8. Kapitel Ein großes Ding

Nach dem Unwetter wurde es in Vengiboneeza sogar noch wärmer, als es zuvor gewesen war. Auf den Hügeln und Hängen über der Stadt brachen Dutzende von Blumen in wilden Farbenräuschen hervor, die Bäume wuchsen so rasch, daß man ihre Zweige sich fast wie Arme ausbreiten sehen konnte, und die Luft war erfüllt von schweren Düften. Es war fast so, als wären diese drei Tage des schwarz-verfinsterten Himmels und der krachenden Gewitter nur das letzte konvulsivische Aufzucken des Langen Winters gewesen und als sei nun wahrhaftig der Junge Frühling angebrochen und werde ewiglich währen.

Koshmar jedoch steckte voller Unruhe, und ihre Bekümmerung vertiefte sich von einem Tag zum nächsten immer mehr.

Es gab da einen versteckten Ort, den sie in einem zerstörten Stadtteil gefunden und sich erwählt hatte, einen Ort, den sie als ‚meinen Schrein‘ bezeichnete und den sie so geheim hielt, daß nicht einmal Torlyri davon wußte. An diesen Ort ging sie, wenn sie sich unsicher fühlte oder des Beistands der Götter oder ihrer Vorgängerinnen im Führertum besonders bedurfte — kurz, es war ein Ersatz für ihren Schwarzen Stein daheim in der Zentralkammer des Kokons.

Zu Beginn war dieser Schrein, ihre Kapelle, für sie nichts weiter als eine Ablenkung gewesen, ein Ort heiterer Entspannung, den sie in weitbemessenen Abständen aufsuchte und manchmal wochenlang vergaß. Nun jedoch fühlte sich Koshmar beinahe täglich zu diesem Ort hingezogen und schlich sich heimlich in den frühen Morgenstunden, oder spät in der Nacht, oder zuweilen gar mittags davon, anstatt ihre Pflichten als Richterin zu erfüllen, wie es sich für eine Stammesführerin gehörte.

Um zu ihrer Kapelle zu gelangen, wandte Koshmar sich ein Stück weit ostwärts den Bergen zu, dann nach Norden und vorbei an einem uneinladenden Stumpf von einem schwarzen Turm, der als Oberrest eines urzeitlichen Erdbebens dort aufragte, sodann fünf bestürzend steile Treppenfluchten hinab, die auf einen flachen schalenförmigen Platz führten, der mit rosa Marmorplatten gepflastert war. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes standen fünf intakte und sechs eingebrochene Bögen, deren jeder einmal der Zugang zu einem von elf Räumen gewesen sein mußte, die in den Tagen der Großen Welt von hohem Zeremonialcharakter gewesen sein mußten. Nun waren diese Räume leer; doch alle außer zweien oder dreien waren noch mit reichen vergoldeten Wandreliefs geschmückt, Darstellungen absonderlicher, schöner Gestalten mit beinahe menschlich wirkenden Leibern und Gesichtern von Sonnen, Darstellungen gespenstischer Tiere mit langgestreckten Gliedmaßen und solchen von Girlandenkränzen ineinander verschlungener langstieliger unirdischer Pflanzen. Zu diesen Kammern führten auf Zapf angeln ruhende steinerne Türen.

Koshmar hatte durch Zufall herausgefunden, wie sich diese Türen bewegen ließen, und sie hatte sich die mittlere der elf Kammern ausgewählt und dort ihre ‚Kapelle‘ eingerichtet. Sie hatte dort einen kleinen Altar gebaut und um ihn herum Gegenstände von ritualistischer Wichtigkeit oder von starkem Gefühlswert angeordnet; und hier kniete sie in keuscher klosterhafter Klausur und sprach mit den Göttern — oder eigentlich meistens mit Thekmur, die vor ihr Führer des Stammes gewesen war.

So kniete sie eben jetzt und häufte vertrocknete Blüten zu einem Arrangement, das sie dann entzündete.

Der duftende Rauch stieg aufwärts — zu Thekmur. Koshmar trug die altelfenbeinerne Maske der vorherigen Führerin, Sismoil, ein flaches schimmerndes Stück mit nur zwei sehr knappen Sehschlitzen für die Augen.

„Wie lange noch wird es währen“, fragte sie die tote Stammesführerin, „bis wir herausfinden, warum wir hier sind? Du sitzest nun bei den Göttern, o Thekmur. So sag mir denn an und künde mir, was uns die Götter im Ratschluß bereiten. Und natürlich auch, was sie mit mir vorhaben. bitte, o Thekmur.“

Fast konnte sie Thekmurs Seele vor sich in der Luft schweben sehen. Bei jedem Besuch in der Kapelle wurde Thekmur ein wenig deutlicher sichtbar. Koshmar hoffte, daß die Zeit kommen werde, da Thekmurs Erscheinung für sie so lebendig und fest werden würde, wie es ihr eigener Arm war.

Thekmur war eine kleine, massige Frau gewesen, sehr stark in Körper und Geist, mit einem ergrauten Pelz und grauen Augen, die ruhig und stetig der Welt entgegenblickten. Sie hatte viele Männer geliebt, aber auch viele Frauen, und sie hatte über den Stamm geherrscht, ruhig und in selbstverständlicher Sicherheit, bis ihr Todestag nahte; und dann war sie ohne den leisesten Schauder aus der Schleusentür des Kokons gegangen. Manchmal gestand sich Koshmar ein, daß sie selber nur ein bleicher schattenhafter Abklatsch von Thekmur sei, ein schwacher Ersatz für die dahingegangene Stammesführerin; allerdings, derartig düstere Gedanken überkamen Koshmar nur selten.

„Die Götter wollen nicht zu mir sprechen“, beklagte sie sich bei Thekmur. „Ich sende den Knaben Hresh hinaus, und er findet nichts, und nun hat er etwas gefunden, aber bisher ist nichts von Nutzen daraus gekommen. Und es gab ein furchtbares Unwetter, und während dieses Unwetters zerriß der Himmel, und die Feuerblitze waren schrecklich.

Was hat das alles zu bedeuten? Worauf warten wir denn hier? Antworte mir doch, o Thekmur! Nur dies einemal, antworte mir!“

Der Rauch kräuselte sich in die Höhe, und das blasse Abbild Thekmurs wirbelte dahinter in der Dunkelheit. Aber Thekmur sprach nicht, oder wenn sie sprach, so konnte doch Koshmar die Worte nicht hören.

Nur allmählich, Stückchen für Stückchen, war es Koshmar im Verlauf der verflossenen Monde bewußt geworden, daß sie mehr und mehr in eine graue farblose Verzweiflung versinke, oder doch in einen Zustand, der Verzweiflung so nahe, wie sie es zu empfinden vermochte. Dem Leben war der Antrieb nach vorn, die Zielstrebigkeit verloren gegangen, hier in Vengiboneeza. Alles schien stillzustehen und auf der Stelle zu treten. Und das Glücksgefühl, das sie in der ersten Zeit durchströmt hatte, während sie das Neue Leben in der Stadt organisierte, war inzwischen völlig dahingeschmolzen.

Im Kokon erwartete man, daß alles auf ewig unbeweglich und unveränderlich bleibe, statisch und im ausgewogenen Stillstand. Niemand stellte dieses Leben in Frage. Man wuchs heran, man tat genau, was einem zu tun aufgetragen wurde, man hielt sich an die Gebote der Götter, und man wußte, daß man zu seiner an- und zugemessenen Zeit sterben mußte, so daß andere den freigewordenen Platz einnehmen könnten; aber man begriff auch gleichfalls stets und immer, daß das eigene persönliche Leben vom ersten bis zum letzten Tag sich innerhalb der starren schützenden Mauern des Kokons abspielen werde und daß es in keinem grundlegenden Punkt verschieden sein könne von dem Leben, welches die Großeltern oder die Großeltern der Großeltern in ferner Vergangenheit über Tausende und Abertausende Jahre gelebt hatten. Ziel und Zweck deines Individuallebens war es nur, das ‚Leben des Volkes‘ weiterzutragen, ein Glied zu werden in der gewaltigen Verkettung der Zeitalter, die sich von der Epoche der Großen Welt dehnte bis zu der erhofften, erwarteten Neuen Frühlingszeit. Man erwartete als Individuum nicht, daß man selbst diesen Jungen Frühling noch erleben werde; aber ebenso wenig glaubte man an ein persönliches Leben außerhalb des Kokons.

Nun aber war (ungeachtet der gelegentlich aufsteigenden Zweifel) der Neue Frühling erschienen. Die Welt entfaltete sich wie eine Knospe zur Blüte. Und das Volk war aufgebrochen und dem entgegen gewandert. Der geweissagte erste Schritt aber, die erste Etappe in diesem Großen Auszug sollte der Aufenthalt in Vengiboneeza sein, und bisher hatte dieser Aufenthalt nichts weiter gebracht als Unruhe, Unbehagen und Unsicherheit. Sogar ihre Menschlichkeit war in Zweifel gezogen worden — durch jene abscheulichen verächtlichen Lügner, diese Künstlichen der Saphiraugen am Tor. Und obwohl Koshmar absolut überzeugt war, daß die Behauptung dieser drei seltsamen Wächter, daß das Volk nicht zu den Menschlichen gehöre, völliger Unsinn sein mußten, obwohl, wie sie argwöhnte, für einige der anderen im Stamm dieses Problem noch ungelöst blieb und Anlaß bot für eine große Angst und Aufgeregtheit des Herzens.

„Wie kann ich den Lauf der Dinge beeinflussen?“ fragte Koshmar die Frau, die vor ihr geherrscht hatte. „Mein Leben rauscht an mir vorbei; ich will die Welt mit meinen Armen an mich reißen, nun da sie uns gehört. Ich bin ungeduldig, Thekmur, ich komme mir eingesperrt vor, als lebten wir immer noch im Kokon!“ Etwas in ihrem Wesen sehnte sich danach, aus dieser Stadt fortzuziehen, weiterzuziehen, auch wenn sie nicht wußte, wohin; und dennoch verspürte sie gleichzeitig den Zauber Vengiboneezas über sich und fürchtete sich davor, hier fortzugehen, während sie gleichzeitig ein Sehnen nach neuen Wagnissen in der Fremde und weit fort in der Seele brannte.

Koshmar wußte, daß viele vom Stammesvolk hier durchaus glücklich und zufrieden waren. Aber diese waren Menschen, die überall glücklich und zufrieden sein würden. Anstelle des bedrängten, intensiven nach innen gewandten Lebens in der Welt des Kokons bot sich ihnen jetzt eine ganze gewaltige Stadt als Bühne. Sie hatten ein angenehmes Leben — aus den Gärten, die sie hier angelegt hatten, strömte Nahrung im Überfluß, und es gab Fleisch genug, das die Krieger von den Hängen des ‚Frühlingsberges‘, wie Hresh ihn getauft hatte, nach Hause brachten, wo es Wild aller Art zuhauf gab und die Jagd leicht war. Für diese Leute im Stamm war es eine Zeit des Frohlockens und der Leibesseligkeit. Sie tvinnerten, sie sangen und sie spielten. Sie paarten sich und brachten Nachkommen hervor. Die Zahl der Stammesangehörigen war bereits über siebzig, und in kurzem war mit der Ankunft weiterer Kinder zu rechnen. Und allesamt durften sich auf ein üppiges und angenehmes Leben freuen, ohne daß die grimmige Aussicht auf ein grausames Grenzalter nun ihr Glück schmälern konnte.

Andere allerdings waren nicht aus solchem milchsuppensanften Material. Koshmar erkannte durchaus, daß beispielsweise Harruel vor Ungeduld und Gier nach Veränderung geradezu kochte. Konya und einige der Jungmänner, wie Orbin, schienen mehr und mehr in seine Richtung zu treiben und unter seinen Einfluß zu geraten. Und Hresh, der allmählich zum Mann heranwuchs, war ihr mehr denn je ein Rätsel. Das Mädchen Taniane entpuppte sich auf einmal als Ränkeschmiedin, als Flüsterpropagandistin und ausgekochte Ausbrüterin von Träumen. Man konnte den Ehrgeiz direkt in ihren Augen funkeln sehen. Aber worauf richtete sich ihr Ehrgeiz?

Selbst Torlyri wirkte inzwischen abweisend und war wie eine Fremde. Sie tvinnerten jetzt nur noch selten, und wenn sie es taten, war es irgendwie eine verkrampfte, unergiebige Angelegenheit. Koshmar wußte, daß Torlyri sich partnerpaaren wollte; aber sie enthielt sich dem, vielleicht weil sie das Gefühl hatte, daß dadurch ihre Beziehung zu Koshmar leiden müsse, vielleicht weil sie als die Opferfrau des Stammes nicht absehen konnte, wie sie damit die Funktionen einer Ehepartnerin und Mutter würde in Einklang bringen können. Oder aber sie glaubte vielleicht, daß es im Volk keine Männer gebe, mit denen sie sich als passende gleichrangige Partnerin verbinden könne, nachdem sie so lange Zeit ihre Priesterin gewesen war. Was immer es sein mochte, es bewirkte Störung und Verstörung in Torlyri: und alles, was Torlyri beunruhigte, beunruhigte auch Koshmar.

„Was könnte ich tun, damit du zu mir redest?“ flehte sie Thekmur an. „Soll ich einem der Götter ein besonderes Opfer darbringen? Soll ich auf Pilgerschaft gehen? Soll ich Torlyri hierher bringen, und wir tvinnern und kommen euch dabei nahe?“

Aus irgendeiner Ritze in der Wand tauchte ein kleines Geschöpf auf, ein schmales blaues Tierchen mit schimmernder Schuppenhaut, langen zierlichen Beinen und leuchtend goldenen Augen. Beim Anblick Koshmars hielt es inne, schnüffelte in die Luft und richtete sich hoch auf den dünnen Beinchen auf und betrachtete sie eindringlich. Es war etwas Stilles und Sanftes an dem Geschöpf, der feuchte Blick war ruhig und ohne Furcht.

„Bist du zu mir gesandt?“ fragte Koshmar.

Das Tier beobachtete sie weiter schnüffelnd.

„Was bist du für ein Geschöpf? Hresh würde das wissen — oder doch so tun, als ob, und dir deinen Namen geben. Aber das kann ich auch selbst tun. Du bist das Thekmur, ja? Gefällt dir der Name? Thekmur war eine große Führerin. Sie fürchtete nichts, genau wie du.“

Das Thekmur schien zustimmend zu lächeln.

„Und sie war eine Führerin, die alles aushielt, genau wie du alles ausgestanden haben mußt“, sprach Koshmar weiter. „Denn du hast den Langen Winter durchlebt, wie? Du wirkst so zart, doch deine Art muß zäh sein. Die Saphiräugigen sind ausgestorben und die Seeherrscher sind tot und alle die anderen großen Völker sind ebenfalls nicht mehr, aber dich, dich gibt es noch. Nichts jagt dir Furcht ein. Nichts wird dir zuviel. Ich will deinem Beispiel folgen, kleines Thekmur.“

Auf einmal begann der Boden zu schwanken, eine seitliche schwingende Bewegung versetzte die ganze Kapelle ins Wanken. Früher hätte Koshmar sich wohl mit einem Satz ins Freie gerettet, in die Sicherheit; aber das Thekmur rührte sich nicht von seiner Stelle auf der anderen Seite des Altares, und sie hielt gleichfalls stand und wartete ohne Bestürzung auf das Ende des Bebens. Und es war auch kurz darauf wieder vorbei. Das kleine Tier schritt mit großer Würde aus der Kammer. Koshmar folgte ihm. Es war wenig Schaden entstanden, nur ein paar überhängende Balustraden einer Ruine waren herabgestürzt.

Das ist ein Omen, sagte Koshmar zu sich selber. Es zeugt von der Wachsamkeit der Götter, die ihre Hände auf die Erde gelegt haben, um mich daran zu mahnen, daß es sie gibt und daß sie allmächtig sind, und daß ihr Planen gut ist, und daß wir, wenn die Zeit reif ist, ihre Wünsche wissen werden.

Das Erdbeben so kurz nach dem Unwetter ließ Hresh keinen Zweifel mehr, daß es für ihn Zeit sei, endlich wieder zu dem Platz mit den sechsunddreißig Türmen zurückzukehren. Derartige Omina waren zu gewichtig und zu dringlich, als daß man sie hätte mißachten dürfen. Die Götter hatten schwer die Hand auf ihn gelegt und drängten ihn. Es geziemte sich nunmehr, daß er den Wunderstein einsetzte, um an das in der unterirdischen Höhle angehäufte Wasser zu gelangen.

„Mach dich bereit“, beschied er Haniman. „Heute ist der Tag. Ich gedenke erneut in die verborgene Höhle hinabzusteigen.“

Und sie stapften davon in Richtung auf das Stadtviertel Emakkis Boldirinthe. Es war ein sonniger Morgen, der Himmel wolkenlos, doch voller gewaltiger Schwärme von breitschwingigen, langhalsigen blauroten Vögeln, zweifellos auf einem gewaltigen Wanderzug, die kreischend oben dahinzogen. Auf dem ganzen Weg tanzte und kapriolte und jodelte Haniman, so begierig war er darauf, die geheimnisvolle Höhle erneut zu erleben.

Sie betraten den Turm der schwarzen Steinplatte. Sogleich rannte Haniman in die Mitte und kauerte sich auf dem Stein nieder wie beim erstenmal, auf daß Hresh auf ihn steigen und gegen die Metallstrebe schlagen könne, durch die die Plattform abwärts in Bewegung gesetzt wurde. Hresh aber bedeutete ihm mit einer Handbewegung, von da wegzugehen. Diesmal hatte er nämlich einen Stab mitgebracht und brauchte darum nicht auf Hanimans Rücken zu klettern, um die Verstrebung zu erreichen.

„Warte du hier auf mich!“ befahl Hresh. „Ich will allein hinabsteigen.“

„Aber ich will doch auch sehen, was dort unten ist, Hresh!“

„Ja, das kann ich mir denken. Aber ich möchte sicher sein, daß ich von dort unten auch wieder heil herauskomme. Beim letztenmal ist die Platte von allein wieder aufgestiegen. Vielleicht passiert das diesmal nicht. Bleib also du hier, bis ich dich anrufe, dann schlage mit diesem Stab da gegen das Metall und hole mich herauf!“

„Aber.“

„Tu, was ich dich heiße!“ sagte Hresh und versetzte der Strebe rasch einen Schlag mit dem Stab. Die Steinplatte setzte sich ächzend und stöhnend in Bewegung. Rasch warf er Haniman den Stab zu. Dieser stand mit sauertöpfischem, enttäuschtem Gesicht da, während Hresh in die Kellertiefen versank.

Bernsteinlicht erglühte. Scharen von düsterglotzenden Gestalten an den Wänden wurden sichtbar, dieses wilde Getümmel monströser plastischer Leiber. Hresh holte unwillkürlich tief Luft vor Verblüffung, und die stechende abgestandene, so fremdartige Luft drang ihm in die Lungen.

Vor ihm lag die Apparatur mit den Hebeln und Knöpfen. Er lief auf sie zu.

Hastig holte er den Barak Dayir aus seinem Beutel und schlang rasch sein Sensororgan um ihn. Sogleich durchflutete die seltsame Musik des Steins seine Seele mit fernem Klingen und einem matten gedehnten Dröhnen, von scharfen ehernen Schlägen akzentuiert.

Er begriff nun besser, wie er das Gerät zu beherrschen habe. Diesmal gab es keine Stürme. Diesmal schwebte er nicht in die Himmel hinauf, sondern weitete den Wahrnehmungsbereich horizontal nach allen Richtungen aus, so daß er sich ausbreitete, bis er die ganze Stadt Vengiboneeza umfaßte. In seinem summenden Verstand erspürte er die Struktur der Stadt als eine Reihe ineinander greifende Ringe, zu Hunderten, große und breite und schmale, kleine, und er erkannte sie so klar, als wären sie nichts weiter als ein halbes Dutzend in den Boden geritzte gerade Linien. Flimmernde glühendrote Lichterpunkte brannten an vielen Stellen entlang dieser Ringzonen.

Hresh beschloß, diese Lichterpunkte ein andermal zu untersuchen. Heute war seine Aufgabe, sich mit der Maschine der Knöpfe und Hebel vertraut zu machen. Er faßte die selben Knöpfe wie zuvor — er konnte auf ihnen die Markierungen seiner Handwärme von seinem letzten Besuch auf ihnen ausmachen — eine erregte flackernde gelbe Schwingung — ‚ und er ergriff sie mit aller seiner Stärke.

Eine unwiderstehliche Kraft bemächtigte sich seiner sogleich und riß ihn empor und trug ihn, als wäre er ein Staubkorn, in eine andere Dimension.

Die Große Welt explodierte rings um ihn zu grandiosem Leben.

Er befand sich noch immer in Vengiboneeza, doch war es nicht mehr die Ruinenstadt. Es war wieder, wie es einst gewesen, die von Leben überquellende Stadt; diesmal aber war es keine flüchtige gleitende Vision, sondern lebendig, leibhaftig und greifbar, von der unbestreitbaren Dichte der höchsten Realität.

Die Stadt schimmerte im heißen Schein ihrer Lebensüberfülle und Lebendigkeit, und er, Hresh, befand sich überall mitten darin, schwebte durch sämtliche Straßen gleichzeitig, ein unsichtbarer Beobachter auf dem zentralen Marktplatz, auf den Marmorkais am Gestade, in den Villen auf den begrünten Hängen des Hügeldistriktes.

Ich bin hier, dachte er, ich bin wirklich und wahrhaftig hier. Ich bin in den Mahlstrom, den Abgrund der Zeit wie ein Staubkorn hinabgesaugt worden wie durch einen Strohhalm und mitten ins Herz der Großen Welt geschleudert worden.

Er bangte, ob es ihm je wieder möglich sein werde, in seine vertraute Welt zurückzukehren.

Und dann erkannte er, daß es ihm unwichtig war.

Wohin er den Blick wandte, sah er dichte Gruppen von Saphiräugigen. Die Leute bewegten sich gelassen, selbstsicher mit untergehakten Armen dahin, schlendernd, gemächlich. Und wieso sollten sie auch nicht selbstsicher und gelassen sein? Sie waren die Herren der Welt. Hresh betrachtete sie ehrfürchtig. Was für gewaltige, furchterregende Bestien sie doch waren, mit ihren übermäßigen Kieferbacken, der Myriade blitzender Zähne, den rauhen grünen Schuppen und diesen glotzenden saphirblauen Augen! Wie stolz sie auf ihren mächtigen fleischigen Hinterbeinen durch die Straßen schwankten, wie sie sich mit den riesigen dicken Schwänzen abstützten! Jedoch, man durfte sie eigentlich nicht wirklich als Bestien ansehen, so furchteinflößend sie auch aussahen. In ihren seltsamen Augen leuchtete eine hellwache, scharfe Intelligenz. Die langen Schädel wölbten sich zu erstaunlich hohen Kranialschalen auf, unter denen Hresh die Ströme in ihren großen Gehirnen ticken fühlte.

Diese gewaltigen Gehirne waren von einer kalten trägen Flüssigkeit durchströmt, fast wie Blut, aber eben überhaupt nicht Blut. Aber das Denken, der Verstand der Saphiräugigen war weder träge noch kalt. Hresh spürte das Donnern ihrer Gedanken von überall her auf ihn einhämmern. Handelsherren, Dichter, Philosophen, Weisheitswissende, Meister des praktischen und des ideellen Wissens: sie alle arbeiteten eifrig in jedem Augenblick des Tages und der Nacht und registrierten, analysierten und faßten alles zu einem ganzen zusammen. Er erkannte und begriff nun noch deutlicher als vorher, was für ein gigantisches Werk, was für Arbeit und Mühe es bedeutete, eine große Zivilisation wie diese hier zu schaffen und aufrecht zu erhalten: Wieviel Denken dazu nötig war, wieviel Informationen gesammelt, gespeichert und verbreitet werden mußten, wie verzahnt und schwierig das Geflecht der Planung und Durchführung war. Während er die Saphiräugigen beobachtete und über sie nachdachte, erschienen ihm seine ‚Leute‘, ‚das Volk‘, mit dem lächerlich kleinen Kokon, den erbärmlichen Chronikbüchern, den unbedeutenden mündlichen Überlieferungen und ‚geheiligten‘ Sitten und Bräuchen als noch unwichtiger und bedeutungsloser denn je zuvor. Die Saphiräugigen, selbst wenn sie sich wollüstig in den steingemauerten Badeteichen voll rosa Strahlung suhlten, die sie so sehr liebten, waren beständig mit Studieren beschäftigt, mit Denken, mit leidenschaftlichen Streitgesprächen. Hatte es je eine Rasse von solcher Art gegeben? Und wie hatte es geschehen können, daß solche wundervollen Geschöpfe aus dem gleichen Erbmaterial entstanden waren wie die niederen vernunftlosen Echsen und Schlangen?

Und wieso, überlegte Hresh, haben sie es zugelassen, daß ihnen der Lange Winter den Tod brachte, wo sie doch gewiß über Macht und Mittel genug verfügten, die Katastrophe abzuwehren, die über ihre Welt hereinzubrechen drohte?

Und er erkannte, daß auch die anderen fünf der Sechs Völker in diesem verlorengegangenen uralten Vengiboneeza vertreten gewesen waren.

Da gab es Hjjk-Leute, eisig und abweisend, in Rotten von fünfzig oder hundert wie Ameisen. Hresh fühlte das dürre Rascheln ihrer kargen Gedanken, das Klicken und Knistern ihrer harten spröden Seelen. Es fiel leicht, sie nicht zu mögen. Sie besaßen keine Eigentümlichkeit, nichts Individuelles. Jeder war Teil der größeren Einheit seiner Hjjk-Gruppe, und jede Hjjk-Gruppe war Teil der Totalität des Hjjk-Volkes, der Hjjk-Rasse.

Sie strahlten die verbissene Oberzeugung ihrer eigenen beharrlichen Überlegenheit aus. Wir werden hier sein, wenn ihr schon lange dahin seid, verkündeten die Hjjk mit jedem Schwenken ihrer anmaßenden Antennen. Auch war deutlich, daß ihnen das unmittelbare Verschwinden aller Angehörigen der übrigen Rasse als ein hohes Glück erschiene. Doch keiner murrte wider die Anwesenheit dieser feindseligen Insektenleute in der Stadt. Hresh sah, daß sie sich aktiv unter die anderen mischten, Waren kauften, tauschten.

Und da waren auch die Pflanzlichen, das zarte Blüten-Geschlecht, auf sonnigen Veranden in kleinen Gruppen versammelt. Die Petalkronen ihrer Gesichter waren gelb oder rot oder blau, und in der Mitte eines jeden befand sich ein einzelnes goldenes Auge. Ihre Hauptstengel waren kräftig, die Gliedmaßen weitaus weniger, sondern vielmehr biegsam und weich. Sie redeten in sanften Flüstertönen und mit viel Laubgeraschel und eleganten Zweiggestikulationen. Ihren Bewegungen und Lauten haftete eine sanfte weiche Poesie an.

Durch welches Wunder war es geschehen, fragte sich Hresh, daß Pflanzen sprechen und umherzuwandern lernen konnten? Er vermochte diesen Vegetalischen ins Innere zu blicken und konnte die knotigen Faserstränge und Knoten echter Gehirne erkennen, kleine harte Knötchen, eingebettet an der geschützten Stelle, wo ihre Kronenblätter an den Zentralstengel stießen. Auf dem Marsch über die Ebenen war er auf keine vernunftbegabten Pflanzen gestoßen; aber natürlich waren die Vegetalischen, die er jetzt hier sah, Geschöpfe aus einer uralten Zeit. Ihre Gattung war von den bitteren Eisstürmen des Langen Winters fortgefegt worden, und möglicherweise war nichts von ihrer Art fähig gewesen, sich bis in die Ära des Volkes herüberzuretten.

Es gab auffallend viele Mechanische. Hresh sah sie in jedem Stadtviertel schwer schuften, diese massiven, rundschädeligen Metallwesen mit den Scharniergliedmaßen. Sie bauten, reparierten, reinigten, rissen Häuser ein. Sie waren Diener der Saphiräugigen; und doch besaßen sie ein klares starkes Denkvermögen und die klare Erkenntnis ihrer Eigenexistenz. Maschinen mochten sie ja sein, doch für Hresh waren sie einfacher zu erfassen als die Hjjk-Leute. Denn jeder von ihnen war ein Individuum, besaß eine klare Identität und war nicht wenig stolz auf diese.

Spärlicher als Gruppe waren die Seeherren, doch dies, machte sich Hresh klar, hing wohl mit den Problemen zusammen, welche die Fortbewegung an Land für sie mit sich brachte. Sie waren glatte, geschmeidige mit dichtem braunen Pelz bedeckte Geschöpfe, an den Enden graziös sich verjüngend, mit kräftigem Skelett und flossenhaften Gliedmaßen. Sie waren deutlich Wasserwesen, auch wenn sie die Luft in Vengiboneeza ohne sichtliche Schwierigkeit atmen konnten. Jeder befand sich auf einem raffiniert konstruierten Wagen mit Silbergleitern, der durch geschickte Bewegungen der Flossenspitzen gelenkt wurde. Man sah sie vorwiegend in den hafennahen Bezirken, was ja nur vernünftig war, in den dortigen Tavernen, Ladengeschäften und Gaststätten. Ihr Gesichtsausdruck war kühn und hochmütig, als betrachte ein jeder sich als einen Prinzen unter seinesgleichen. Vielleicht stimmte dies ja auch.

Und weiter und immer weiter schwebte er, und die Große Welt schimmerte und leuchtete um ihn herum in ihrem vollsten Glanz. Was vordem nur als Widerhall einer Erinnerung auf den ältesten Seiten der Chroniken existiert hatte, war für Hresh nun leibhaftig und lebendig geworden. Es gab für ihn keine Zeit außerhalb der Zeit seiner Vision. Das war die Welt, wie sie vor der Katastrophe gewesen war; die Welt auf dem Höhepunkt ihrer höchsten zivilisatorischen Entwicklung, als Wunder etwas Alltägliches waren.

Und er war Bürger jener Welt geworden. Er streifte durch die Straßen des alten Vengiboneeza und blieb hier stehen, um sich vor einem hohen saphiräugigen Herrn zu verneigen, hielt sodann inne und wechselte Scherzworte und Komplimente mit einer Gruppe errötender zwitschernder Vegetalischer, trat höflich beiseite, um einen Seelord in einem prachtvoll funkelnden Wagen an sich vorbeizulassen. Er wußte, er befand sich an der Nabe des Universums. Die Epochen eines jeden Sterns trafen hier zusammen. Und nie zuvor hatte es etwas Vergleichbares im Universum gegeben. Es war sein einzigartiges grandioses Privileg, dies erschauen zu dürfen. Er wollte durch alle Straßen streifen, wollte jedes Gebäude besichtigen, wollte alles sehen und begreifen und in sich aufnehmen: wollte von nun an in zwei Welten leben und — wenn er konnte — die Bürgerschaft in diesem der Vernichtung geweihten Land einer längst verflossenen Vergangenheit bewahren.

Und wenn das ein Traum ist, dachte er, dann ist es der köstlichste Traum, den je einer geträumt hat.

Nur sehr wenig von dem, was er sah, besaß deutlicher Ähnlichkeit mit dem Vengiboneeza, wie er es kennengelernt hatte. Vielleicht ein Halbdutzend von diesen grandiosen Bauwerken, überlegte er, haben sich bis in meine Zeit erhalten. Die übrigen waren gänzlich verschieden, ebenso wie es auch das Straßennetz war. Er wußte, das hier war Vengiboneeza, denn die Stadt lag genauso zwischen den Bergen und dem Wasser eingebettet; doch die Stadt mußte viele Male immer wieder umgebaut und neugebaut worden sein im Verlauf ihrer langen Existenz. Er empfing von ihr das starke Gefühl von etwas Lebendigem, sich Wandelndem, wie von einem riesenhaften Geschöpf, das atmete und sich bewegte.

Nun erkannte Hresh mehr denn je die Vielfältigkeit und Kompliziertheit der Großen Welt, und er fühlte sich bedrückt und mutlos angesichts der Aufgabe, die sein Volk würde zu meistern haben, wenn es versuchte, seinen Ehrgeiz so hoch zu schwingen, es den Leistungen dieser verlorenen Zivilisation gleichzutun. Und wieder sagte er sich, daß auch die Große Welt nicht an einem Nachmittag gebaut wurde. Die mühevolle Arbeit von Millionen Einzelnen über Tausende von Jahren hinweg hatten sie erschaffen. Und wenn man ihnen nur genug Zeit ließ, dann konnte sein Volk es ebensogut zustande bringen.

Er streifte weiter, schwebte wie ein Gespenst dahin, spähte hierhin, lugte dorthin, bemüht, dies alles in sich aufzunehmen, ehe ihm diese Vision — wie die vorige — entrissen würde.

Und nach einiger Zeit wurde ihm bewußt, daß es etwas gab, das er hier nicht erblickt hatte.

Meine eigenen Leute, dachte er. Wo sind wir?

Er zählte sorgfältig. Von den Sechs Völkern, von denen die Chroniken berichteten, die sich friedlich in diese entschwundene Welt geteilt hatten, waren Hresh bislang fünf vor Augen gekommen: Saphiräugige, Hjjks, Vegetalische, Mechanische und Seeherren. Aber das Sechste Volk waren die Menschen. Und von ihnen hatte er überhaupt nichts gesehen. Von der Fremdartigkeit und Üppigkeit des Ganzen benommen, war ihm die Abwesenheit dieser einen Rasse erst jetzt aufgefallen.

Er durchsuchte die Stadt bis an den Rand, aber er fand nirgendwo Menschliche. Von einem weiten Platz zum anderen, jenen breiten Boulevard hinauf und diesen hinab, in den Weintavernen des Hafens und den weißen Marmorvillen der Vorberge suchte er nach den Menschen und hoffte sehnlichst, einen einzigen Blick auf dichtes dunkles Fell und helle wache Augen zu erhaschen, auf stolz hochgereckte Sensororgane. Nichts. Nicht einer. Es war, als seien Menschliche im antiken Vengiboneeza der großen Hochkulturzeit gänzlich unbekannt.

Aber während seiner Queste stieß Hresh ab und zu auf Geschöpfe einer anderen ihm vertrauten Art; merkwürdige schwächliche Wesen waren sie, spärlich über die große Stadt verstreut, verstreut zu zweit oder zu dritt über Vengiboneeza wie kostbare Edelsteine auf einem Sandstrand. Sie waren hochgewachsen und schlank, und sie gingen aufrecht, genau wie das Volk. Ihre Schädel waren hochgewölbt, ihre Lippen waren schmal, ihre Haut war bleich und ohne Fell; und ihre Augen hatten einen geheimnisvollen, rätselhaften violetten Schimmer. Und von ihnen strahlte eine große Kraft und hohes Alter aus, die in einem derart festen Selbstgefühl verankert lagen, daß es überwältigend war, ja, es war in seiner starken Selbstgefälligkeit geradezu niederschmetternd.

Hresh hatte diese Wesen vorher schon gesehen, und zwar als Bilder auf den Wänden der unterirdischen Höhle, in der er diese Reise durch die Zeit begonnen hatte. Ja, er hatte eins von ihnen sogar bereits im Kokon selber gesehen: dieses rätselhafte schlafende Geschöpf, das so lange unter dem Volk gelebt hatte, ohne jemals Eingang zu finden in das Leben des Volkes. Das waren also die Träumeträumer-Leute. Haniman hatte in aller Unschuld gefragt, als er sie unter den Skulpturen des Gewölbes sah, ob sie eines der Sechs Völker seien, und Hresh hatte rasch gelogen und gesagt, nein, nein, sie müssen Leute von einem andern Stern sein. Doch nun war er da gar nicht mehr so sicher. Nun begann ein furchtbarer Verdacht, eine Ahnung der entsetzlichen Wahrheit in seiner Seele zu keimen und zu wachsen.

Er sah sie durch die Stadt gehen, schweigend, erhaben-abweisende von Geheimnis umhüllte Wesen, wie Könige, wie Götter. Fast schienen sie ein wenig über dem Pflaster zu schweben. Dann gelangte er an ein Gebäude, das er wiedererkannte: den dunklen flachen Komplex mit den schweren Mauern, den er die Zitadelle getauft hatte; fensterlos, massiv, bedrohlich ragte sie in düsterer Majestät auf einem hohen Hügel auf und sah genauso aus wie in seiner eigenen Zeit. Und dort sah er Dutzende von diesen Geschöpfen kommen und gehen, gerade so, als wäre hier ihre besondere Herberge — oder vielleicht auch ihr Palast. Sie schenkten ihm keine Beachtung. Er beobachtete, wie sie einer nach dem anderen sich dem Gebäude näherten und es mit ihren langen Fingern an den Seiten berührten und dann hindurchgingen, als wären die Mauer nichts weiter als gestaltloser Dunst; und wenn sie hervorkamen, war es ebenso.

Er ließ seinen Geist zu ihnen niedergleiten, und er tauchte in die Glut ihrer verwirrenden Aura ein, und er sank in den Schattenmantel, der ihre Seele umhüllte.

Und er fühlte ihre innere Beschaffenheit und erkannte ihre Natur. Und diese Erkenntnis traf ihn mit solcher Stärke, daß sie ihn zu Boden schmetterte und er sich auf den Knien zusammenkrümmte, als preßte ihn eine mächtige Hand im Rücken nach unten.

Und wieder hörte Hresh die spöttische Stimme des künstlichen Wächters der Saphiräugigen, die donnernde Stimme: Ihr seid nicht Menschen. Es gibt hier keine Menschen mehr. Ihr seid Affen, oder die Abkömmlinge von Affen. Die Menschlichen sind vom Angesicht der Erde verschwunden.

War das so? Ja. Ja, so war es!

Diese Geschöpfe hier waren die wirklichen Menschen. Diese bleichen, langbeinigen pelzlosen Wesen, die Träumeträumer, diese Gespenster und Phantome, die durch das alte Vengiboneeza schwebten.

Er berührte ihre Seelen, und er erkannte die Wahrheit, und es war unmöglich, davor die Augen zu verschließen.

Er fühlte, wie uralt sie waren. Ihre endlose Lebenslinie, die zurück und zurück in die Zeit sank, über so viele Jahre hin, daß er für eine so hohe Zahl keinen Begriff hatte, Millionen Jahre, Ewigkeiten. Sie hatten auf dieser Welt von ihren Anfängen an gelebt, so schien es jedenfalls. Das Gewicht ihrer unermeßlichen Vergangenheit, diese schwankende Last ihrer Geschichtlichkeit drohte ihn zu zerdrücken. Er blickte in ihre Seelen und schaute eine lange Prozession von Staaten und Reichen einander folgen, die erblüht und zugrunde gegangen waren und wieder erblühte, ein endloser ewiger Zyklus von Größe, Königen und Königinnen, Kriegern, Dichtern, Chronisten, Unmengen von Errungenschaften und Leistungen von solcher Größe, daß sie sein Begriffsvermögen überstiegen und ihn verwirrten. Gewiß doch waren die hier Götter. Denn wie die Götter war ihnen Schöpfertum gegeben und sie konnten etwas erschaffen und dann ihren Schöpfungen den Rücken zukehren; sie konnten es sich gestatten Errungenschaften, so turmhoch, daß Hresh sie nicht begriff, in Vergessenheit versinken zu lassen, um dann etwas Neues zu erschaffen und erneut das Interesse daran zu verlieren — und immer so weiter.

Ganz gewiß, dachte Hresh, müssen diese Leute die wahren Herren von Vengiboneeza sein, und nicht die Saphiräugigen, die er für die Herrscher gehalten hatte.

Aber nein, nicht doch. Sie waren nicht Herrn und Meister, diese Menschen. Das hatten sie nicht nötig. Den Saphiräugigen fielen die Pflichten und die Verantwortung der Planung und Regierung zu; den Mechanischen war die Last der Arbeit auferlegt; und den Hjjk und den Seeherren und den Vegetalischen waren die verschiedenen kommerziellen Funktionen überlassen, auf denen das Leben der Großen Welt ruhte. Und Hresh erkannte, daß die Menschen einfach nur waren. Eine uralte Rasse, schwindend an Zahl inzwischen, wärmten sie sich an ihrer ur-ur-uralten Größe und Glorie. Diese Welt hatte einstmals ihnen gehört, ihnen allein, und allein der Ausdruck in ihren Augen verriet, daß sie diese uralte Suprematie, diese Überordnung, nicht vergessen hatten, aber auch, daß sie nicht grämlich bereuten, sie preisgegeben zu haben, denn sie hatten es bereitwillig getan. Vielleicht hatten sie die anderen fünf Rassen vor langer Zeit erschaffen. Und die anderen, selbst die Saphiräugigen, beugten sich ihnen ja unbezweifelbar ohne Zögern, Also waren sie sicherlich Götter. Bestimmt. Jedesmal wenn er das Denken eines von ihnen berührte, bekam er ein Gefühl, so wie er es sich bei der Berührung mit dem Denken Dawinnos oder Friits vorstellte.

Nach einer Weile konnte Hresh es in ihrer Nähe nicht länger aushalten. Er wich von ihnen zurück wie von einem lodernden Feuer und zog weiter, immer noch suchend, immer wieder findend.

Es gab noch weitere Rassen in der Stadt und sogar noch zahlenmäßig viel kleinere als die der Menschen. Seltsame Geschöpfe waren sie, von vielerlei bestürzender Art. Von manchen entdeckte er nicht mehr als vier oder fünf Vertreter, bei manchen entdeckte er nur einen einzigen. Sie sahen in keiner Weise irgend etwas ähnlich, worauf er aus dem Studium der Chroniken hätte vorbereitet sein können. Hresh sah Wesen mit zwei Köpfen und sechs Beinen, und Wesen ganz ohne Kopf, aber dafür mit einem Wald voller Arme. Solche mit Zähnen wie tausend Nadeln um einen kreisrunden Mund, der sich in ihrem Magen öffnete. Er sah Geschöpfe, die in versiegelten Tanks lebten, und andere, die wie Blasen über den Kopf dahinschwebten. Gewichtige Wesen sah er, die sich mit erdbebenhaftem Getöse bewegten, und leichte Flatterwesen, deren Bewegungen das Auge verwirrten. Sie alle verströmten einen unverkennbaren Schimmer von Intelligenz, auch wenn es keine irdische Intelligenz war, und die Ausstrahlungen ihrer Seelen waren ihm rätselhaft und verwirrten ihn beträchtlich.

Mit der Zeit erkannte Hresh, was diese Geschöpfe sein müßten: Sternenwesen, Besucher von den Welten, die um die hellen kalten Feuer der Nacht kreisten. In den Tagen der Großen Welt muß es ein beständiges Kommen und Gehen von Reisenden unter den Himmelswelten gegeben haben. Und von einem dieser Fremdlinge war vielleicht der Wunderstein gekommen, der ihm nun diese Vision verschaffte.

Aber wir? dachte er. Das Volk? Gibt es denn von uns keine Spur in diesem gewaltigen Vengiboneeza?

Nirgendwo ein Hauch von uns. Uns gibt es hier nicht.

Es war eine niederschmetternde Erkenntnis. Das Volk, sein Volk, gab es einfach überhaupt nicht in dieser herrlichen grandiosen Großen Welt.

Er rang mit sich in Verzweiflung, diese Tatsache als gültig in sich aufzunehmen und sie zu verarbeiten. Er redete sich ein, daß die Szene, die er hier sah, sich aus einer unvorstellbar fernen Vergangenheit heraus entfalte, einer Zeit lange vor dem Auftreten der Todessterne. Vielleicht werden ganze Völker einfach geboren — wie Einzelwesen —, dachte er, und vielleicht war in dieser ur-fernen Zeit, in die ich gereist bin, unsere Gattung noch gar nicht erschaffen, und unsere Zeit ist noch nicht gekommen.

Das bot nur geringen Trost. Die tiefere Wahrheit dröhnte hallend wie ein Donnerecho in seiner Seele.

Ihr seid keine Menschen, was ihr seid — ihr seid Affen, oder die Abkömmlinge von Affen...

Und der Beweis bot sich ihm hier dar. Und noch immer nicht vermochte er ihn zu akzeptieren. Nicht menschlich? Keine Menschen? Sein Kopf wirbelte. Er wußte, was es hieß, ein Mensch zu sein, oder glaubte doch jedenfalls, daß er es wisse, und der Gedanke, von diesem gewaltigen Lebensstrang ausgeschlossen zu sein, der sich bis in die tiefsten Tiefen der Zeit erstreckte, bereitete ihm eine unerträgliche Qual. Er fühlte sich hilflos von allen Wurzeln abgeschnitten, dahintreibend, die ihn an die Welt befestigt hatten. Lange hing er schwebend und bewegungslos in einer Luftblase oberhalb des antiken Vengiboneeza. Er war benommen, bestürzt, ratlos.


* * *

Hresh hatte keine Vorstellung davon, wie lange er an dem Apparat in dem unterirdischen Gewölbe gestanden und die Schalter und Hebel umklammert hatte, durch die er sich die Große Welt in gewaltigen Sturzbächen durch sein betäubtes Hirn jagen lassen konnte. Nach einer Weile allerdings spürte er, daß seine Vision blasser wurde. Die glitzernden Türme wurden nebelhaft unklar, die Straßen lagen wie Schmelzbäche unter seinen Augen.

Er packte die Schalthebel fester. Es half nicht. Sein Geist hob sich nun aufwärts, zurück in die steinerne Wirklichkeit der Höhle unter dem Turm.

Und dann war das antike Vengiboneeza verschwunden. Hresh aber befand sich noch immer unter dem Zauber des Barak Dayir, und während er emporstieg, sah er in seiner Seele erneut das Muster der Ruinenstadt, genau wie er es beim Hinabsteigen erblickt hatte, diese ineinandergeschlossenen Ringe und die flammenden roten Lichterpunkte. Und auf einmal begriff er, was diese roten Punkte bedeuten mußten: sie bezeichneten die Stellen, an denen das Leben der Großen Welt sich noch immer unter den Trümmern erhalten hatte und brannte. Also, wo immer er diese glühenden Lichtpunkte sah, würde er auf verborgene Schätze stoßen, nach denen er auf der Suche war.

Aber jetzt besaß Hresh weder Zeit noch Kraft genug, sich damit zu befassen. Ihm war ganz schwummerig, und er fühlte sich sehr schwach. Dennoch erfüllte ein starkes Hochgefühl sein Herz und mischte sich in die tiefe Verwirrung, die Selbstzweifel und die Verzweiflung-Ungläubig blickte er sich in dem gewaltigen Gewölbe der Höhle um: trockener Lehmboden unter den Füßen, darüber Staub und Spinnweben in langen Strängen, wenig bröckeliger Schutt, das gedämpfte Licht, die halbsichtbaren Reliefstatuen in aberwitziger Üppigkeit die Wandungen hinauf wuchernd. Die Große Welt erschien ihm noch immer leibhaftig lebendig und wirklich vor dem inneren Blick, und der Ort hier wirkte nur wie ein fader, trübseliger Traum. Aber die Gewichtung verschob sich von Augenblick zu Augenblick mehr und mehr: die Große Welt entzog sich seinem Griff, und diese Höhle wurde zu der einzigen ihm faßbaren Wirklichkeit.

„Haniman!“ schrie er.

Seine Stimme kam brüchig, scheppernd und dünn aus seiner Kehle, und außerdem auch noch eine halbe Oktave zu hoch.

Hresh versuchte es erneut. „Haniman, hol mich rauf!“

Es kam keine Reaktion von oben. Er stierte in das dumpfe Schwarz hinauf, kniff die Augen zusammen, spähte. Er hörte leise scheppernde Geräusche von Bewegungen in den Wänden. Kein Laut von Haniman.

„Haniman!“

Er brüllte aus voller Lunge. Es folgte ein Geräusch wie von einem dünnen Regen. Regen, hier unten? Nein, das doch nicht, machte Hresh sich klar. Winzige Steinchen, Sand und Dreck, die sich von der Höhlendecke lösten. Einzig seine Stimme hatte sie losgelöst und niederregnen lassen. Und noch ein solches Brüllen, dachte er, und ich habe die ganze Decke auf dem Kopf.

Seine Nervenstränge schwangen wie die Saiten einer Laute. Er fragte sich, ob Haniman ihn in dieser Grabesgruft im Stich gelassen haben könnte — einfach so, indem er fortging und ihn da unten im Stich ließ, damit er vergammeln und krepieren müßte. Oder war er vielleicht nur losgezogen, um allein irgend etwas Interessantes zu untersuchen. Ja, vielleicht war es weiter nichts, als daß Hresh so tief unten war und Haniman sein Rufen nicht hören konnte? Yissou! Hresh überlegte sich, ob er noch einmal laut brüllen solle. Immerhin, die Lokalität hier hatte die Erdbeben in siebenmal hunderttausend Jahren überstanden, wieso sollte das hier jetzt von einem einzigen Ruf zusammenbrechen? „Haniman!“ brüllte er, und noch einmal. „Haniman!“ Und wieder erfolgte auf seinen Hilfeschrei nichts weiter als ein Regen feinen Trümmerschutts von oben.

Was sollte er tun? Hier verhungern? Nein! Hinaufklettern? — Wie?

Er dachte daran, sein Sekundärsensorium, das Zweite Gesicht, einzuschalten, um damit Hanimans Aufmerksamkeit zu erreichen. Das war strikt verboten, das Zweite Gesicht gegen einen Stammesbruder zu richten und damit seine geheiligte Intimsphäre in seinem Hirn zu verletzen. Aber sollte er denn hier unten vergammeln in dieser Düsternis? Oder rechtfertigte die Situation einen Verstoß gegen den Brauch?

Hresh konzentrierte seine Kräfte und schickte den Strahl seines Zweiten Gesichts aus.

Hinauf durch die Finsternis tasteten sich die Ranken seiner Wahrnehmung. Doch, ja, dort oben war jemand. Er fühlte Leben und Wärme. Haniman. — und er schlief selig! Dawinno soll ihn holen, der Scheißer war eingeschlafen!

Hresh versetzte ihm einen mentalen Puff. Droben regte sich etwas: Haniman brummte und murrte in sich hinein. Hresh empfing ein Gefühlsmuster von Haniman, der sich im Schlaf herumwälzte, sich vielleicht über das Gesicht fuhr, als wolle er einen ärgerlichen Traum fortwischen. Hresh stieß erneut zu, stärker diesmal. Haniman! Du Superarschidiot! Wach auf! Und noch einmal, noch fester. Und dann war Haniman wach. Ja, doch, da hockte er, und hatte die Augen offen. Durch Hanimans Augen sah Hresh den Boden des oberen Stockwerks. Ein absonderlicher Eindruck, so durch das Hirn eines anderen zu reagieren. Hresh wußte, daß er sich eigentlich zurückziehen müßte. Aber er blieb noch für einen Moment dort, aus lauter Neugier. Dieses Gefühl, Hanimans Bewußtsein um sich herum zu fühlen wie ein zweites Fell. Hanimans kleine Sehnsüchte und Bedürfnisse zu fühlen, seine zornigen Frustrationen. Zu entdecken, wie es sich anfühlte, damals, als feist und träge heranzuwachsen in einem Stamm, wo alle anderen schlank und agil waren. Völlig überraschend für ihn selbst fühlte Hresh eine Flut von Sympathie mit diesem Jungen in sich aufsteigen. Es war beinahe wie ein Tvinnr-Akt, und in gewisser Weise war es sogar viel intensiver und viel intimer. Seine Verärgerung über Haniman schwand deswegen nicht, aber nun war daraus so etwas wie Ärger über sich selbst geworden, eine mit amüsierter Nachsicht durchsetzte Gereiztheit.

Dann schüttelte sich Hanimans Bewußtsein wütend frei, schubste Hresh fort, und dieser zog sich hastig zurück, und beim Abbruch des Kontakts überlief ihn ein Frösteln.

„Hresh? Warst du das?“

Hanimans Stimme drang schwach und verschwommen von oben herab, in vielfältige Echos gehüllt.

„Ja. Holst du mich rauf, bitte?“

„Warum haste denn das nicht gesagt?“

„Ich ruf dich schon seit zehn Minuten. Hast du geschlafen?“

„Geschlafen?“ sagte die Stimme von oben. Aber Hresh konnte nicht mit Sicherheit erkennen, ob Haniman das Wort wiederholte, oder aber ob es seine eigene Stimme war, die von der Wölbung der Höhle zu ihm zurückgeworfen wurde.

Kurz darauf gab die Steinplatte das vertraute Ächzen von sich, das knirschende Seufzen, und Hresh kletterte hastig auf sie, und sie begann sich wieder zu heben. Er lag still da. Sämtliche Knochen schmerzten ihn, so müde war er.

Er langte oben an. Haniman stand mit über der Brust gefalteten Armen da und glotzte ihn mürrisch an.

„Es ist mir verdammt egal, ob du der Chronist bist“, sagte er. „Wenn du mich noch einmal so anfaßt, dann ersäuf ich dich im Meer!“

„Ich mußte aber deine Aufmerksamkeit irgendwie rankriegen. Ich hab die ganze Zeit gerufen, aber du hast nicht geantwortet.“

„Na, dann haste vielleicht nicht laut genug gerufen.“

„Laut genug, um Steine von der Decke der Höhle zu lösen.“

Haniman zuckte die Achseln. „Ich hab gar nichts gehört.“

„Ja, weil du geschlafen hast.“

„Wirklich? Wie soll denn das möglich sein? Du warst doch kaum länger als zwei Minuten da drunten.“

Hresh starrte ihn verblüfft an. „Meinst du das etwa im Ernst?“

„Zwei Minuten! Nicht länger! Du bist da runtergestiegen, und ich hab mich ein bißchen hingesetzt, um auszuruhen, und vielleicht hab ich auch mal kurz die Augen zugemacht, und das nächste, was ich weiß, ist, daß du da bist und auf so ’ne dreckige Weise in meinem Bewußtsein herumgrapschst, und.“ Haniman brach plötzlich ab. Er kam auf Hresh zu und schaute ihm aus nächster Nähe ins Gesicht. „Yissou! Was hammse denn mit dir angestellt da drunten?“

„Was meinst du?“

„Du siehst ja aus wie hundert. Deine Augen sind ganz anders. Dein Gesicht. — alles ist anders. Wie von innen raus ausgehöhlt.“

„Ich habe eine Vision gehabt“, sagte Hresh. Er berührte sein Gesicht und fragte sich, ob es sich wirklich so verändert hatte, wie Haniman gesagt hatte, sah er vielleicht gar aus wie der alte Thaggoran? Doch sein Gesicht fühlte sich genauso an wie immer. Wenn also eine Verwandlung eingetreten war, dann mußte sie innerlich sein.

„Was hast du gesehen?“

Hresh zögerte. „Dinge. Viele seltsame, fremde Dinge. Beunruhigende Dinge.“

„Was denn?“

„Ach, laß nur“, sagte Hresh. „Schaun wir lieber, daß wir von hier verschwinden.“

Auf dem Rückmarsch zur Siedlung überkam ihn tiefe Müdigkeit. Er mußte oft haltmachen und sich ausruhen, und einmal wurde ihm übel, und er kniete endlos lange hinter einem Säulenstumpf und kotzte sich keuchend die Seele aus dem Leib. Auf dem Rest des Weges fühlte er sich alt und schlapp und schleppte sich hinter Haniman drein, der wieder vorausging, und dann fühlte er sich beschämt, weil Haniman es nötig fand, umzukehren und nach ihm zu sehen. Erst als sie wieder bei der Siedlung angelangt waren, kehrte ihm die jugendliche Vitalität zurück, und er fühlte sich allmählich wieder stark. Er bewegte sich rascher, legte weniger oft Pausen ein, auch wenn Haniman wieder und wieder umkehren und ihn vorantreiben mußte.

Hresh wußte, daß er lange brauchen würde, um das zu durchdenken, was er in dem Gewölbe unter dem Platz der Sechsunddreißig Türme erfahren hatte. Das höhnisch zischelnde Lachen jenes künstlichen Saphiräugigen am Südportal quoll in seiner Seele auf, bis es die ganze Welt zu erfüllen, schien.

Kleiner Affe, Äffchen, kleiner Affe.

Es war ihm nun nicht mehr möglich, den bitteren Hohn aus seinem Herzen zu verbannen. Aber dennoch hatte er auch den Schlüssel zu dem verschwundenen Vengiboneeza gefunden. Ein großer Sieg, eine vernichtende Niederlage, und beides ineinander verschlungen. Es verwirrte ihn. Er beschloß, dies alles für sich zu behalten, bis er einen etwas tieferen Einblick in die Angelegenheit gewonnen hatte. Aber die Schätze der Stadt Vengiboneeza lagen nun für ihn zum Zugreifen bereit. Soviel immerhin würde er Koshmar berichten müssen.

Direkt vor dem Haus der Führerin stieß er auf Torlyri.

„Wo ist Koshmar?“

Die Opferfrau wies auf das Haus. „Drinnen.“

„Ich habe ihr Dinge zu berichten! Wundersame Dinge!“

„Sie ist jetzt beschäftigt“, sagte Torlyri. „Du wirst ein Weilchen warten müssen.“

„Warten? Warten?“ Es war wie ein Guß kalten Wassers mitten ins Gesicht. „Was soll das heißen, warten? Ich habe die Große Welt geschaut, Torlyri! Ich habe sie leibhaftig und lebendig gesehen, so wie sie war! Und ich weiß jetzt, wo all das verborgen ist, das zu suchen wir hergekommen sind!“ In seinem Begeisterungsüberschwang fielen Müdigkeit und Verwirrung von ihm ab. „So hör doch, geh zu ihr, ja? Und sag ihr, sie soll alles stehen und liegen lassen, was sie gerade tut, und mich empfangen. Klar? Sagst du ihr das? Was hat sie überhaupt dermaßen Wichtiges zu tun?“

„Sie hat einen Fremden zu Gast“, sagte Torlyri.

„Einen Fremdling?“

„Einen Kundschafter von einem fremden Stamm, wie es scheint.“

Wie so oft schlich sich Hreshs Hand zu dem Amulett Thaggorans um seinen Hals. Ein Fremder. Mit offenem Mund blökte er: „Was? — Wer?“

„Also, um genauer zu sein, ein Späher. Harruel und Konya haben ihn vor einer Weile geschnappt, wie er auf dem Frühlingsberg herumgeschnüffelt hat.“ Torlyri lächelte und legte ihre Hände über die seinen. „Ach, Hresh, ich weiß doch, daß du übersprudelst von dem, was du ihr berichten willst. Aber könntest du bitte etwas warten? Nur ein ganz kleines bißchen warten? Denn dies ist ebenfalls wichtig. Es ist nämlich ein echter Mann von einem anderen Stamm, Hresh. Und das ist ein ungeheuer wichtiges Faktum. Sie kann sich nicht mit mehr als einer Außergewöhnlichkeit auf einmal befassen. Keiner kann das. Begreifst du dies, Hresh?“

Koshmar stand kerzengerade und aufgereckt vor dem dunklen Rattenwolf fell, das als Siegestrophäe an der Wand ihres Gemaches hing. Ihre breiten Schultern straff zurückgereckt. Auf dem Gesicht feste Entschlossenheit. Harruel stand links von ihr, Konya rechts, beide mit Waffen und zu ihrer Verteidigung bereit; sie aber wußte, daß die Speere in dem jetzigen Augenblick nutzlos waren. Was sich hier entfaltete, war eine Herausforderung, die sich einzig durch Intelligenz würde meistern lassen. Seit den Tagen des Auszugs hatte sie mit so etwas gerechnet gehabt, aber nun, da es tatsächlich eingetreten war, endlich, war sie alles andere als sicher, wie sie am besten vorgehen solle.

Jetzt hätte sie den alten Thaggoran mehr als je nötig gehabt. Ein zweiter, ein fremder Stamm! Natürlich war damit zu rechnen gewesen, aber trotzdem war es nahezu kaum zu glauben. Während seiner gesamten geschichtlichen Entwicklung hatte sich ihr Volk für einmalig und für das einzige Menschenvolk der Welt gehalten, und im wesentlichen stimmte das ja auch. Aber jetzt. jetzt.

Sie blickte den Späher am anderen Ende des Gemachs starr an.

Er bot einen schrecklichen Anblick. Und ihm haftete eine überwältigende Fremdartigkeit an. Sein Gesicht war mager und schmal, scharfe Wangenbeine strebten kantig von einem langen spitzen Kinn weg. Die Augen lagen sehr weit auseinander und hatten eine Färbung, wie Koshmar sie noch nie gesehen hatte: bestürzend leuchtendes Rot wie die Abendsonne. Der Pelz war golden und lang und üppig, und in nichts dem Fell eines aus ihrem eigenen Stamme ähnlich. Trotz seiner Schlankheit und Grazilität wirkte der Fremdling stark und geschmeidig, wie ein feingeflochtenes Tau, das nie zerspellen kann. Seine Beine waren nahezu so lang wie die von Harruel, allerdings war er bei weitem nicht so massiv. Und auf dem Kopf trug er einen merkwürdigen Helm, durch den er sogar noch länger wirkte als Harruel.

Dieser Helm war ein richtiger Alptraum. Ein hoher Konus aus einem dicken, schwarzen lederartigen Stoff, mit einem Visier, das vorn beinahe bis zur Stirn des Fremdlings reichte, und eine geriffelte Platte bedeckte hinten das gesamte Genick. Am Scheitelpunkt des Helms nach hinten zu befand sich ein Kreis aus goldenem Metall und fünf lange wie Speere davon aufragende Metallradien. Vorn, über der Stirn des Fremden, war das Abbild eines unheilverkündenden riesigen goldenen Insekts angebracht, die vier Flügel gespreizt, die gewaltigen Augen aus rotem Stein brannten in einem wilden Feuer.

Bei flüchtigem Betrachten wirkte der Mann wie eine Art aufrecht wandelndes Ungeheuer mit einem scheußlichen furchterregenden Kopf; und erst wenn man genauer hinsah, erkannte man, daß der Helm künstlich war, ein bloßer Kopfschmuck, der unten am Hals mit grober fester Schnur verschnürt war.

Konya und Harruel waren auf den Mann gestoßen, als sie in den Vorbergen auf Jagd waren. Er hatte sein Lager in einer Höhle dicht über der letzten Reihe von zerfallenen Villen aufgeschlagen, und wie es den Anschein hatte, hatte er hier schon einige Zeit gehaust, vielleicht bereits seit einer Woche, denn überall lagen die Knochen von kürzlich geschlachteten und gebratenen Tieren verstreut. Als sie ihn fanden — er saß still da, den Helm auf dem Schädel, und blickte starr über die Stadt hinweg —, sprang er sogleich auf und rannte an ihnen vorbei in den Hochwald hinauf. Sie verfolgten ihn, aber es war keine einfache Jagd. „Er rennt wie eins von den Tieren mit den roten Hörnern auf der Nase“, sagte Harruel.

„Wie ein Tänzerhorn, ja“, kommentierte Konya.

Mehrmals verloren sie seine Spur in dem wilden Waldgestrüpp, doch immer wieder verriet ihn der Goldschimmer seines Strahlenhelmes in der Ferne. Schließlich hatten sie ihn in einem Talkessel in die Enge getrieben, er hatte keine weitere Fluchtmöglichkeit; und obwohl er mit einem wundervoll gearbeiteten Speer gerüstet und durchaus in der Lage schien, ihn auch zu benutzen, leistete er keinen Widerstand, sondern ergab sich ihnen plötzlich ohne Gegenwehr und ohne ein Wort.

Und er hatte auch seither kein Wort gesagt. Koshmars Blick hatte er ruhig erwidert, furchtlos, und er bewahrte weiterhin Schweigen, als sie versuchte ihn auszuforschen.

„Mein Name lautet Koshmar“, begann sie. „Ich bin hier Häuptling. Nenne du mir deinen Namen, und wer dein Häuptling ist.“

Als darauf weiter nichts als ein stummes ruhiges Augenstarren kam, befahl sie ihm im Namen der Götter, er solle sprechen. Sie rief Dawinno an, Friit, Emakkis und sogar Mueri, aber ohne Erfolg. Sie hatte den Eindruck, daß er bei dem Namen Yissou leicht reagierte, mit einem leisen Zucken der Lippen, aber er sprach noch immer nicht.

„So sprich endlich, verdammter Kerl!“ knurrte Harruel zornig und machte einen Schritt nach vorn. „Wer bist du? Was suchst du hier?“ Und er fuchtelte mit dem Speer vor dem Gesicht des Fremden herum. „Rede, oder wir ziehen dir bei lebendigem Leib die Haut ab!“

„Nein!“ fuhr Koshmar scharf dazwischen. „Es ist nicht meine Absicht, so mit ihm zu verfahren!“ Sie zog Harruel an ihre Seite zurück und sprach mit leiser Stimme zu dem Fremdling: „Es soll dir hier kein Leid geschehen, das verspreche ich dir. Aber ich frage dich noch einmal nach deinem Namen und nach dem Namen deines Volkes, und dann wollen wir dir Speise und Trank anbieten und dich unter uns willkommen heißen.“

Doch der Fremde schien für Koshmars diplomatisches Manöver genauso unzugänglich zu sein wie gegenüber dem Machtgedröhn Harruels. Er starrte nur weiter Koshmar an, als habe sie schieren Unsinn von sich gegeben.

Sie pochte sich dreimal mit dem Zeigefinger auf die Brust und sagte laut und deutlich: „Koshmar.“ Dann zeigte sie auf ihre zwei Leibgardisten und sagte: „Harruel. Konya. Koshmar, Harruel, Konya.“ Dann streckte sie den Finger wieder gegen den behelmten Fremdling aus und setzte eine fragende Miene auf. „Damit haben wir dir unsere Namen preisgegeben. Und nun wirst du uns den deinen nennen.“

Doch der Behelmte schwieg weiter.

„Das können wir den ganzen Tag so weitermachen“, sagte Harruel tief angewidert. „Uberlaß den Kerl mir, Koshmar, und ich verspreche dir, der quasselt in fünf Minuten!“

„Nein.“

„Aber wir müssen rauskriegen, warum der hier ist, Koshmar. Nimm doch mal bloß an, der ist der Topmann einer ganzen Heerschar von solchen wie er, die da draußen nur darauf lauern, uns umzubringen und Vengiboneeza für sich zu erobern!“

„Ich danke dir“, sagte Koshmar eisig. „Auf solch einen Gedanken wäre ich allein nie gekommen.“

„Ja, aber wenn er das wirklich ist? Es steht doch fast hundertprozentig fest, daß er für uns nichts als Ärger bedeuten kann. Aber wir brauchen Sicherheit. Und wenn er uns eben nichts sagen will, dann werden wir ihn eben töten müssen.“

„Ach, glaubst du wirklich, Harruel?“

„Wo er jetzt hier drunten war und alles in Augenschein genommen hat, und wo er weiß, wie wenige wir nur sind. ja, da können wir ihn doch nicht einfach so wieder zu seinen Leuten zurückgehen und denen alles über uns berichten lassen.“

Koshmar nickte. Die Fakten waren ihr die ganze Zeit über längst klar gewesen, aber bloß ein dummer Ochse wie Harruel, dachte sie bei sich, kann so blöd sein und das einem Fremden, einem möglichen Feind direkt ins Gesicht sagen. Ja, vielleicht würden sie den Fremdling töten müssen. Die Vorstellung schmeckte ihr ganz und gar nicht, aber sie würde ohne Zögern das Nötige veranlassen, falls die Sicherheit ihres Stammes auf dem Spiel stand.

Tausend widersprüchliche Gedanken wirbelten heftig durch ihren Kopf. Fremde! Ein anderer Stamm! Ein Rivale um die Führerschaft!

Das bedeutete: Feinde, Auseinandersetzungen, Kampf, Tod, nicht wahr? Oder würden die anderen freundlich sein? Nein, ein Konflikt war nicht unvermeidbar, was immer Harruel glauben mochte. Angenommen, diese Fremden würden sich hier niederlassen? Vengiboneeza war doch zweifellos groß genug für einen zweiten Stamm. und man kam zu einer Art friedlich-freundschaftlicher Beziehung zwischen den beiden Völkern. Aber wie wird so etwas aussehen, fragte sie sich — Freunde, die nicht unseresgleichen sind? Diese beiden Begriffe schlossen einander doch fast schon aus: Freunde und Fremdrassige. Unterschiedliche Glaubensvorstellungen, fremde Götter, unvertraute Sitten und Gebräuche? Und wie sollte es überhaupt andere Götter geben können? Yissou, Dawinno, Emakkis, Friit und Mueri — das waren die Götter. Und wenn dieses fremde Volk andere Götter hatte, wo hatte die Welt dann noch einen Sinn?

Und würde es zwischen Angehörigen der zwei Stämme Kopulationsverbindungen geben? Wo würden die Nachkommen daraus leben — im Stamm der Mutter oder dem des Vaters? Und würde einer der Stämme auf Kosten des anderen wachsen und groß werden?

Koshmar schloß kurz die Augen und atmete tief bis auf den Grund ihrer Lungen durch. Ich wünschte, das Ganze wäre nur ein Traum, dachte sie.

Dort, woher dieser Mann gekommen war, mußte es viele andere wie ihn geben, ein ganzes Heer, solcher Fremdlinge in einem Lager jenseits der Mauer des Gebirges. Und es war sehr wahrscheinlich, daß überall in der Welt inzwischen auch andere Stämme ihren Auszug und Aufbruch unternahmen, seitdem die neue Wärme die Luft erfüllte. Sie, Koshmar, hatte ihr ganzes bisheriges Leben in einer Welt zugebracht, die aus sechzig Leuten bestand. Es war nahezu unmöglich, sich mit der Wahrheit abzufinden, daß es auf der Welt vielleicht sechstausend, oder gar sechzigtausend ‚Leute‘ geben könnte. alle die Namen, alle diese Seelen, alle diese unvertrauten Individuen, von denen jedes nach einem Plätzchen an der Sonne schrie.

Jemand pochte an die Tür.

Sie hörte Torlyris Stimme: „Hresh ist zurückgekommen, Koshmar.“

„Er soll hereinkommen!“ antwortete sie.

Hresh sah seltsam aus: staubbedeckt und erschöpft — und auf einmal viel älter, als es seinen Jahren entsprach. Die Augen tief im Schatten. Er wirkte beinahe krank. Doch sobald er den Fremdling unter seinem Helm erblickt hatte, kehrte das vertraute vor Neugier glühende Hresh-Gesicht zurück. Koshmar konnte fast hören, wie sich in seinem Schädel das Prasselfeuer der Fragen entzündete.

Rasch informierte sie ihn über die Gefangennahme und den Verlauf der bisherigen Verhörversuche. „Aber wir bekommen nichts aus ihm raus. Er tut so, als verstünde er kein Wort von dem, was wir sagen.“

„Tut so? Was aber, wenn er wirklich nichts versteht?“

„Du meinst also, er ist dumm wie ein Tier?“

„Ich meine, daß er eine andere Sprache spricht.“

Koshmar starrte ihn verwirrt an. „Eine andere Sprache? Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, ‚eine andere Sprechen‘.“

„Es bedeutet — also eben eine andere Sprache“, sagte Hresh stockend. Seine Hände fuhren wie suchend in die Höhe. „Wir haben unsere Sprache, eine bestimmte Reihe von Lauten, mit denen wir Vorstellungen vermitteln. Also, stell dir mal vor, diese Leute da benutzen verschiedene Lautgruppen, verstehst du? Wo wir ‚Fleisch‘ sagen, sagt sein Stamm vielleicht ‚Mruk‘ oder ‚Prosh‘.“

„Aber das sind doch Laute ohne Bedeutung“, warf Koshmar ein. „Was für einen Sinn hat denn.“

„Für uns ergeben sie keinen Sinn“, sagte Hresh. „Aber sie könnten sehr wohl für andere Leute sinnvoll sein. Nicht gerade diese Laute. Die habe ich bloß so als Beispiele erfunden, verstehst du? Aber sie könnten doch ihr eigenes Wort für ‚Fleisch‘ haben — oder für ‚Himmel‘ — und für ‚Speer‘ undsoweiter. Andere Wörter als wir für alles.“

„Aber das ist ja blödsinnig“, fuhr Koshmar ihn ärgerlich an. „Was soll das heißen, ein Wort für ‚Fleisch‘? Fleisch ist Fleisch. Nicht Mruk, nicht Prosh, sondern Fleisch! Und Himmel ist eben Himmel. Ich hatte geglaubt, du könntest uns irgendwie weiterhelfen, Hresh, aber du gibst mir bloß blöde Rätsel auf.“

„Diese Vorstellungen sind auch für mich sehr fremdartig“, sagte der Junge. Er schien ungewöhnlich müde zu sein, als habe er Schwierigkeiten, seine Gedanken auszudrücken. Immer wieder fuhren die Hände wie suchend in die Luft. „Ich habe nie eine andere Sprache als die unsere gehört, ja nicht einmal daran gedacht, daß es eine andere geben könnte. Der Gedanke kam mir einfach so in den Kopf, während ich diesen Fremden ansah, aus dem Nichts. Aber denk doch mal nach, Koshmar, wie wenn die Hjjk-Leute eine eigene Sprache haben — und alle anderen Tierarten ebenfalls eine eigene — und jeder Stamm, der den Langen Winter überlebt hat, ebenfalls! Wir waren so lange allein und abgeschnitten von anderen, tausendmal und abertausendmal hundert Jahre lang. Vielleicht redete im Anfang jedermann in einer einzigen Sprache, aber im Verlauf einer dermaßen langen Zeit, Tausende von hundert Jahren.“

„Ja, vielleicht“, sagte Koshmar unsicher. „Aber wenn das so ist, wie sollen wir uns dann mit diesem Mann verständigen? Denn irgendwie müssen wir das ja wohl. Wir müssen herausbekommen, ob er ein Freund ist oder ein Feind.“

„Wir könnten es mit dem Zweiten Gesicht versuchen“, sagte Hresh nach kurzem Nachdenken.

Bestürzt blickte Koshmar ihn an. „Das Zweite Gesicht darf man nicht unter Leuten anwenden.“

„In Extremfällen darf man“, sagte Hresh mit gespanntem Gesichtsausdruck. „Wir müssen hier an die Sicherheit des Stammes denken. Müßten wir darum nicht sämtliche Fähigkeiten einsetzen, über die wir verfügen, um herauszufinden, was wir wissen müssen?“

„Aber es ist ein derart schwerer Verstoß gegen.“

Koshmar brach ab. Sie schüttelte den Kopf. Dann blickte sie zu Torlyri, die an der Tür stand.

„Was sagst du dazu? Ist es geziemend, so was zu versuchen?“

„Es ist gewiß unüblich. Aber ich sehe kein Fehl daran“, sagte die Opferfrau nach kurzem Nachdenken mit etwas unsicherer Stimme. „Er gehört nicht zu unserem Stamm. Also haben unsere Bräuche keine Gültigkeit — wahrscheinlich. Und wir laden dabei keine Schuld auf uns.“

„Die Götter schenkten uns die Gabe des Zweiten Gesichts, um uns zu helfen, wo Sprache und Sehen versagen“, sprach Hresh zu Koshmar. „Wie könnten sie etwas dagegen haben, wenn wir ihr Geschenk in einer Lage wie der jetzigen benutzen?“

Schweigend überlegte Koshmar. Der Fremdling verhielt sich weiter teilnahmslos und gab durch nichts zu erkennen, ob er irgend etwas begriffen hatte. Vielleicht spricht er tatsächlich in einer uns völlig fremden Zunge, dachte Koshmar. Die Vorstellung bereitete ihr Kopfschmerzen. Es kam ihr als ebenso absonderlich vor wie die Vorstellung, daß jemand am einen Tag Mann und am nächsten Frau sein könnte, oder daß der Regen von der Erde nach oben steigen könnte, oder daß ihr mit einem Lidschlag Yissous Segen entzogen und ein anderer zum Häuptling an ihrer Statt ernannt werden könnte. Keines dieser Dinge war möglich. Aber wir leben in einer Zeit voller zahlreicher Absonderlichkeiten, dachte Koshmar. Also ist vielleicht wahr, was Hresh sagte, und hier war einer, der mit anderen Wörtern redete, sofern er überhaupt reden konnte.

Sie wandte sich Hresh zu und sagte barsch: „Also gut. Du bist unser Sprachexperte. Setze also dein Zweites Gesicht ein und finde heraus, wer er ist und was er hier sucht!“

Hresh trat vor und stellte sich direkt vor den behelmten Fremdling.

Noch nie im Leben war er dermaßen müde gewesen. Was war das doch für ein Tag heute! Und noch war er nicht zu Ende. Aller Augen ruhten auf ihm. Er war gar nicht sicher, daß er das Zweite Gesicht noch einmal einsetzen können würde, so müde war er.

Der Behelmte blickte von seiner großen Höhe kühl und gleichgültig auf Hresh nieder, als wäre dieser weiter nichts als irgendein lästiges kleines Dschungeltier. Die gespenstischen roten Augen leuchteten in beunruhigend hellem Feuer. Hresh bildete sich ein, Zorn darin zu entdecken, Verachtung und ein festes Selbstwertgefühl. Aber keine Furcht. Nirgends ein Hauch von Furcht. Der behelmte Fremde wirkte irgendwie heldenhaft halbgöttlich.

Hresh raffte seine Kraft zusammen und sandte sein Zweites Gesicht aus.

Er erwartete, auf irgendwelchen Widerstand zu stoßen, einen Versuch, seinen Stoß abzufangen oder abzulenken, wenn dies möglich war. Doch der Fremde nahm mit unverändert kühlem Gleichmut Hreshs Annäherung entgegen, und dessen Bewußtsein tauchte leicht und tief in das des Helmträgers hinab.

Die Berührung dauerte kaum länger als den Bruchteil einer Sekunde.

Aber in diesem Augenblick erfuhr Hresh einen Eindruck von der großen Seelenstärke des Mannes, von seiner Charakterfestigkeit und seiner unbeugsamen Zielstrebigkeit. Er schaute auch in einem bruchstückhaft verhuschenden Moment die Vision einer Horde anderer Leute, die ähnlich aussahen wie dieser Mann hier, einen Trupp von Kriegern, auf einem dichtbewaldeten Hügel versammelt, sämtlich mit ähnlich ausgefallenen grotesken Helmen bedeckt wie er, von denen jedoch jeder besonders gestaltet war. Dann riß der Kontakt ab, und alles ringsum wurde finster. Hresh fühlte, wie ihm die Glieder zu Wasser wurden. Er taumelte torkelnd rückwärts, drehte sich im letzten Moment um sich selbst und landete platt auf dem Bauch vor Harruels Füßen. Und dies war das letzte, was ihm für lange Zeit bewußt war.

Als er wieder erwachte, lag er in Torlyris Armen, und sie befanden sich am anderen Ende des Gemachs. Sie drückte ihn an sich und summte beschwichtigend auf ihn ein. Nach und nach sah er wieder deutlicher, und da bemerkte er, daß Koshmar den Helm des Fremdlings mit beiden Händen festhielt und ihn mit merkwürdigem Gesicht betrachtete. Der Fremde lag schlaff auf dem Boden, und Harruel und Konya hatten ihn an den Fußknöcheln ergriffen und zerrten ihn ohne weiteres, als wäre er ein Sack Korn, aus dem Raum.

„Versuch noch nicht auf den Beinen zu stehen“, murmelte Torlyri. „Warte, bis du das Gleichgewicht wieder hast, und atme tief durch.“

„Was ist passiert? Wo bringen sie ihn hin?“

„Er ist tot“, sagte Torlyri.

„Ist im selben Augenblick zusammengebrochen, in dem du seinen Geist berührt hast“, sagte Koshmar von gegenüber. „Genau wie du. Wir dachten schon, ihr seid alle beide dahin. Aber du warst bloß bewußtlos. Er dagegen war tot, ehe er den Boden berührte. Das geschah, um das Verhör zu vermeiden, verstehst du? Er konnte sich irgendwie allein durch seinen Geist töten.“ Sie rammte zornig den Helm auf das Bord, auf dem ihre Trophäen lagen. „Und jetzt werden wir nie das Geringste über ihn herausfinden“, sagte sie. „Wir werden nichts wissen, gar nichts.“

Hresh nickte düster.

Ihm fuhr der Gedanke durch den Kopf, daß dies irgendwie seine Schuld sei, daß er mit irgendeinem Schutzmechanismus hätte rechnen müssen bei dem Fremden, daß er sich nie dazu hätte hinreißen lassen dürfen, Koshmar zu einem Verhör mit Einsatz des Zweiten Gesichts zu überreden.

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich statt dessen den Wunderstein benutzt hätte, sagte er sich.

Aber wie hätte er das wissen sollen? Thaggoran hätte es vielleicht gewußt, aber er selbst, er stellte es immer wieder fest, er war eben kein Thaggoran. Ich bin noch dermaßen jung, dachte er kläglich. Nun, dem würde die Zeit abhelfen. In ihm breitete sich eine tiefe Betrübnis aus. Er hätte von diesem Mann vielleicht neue erstaunliche Kunde erfahren können, von diesem fremdstämmigen Mann. Und er hatte statt dessen nur dazu beigetragen, ihn aus der Welt zu treiben.

Am besten, man dachte nicht darüber nach.

Er trat neben Koshmar. Sie stand mit grimmiger Miene über den Helm gebeugt und ließ wiederholt wie betäubt zornig die Finger über die Goldstrahlen gleiten. Dann warf sie Hresh einen Blick zu. Ihre Augen waren trüb und düster.

„Ich muß dir etwas sagen“, sprach Hresh. „Ich bin gerade aus dem Herzen der Stadt zurückgekehrt. Haniman und ich. Wir stiegen in ein Gewölbe unterhalb eines Gebäudes, und dort gibt es eine Maschine der Saphiräugigen, Koshmar. Eine noch funktionsfähige Maschine.“

Koshmar sah ihn nun genauer an. In ihren Augen strahlte wieder der Glanz ihrer Seele auf.

„Es ist eine Maschine, die dazu bestimmt war, Abbilder der Großen Welt zu zeigen“, erklärte ihr Hresh. „Nein, mehr als nur Abbilder. Sie zeigte einem die Große Welt direkt und leibhaftig. Ich habe meine Hände auf sie gelegt, Koshmar, und ich habe den Barak Dayir dabei benutzt.“

„Und konntest du etwas sehen?“ fragte sie.

„Ja! Wundersame Dinge!“

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