Es war nach Mitternacht, und die Büros waren still. Der Chefberater ging zum Samowar und teilte Kaffee in kleinen Tassen aus. Drei seiner Kollegen standen um einen Tisch herum, der mit Handschirmen bedeckt war.
Vom Samowar her sagte der Chefberater. »Also werden Kugeln aus Deuterium und Helium eine nach der anderen von eurer Laserapparatur getroffen. Sie implodieren, und es kommt zur Fusion. Die Temperatur bei der Zündung beträgt siebenhundert Millionen Kelvin; aber das geht in Ordnung, denn es ist eine lokale Temperatur und sehr kurzlebig.«
»Eine Sache von Nanosekunden.«
»Gut. Ich finde das angenehm. Und dann, okay, wird die resultierende Energie nur in Form geladener Partikel abgegeben, so daß sie durch eure elektromagnetischen Felder ganz zusammengehalten werden kann. Es gibt keine Neutronen, die nach vorn fliegen und eure Passagiere rösten. Die Felder dienen als Schild und Stoßplatte und auch als Sammelsystem zur Versorgung der Laser. Alle geladenen Partikel werden nach hinten ausgestoßen, wobei sie euren gewinkelten Spiegelapparat passieren, welcher der Türbogen für die Laser ist. Und beim Durchgang werden die Fusionsprodukte parallel gerichtet.«
»Das ist richtig. Das ist der wichtigste Teil«, sagte der Ingenieur.
»Sehr nett. Wieviel Treibstoff verbraucht er?«
»Wenn man eine Beschleunigung entsprechend der Marsschwere haben will, das sind 3,73 Meter pro Sekunde im Quadrat, und ein Schiff von tausend Tonnen annimmt, 350 t für die Menschen und das Schiff sowie fünfundsechzig für Apparatur und Treibstoff, dann muß man 373 Gramm in der Sekunde verbrauchen.«
»Ka, das summiert sich recht schnell.«
»Es sind ungefähr 30 t täglich, ergibt aber auch eine sehr hohe Beschleunigung. Die Reisen dauern nicht lange.«
»Und wie groß sind diese Kugeln?«
»Radius 1 Zentimeter, Masse 29 Gramm«, erklärte der Physiker. »Also verbrauchen wir davon 1290 in der Sekunde. Das sollte den Passagieren im Schiff ein angenehmes Gefühl gleichmäßiger Schwerkraft geben.«
»Das möchte ich auch annehmen. Aber ist Helium3 nicht etwas rar?«
»Ein Galilei-Kollektiv hat es aus der oberen Atmosphäre des Jupiter besorgt«, sagte der Ingenieur. »Und sie könnten diese Oberflächensammlung auch auf Luna anwenden, obwohl das nicht besonders gut funktioniert hat. Aber der Jupiter hat alles, was wir benötigen.«
»Also wird das Schiff fünfhundert Passagiere befördern.«
»Das legen wir unseren Berechnungen zugrunde. Es könnte natürlich angepaßt werden.«
»Ihr beschleunigt auf der halben Strecke bis zum Ziel, wendet das Schiff und bremst während der zweiten Hälfte der Reise.«
Der Physiker schüttelte den Kopf. »Aufkurzen Reisen ja, auf längeren nein. Man braucht nur ein paar Tage zu beschleunigen, um recht schnell zu werden. Auf längeren Strecken könnte man antriebslos fahren, um Treibstoff zu sparen.«
Der Chefberater nickte und gab den anderen die vollen Tassen. Sie tranken.
»Reisezeiten werden sich radikal ändern. Drei Wochen vom Mars zum Uranus«, sagte die Mathematikerin. »Zehn Tage vom Mars zum Jupiter. Vom Mars zur Erde drei Tage. Drei Tage!« Sie schaute die anderen mißbilligend an. »Dadurch wird das Sonnensystem zu etwas Ahnlichem gemacht wie Europa im neunzehnten Jahrhundert. Eisenbahnreisen, Ozeanriesen.«
Die anderen nickten. »Jetzt sind wir Nachbarn der Bewohner auf Merkur, Uranus oder Pluto«, sagte der Ingenieur.
Der Chefberater zuckte die Achseln. »Oder auch gleich Alpha Centauri. Lassen wir uns deswegen keine grauen Haare wachsen! Kontakt ist etwas Gutes. Immer nur Fühlung nehmen, sagt der Dichter. Bloß Fühlung nehmen. Nun werden wir die Vergeltung zu fühlen bekommen.« Er hob seine Tasse. »Prosit!«
Nirgal verfiel in einen Rhythmus und behielt ihn alle Tage bei. Lung-gom-pa. Die Religion des Gehens als Meditation oder Gebet. Zazen, ka zen. Ein Teil der Areophanie. Wie die Schwere auf dem Mars ein integrierender Teil davon war. Was der menschliche Körper in zwei Fünfteln des Andrucks, in dem er sich entwickelt hatte, zu leisten vermochte, war eine Euphorie der Anstrengung. Man bewegte sich als Pilger, halb Verehrer und halb Gott.
Eine Religion, die in diesen Tagen wenige Anhänger hatte, die einsam vor sich hingingen. Manchmal gab es organisierte Rennen und Läufe. Sich durch das Labyrinth schlängeln, Chaoskriechen, Transmarineris, die Weltumrunder. Und dazwischen die tägliche Disziplin. Eine Aktivität ohne Zweck. Kunst um der Kunst willen. Für Nirgal war es die Verehrung des Augenblicks oder Meditation oder Vergessen. Sein Geist wanderte, konzentrierte sich im Körper oder auf die Strecke oder wurde leer. In diesem Moment lief er nach Musik: Bach, dann Bruckner und dann Bonnie Tyndall, ein Neoklassizist von Elysium, dessen Musik dahinströmte wie der Tag selbst. Großartige Akkorde verlagerten sich in gleichmäßiger interner Modulation, irgendwie Bach oder Bruckner ähnlich, aber langsamer und ruhiger, unerbittlicher und großartiger. Eine gute Musik, um dazu zu gehen, auch wenn er sie über Stunden nicht bewußt hörte. Er setzte bloß einen Fuß vor den anderen.
Es kam die Zeit für die Weltumrunder, die bei jedem zweiten Perihel begann. Die Wettbewerbsteilnehmer liefen von Sheffield aus nach Osten oder Westen um die Welt ohne Handy oder andere Navigationshilfen, nur auf ihre Sinne angewiesen und mit kleinen Beuteln voll Nahrung, Getränken und Kleidung ausgerüstet. Sie durften jede Route wählen, die innerhalb von zwanzig Grad vom Äquator verlief (man verfolgte sie per Satellit und disqualifizierte sie, wenn sie die Äquatorzone verließen). Alle Brücken waren erlaubt, einschließlich der großen Gangesbrücke, die Routen sowohl westlich als auch südlich von Marineris gestattete und fast ebenso viele gangbare Routen erzeugte, wie es Teilnehmer gab. Nirgal hatte den Wettbewerb in fünf der neun bisherigen Rennen gewonnen und das eher wegen seines Geschicks, Routen zu finden als wegen seiner Schnelligkeit. Der ›Nirgalweg‹ wurde von vielen Geländeläufern als eine Art mystischer Leistung angesehen, voll Extravaganz, die der Intuition zuwiderlief. Bei den letzten Rennen hatte er Verfolger auf seinen Spuren gehabt, die ihn am Ende zu überholen gedachten. Aber er wählte jedes Jahr eine andere Route und traf oft eine Wahl, die so katastrophal aussah, daß einige seiner Verfolger aufgaben und sich in mehr Erfolg versprechende Richtungen wandten. Andere konnten während der zweihundert Tage der Umrundung, die über 21000 Kilometer führte, das Tempo nicht halten. Das erforderte echte Langstreckenkondition. Man mußte sie zu einer Lebensweise erheben und jeden Tag laufen.
Nirgal gefiel das. Er wollte das nächste Rennen rund um die Welt gewinnen, um eine Majorität bei den ersten zehn Läufen zu haben. Er zog aus, um die Route zu erkunden und neue Strecken zu prüfen. Jedes Jahr wurde eine große Anzahl neuer Wege gebaut. Kürzlich war die verrückte Idee aufgetaucht, Treppenpfade in die Flanken der Canyons, Rücken und Böschungen einzufügen, die überall das Hinterland säumten. Die Spur, auf der er sich jetzt befand, war eingerichtet worden, seit er zum letzten Mal in dieser Gegend gewesen war. Sie führte die steile Wand einer Klippe in eine Senke von Aromatum Chaos hinunter; und es gab eine entsprechende Spur auf der gegenüberliegenden Seite der Senke. Wenn man Aromatum direkt durchquerte, würde das einen Lauf viel steiler machen; aber alle flacheren Routen mußten weit nach Norden oder Süden ausweichen. Und Nirgal dachte, wenn alle Pfade so gut wären wie dieser, könnte sich der Aufwand an Höhe doch lohnen.
Die neue Spur benutzte winklige Spalten in der klotzigen Wand der Klippe. Die Stufen glichen einer Intarsienarbeit und waren sehr gleichmäßig eingepaßt, so daß es war, als liefe man in der verfallenen Mauer des Schlosses eines Riesen eine Treppe hinunter. Das Anlegen von Wegen in Klippenwänden war eine Kunst, eine angenehme Arbeit, an der Nirgal sich ab und zu beteiligt hatte, indem er half, gebrochene Steine mit einem Kran herauszuholen und sie oben auf der darunter liegenden Stufe einzufügen. Das bedeutete lange Stunden in einem Sicherungsgeschirr, die Hände behandschuht an den feinen grünen Seilen zu ziehen und große Polygone aus Basalt an ihren Platz zu manövrieren. Der erste Pfadbauer, den Nirgal kennengelernt hatte, war eine Frau gewesen, die einen Weg längs der Flosse der Geryon-Berge, der langen Bergkette auf dem Boden von Ius Chasma, eingerichtet hatte. Er hatte ihr einen ganzen Sommer lang bei dem größten Teil des Grates geholfen. Sie befand sich immer noch irgendwo in Marineris und baute mit ihren Handwerkszeugen und starken Steinsägen, den Flaschenzügen mit extrakräftigen Seilen und Leimbolzen, die stärker waren als der Stein selbst, weitere Strecken aus. Einen Gehweg oder eine Treppe stellte sie peinlich genau aus dem Fels der Umgebung her. Manche Pfade erschienen wie wunderbar hilfreiche natürliche Merkmale, andere wie Römerstraßen und wieder andere massiv und respekteinflößend wie die der Pharaonen oder der Inkas — riesige Blöcke, die mit haargenauer Präzision auf Gesteinshänge oder grobkörniges Chaos eingepaßt worden waren.
Dreihundert Stufen nach unten zählend, dann quer über den Boden der Senke in der Stunde vor Sonnenuntergang, während der Streifen eines samtigen Violetts über dunklen Klippenwänden leuchtete. Kein Pfad hier auf dem beschatteten Sand des Talbodens. Nirgal richtete sein Augenmerk auf die Steine und Pflanzen und lief dazwischen hin. Sein Blick wurde von hellfarbenen Blüten auf den zylindrisch runden Körpern von Kakteen gefesselt, die wie der Himmel leuchteten. Auch sein Körper schimmerte am Ende des Lauftages; und bei der Aussicht auf ein Abendessen nagte der Hunger in ihm. Die Schwäche wurde mit jeder Minute unangenehmer.
Er fand einen Treppenpfad in der westlichen Klippenwand, der immer höher und höher stieg. Er wechselte die Gangart zum Bergaufschreiten, glatt und regelmäßig. Bei den Kehren wandte er sich nach links und rechts und bewunderte die geschickte Anlage der Spur in dem Spaltensystem der Klippe, eine Plazierung, bei der er gewöhnlich mit einem hüfthohen Steinwall auf der freien Seite lief, außer beim Aufstieg auf einem kahlen Felsenstück, wo man an den Blöcken solide Magnesiumleitern befestigt hatte. Er beeilte sich und fühlte, daß seine Oberschenkelmuskeln arbeiteten wie große Gummibänder. Er war erschöpft.
Auf einer Felsleiste zur Linken der Treppe entdeckte er eine flache Stelle mit einer großartigen Sicht auf den langen engen Canyon in der Tiefe. Er verließ den Pfad und hielt inne. Er setzte sich auf einen Stein wie auf einen Stuhl. Es war windig. Er blies sein kleines Pilzzelt auf. Es stand vor ihm, transparent in der Dämmerung. Er holte das Bettzeug, die Lampe, das Lesegerät und alles andere hastig aus seinem Faltsack auf der Suche nach Essen. Die ganze Ausrüstung war durch den jahrelangen Gebrauch abgewetzt und federleicht. Sein Gerätesack wog alles zusammen weniger als drei Kilo. Und dann war alles an seinem Platz, der von einer Batterie geheizte Herd, der Speisesack und die Wasserflasche.
Die Abenddämmerung ging in Himalaya-Majestät vorbei, während er sich einen Topf Pulversuppe kochte und mit gekreuzten Beinen auf seinem Schlafpolster gegen die klare Wand des Zeltes gelehnt saß. Die erschöpften Muskeln genossen den Luxus des Sitzens. Wieder ein schöner Tag.
Er schlief in dieser Nacht schlecht und stand im kalten Wind erschauernd noch vor der Morgendämmerung auf, packte rasch und lief weiter gen Westen. Aus dem letzten wilden Gelände von Aromatum kam er an die nördliche Küste der Ganges-Bay. Die dunkelblaue Fläche der Bucht lag beim Laufen zu seiner Rechten. Hier lagen hinter den langen Stränden die weiten von kurzem Gras bedeckten Sanddünen, auf denen es sich leicht laufen ließ. Nirgal glitt in seinem Rhythmus dahin, das Meer oder den Taigawald zu seiner Rechten im Blick.
Entlang dieser Küste waren Millionen Bäume gepflanzt worden, um den Boden zu festigen und Staubstürme abzuhalten. Der große Wald von Ophir war eine der am schwächsten besiedelten Regionen auf dem Mars. Er war in den frühen Jahren seines Bestehens nur selten besucht worden und hatte nie eine Kuppelstadt beherbergt. Tiefe Ablagerungen von Staub und Grus hatten die Reisenden entmutigt. Jetzt waren diese Ablagerungen durch den Wald etwas fixiert; aber an den Ufern der Flüsse gab es Sümpfe und Flugsandseen und instabile Lößbuckel, die das Gitterdach der Zweige und Blätter durchstießen. Nirgal hielt sich an der Grenze zwischen Wald und See auf den Dünen oder zwischen Gruppen kleinerer Bäume. Er überquerte etliche kleine Brücken, die die Flußmündungen überspannten. Eine Nacht verbrachte er am Strand, in den Schlaf gesungen vom Geräusch der brechenden Wellen.
Am nächsten Tag folgte er in der Frühdämmerung dem Pfad unter dem kühlenden Baldachin grüner Blätter. Die Küste war am Damm von Ganges Chasma ausgelaufen. Das Licht war schwach und kühl. Zu dieser Stunde sah jedes Ding wie ein Schatten seiner selbst aus. Schwache Pfade zweigten bergauf nach links ab. Der Wald hier bestand größtenteils aus Koniferen. Rotholz in hohen Hainen, umgeben von kleineren Fichten und Wacholderbüschen. Der Waldboden war mit trockenen Nadeln bedeckt. An feuchten Stellen brachen Farne durch diese braune Matte und fügten ihre archaischen Fraktale dem von der Sonne gesprenkelten Boden hinzu. Ein Strom schlängelte sich zwischen schmalen, grasbewachsenen Inseln hindurch. Nirgal konnte kaum mehr als hundert Meter weit sehen. Grün und Braun waren die vorherrschenden Farben. Das einzig sichtbare Rot war das der haarigen Rinde der Rothölzer. Pfeile aus Sonnenlicht tanzten wie schlanke Lebewesen über den Waldboden. Nirgal lief selbstverloren dahin, hypnotisiert, wenn er zwischen diesen Lichtpfeilen hindurchschoß. Auf Steinen hüpfte er über den seichten Bach einer von Farnen bedeckten Lichtung. Es war, als ginge man durch einen Raum, der sich zu ähnlichen Korridoren flußaufwärts und -abwärts erweiterte. Ein kurzer Wasserfall gurgelte zu seiner Linken.
Er hielt an, um vom Wasser des Bachs zu trinken. Als er sich dann aufrichtete, sah er ein Murmeltier, das unter dem Wasserfall übers Moos watschelte. Er empfand einen jähen Stich ins Herz. Das Murmeltier trank und wusch sich Pfoten und Gesicht. Es bemerkte Nirgal nicht.
Dann war ein Rascheln zu hören, und das Murmeltier rannte fort und wurde von einem Husch aus geflecktem Fell und weißen Zähnen begraben. Ein großer Luchs hatte die Kehle des Murmeltiers mit kräftigen Klauen gepackt, schüttelte die kleine Kreatur rauh und preßte sie unter eine große Tatze, daß sie sich nicht mehr rühren konnte.
Nirgal hatte im Moment der Attacke einen Sprung gemacht. Und als jetzt der Luchs über seiner Beute stand, schaute er in Nirgals Richtung, ganz als ob er eben jetzt erst die Bewegung bemerkt hätte. Seine Augen glitzerten in dem trüben Licht, das Maul war blutig. Nirgal schauderte es; und als die Katze ihn sah und sich ihre Blicke festhielten, sah er, daß sie auf ihn zu lief und ihn ansprang, die scharfen Zähne selbst in dem schwachen Licht hell.
Aber nein. Das Tier verschwand mit seiner Beute und hinterließ nur einen schwankenden Farn.
Nirgal lief weiter. Der Tag war dunkler, als der Wolkenschatten erklären konnte, eine bösartige Düsterkeit. Er mußte auf den Weg achten. Licht flimmerte durch die Schatten. Weiß stach durch Grün. Jäger und Gejagter. Von Eis gesäumte Teiche im Dunkel. Moos auf Rinde, Farngestalten im Augenwinkel. Hier ein Haufen borstiger Tannenzapfen, dort eine Grube mit Flugsand. Der Tag war kühl, die Nacht würde kalt werden.
Er lief den ganzen Tag. Sein Rucksack stieß gegen seinen Rücken, er barg fast nichts mehr zu essen. Er war froh, sich seinem nächsten Versteck zu nähern. Manchmal nahm er beim Laufen nur eine Handvoll Müsliriegel mit und lebte aus der Natur, so gut er konnte, sammelte Pinienkerne und fischte. Aber auf solchen Ausflügen war er gezwungen den halben Tag mit der Suche nach Nahrung verbringen; und viel war nicht zu finden. Wenn die Fische anbissen, war ein See ein unglaubliches Füllhorn. Seevölker. Aber bei diesem Lauf ging er mit aller Gewalt von Versteck zu Versteck, aß sieben- oder achttausend Kalorien am Tag und war dennoch abends heißhungrig. Als er zu dem kleinen Trockental kam, das sein nächstes Depot barg, und entdeckte, daß dessen Seitenwand bei einem Erdrutsch zusammengebrochen war, brüllte er vor Enttäuschung und Wut. Er grub sogar etwas in dem Haufen aus losen Steinen. Es war kein großer Bergrutsch gewesen. Aber einige Tonnen würde man entfernen müssen. Keine Chance. Er würde einen scharfen Lauf durch Ophir zum nächsten Depot durchstehen müssen und würde Hunger haben. Er brach in dem Moment auf, da er das erkannte, in der Hoffnung, Zeit zu gewinnen.
Er sah sich beim Laufen nach eßbaren Dingen um — Pinienzapfen, Wiesenzwiebel, irgend etwas. Er aß sehr langsam die in seinem Pack übrig gebliebene Nahrung und kaute sie, so lange er konnte. Er versuchte, sich einzubilden, dadurch ihren Nährwert zu erhöhen. Er genoß jeden Bissen. Der Hunger hielt ihn einen Teil jeder Nacht wach, obwohl er in den Stunden vor der Dämmerung fest durchschlief.
Am dritten Tag dieses unerwarteten Hungerlaufs kam er südlich von Juventa Chasma aus dem Wald heraus, in ein Land, das von dem vorzeitlichen Ausbruch des Juventa-Wasserreservoirs zerklüftet war. Es war eine schwere Arbeit, sich durch dieses Land in einer klaren Linie einen Weg zu bahnen; und er war hungriger, als er sich erinnern konnte, jemals gewesen zu sein. Und sein nächstes Depot war noch zwei Tage entfernt. Sein Körper hatte alle seine Fettreserven aufgezehrt, oder es kam ihm so vor, und nährte sich jetzt von den Muskeln selbst. Dieser Autokannibalismus gab jedem Objekt eine scharfe Kante, getönt von etwas Gloriosem. Das Weiße schimmerte aus Dingen heraus, als ob die Realität selbst durchscheinend würde. Bald nach diesem Stadium würde, wie er aus ähnlichen früheren Erfahrungen wußte, der Zustand des lung-gom-pa zu neuen Halluzinationen führen. In den Augen hatte er schon verschiedene kriechende Würmer und schwarze Flecken und Kreise aus kleinen blauen Pilzen und dann grüne eidechsenartige Wesen, die im Sand dahintrippelten, direkt vor seinen verschwommen Füßen — stundenlang hintereinander.
Er brauchte alle Konzentration, die er aufbringen konnte, um sich in dem zerklüfteten Land zurecht zu finden. Er beobachtete das Gestein unter seinen Füßen und das Land voraus gleichermaßen, den Kopf rauf und runter und wieder rauf und runter, in einer zappelnden Bewegung, die mit seinen Gedanken wenig zu tun hatte, die in einem völlig anderen Rhythmus über nah und fern schweiften. Das Juventa-Chaos unten zu seiner Rechten war eine flache, wirre Senke, über die er auf einen fernen Horizont blicken konnte. Es war, als ob man in eine große, zertrümmerte Schüssel blickte. Das Land vor ihm war uneben, Gruben und Hügel bedeckt mit Steinblöcken und Treibsand, die Schatten zu dunkel und die von der Sonne beschienenen Stellen zu grell. Dunkel und doch blendend. Es war wieder kurz vor Sonnenuntergang, und seine Pupillen wurden vom Licht gequält. Er kam an eine alte Dünenflanke und rutschte über den Sand und das Geröll hinunter, ein traumhafter Abstieg — links, rechts, links. Jeder Schritt führte ihn ein paar Meter abwärts. Seine von Sand und Geröll gepolsterten Füße rutschten im Schüttungswinkel nach unten. Man konnte sich gar zu leicht daran gewöhnen. Wieder auf flachem Boden, war es anstrengend, wieder zum nicht gestützten Jogging überzugehen, und die nächste kleine Steigung war verheerend. Er hätte sich bald nach einem Lagerplatz umsehen sollen, vielleicht in der nächsten Senke oder auf dem nächsten sandigen und ebenen Fleck bei einer Steinbank. Er war am Verhungern, schwach durch den Nahrungsmangel und hatte nichts in seinem Rucksack außer einigen früher am Tag ausgerissenen Wiesenzwiebeln. Aber die starke Ermüdung würde helfen. Er würde in Schlaf sinken, ganz gleich, was geschah. Erschöpfung schlägt den Hunger immer.
Er stolperte durch eine flache Senke, über einen Buckel, zwischen zwei hausgroße Felsblöcke. Dann plötzlich stand in einem Blitz von Weiß eine nackte Frau vor ihm und schwenkte einen grünen Schal. Er blieb abrupt stehen, taumelte, durch ihren Anblick verwirrt, und kam dann zu dem Schluß, daß die Halluzinationen so weit außer Kontrolle geraten waren. Aber da stand sie, so lebhaft wie eine Flamme. Blutige Striemen besudelten ihre Brüste und Beine, und sie schwenkte schweigend den Schal. Dann rannten andere menschliche Gestalten hinter ihr her und über den nächsten kleinen Buckel. Sie gingen, wie es schien, in die Richtung, in die sie deutete. Sie schaute Nirgal an und wies nach Süden, als ob sie ihm auch die Richtung wiese, und dann lief sie weiter.
Ihr schlanker weißer Körper schwebte dahin wie etwas, das man in mehr als drei Dimensionen erblickt, starker Rücken, lange Beine, rundes Gesäß, schon weit entfernt, und der grüne Schal flog in diese und jene Richtung, wenn sie ihn zum Zeigen benutzte.
Plötzlich erblickte er vor sich drei Antilopen, die sich über einen kleinen Hügel nach Westen bewegten und durch die tiefstehende Sonne als Silhouetten erschienen. Ah — Jäger. Die Antilopen wurden von den Menschen nach Westen getrieben, die sich in einem Bogen hinter ihnen angeordnet hatten und von Felsblöcken aus Schärpen schwenkten. Alles schweigend, als ob jeder Laut aus der Welt verschwunden wäre. Kein Wind, keine Rufe. Für einen Moment, als die Antilopen auf dem Hügel standen, hörten alle auf, sich zu bewegen. Alle waren wachsam und still. Jäger und das Gejagte waren, zugleich eingefroren in einem Bild, das Nirgal erstarren ließ. Er scheute sich zu blinzeln aus Angst, daß die ganze Szene verschwinden könnte.
Der Antilopenbock bewegte sich und zerstörte das Bild. Er wackelte vorsichtig Schritt für Schritt nach vorn. Die Frau mit dem grünen Schal ging aufrecht und offen hinter ihm her. Die anderen Jäger kamen ruckartig in Sicht und tauchten wieder weg. Sie bewegten sich wie Finken von einer erstarrten Position zur nächsten. Sie waren barfuß und trugen Lendentücher oder Trikothemden. Einige hatten Gesichter und Rücken rot, braun oder ockerfarben bemalt.
Nirgal folgte ihnen. Sie schwenkten, und er fand . sich an ihrem linken Flügel, als sie sich nach Westen bewegten. Das erwies sich als glücklich, da der Antilopenbock nach seiner Seite auszubrechen suchte und Nirgal in der Position war, ihm mit wildem Händerudern in den Weg zu springen. Dann machten die drei Antilopen gleichzeitig kehrt und preschten wieder nach Westen. Der Jägertrupp folgte. Sie liefen schneller als Nirgal bei höchster Geschwindigkeit und behielten die Bogenformation bei. Nirgal hatte Mühe, wenigstens in Sichtweite zu bleiben. Sie waren sehr schnell, barfüßig oder nicht. Man konnte sie bei den langen Schatten kaum sehen, und sie rannten lautlos. Auf dem anderen Flügel des Bogens stieß jemand einen Schrei aus, und das war der einzige Ton, den sie von sich gaben, mit Ausnahme des Quietschens und Rumpeins von Sand und Geröll und dem scharfen Atmen ihrer Kehlen. Sie liefen dahin, mal sichtbar und mal nicht. Die Antilopen hielten ihre Distanz in kurzen gleichmäßigen Sprüngen bei. Kein Mensch würde sie je erreichen. Nirgal rannte schwer keuchend hinter der Jagd her. Voraus sichtete er wieder die Beute. Ah, die Antilopen waren stehengeblieben. Sie waren an den Rand einer Klippe gekommen. Er sah die Lücke und die gegenüberliegende Kante. Ein flacher Graben, aus dem die Wipfel von Kiefern herausragten. Hatten die Antilopen gewußt, daß das da war? Waren sie mit dieser Gegend vertraut? Der Canyon war aus ein paar hundert Metern nicht zu sehen gewesen.
Aber vielleicht kannten sie die Stelle; denn mit dem reinen Fluß animalischer Grazie trabten sie halb, halb sprangen sie längs des Klippenrandes zu einer kleinen Einbuchtung. Diese erwies sich als höchste Stelle einer steilen Schlucht, aus der Geröll auf den Boden des Caynons hinunterkollerte. Als die Antilopen in diese Schlucht abstiegen, eilten alle Jäger an die Kante und sahen zu, wie die drei Tiere in einer erstaunlichen Entfaltung von Kraft und Gleichgewichtsgefühl mit enormen Sprüngen hinunterliefen. Ein Jäger heulte: »Ohhhhh«; und bei diesem Schrei rannten alle Jäger kreischend und grunzend hinüber zum Kopf der Schlucht. Nirgal gesellte sich zu den anderen, ließ sich über den Rand fallen; und dann verfielen alle in einen verrückten Abstieg mit Gepolter und Sprüngen. Und obwohl Nirgals Beine weich waren, kamen ihm jetzt seine endlosen Tage von Lung-gom zustatten; denn er überholte die meisten anderen, wenn er von Felsblöcken sprang und kleine Strecken auf rutschender Erde hinunterschlitterte. Er machte große verzweifelte Sprünge und hielt Balance, wie jeder andere auf den Moment konzentriert, um ohne bösen Sturz rasch nach unten zu gelangen.
Erst als er glücklich auf dem Boden des Canyons angelangt war, schaute Nirgal wieder hoch und sah, daß der Canyon von dem Wald gefüllt war, den er von oben kaum bemerkt hatte. Bäume standen hoch über einem von Nadeln bedeckten Boden aus Altschnee. Große Föhren und Fichten, und weiter aufwärts im Süden massive Stämme von Riesensequoien, großen Bäumen, die so gigantisch waren, daß der Canyon plötzlich nicht mehr tief wirkte, obwohl der Abstieg einige Zeit gedauert hatte. Es waren die Baumwipfel, die über den Canyonrand geragt hatten. Gigantische Sequoien, gentechnisch behandelt, die zweihundert Meter hoch waren und wie große, stille Heilige ihre Arme in einem weiten Kreis über Tochterbäume ausbreiteten, über die Föhren und Fichten, die dünnen Schneeflecken und die braunen Nadelbetten.
Die Antilopen waren in diesem urtümlichen Wald im Canyon in südlicher Richtung nach oben gelaufen; und mit fröhlichem Gebrüll folgten ihnen die Jäger, indem sie von einem Baumstamm zum anderen rannten. Die mächtigen Zylinder rissiger roter Borke ließen alles andere zwergenhaft erscheinen. Sie sahen alle aus wie kleine Tiere, wie Mäuse, die in dem schwindenden Licht über einen beschneiten Waldboden sprangen. Nirgal kribbelte die Haut am Rücken und den Flanken. Er stand von dem Abstieg in die Schlucht immer noch unter Adrenalin. Er keuchte, und ihm war schwindelig. Es war klar, daß sie die Antilopen nicht fangen würden. Er wußte nicht, was sie vorhatten. Dennoch rannte er zwischen den riesigen Bäumen dahin und folgte den führenden Jägern. Die Jagd an sich war alles, was er begehrte.
Dann wurden die Sequoia-Türme spärlicher, wie am Ende eines Wolkenkratzerviertels, bis nur noch ein paar übrig waren. Und als er zwischen den Stämmen der letzten Ungetüme hinsah, machte Nirgal wieder kurz halt. Auf der anderen Seite der schmalen Lichtung war der Canyon durch eine Mauer aus Wasser versperrt. Eine wahre Wand aus Wasser füllte den Canyon bis zum Rand und hing über ihnen als eine glatte, transparente Masse.
Ein Staudamm. Man hatte kürzlich angefangen, sie aus durchsichtigen Folien aus Diamantengittern zu bauen, die in ein Betonfundament eingelassen waren. Nirgal sah, wie dies hier an beiden Canyonwänden nach unten verlief und quer über den Boden des Canyons als eine dicke weiße Linie.
Die Wassermasse stand über ihnen wie die Seite eines großen Aquariums, trübe in Nähe des Bodens, wo Wasserpflanzen im dunklen Schlamm schwebten. Darüber huschte ein silberner Fisch, groß wie eine Antilope, zu der klaren Wand und zog sich dann in kristallische Tiefen zurück.
Die drei Antilopen sprangen vor dieser Barriere nervös vor und zurück. Ricke und Kitz folgten den raschen Wendungen des Bocks. Als die Jäger ihnen nahe kamen, stob der Bock plötzlich davon und krachte mit einem starken Schwung seines ganzen Körpers gegen die Wand. Sein Geweih war messerscharf. Bums — Nirgal erstarrte in Angst. Alle hielten bei dieser wilden Geste, die geradezu menschlich hätte sein können, inne. Aber der Bock prallte zurück und torkelte. Dann wandte er sich um und griff sie an. Bolakugeln wirbelten durch die Luft, die Leine wickelte sich dicht über dem Fesselgelenk um seine Beine, und er stürzte nach vorn zu Boden. Einige Jäger drängten sich um ihn; andere erlegten Ricke und Kitz mit einem Hagel aus Steinen und Speeren. Ein schriller Schrei brach jäh ab. Nirgal sah, wie die Kehle der Ricke durch ein Messer mit Obsidianklinge durchschnitten wurde. Das Blut strömte dicht beim Fundament des Damms in den Sand. Der große Fisch schwamm oben vorbei und schaute auf sie herunter.
Die Frau mit dem grünen Schal war nirgends zu sehen. Ein anderer Jäger, der nur mit Halsschmuck bekleidet war, legte den Kopf zurück und stieß ein Geheul aus, wodurch er die seltsame Stille, in der die Tat geschehen war, zerstörte. Er tanzte im Kreis, lief dann an die klare Wand des Damms und schleuderte seinen Speer dagegen. Der Speer prallte ab. Der jubelnde Jäger lief hin und schlug mit der Faust gegen die durchsichtige, harte Membran.
Eine Jägerin mit blutigen Händen wandte den Kopf und warf dem Mann einen verächtlichen Blick zu. Sie sagte: »Hör auf, hier den Narren zu spielen!«
Der Speerwerfer lachte. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Diese Dämme sind hundertmal stärker, als sie sein müßten.«
Die Frau schüttelte mißmutig den Kopf. »Es ist dämlich, das Schicksal herauszufordern.«
»Es ist erstaunlich, wieviel Aberglaube noch in ängstlichen Gemütern überlebt.«
»Du bist ein Tor«, erwiderte die Frau. »Glück ist ebenso real wie alles andere.«
»Glück! Schicksal! Ka.« Der Speerwerfer hob seinen Speer auf und schleuderte ihn wieder gegen den Damm. Er prallte zurück und verletzte ihn fast. Er lachte wild und sagte: »Was für ein Glück. Das Schicksal begünstigt den Mutigen, nicht?«
»Mistkerl! Zeig etwas Respekt!«
Der Mann lachte heiser. »Alle Ehre diesem Bock, der so gegen die Wand gekracht ist!«
Die anderen ignorierten die beiden und waren damit beschäftigt, die Tiere zu zerlegen. »Vielen Dank, Bruder! Vielen Dank, Schwester!« Nirgals Hand zitterte beim Zusehen. Er roch das Blut und sein Speichel floß sofort. Haufen von Eingeweiden dampften in der kühlen Luft. Magnesiumstangen wurden aus den Gürteltaschen geholt und ausgezogen. Die enthaupteten Antilopen wurden mit den Beinen daran gebunden. Jäger an den Enden der Stangen hoben die toten Körper auf die Schulter.
Die Frau mit den blutigen Händen schrie den Speerwerfer an: »Du solltest lieber beim Tragen helfen, wenn du etwas davon essen willst.«
»Halts Maul!« Aber er half, das Vorderende des Bocks zu tragen.
»Komm mit!« sagte die Frau zu Nirgal; und dann eilten sie über den Canyonboden nach Westen, zwischen der großen Wassermauer und der letzten der mächtigen Sequoien hindurch. Nirgal folgte mit knurrendem Magen.
Die Westwand des Canyons war mit Petroglyphen versehen: Tiere, Lingams, Yonis, Handabdrücke, Kometen und Raumschiffe, geometrische Figuren, der bucklige Flötenspieler Kokopeli — alle im Halbdunkel und kaum sichtbar. In die Klippe war eine Treppe eingelegt, die einem fast vollkommenen Z aus Leisten folgte. Wieder Übergang in den Bergauf-Rhythmus. Der Magen zehrte von innen an ihm, und der Kopf schwindelte. Eine schwarze Antilope reckte sich neben ihm über dem Felsen.
Oben standen ein paar Sequoias isoliert auf der Kante des Canyons. Als sie den Rand erreichten und wieder in das letzte Licht des Sonnenuntergangs kamen, sah er, daß diese Bäume einen Kreis bildeten, neun Bäume in einem rohen hölzernen Stonehenge mit einer großen Feuergrube im Zentrum.
Die Schar betrat den Kreis und schickte sich an, ein Feuer zu machen. Sie zogen den Antilopen das Fell ab und schnitten große Fleischstücke aus den Schenkeln. Nirgal schaute zu. Seine Beine zitterten wie auf einer Nähmaschine, und sein Mund wässerte wie ein Springbrunnen. Er schluckte immer wieder, als er den Saft des bratenden Fleisches roch, während Rauch zu den frühen Sternen aufstieg. Das Licht des Feuers wölbte sich wie eine Blase in die düstere Dämmerung und verwandelte den Baumkreis in ein flackerndes Zimmer ohne Dach. Das vor den Nadeln flimmernde Licht war, als sähe man die Kapillaren eines durchbluteten Raumes. Einige Bäume hatten um ihre Stämme hölzerne Wendeltreppen bis hinauf in die Äste. Hoch über ihnen wurden Lampen angezündet, und Stimmen wie von Lerchen erklangen zwischen den Sternen.
Drei von vieren der Jäger sammelten sich um ihn und boten Fladenbrot an, das nach Gerste schmeckte, und einen scharfen Schnaps aus Tonkrügen. Sie erzählten ihm, daß sie den Sequoienkreis vor ein paar Jahren gefunden hätten.
Nirgal schaute sich um und fragte: »Was ist mit der... Anführerin der Jagd geschehen?«
»Oh, die Diana kann heute nacht nicht mit uns schlafen.«
»Wenn sie nicht scharf ist, hat sie keine Lust.«
»O doch! Du kennst doch Zo. Die hat immer einen Grund.«
Sie lachten und rückten näher an das Feuer. Eine Frau stocherte nach einem angekohlten Stück Fleisch und schwenkte es am Stock, damit es abkühlte. »Ich esse alles von dir, kleine Schwester.« Dann biß sie hinein.
Nirgal aß mit ihnen, dem feuchtheißen Geschmack des Fleisches hingegeben. Er kaute kräftig und verschlang die Nahrung. Sein Körper brummte immer noch vor bebendem, benommenem Hunger. Essen! Essen!
Sein zweites Stück aß er langsamer und beobachtete die anderen. Sein Magen füllte sich rasch. Er dachte an den Abstieg die Schlucht hinunter zurück. Es war erstaunlich, wozu der Körper, wenn man ihn forderte, imstande war. Das war eine Erfahrung außerhalb des Körpers gewesen oder vielmehr soweit im Innern des Körpers, daß es ähnlich der Bewußtlosigkeit gewesen war, die vermutlich tief in das Kleinhirn eindrang, in jenes uralte Unterbewußtsein, das genau wußte, wie man zu handeln hatte. Ein Zustand der Gnade.
Ein harziger Ast spie Flammen aus der Glut. Nirgals Sehvermögen hatte sich noch nicht wieder beruhigt. Die Dinge hüpften und verschwammen mit Nachbildern. Der Speerwerfer und ein anderer Mann traten zu ihm. »Hier, trink das!« und hielten ihm einen ledernen Behälter an die Lippen. Sie lachten, als er etwas bittere Milch in den Mund bekam.- »Nimm etwas von dem weißen Bruder, Bruder!« Ein paar von den Leuten ergriffen Steine und schlugen sie rhythmisch gegeneinander. Einige tanzten um den Scheiterhaufen, heulten, rezitierten und sangen. Von Baß bis Diskant alles durcheinander: »Auqakuh, Quahira, Harmakhis, Kasei, Auqakuh, Mangala, Ma’adim, Bahram.« Nirgal tanzte mit ihnen. Seine Erschöpfung war gebannt. Es war eine kalte Nacht, und man konnte sich auf das Feuer zu oder von ihm fort bewegen, seine Strahlung auf kühler nackter Haut fühlen und sich wieder in die Kälte zurückziehen. Als alle heiß und verschwitzt waren, gingen sie in die Nacht hinaus und stolperten wieder auf den Canyon zu, nach Süden dem Rand entlang. Eine Hand packte Nirgals Arm; und es sah so aus, als wäre diese Diana wieder neben ihm, hell im Dunkel. Aber es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Und dann planschten sie in das Wasser des Reservoirs. Schrecklich kalt, untertauchen, hüftentief Schlamm und Sand, herzlähmend kalt. Dann aufstehen, hinauswaten, alle Sinne wild pulsierend, nach Luft schnappen, lachen. Eine Hand an seinem Fußgelenk und wieder hinunter, mit dem Gesicht voran in das seichte Wasser. Lachen. Durch das dunkle Naß, frierend, mit den Zehen klappernd, »Au! Au!« und wieder in den Baumkreis, in die Wärme. Durchnäßt tanzten sie wieder, mit ausgestreckten Händen an die Hitze des Feuers gedrängt, umarmten sie seinen Glanz. Alle Körper im Feuerschein gerötet, die Sequoia-Nadeln blitzten auf vor den Nadelspitzen der Sterne und die Tänzer hüpften im Rhythmus der Steintrommeln.
Als sie sich wieder aufgewärmt hatten und das Feuer herunterbrannte, führten sie ihn zu einer der Sequoiatreppen. Auf den mächtigen Zweigen des Baums waren kleine niedrige Schlafplattformen angebracht. Mit niedrigen Wänden und zum Himmel hin offen. Die Fußböden schwankten leicht in einer kalten Brise, die die tiefen, zarten Choralstimmen des Baumes geweckt hatte. Nirgal wurde auf der höchsten Plattform alleingelassen. Er packte sein Bettzeug aus und legte sich hin. Beim Chor des Windes in den Sequioia-Nadeln fiel er rasch in Schlaf.
In der Morgendämmerung erwachte er plötzlich. Er setzte sich an der Wand seiner Plattform auf, überrascht, daß der ganze Abend sich nicht als Traum erwiesen hatte. Er schaute über die Kante: Der Boden war sehr weit unten. Er saß wie im Krähennest eines riesigen Schiffs und rief eine blasse Erinnerung an sein hohes Bambuszimmer in Zygote wach; aber hier war alles sehr viel größer — die Sternenkuppel des Himmels, die entfernte, gezackte schwarze Linie des Horizonts. Das ganze Land war eine zerknitterte dunkle Decke, in die das Wasser des Reservoirs wie ein silberner Schnörkel eingefügt lag.
Er machte sich auf den Weg die Treppe hinunter. Es waren vierhundert Stufen. Der Baum war vielleicht 150 Meter hoch und stand über dem Abfall der 150 Meter hohen Canyonklippe. In der Zeit vor Sonnenaufgang sah er auf den Wall hinab, über den sie die Antilopen zu treiben versucht hatten, betrachtete den Steilhang, den sie hinunter geprescht waren und den klaren Damm dahinter.
Er ging zurück zur Baumgruppe. Einige Jäger waren jetzt auf. Sie bemühten sich, das Feuer wieder anzumachen und erschauerten in der Dämmerkälte. Nirgal fragte sie, ob sie an diesem Tag weiterziehen würden. Das war der Fall. Nach Norden durch das Juventa-Chaos und dann weiter zum südwestlichen Ufer des Chryse-Golfs. Danach wußten sie noch nicht.
Nirgal fragte, ob er eine Weile bei ihnen bleiben könne. Sie sahen überrascht aus, musterten ihn und sprachen untereinander in einer Sprache, die er nicht erkannte. Ja, er wollte die Diana wiedersehen. Aber es war noch mehr als das. Nichts in seinem Lung-gom-pa war so gewesen wie jene letzte halbe Stunde der Jagd.
Natürlich hatte sein Lauf die Bühne für das Erlebnis bereitet, genau wie der Hunger und die Erschöpfung. Aber dann war etwas Neues geschehen. Beschneiter Waldboden, die Verfolgung zwischen den urtümlichen Bäumen, das Rennen in die Schlucht hinunter, die Szene unten am Damm.
Die Frühaufsteher nickten ihm zu. Er konnte mitkommen.
Diesen ganzen Tag marschierten sie auf einem komplizierten Pfad durch das Juventa-Chaos nach Norden. Am Abend kamen sie zu einer kleinen Mesa, deren ganze Kappe von einem Obstgarten mit Apfelbäumen eingenommen wurde. Eine Rampe führte dort hinauf. Die Bäume waren in die Form von Cocktailgläsern gestutzt worden, und jetzt trieben aus den knorrigen alten Zweigen neue Triebe in die Höhe. Während des Nachmittags zogen sie mit Leitern von Baum zu Baum, schnitten die dünnen Triebe ab und ernteten einige harte, saure und unreife kleine Äpfel.
In der Mitte des Obstgartens war ein Bau mit offenen Wänden und rundem Dach. Sie nannten ihn ein Scheibenhaus. Nirgal ging hindurch und bewunderte die Konstruktion. Das Fundament war eine runde Betonplatte, die wie Marmor poliert war. Auch das Dach war rund und wurde von einem einfachen T aus inneren Wänden getragen — ein Durchmesser und ein Radius. In dem offenen Halbkreis waren Küche und Wohnraum, auf der anderen Seite Schlafzimmer und Bad. Die jetzt für Luft offene Umfassung konnte bei unfreundlichem Wetter durch transparente Wände aus Kuppelmaterial geschlossen werden, das wie Vorhänge rund herum gespannt wurde.
Die Frau, die die Antilopen zerlegt hatte, sagte Nirgal, daß es überall in Lunae Scheibenhäuser gäbe.
Auch andere Gruppen benutzten sie und pflegten die Obstgärten, wenn sie vorbeikamen. Sie waren alle Teil einer losen Koop und führten ein Nomadenleben mit etwas Ackerbau, Jagen und Sammeln. Jetzt kochte eine Schar die kleinen Äpfel und machte Apfelmus auf Vorrat, andere brieten über einem Feuer im Freien Antilopenfleisch oder arbeiteten in einer Räucherkammer.
Zwei runde Bäder neben dem Scheibenhaus dampften, und einige Leute legten ihre Kleider ab und hüpften in das kleine Bad, um sich vor dem Abendessen zu säubern. Sie waren sehr schmutzig, schließlich hatten sie lange im Hinterland gelebt. Nirgal folgte der Frau ( an ihren Händen klebte noch getrocknetes Blut) und gesellte sich im Bad zu ihnen. Das warme Wasser war wie eine andere Welt, als ob die Hitze des Feuers in eine Flüssigkeit verwandelt worden wäre, die man berühren und in die man den Körper eintauchen konnte.
Sie wachten in der Frühdämmerung auf und faulenzten am Feuer, kochten Kaffee und Kava, nähten Kleider und arbeiteten um das Scheibenhaus herum. Nach einer Weile sammelten sie ihre wenigen Reiseutensilien, löschten das Feuer und brachen auf. Jeder hatte einen Rucksack oder eine Gürteltasche; aber die meisten schritten so leicht dahin wie Nirgal oder noch mehr, nichts im Gepäck als eine dünne Schlafrolle und etwas Nahrung. Einige hatten Speere oder Pfeil und Bogen über der Schulter. Sie legten den ganzen Morgen ein scharfes Tempo vor und teilten sich dann in kleinere Gruppen, um Pinienzapfen, Eicheln, Wiesenzwiebeln und wildes Korn zu sammeln. Oder sie jagten nach Murmeltieren oder Fröschen und vielleicht auch größerem Wild. Sie waren hager. Die Rippen traten hervor, und die Gesichter waren schmal. Die Frau sagte zu ihm: Wir bleiben gern etwas hungrig, dann schmeckt das Essen besser. Und wirklich schlang Nirgal an jedem Abend dieses langen Marsches sein Essen hinunter wie beim Laufen — zittrig und gierig. Und alles schmeckte wie Ambrosia. Sie marschierten jeden Tag eine große Strecke und gerieten bei ihren großen Jagden oft in ein katastrophales Terrain, welches so rauh war, daß es oft vier oder fünf Tage dauerte, ehe es ihnen gelang, sich alle beim nächsten Scheibenhaus in seinem Obstgarten wiederzufinden. Da Nirgal nicht wußte, wo diese sich befanden, mußte er nahe bei der einen oder anderen Gruppe bleiben. Einmal ließen sie ihn die vier Kinder der Gruppe auf einer leichteren Strecke über das verkraterte Gelände von Lunae Planum führen; und die Kinder sagten ihm jedesmal, wenn sie sich entscheiden mußten, welche Richtung einzuschlagen war. Und sie erreichten als erste das nächste Scheibenhaus. Den Kindern gefiel das. Oft wurden sie von den größeren Gruppen gefragt, wann sie ein Scheibenhaus verlassen sollten. »He, ihr Kleinen, ist es Zeit zu gehen?« Dann antworteten sie einstimmig sehr sicher mit Ja oder Nein. Einmal gerieten zwei Erwachsene in Streit und mußten danach ihre Ansichten den vier Kindern vortragen, die gegen einen von ihnen entschieden. Die Metzgerfrau erklärte Nirgal: «Wir lehren sie, sie urteilen über uns. Sie sind hart, aber fair.«
Sie ernteten etwas vom Ertrag der Obstgärten: Pfirsiche, Birnen, Aprikosen, Äpfel.
Wenn eine Ernte überreif war, dann nahmen sie alles, kochten es ein und füllten es in Flaschen als Soßen oder Chutneys und hinterließen es in großen Speiseschränken für andere Gruppen oder sich selbst, für das nächste Mal. Dann zogen sie weiter, nach Norden über das Lunae-Land, bis zur Großen Böschung, dramatisch vom Hochplateau Lunae über fünftausend Meter bis zum Chryse-Golf, der nur etwas über tausend Höhenmeter lag, abfiel.
Der Weg über dieses steile Terrain war schwierig. Das Land war schroff und aufgerissen und zersplitterte in Millionen kleiner Verformungen. Hier waren keine Wege angelegt, und es gab kaum ein Durchkommen. Es ging bergauf und bergab über nahezu nicht erkennbare ausgezackte und ins Nichts führende Pfade. Und keine Scheibenhäuser weit und breit und kaum Nahrung zu finden. Ein Kind rutschte aus, als sie eine Reihe von Korallenkakteen kreuzten, die das Land wie ein Zaun aus Stacheldraht säumten, und es fiel mit dem Knie in ein Büschel Dornen. Dann dienten die Magnesiumstangen als Gerüst für eine Trage, und sie zogen weiter nach Norden, wobei sie den weinenden Jungen mit sich trugen. Die besten Jäger befanden sich mit Pfeilen und Bogen an den Flanken der Gruppe, um zu sehen, ob sie etwas erlegen könnten, das vorbeihuschte. Nirgal bemerkte einige Fehlschüsse. Dann erlegte ein weit fliegender Pfeil ein fliehendes Kaninchen, das taumelte und fiel. Dann töteten sie es. Ein erstaunlicher Schuß, der sie alle veranlaßte, schreiend herumzuspringen. Um den Schuß zu feiern, verbrauchten sie mehr Kalorien, als je zurückbekommen würden, wenn sie die winzigen Stücke von Kaninchenfleich, die der Anteil jeder Person waren, verzehrten. »Ritueller Kannibalismus an unserem Nagetierbruder«, sagte die Metzgerfrau verächtlich, als sie ihr Stück aß. »Sagt nie wieder, daß es so etwas wie Glück gibt!« Aber der ungestüme Schütze lachte sie bloß aus, und die anderen schienen sich über ihren Happen Fleisch zu freuen.
Dann trafen sie später am gleichen Tag auf einen jungen Karibu-Bullen, der sich verlaufen zu haben schien. Ihre Nahrungsprobleme waren gelöst, wenn sie ihn erwischen konnten. Aber er war vorsichtig, trotz seines verwirrten Verhaltens, hielt sich jenseits der Reichweite auch des weitesten Pfeilschusses auf und setzte sich von der Gruppe ab die Große Böschung hinunter, vor den Augen aller Jäger, die auf dem Hang verblieben waren.
Schließlich ließen sie sich alle auf Hände und Knie nieder und krabbelten mühsam über den mittäglich heißen Fels, um den Karibu zu umzingeln. Aber der Wind blies von hinten; und der Karibu bewegte sich scheu noch weiter hinunter und wandte sich nach Norden. Unterwegs graste er und schaute immer neugieriger auf seine Verfolger zurück, als ob er sich fragte, warum sie mit diesem Spiel fortfuhren. Auch Nirgal wunderte sich. Und er war offenbar nicht allein. Die Skepsis des Karibus hatte sie angesteckt. Leise und kräftigere Mißtöne erklangen in dem ständigen Gespräch, das deutlich eine Debatte über Strategie war. Nirgal begriff, daß das Jagen schwierig war und daß die Gruppe oft versagte. Daß sie dabei vielleicht nicht sehr gut waren. Sie wurden auf dem Fels geröstet und hatten seit einigen Tagen nicht mehr ordentlich gegessen. Das gehörte für diese Leute zum Leben, machte aber diesmal wirklich keinen Spaß mehr.
Als sie schließlich weiterzogen, schien sich der Horizont im Osten unter ihnen zu verdoppeln. Chryse Golf schimmerte blau und flach noch immer weit unten. Während sie dem Karibu den Abhang hinab folgten, kam das Meer immer stärker ins Blickfeld. Die Große Böschung war hier so steil, daß nicht einmal die enge Krümmung des Mars ausreichte, die Fernsicht zu behindern; und sie konnten viele Kilometer weit über Chryse Golf hinausblicken. Das Meer, das blaue Meer!
Vielleicht konnten sie den Karibu gegen das Wasser hin treiben. Aber jetzt wandte er sich nach Norden quer zum Abhang der Böschung. Sie krochen über eine kleine Bodenwelle hinter ihm her und hatten plötzlich einen guten Blick zur Küste hinunter. Grüner Wald neben dem Wasser, kleine weiß getünchte Gebäude unter den Bäumen. Ein weißer Leuchtturm auf einem steilen Felsen.
Während sie weiter nach Norden zogen, erschien über dem Horizont eine Wendung in der Küste. Genau dahinter lag eine Stadt an einer halbmondförmigen Bucht auf der Südseite von etwas, das sie jetzt als einen Meeresarm oder besser einen Fjord erkannten; denn jenseits einer schmalen Wasserstraße erhob sich eine Wand, die noch steiler war als der Abhang, auf dem sie sich befanden. Dreitausend Meter roter Fels ragten aus der See. Die gigantische Klippe erschien wie der Rand eines Kontinents. Die horizontalen Schichtungen waren durch den Wind von Milliarden Jahren tief eingeschnitten. Nirgal erkannte sofort, wo sie waren. Die massive Klippe war die dem Meer zugewandte Böschung der Sharanov-Halbinsel, und der Fjord deshalb der Kasei-Fjord und die Hafenstadt folglich Nilokeras. Sie hatten einen weiten Weg hinter sich.
Die Pfeiftöne zwischen den Jägern wurden sehr laut und ausdrucksvoll. Etwa die Hälfte der Gruppe richtete sich über einem Steinfeld auf. Sie schauten einander an, als wäre ihnen plötzlich etwas eingefallen. Dann erhoben sie sich und gingen den Weg hinunter zur Stadt. Sie gaben den Karibu auf und ließen ihn äsen. Nach einer Weile hüpften und sprangen sie unter Gebrüll und Gelächter bergab. Die Träger mit der Trage und dem verletzten Jungen ließen sie hinter sich.
Weiter unten warteten sie aber, unter den hohen Hokkaido-Fichten am Rand der Stadt. Als die Träger sie einholten, gingen sie zusammen zwischen den Bäumen hinunter in die oberen Straßen der Stadt. Als eine laute Schar kamen sie an feinen Häusern mit Fensterfronten vorbei, die den dicht gefüllten Hafen überblickten, direkt zu einer medizinischen Klinik, als ob sie genau wüßten, wohin sie gingen. Sie lieferten den verletzten Jungen ab und besuchten dann die öffentlichen Bäder. Nach einem schnellen Bad gingen sie zu der gekrümmten Geschäftsstraße hinter den Docks und fielen in drei oder vier benachbarte Restaurants mit Tischen unter Sonnenschirmen und Reihen leuchtender Glühbirnen ein. Nirgal setzte sich mit den jungen Leuten an einen Tisch in einem Fischlokal. Nach einer Weile kam der verletzte Junge mit verbundenem Knie und Wade hinzu; und sie alle aßen gewaltige Mengen Krabben, Muscheln, Forellen, frisches Brot, Käse, Bauernsalat und tranken literweise Wasser, Wein und Ouzo — alles in solchem Übermaß, daß sie, als sie genug hatten, davonstolperten, betrunken und mit prall wie Trommeln gefüllten Mägen.
Einige gingen unmittelbar in ihre übliche Herberge, wie es die Metzgerfrau nannte, um sich hinzulegen oder sich zu übergeben. Der Rest hinkte am Gebäude vorbei zu einem nahe gelegenen Park, wo eine Aufführung von Tyndalls Oper Phyllis Boyle mit anschließendem Tanz stattfand.
Nirgal lag mit der Parkgruppe ausgestreckt im Gras hinter dem Publikum. Wie die anderen war er von der Leistung der Sänger und die schiere Üppigkeit des von Tyndall eingesetzten Orchesterklangs fasziniert. Als die Oper zu Ende war, hatten einige aus der Gruppe ihren Schmaus hinlänglich verdaut, um zu tanzen; und Nirgal machte mit. Nach einer Stunde Tanz ging er, wie viele andere aus dem Publikum, zur Band. Er trommelte so lange, bis sein ganzer Körper wie das Magnesium des Schlagzeugs dröhnte.
Aber er hatte zu viel gegessen; und als einige aus der Gruppe wieder in die Herberge zurückkehrten, beschloß er, mit ihnen zu gehen. Auf dem Heimweg sagten irgendwelche Passanten so etwas wie: »Schaut euch diese Wilden an!«, und der Speerwerfer heulte. Dann preßte er zusammen mit einigen der jungen Jäger die Passanten gegen eine Mauer und brüllte Beschimpfungen: »Hütet eure Zunge, oder wir werden euch das Fell gerben! Ihr Ratten im Käfig, ihr Drogensüchtigen, ihr Schlafwandler, ihr verdammten Erdenwürmer! Ihr denkt, ihr könnt Drogen nehmen und bekommen, was wir kriegen. Wir werden euch in den Arsch treten, dann werdet ihr richtig etwas fühlen. Ihr werdet sehen, was wir meinen.« Dann zog Nirgal ihn zurück und sagte: »Komm schon, mach keinen Ärger!« Und die Passanten stürzten sich mit Gebrüll auf sie, Männer mit harten Fäusten und Füßen, die nicht betrunken, aber ziemlich wütend waren. Die jungen Jäger mußten sich zurückziehen und sich dann von Nirgal wegführen lassen, als die Passanten sich damit zufrieden gaben, sie verscheucht zu haben. Die Leute schrien weiter Beschimpfungen, torkelten die Straße hinauf, hielten sich ihre Beulen, lachten und knurrten, zutiefst von sich selbst überzeugt. »Verdammte Schlafwandler, packt euch in eure Giftbüchsen ein, wir werden euch in den Arsch treten! Wir werden euch samt eurer Puppenhäuser ins Wasser schmeißen! Dämliche Schafe, die ihr seid!«
Nirgal drängte sie weiter und mußte dabei kichern. Die Radaubrüder waren sehr betrunken, und Nirgal war selbst nicht viel nüchterner. Als sie zu ihrer Herberge kamen, schaute er in die Kneipe gegenüber, sah die Metzgerfrau dort sitzen und ging mit dem Rest der wilden Kerls hinein. Er saß da und beobachtete die Burschen eine Weile, während er einen Cognac trank und ihn über die Zunge rollen ließ. Wilde hatten die Passanten sie genannt. Die Frau schaute ihn an und überlegte, was er wohl dachte. Viel später stand er mühsam auf und verließ die Kneipe mit den anderen, ging unsicher über die gepflasterte Straße und summte mit: »Swing Low, Sweet Chariot«, als sie kläfften. Auf dem Obsidianwasser des Kasei-Fjords schaukelten die Sterne auf und ab. Geist und Leib voller Empfindungen, süße Erschöpfung als Zustand der Gnade.
Am nächsten Morgen schliefen sie lang und erwachten spät, benommen und verkatert. Sie lagen eine Weile in ihrem Schlafsaal und schlürften Kavajava. Dann gingen sie die Treppe hinunter und aßen, obwohl sie behaupteten, noch vollgestopft zu sein, ein mächtiges Herbergenfrühstück. Während des Essens beschlossen sie, zum Fliegen zu gehen. Die vom Kasei-Fjord herunterkommenden Winde waren so stark wie je auf diesem Planeten; und Windsurfer und Flieger aller Arten waren nach Nilokeras gekommen, um das auszunutzen. Natürlich konnten jederzeit Howler die Situation ›außer Rand und Band‹ bringen und den Spaß für alle, außer den großen Windreitern, beenden. Aber die durchschnittliche steife Brise des Tages war fantastisch.
Die Operationsbasis der Flieger war eine Kraterinsel fern der Küste namens Santorini. Nach dem Frühstück ging die Gruppe zusammen hinunter zu den Docks und bestieg eine Fähre. Eine halbe Stunde später schifften sie sich auf der kleinen bogenförmigen Insel ein und wanderten mit den anderen Passagieren zum Segelflugplatz.
Nirgal war seit Jahren nicht mehr geflogen, und es war ein großes Vergnügen, sich in der Gondel eines Luftschiffgleiters anzuschnallen, den Mast aufzustellen, dann loszumachen und bei den kräftigen Aufwinden, die über den steilen inneren Rand von Santorini bliesen, hochzusteigen. Als Nirgal aufstieg, sah er, daß die meisten Flieger Vogelanzüge der einen oder anderen Art trugen. Es sah aus, als flöge er in einem Schwärm breitflügliger Kreaturen, die nicht wie Vögel aussahen, sondern eher wie fliegende Füchse oder mythische Mischwesen wie der Greif oder Pegasus.
Vogelmenschen. Die Vogelanzüge waren verschiedenartig und ahmten in gewisser Hinsicht die Gestalten unterschiedlicher Arten nach: Albatros, Adler, Lämmergeier ...
Jeder Anzug umschloß seinen Träger in etwas, das im Endeffekt ein sich ständig veränderndes Exoskelett war, das auf den Körperdruck des Fliegers reagierte, um Positionen einzunehmen und zu halten oder bestimmte Bewegungen auszuführen, die entsprechend der innen ausgeübten Kraft verstärkt wurden, so daß die Muskeln des Menschen mit den großen Flügeln schlagen oder sie gegen die große Drehkraft der Windstöße in Stellung halten konnten, und gleichzeitig die stromlinienförmigen Helme und Schwanzfedern in den richtigen Positionen hielten. Computer in den Anzügen halfen den Fliegern, die das nötig hatten, und konnten sogar als automatische Piloten fungieren. Aber die meisten Flieger zogen es vor, selbst zu denken und kontrollierten den Anzug als einen Waldo, der die Kraft der eigenen Muskeln vielfach verstärkte.
Nirgal saß in seinem Luftgleiter und beobachtete mit Vergnügen und Besorgnis zugleich, wie die Vogelmenschen in schrecklichen Stürzen an ihm vorbei auf das Meer zuschössen, dann ihre Flügel ausbreiteten, wegkurvten und wieder mit dem Aufwind der inneren Kraterwand aufstiegen. Es sah für Nirgal so aus, als erforderten die Vogelanzüge ein hohes fliegerisches Geschick. Sie waren das Gegenstück zu den Luftgleitern, von denen einige mit Nirgal über die Insel schwirrten und in viel sanfteren Stößen auf- und abstiegen und die Aussicht genossen wie wendige Ballonfahrer.
Dann entdeckte Nirgal, neben sich, in einer ansteigenden Spirale an ihm vorbeischwirrend, das Gesicht von Diana, der Frau, die die Jagd angeführt hatte.
Sie erkannte ihn auch, hob das Kinn und entblößte in einem flüchtigen Lächeln die Zähne. Dann zog sie die Flügel ein, kippte nach vorn und fiel mit schrecklichem Geräusch hinab. Nirgal beobachtete sie von oben mit ängstlicher Erregung und dann einem Moment des Schreckens, als sie dicht am Rande der Klippe von Santorini hinabtauchte. Aus seiner Perspektive hatte es ausgesehen, als ob sie aufschlagen würde. Dann war sie wieder oben und stieg im Aufwind in engen Spiralen hoch. Das sah so anmutig aus, daß er sich vornahm, selbst zu lernen, in einem Vogelanzug zu fliegen, selbst als er merkte, daß sein Puls immer noch vom Anblick ihres Sturzflugs raste. Stürzen und Steigen, Stürzen und Steigen — kein Luftgleiter konnte so fliegen, nicht einmal annähernd. Vögel waren die großartigsten Flieger, und Diana flog wie ein Vogel. Jetzt waren die Menschen außer allem anderen auch noch zu Vögel geworden.
Mit ihm, hinter ihm, um ihn, als ob sie einige jener kühnen Balztänze aufführte, die Mitglieder mancher Arten einander erweisen. Nach ungefähr einer Stunde lächelte sie ihm ein letztesmal zu, zog die Kapuze zurück und tauchte weg. Dann trieb sie in lässigen Kreisen zu dem Segelflughafen in Phira. Nirgal folgte ihr nach unten und landete eine halbe Stunde später mit einem Stoß gegen den Wind. Er lief und hielt kurz vor ihr an. Sie hatte gewartet, die Flügel um sich herum auf den Boden ausgebreitet.
Sie ging in einem Kreis um ihn herum, ganz als ob sie immer noch einen Balztanz aufführte. Dann ging sie zu ihm, zog die Kapuze zurück und bot ihm den Mund. Ihr schwarzes Haar spreizte sich in dem Licht wie ein Krähenflügel. Die Diana. Sie reckte sich auf Zehenspitzen und küßte ihn voll auf den Mund. Dann trat sie zurück und beobachtete ihn ernst. Er erinnerte sich, wie er sie nackt vor der Jagd hatte laufen sehen, mit einem grünen Schal winkend.
»Frühstück?« fragte sie.
Es war schon um die Mitte des Nachmittags, und er hatte großen Hunger. »Sicher.«
Sie speisten im Restaurant des Segelflughafens, blickten auf den Bogen der kleinen Bucht der Insel und die Weite der Sharanovklippen und die Kunststücke der Flieger hinaus, die noch in der Luft waren. Sie sprachen über das Fliegen und das Laufen übers Land. Über die Jagd nach den drei Antilopen und die Inseln des Nordmeers und den großen Fjord von Kasei, der seinen Wind über sie strömen ließ. Sie flirteten; und Nirgal fühlte die angenehme Erwartung, was das anbelangte, worauf sie hinzielten. Er schwelgte darin. Es war lange her. Auch dies war ein Teil des Abstiegs in die Stadt, in die Zivilisation. Flirten, Verführung. Wie wundervoll war das alles, wenn man interessiert war und sah, daß auch die andere Person Interesse zeigte! Sie war noch recht jung, nahm er an. Aber ihr Gesicht war von der Sonne verbrannt, und die Haut hatte Falten um die Augen — keine Jugendliche. Wie sie sagte, war sie auf den Jupitermonden gewesen und hatte in der neuen Universität von Nilokeras gelehrt und hatte sich jetzt für einige Zeit den Wilden angeschlossen. Vielleicht zwanzig m-Jahre alt oder älter. In diesen Tagen schwer zu sagen. Auf jeden Fall eine Erwachsene. In diesen ersten zwanzig m-Jahren erwarben die Leute das meiste an Erfahrung, die ihnen je zuteil werden würde. Danach war es nur noch eine Sache der Wiederholung. Er hatte alte Narren und junge Weise fast ebenso oft getroffen wie das Gegenteil. Sie waren beide Erwachsene und Altersgenossen. Und da waren sie nun und erlebten gemeinsam die Erfahrung der Gegenwart.
Nirgal beobachtete ihr Gesicht, wenn sie sprach. Sorglos, schlau, vertrauensvoll.
Eine Minoerin: Dunkles Haar, dunkle Augen, Adlernase, dramatische Oberlippe. Mediterrane Vorfahren. Vielleicht griechisch, arabisch, indisch. Wie bei den meisten Yonsei war das schwer zu sagen. Sie war einfach eine Marsfrau, mit einem Dorsa-Brevia-Englisch. Und der Ausdruck ihrer Augen, als sie ihn beobachtete — wie oft war das auf seinen Wanderungen geschehen. Eine Konversation, die an einer Stelle eine Wendung nahm; und dann flog er plötzlich mit irgendeiner Frau in den langen Gleitflug der Verführung, und der Flirt führte in ein Bett oder eine tiefe Senke in den Hügeln...
»He, Zo!« sagte die Metzgerfrau im Vorbeigehen. »Gehst du mit uns zum Ahnenhals?«
»Nein«, sagte Zo.
»Ahnenhals?« fragte Nirgal.
»Boones Hals«, sagte Zo. »Die Stadt oben auf der polaren Insel.«
»Ahnen? «
»Sie ist John Boones Ururenkelin«, erklärte die Metzgerfrau.
»Über wen?« fragte Nirgal und schaute Zo an.
Sie sagte: »Jackie Boone. Meine Mutter.«
»Ah!« schaffte Nirgal es noch zu sagen.
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. Das Baby, das er Jackie in Cairo hatte stillen sehen. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war deutlich, als er es wußte. Er bekam eine Gänsehaut, und die Haare sträubten sich an seinen Unterarmen. Er beglückwünschte sich und zitterte. Er sagte: »Ich muß wohl alt werden.«
Sie lächelte; und er merkte plötzlich, daß sie gewußt hatte, wer er war. Sie hatte mit ihm gespielt, vielleicht als Experiment eine kleine Falle gestellt oder um ihrer Mutter zu mißfallen oder aus irgendeinem anderen Grund, den er sich nicht vorstellen konnte. Aus Spaß.
Jetzt sah sie ihn finster an und versuchte ernst zu wirken. Sie sagte: »Das spielt keine Rolle.«
»Nein«, sagte er. Denn es waren noch mehr Wilde da draußen.