Art zu Fliegen, wie sie sie manchmal in ihren Träumen erlebte, wo alle Marsverhältnisse zugunsten eines geistigen Himmels aufgehoben waren. Über den Köpfen der Besucher schwebte Uranus voll und grün und gab ganz Miranda einen Anflug von Jade. Zo tanzte den Rand der Kante entlang, stieß sich mit den Zehen ab, schwebte und kam in kleinen Plies, das Herz voller Schönheit, herunter. So seltsam erschienen die diamantenen Funken der Gaslaternen, die auf der Atmosphäre von Uranus dahinglitten, die geisterhafte Jade. Winzige helle Lichter, aufgehängt um einen düsteren grünen Lampion. Die Tiefen des Abgrunds waren nur angedeutet. Alles erglühte in seinem eigenen inneren Grün, Viriditas brach aus jedem Ding hervor und war doch still und bewegungslos für immer, außer für sie, die Eindringlinge, die Beobachter. Zo tanzte.

Ann marschierte viel bequemer dahin als vorhin in Hippolyta, mit der unbewußten Grazie von jemand, der viel Zeit damit verbracht hat, über Felsen zu gehen. Ein Steinballett. Sie hielt in ihrem dicken Handschuh einen langen, gebogenen Hammer, und ihre Hosentaschen waren von Proben gebeult. Sie reagierte nicht auf die Rufe von Zo oder der Wächtergruppe. Sie ignorierte sie. Wie ein Schauspieler, der die Rolle von Ann Clayborne spielte. Zo lachte. Wie konnte man so ein Klischee werden!

»Wenn man dieses Relikt und den Abgrund der Zeit überdachen würde, ergäbe das einen wunderschönen Platz zum Leben«, sagte sie. »Für die Kuppel würde man viel Land benötigen, nicht wahr? Aber so eine Aussicht! Es wäre wie ein Wunder.«

Natürlich erhielt sie keine Antwort auf eine derart deutliche Provokation. Aber es würde sie zum Nachdenken veranlassen. Zo folgte der Gartengruppe wie ein Albatros. Sie stieg eine zerbrochene natürliche Steintreppe, die am Rand eines schmalen Vorsprungs verlief, hinunter, der sich von der Wand des Chasmas weit hinaus erstreckte wie der Faltenwurf einer Marmorstatue. Er endete in einem flachen Wirbel mehrere Kilometer von der Wand entfernt und ein oder zwei Kilometer unterhalb des Randes. Danach fiel der Vorsprung abrupt mehr als zwanzigtausend Meter tief zum Boden des Chasmas ab. Zwanzig Kilometer!... Selbst der große Mars konnte sich keiner solchen Wand rühmen.

An der Wand gab es eine Anzahl von Vorsprüngen und anderen Deformationen wie die, auf der sie kletterten: Riefen und Draperien wie in einer Kalksteinhöhle, aber hier waren sie alle auf einmal entstanden. Die Wand war geschmolzen, geschmolzenes Gestein war in den Abgrund getropft, bis die Kälte des Raums es für immer hatte gefrieren lassen. Von jedem Punkt ihres Abstiegs aus war die ganze Wand zu überblicken. In die Kante des Vorsprungs war ein Geländer eingefügt worden; und sie alle waren mit Seilen daran festgehakt, die mit einem Geschirr an ihren Raumanzügen verbunden waren. Das war gut, denn der Rand des Vorsprungs war schmal, und der kleinste Ausrutscher konnte sie in den Abgrund hinausschleudern. Das spinnenähnliche kleine Raumschiff, das sie abgesetzt hatte, flog hinunter und würde sie unten an der Treppe, bei der flachen Stelle am Ende des Vorsprungs, wieder aufnehmen. So konnten sie hinuntersteigen, ohne sich wegen der Rückkehr Sorgen zu machen. Und es ging abwärts, Minute um Minute, in einem Schweigen, das keineswegs gesellig war. Zo mußte grinsen. Man konnte fast hören, wie sich schwarze Gedanken auf sie richteten. Man konnte das Knirschen geradezu spüren. Mit Ausnahme von Ann, die alle paar Meter stehenblieb, um die Risse in der rohen Treppe zu inspizieren.

Auf privater Frequenz sagte Zo zu ihr: »Diese Besessenheit von Stein ist so traurig. So alt zu sein und doch so klein. Sich auf die Welt träger Materie zu beschränken, eine Welt, die einen nie überraschen wird, nie auch nur irgend etwas tun wird. Man nie verletzt wird. Areologie ist eine Art von Feigheit. Wirklich traurig.«

Ein Geräusch im Interkom: Luft, die zwischen Zähnen ausgestoßen wurde. Empörung.

Zo lachte.

»Du bist ein impertinentes Mädchen«, knurrte Ann.

»Ja, das bin ich.«

»Und auch dumm.«

»Das bin ich nicht!« Zo war über ihre eigene Heftigkeit überrascht. Und dann sah sie, daß Anns Gesicht hinter der Visierscheibe verzerrt war, und ihre Stimme zischte im Interkom zwischen scharfen, schweren Atemzügen.

»Verdirb nicht den Spaziergang!« platzte Ann heraus.

»Ich habe es satt, ignoriert zu werden.«

»So, wer ist jetzt verärgert?«

»Verärgert über die Langeweile.«

Wieder ein wütendes Zischen. »Du bist sehr schlecht erzogen worden.«

»Wessen Fehler ist das?«

»Nun deiner. Aber wir müssen die Folgen ertragen.«

»Ertrage sie ruhig weiter! Bedenke, daß ich es bin, die dich hierher gebracht hat.«

»Sax ist es, der mich hierher gebracht hat. Gepriesen sei sein kleines Herz!«

»Für dich ist alles klein.«

»Im Vergleich mit...« Der Winkel, in dem ihr Helm geneigt war, zeigte, daß sie in die Spalte hinunter blickte.

»Diese stumme Unbeweglichkeit, in der du dich so sicher fühlst.«

»Dies ist das Wrack einer Kollision, die anderen Zusammenstößen von Planetesimalen im frühen Sonnensystem sehr ähnlich ist. Es ist ein Fenster in jene Zeit. Verstehst du?«

»Ich verstehe, aber es kümmert mich nicht.«

»Du glaubst nicht, daß das wichtig ist?«

»Nichts ist wichtig in dem Sinne, den du meinst. All das hat keinen Sinn. Es ist bloß ein Ereignis im Urknall.«

»O bitte! Nihilismus ist so lächerlich«, entgegnete Ann.

»Paß auf, was du sagst! Du bist selber eine Nihilistin! Keine Bedeutung, kein Wert für das Leben oder deine Sinne — das ist ein schwacher Nihilismus, ein Nihilismus für Feiglinge, wenn du dir so etwas vorstellen kannst.«

»Meine tapfere kleine Nihilistin.«

»Ja, dem stelle ich mich. Und genieße dann, worüber man sich freuen kann.«

»Und das wäre?«

»Vergnügen. Die Sinne und was sie hereinbringen. Ich bin wirklich sensualistisch. Ich denke, das erfordert einigen Mut. Dem Schmerz ins Auge schauen, den Tod riskieren, damit die Sinne wirklich losbrüllen...«

»Denkst du, daß du dem Schmerz getrotzt hast?«

Zo erinnerte sich an eine überzogene Landung in Overlook, an den Schmerz gebrochener Beine und Rippen. »Ja, das habe ich.«

Stille im Äther. Nur die Statik des Magnetfelds vom Uranus. Vielleicht gestattete Ann ihr die Erfahrung von Schmerz, was in Anbetracht von dessen Allgegenwart nicht besonders großzügig war. Zo machte das richtig wütend. »Denkst du tatsächlich, daß es Jahrhunderte erfordert, menschlich zu werden; daß niemand menschlich gewesen ist, ehe die Geriatrie aufkam? Keats starb mit fünfundzwanzig. Hast du Hyperion gelesen? Denkst du, dieses Loch in einem Felsen ist ebenso erhaben wie ein Satz von Hyperion? Ihr Issei seid wirklich schrecklich. Und du besonders. Wenn du mich beurteilen willst, warum hast du dich nicht verändert von dem Augenblick an, als du den Mars berührtest...?«

»Das ist doch eine Leistung, nicht wahr?«

»Eine Leistung darin, sich tot zu stellen. Ann Clayborn, die größte tote Person, die jemals gelebt hat.«

»Und ein ungezogenes Mädchen. Schau dir die Struktur dieser Steine an.«

»Scheiß auf die Steine!«

»Das werde ich den Sensualisten überlassen. Nein, schau! Dieser Fels hat sich in 3,5 Milliarden Jahren nicht verändert. Und wenn er es getan hat — mein Gott, was für eine Veränderung!«

Zo betrachtete den Jade-Stein unter ihren Stiefeln. Er wirkte so ähnlich wie Glas, aber war sonst höchst schwer zu beschreiben. Sie sagte: »Du bist besessen.«

»Ja. Aber ich liebe meine Obsessionen.«


Danach kletterten sie schweigend den Grat des Vorsprungs hinunter. Im Laufe des Tages machten sie sich daran, zum Landeplatz auf dem Boden abzusteigen. Sie waren einen Kilometer unterhalb des Chasmarandes, und der Himmel über ihnen war ein Band von Sternen, Uranus in deren Mitte und die Sonne ein strahlendes Juwel dicht daneben. Unter diesem großartigen Bild wirkte die Tiefe der Spalte ungeheuer und erstaunlich. Zo hatte wieder die Empfindung des Fliegens. Sie sagte auf der allgemeinen Frequenz zu ihnen allen: »Ihr habt einen wahren Wert an der falschen Stelle geortet. Es ist wie ein Regenbogen. Ohne einen Beobachter, der sich in einem Winkel von 23° zu dem Licht befindet, das von einer Wolke sphärischer Tröpfchen reflektiert wird, gibt es keinen Regenbogen. Das ganze Universum funktioniert so. Unsere Geister stehen in einem Winkel von 23° zum Universum. Da wird etwas Neues geschafften beim Kontakt von Photon und Netzhaut, eine Art Raum entsteht zwischen Fels und Geist. Ohne Geist gibt es keinen wahren Wert.«

»Das würde heißen, es gäbe keinen wahren Wert. Es läuft bloß auf Utilitarismus hinaus«, erwiderte einer der Wächter. »Diese Orte existieren ohne uns und gab es vor uns. Das ist ihr wahrer Wert. Wenn wir hinzutreten, sollten wir diese Priorität ehren, wenn wir eine richtige Haltung gegenüber dem Universum einnehmen und es wirklich sehen wollen.«

»Aber ich sehe es ja. Oder beinahe«, erklärte Zo fröhlich. »Ihr müßt eure Augen mit einer Ergänzung eurer genetischen Behandlungen dafür aufnahmefähig machen. Inzwischen ist es wirklich großartig. Aber diese Größe liegt in eurem Geist.«

Sie antworteten nicht. Nach einer Weile fuhr Zo fort:

»All diese Themen sind schon früher auf dem Mars abgehandelt worden. Die ganze Materie der Umweltethik ist durch die Erfahrung auf dem Mars auf eine höhere Ebene gerückt worden, ins Herz unserer Aktionen. Ihr wollt jetzt diesen Ort hier als Wildnis schützen, und ich kann verstehen, warum. Viele von euch sind Marsianer, oder eure Eltern waren es. Ihr geht von einer ethischen Position aus, und Wildnis ist letztlich eine ethische Position. Terraner würden euch nicht so gut verstehen wie ich. Sie würden herauskommen und auf diesem Vorsprung ein großes Casino errichten. Sie würden diesen Spalt von einem Rand zum andern überdachen und zu terraformen versuchen, wie sie es anderswo überall gemacht haben. Die Chinesen sind noch wie Sardinen in ihr Land gepfercht und geben nicht einen Pfifferling für den wahren Wert von China an sich, geschweige denn für ein unfruchtbares Möndchen am Rande des Sonnensystems. Sie brauchen Platz und sehen ihn hier draußen; und sie werden kommen und bauen und euch verständnislos ansehen, wenn ihr dagegen seid. Und was werdet ihr tun? Ihr könnt es mit Sabotage versuchen, wie die Roten auf dem Mars. Aber sie können euch von den Monden hier ebenso leicht wegpusten wie ihr sie. Und sie haben für jeden Kolonisten, den sie verlieren, millionenfach Ersatz. Das ist es, wovon wir sprechen, wenn wir über die Erde reden. Wir sind wie die Liliputaner mit Gulliver. Wir müssen zusammenarbeiten und den Kerl mit so vielen Seilen festbinden, wie wir nur finden können.«

Keine Antwort von den anderen.

Zo seufzte und sagte: »Gut, vielleicht ist es zum besten. Wenn sich hier draußen Menschen verbreiten, würde das den Druck auf den Mars vermindern. Es könnte möglich sein, Vereinbarungen zu treffen, nach denen die Chinesen frei sind, hier so viele Menschen anzusiedeln, wie sie nur wollen, und wir auf dem Mars frei sind, die Immigration auf fast Null herunterzudrücken. Das könnte recht gut funktionieren.«

Wieder keine Reaktion von den anderen.

»Halt den Mund!« sagte Ann. »Wir sollten uns lieber auf das Land hier konzentrieren.«

»Oh, natürlich.«

Als sie sich dann ganz dem Ende des Vorsprungs näherten, wo er unbeschreiblich in die freie Luft ragte, unter der mit Juwelen besetzten Jadescheibe und dem hellen Diamantsplitter daneben, wodurch das ganze Sonnensystem plötzlich durch diese Himmelskörper trianguliert und die wahre Größe der Dinge offenbart wurde, da sahen sie über sich Sterne hinziehen. Die Raketendüsen ihres Raumschiffs.

»Siehst du?« sagte Zo. »Das sind die Chinesen. Sie kommen schon, um sich umzuschauen.«

Plötzlich geriet einer der Wächter in Wut und schlug ihr mit der Faust auf die Helmscheibe. Zo lachte. Aber sie hatte die ultrageringe Schwerkraft Mirandas vergessen und war überrascht, daß ein lächerlicher Faustschlag sie glatt von den Füßen riß. Sie stieß mit den Kniekehlen ans Geländer, machte einen Salto, machte eine Drehung, um sich abzufangen und bekam einen harten Schlag auf den Kopf; aber der Helm schützte sie, und sie blieb bei Bewußtsein. Sie taumelte das Gefälle hinunter zur Kante des Vorsprungs, hinter der die Leere gähnte. Furcht durchschoß sie wie ein elektrischer Schlag, sie kämpfte ums Gleichgewicht, schwankte hilflos und fühlte einen Ruck — o ja, das Ende ihres Geschirrs! Danach das widerliche Gefühl, weiter nach unten zu rutschen. Der Karabiner des Geschirrs mußte nachgegeben haben. Ein zweiter Adrenalinstoß der Angst. Sie drehte sich einwärts, griff nach dem vorbeigleitenden Felsen. Menschliche Kraft bei 0,005 Ge. Dieselbe geringe Schwere, die es möglich gemacht hatte, daß sie den Halt verlor, erlaubte ihr jetzt, sich mit einer einzigen Fingerspitze festzuklammern und das ganze Gewicht ihres fallenden Körpers wie durch ein Wunder abzuhalten.

Sie befand sich an der Kante eines langen Absturzes. In ihren Augen funkelten Lichter, Übelkeit, dahinter Dunkelheit... Sie konnte den Boden der Schlucht nicht erkennen, es war ein Abgrund ohne Boden, ein Traumbild, Sturz in die Dunkelheit... »Beweg dich nicht!« sagte Anns Stimme ihr ins Ohr. »Halt dich fest, und rühr dich nicht!« Über ihr ein Fuß und dann Beine. Ganz langsam hob Zo den Kopf, um zu schauen. Eine Hand packte fest ihr rechtes Handgelenk. »Okay. Einen halben Meter über dir ist ein Halt für deine linke Hand. Höher! Da! Okay, klettere! Ihr da oben, zieht uns hoch!«

Sie wurden hochgezogen wie Fische an der Angelschnur.

Zo setzte sich auf den Boden. Die kleine Raumfähre landete lautlos auf einem Platz an der anderen Seite der flachen Stelle. Kurzes Aufflammen ihrer Raketen. Die besorgten Blicke der Wächter über ihr.

»Kein sehr lustiger Spaß«, meinte Ann.

»Nein«, sagte Zo und dachte darüber nach, wie sie den Vorfall verwerten könnte. »Danke, daß du mir geholfen hast!« Es war beachtlich, wie rasch Ann ihr zu Hilfe geeilt war; nicht, daß sie sich dazu entschlossen hätte, das erforderte der Ehrenkodex. Man hatte Verpflichtungen gegenüber seinen Gleichrangigen, und Feinde waren ebenso wichtig wie Freunde. Feinde waren ebenbürtig und notwendig. Sie waren das, was es möglich machte, ein guter Freund zu sein. Aber rein als physisches Manöver war es eindrucksvoll gewesen. »Du warst sehr flink.«

Auf dem Rückflug nach Oberon waren sie alle sehr still, bis sich einer von der Crew an Ann wandte und sagte, daß Hiroko kürzlich hier im Uranussystem gesehen worden sei, auf Puck.

»Was für ein Mist!« sagte Ami.

»Wieso?« fragte Zo. »Vielleicht hat sie beschlossen, so weit wie möglich von Erde und Mars wegzukommen, wie nur irgend möglich. Ich kann es ihr nicht verübeln.«

»Dies ist nicht gerade die Art von Gegend, die sie bevorzugt.«

»Vielleicht weiß sie das nicht. Vielleicht hat man ihr nicht gesagt, daß dies ein privater Steingarten ist.«

Ann winkte ab.


Wieder zum Mars, dem Roten Planeten, der schönsten Welt im Sonnensystem. Der einzig realen Welt.

Ihr Shuttle beschleunigte, machte seine Drehung, schwebte ein paar Tage antriebslos und bremste ab. Nach zwei Wochen waren sie für Clarke ausgerichtet und dann im Aufzug, immer weiter nach unten. So langsam war dieser letzte Abstieg! Zo schaute hinaus auf Echus, dort im Nordosten, zwischen der roten Tharsis und dem blauen Nordmeer. So gut, es wieder zu sehen! Zo nahm mehrere Tabletten Pandorph, als der Waggon des Aufzugs sich nach Sheffield hineinsenkte. Und als sie in den Sockel ausstieg und dann zwischen den glänzenden Steingebäuden durch die Straßen ging und zu der großen Bahnstation auf dem Rand, war sie in der Verzückung der Areophanie. Sie liebte jedes Gesicht, das sie sah, liebte alle ihre großen Brüder und Schwestern mit ihrer überwältigenden Schönheit und phänomenalen Grazie. Sie liebte sogar die Terraner, die ihr über dem Weg liefen. Der Zug nach Echus fuhr erst in einigen Stunden; darum ging sie einige Zeit rastlos im Stadtpark spazieren und blickte in die große Caldera von Pavonis Mons hinunter, die so sehenswert war wie irgendwas auf Miranda, auch wenn sie nicht so tief war wie Prosperos Rift. Ein unendliches Band des Horizonts, alle Schattierungen von Rot, Braun, Scharlach, Rost, Umbra, Kastanienbraun, Kupfer, Ziegelrot. Sienna, Paprika, Stierblut, Zimt, Zinnober — alles unter dem dunklen, mit Sternen übersäten Nachmittagshimmel. Ihre Welt. Obwohl Sheffield unter seiner Kuppel lag, und es immer so sein würde. Sie wollte wieder zurück in den Wind.

Also ging sie wieder zum Bahnhof und bestieg den Zug nach Echus. Sie fühlte den Zug die Strecke von dem großen Kegel von Pavonis nach Ost-Tharsis und Cairo hinunterrasen. Nach einem Umsteigen mit Schweizer Präzision fuhr sie mit einem Zug nach Norden, nach Echus Overlook. Der Zug traf gegen Mitternacht ein. Sie quartierte sich in der Herberge der Koop ein und ging hinüber ins Adler. Sie empfand den letzten Pandorph-Schuß wie eine Feder an der Kappe ihres Glücks. Und die ganze Bande war da, als ob keine Zeit vergangen wäre. Sie jubelten, als sie sie sahen, alle nahmen sie in die Arme, einmal und öfter, sie alle küßten sie, reichten ihr Drinks und stellten Fragen nach ihrer Reise und erzählten ihr von den jüngsten Windverhältnissen und streichelten sie in ihrem Sessel, bis rasch die Stunde vor der Frühdämmerung da war. Sie alle marschierten geschlossen zur Felsbank hinunter, zogen sich an und starteten, hinaus in die Dunkelheit des Himmels und den erfrischenden Auftrieb des Windes, was alles sofort auf sie einströmte wie Atmen oder Sex. Die schwarze Masse der Echusböschung ragte im Osten auf wie der Rand eines Kontinents, und der dunkle Boden von Echus Chasma lag weit unter ihnen. Es war die Landschaft ihres Herzens mit ihrem düsteren Tiefland und hohem Plateau und der schwindelerregenden Klippe dazwischen. Über allem lagen die starken Purpurtöne des Himmels, Lavendel und Malve im Osten, dunkles Indigo nach Westen hin; und der ganze Bogen leuchtete und gewann mit jeder Sekunde an Farbe. Die Sterne verschwanden, hohe Wolken im Westen strahlten in traumhaftem Rosa; und als sie nach mehreren Sprüngen auf die Höhe von Overlook gekommen war, befand sie sich nahe am Riff, erwischte einen starken westlichen Aufwind und segelte auf ihm dahin, dicht über Overlook und dann in einer engen Kurve nach oben — selbst bewegungslos und dennoch heftig vom Wind hochgerissen, bis sie aus dem Schatten der Klippe in das rauhe Gelb des neuen Tages stieß. Eine unglaublich freudige Kombination des Kinetischen und des Visuellen, von Sinn und Welt. Und als sie in die Wolken aufstieg, dachte sie: Zur Hölle mit dir, Ann Clayborn, du und der Rest deiner Art, ihr könnt für immer weitermachen mit euren moralischen Imperativen, eurer Issei-Ethik und euren Werten, Zielen, Bindungen, Verantwortlichkeiten, Tugenden und großen Lebenszwecken. Ihr könnt diese Worte bis zum Ende der Zeit in all ihrer Heuchelei und Furcht ausströmen; und dennoch werdet ihr nie ein Gefühl haben wie dieses, wenn die Anmut von Seele und Leib und Welt in vollkommenem Einklang sind. Ihr könnt euren calvinistischen Wortschwall, über das, was die Menschen mit ihrem kurzen Leben anfangen sollen, ausstoßen, bis ihr blau im Gesicht seid, als ob es überhaupt einen Weg gäbe, etwas Sicheres darüber zu sagen; als ob ihr euch nicht am Ende als grausame Henker erweisen würdet. Aber solange ihr nicht hier herauskommt und fliegt, surft, springt und euch irgendwie in der Gefahr des Raumes übt, in der reinen Grazie des Körpers, habt ihr einfach keine Ahnung. Ihr seid Sklaven eurer Ideen und Hierarchien und könnt darum nicht erkennen, daß es kein höheres Ziel gibt als dieses: Das ist der letzte Sinn der Existenz, des Kosmos überhaupt; das freie Spiel des Fliegens.


Im nordischen Frühling wehten die Monsune, stießen auf die Westwinde und dämpften die Aufwinde in Echus. Jackie war auf dem Großen Kana, von ihren interplanetaren Machenschaften durch lästige Lokalpolitik abgelenkt. Sie schien wirklich gereizt und angespannt zu sein, so daß sie Zo gewiß nicht in ihrer Nähe haben wollte. Also ging Zo in den Minen von Moreux für einige Zeit wieder an die Arbeit und kam dann mit einer Gruppe ihrer Flieger-Freunde an der Küste des Nordmeeres zusammen, südlich von Boone’s Neck nahe Blochs Hoffnung, wo die Meeresklippen einen Kilometer aus der anrennenden Brandung ragten. Spätnachmittägliche, zur Küste gerichtete Brisen trafen auf diese Klippen und trugen eine kleine Schar von Fliegern hoch, die durch Meeresfluten wirbelten, die aus ständig auf und ab stoßenden Schaumtapeten herausschössen, rein weiß in der weindunklen See.

Diese Fliegerschar wurde von einer jungen Frau angeführt, der Zo noch nie begegnet war, ein Mädchen von nur neun m-Jahren namens Melka. Sie war die beste Fliegerin, die Zo jemals gesehen hatte. Wenn sie vor ihnen in der Luft war, schien es, als sei ein Engel in ihre Mitte gekommen, der zwischen ihnen hindurchschoß wie ein Raubvogel durch Tauben. Zu anderen Zeiten führte sie sie durch die engen Manöver, die das Bilden von Schwärmen so vergnüglich machten. Zo arbeitete tagsüber bei ihrem lokalen Koop-Partner und flog jeden Tag nach Beendigung ihrer Tambeschäftigung. Und ihr Herz war stets in höheren Regionen, erfreut von einem nach dem anderen. Einmal rief sie sogar Ann Clayborne an, um ihr vom Fliegen zu erzählen, was das wirklich bedeutete. Aber die Alte hatte fast vergessen, wer sie war, und schien nicht interessiert zu sein, selbst als Zo sich bemühte, ihr klar zu machen, wann und wie sie sich getroffen hatten.

An diesem Nachmittag flog sie mit einem inneren Schmerz. Gewiß, die Vergangenheit war vorbei; aber daß Menschen zu solchen Gespenstern werden konnten...?

Nichts ging über das Gefühl, nur Sonne und salzige Luft um sich zu haben, die sich immer verändernde schäumende Brandung, die gegen die Klippen auf und ab schwoll. Da war Melka, segelnd. Zo jagte hinter ihr her, spürte einen plötzlichen Ansturm von Zuneigung für diese schöne Erscheinung. Aber da erblickte Melka sie, kippte ab, streifte mit einer Flügelspitze den höchsten Felsen an der Küste und torkelte herunter wie ein angeschossener Vogel. Zo war durch den Anblick des Unfalls schockiert, zog ihre Flügel ein und beschleunigte mit heftigen Fußschlägen auf den Felsen zu. Sie fing das taumelnde Mädchen in ihren Armen auf und klatschte mit einem Flügel knapp über die blauen Wellen, während Melka unter ihr zappelte. Dann erkannte sie, daß sie würden schwimmen müssen.

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