12. Kapitel Wie seltsam, daß sie fort sind

Dieser Tag sollte später als ‚Tag der Spaltung‘ in die Geschichte eingehen. Elf erwachsene Stammesmitglieder waren davongezogen, und zwei Kinder; und noch lange danach sagte man im Volk: Wie seltsam, daß sie fort sind — und lauschte in die Stadt wie nach dem Verhallen eines gewaltigen Gongs.

Es dauerte sogar mehrere Wochen, ehe Hresh sich überwinden konnte, das Ereignis in die Chronik einzutragen. Er war sich bewußt, daß er seine Pflicht vernachlässigte, und dennoch verschob er es immer wieder, bis er eines Morgens feststellte, daß er nicht mehr sicher war, ob es nun zehn oder nur sieben Erwachsene gewesen waren, die auszogen. Da begriff er, daß er einen Bericht über die Geschehnisse anfertigen müsse, bevor ihm das Ganze noch undeutlicher zu werden drohte. Dies war er denen schuldig, die in künftigen Tagen die Chronik lesen würden. Und so schlug er das Buch auf und drückte die Finger gegen das kühle Pergament der nächsten leeren Seite und sagte, was er zu sagen hatte, und dies war: Daß der Krieger Harruel sich wider die Herrschaft der Stammesführerin Koshmar erhoben und eine Rebellion angezettelt habe und aus der Stadt gezogen sei, und mit ihm gezogen seien die Männer Konya, Salaman, Nittin, Bruikkos und Lakkamai und die Weiber Galihine, Nettin, Weiawala, Thaloin — und Minbain.

Am schwersten ward ihm, den Namen seiner Mutter einzutragen. Als er es versuchte, wollte der Name nicht richtig erscheinen, und seine Fingerballen druckten Mulbome und dann, nachdem er das getilgt hatte, Mirbale, ehe es ihm gelang, den Namen richtig auf dem Blatt erscheinen zu lassen. Lange saß er da und starrte die gezackten braunen Lettern an, als er den Eintrag beendet hatte, und legte immer wieder die Fingerspitzen auf das Blatt um wieder und wieder zu lesen, was er geschrieben hatte.

Ich werde meine Mutter niemals wiedersehen, sagte er sich. Aber den Sinngehalt dieser Worte vermochte er nicht völlig zu begreifen, so oft er sie auch vor sich hinsagte.

Manchmal fragte sich Hresh, ob er nicht mit ihr hätte ziehen sollen. Als er sie damals angesehen hatte, als Harruel ihn aufforderte mitzukommen, hatte er das stumme Drängen in ihrem Blick gelesen. Und es hatte ihm weh getan, daß er sich abwenden, ihr die Bitte verweigern mußte. Dieser Entschluß war qualvoll gewesen; aber auch wenn es die endgültige Trennung von der Mutter bedeutete, wie hätte er seinen Stamm im Stich lassen können und all das, was in Vengiboneeza noch unerledigt auf ihn wartete, und all das, was er von dem Volk der Behelmten lernen könnte, und Taniane, ja, auch Taniane! —, um mit diesem Scheusal Harruel und seiner Handvoll Anhänger in die Wildnis zu ziehen? Nein, das war nicht das Schicksal, das er für sich bestimmt glaubte.

Minbains Verlust war der einzige tiefe Schmerz, den er fühlte. Gewiß, er empfand Mitgefühl mit Torlyri, weil sie ihren Partner verloren hatte; doch Lakkamai hatte ihm recht wenig bedeutet, ebenso Salaman oder Bruickos oder sonst einer von denen, die mit Harruel gezogen waren. Sie waren weiter nichts als Leute, bekannte Gesichter, Teile des Stammes. Nie war er ihnen nahe gewesen, so wie er Torlyri oder Taniane oder Orbin oder sogar Haniman sich nahe fühlte. Von denen war keiner fortgezogen, oder ihr Weggang hätte ihm sehr weh getan. Doch Minbain war ein Teil seiner selbst gewesen und er von ihr, und dies alles war nun auseinandergerissen und gespalten. Von dem Tag an, an dem Harruel sich Minbain zur Gefährtin genommen hatte, hatte Hresh die dunklen Wolken sich zusammenbrauen sehen. Denn was Harruel berührte, das veränderte und verschlang er am Ende.

Wie seltsam, daß der Mann nicht mehr da war. Er hatte dermaßen viel Raum eingenommen im Volk — eine düstere, launenhafte und in wachsendem Maße auch furchterregende Persönlichkeit — und nun auf einmal war da eine leere Stelle. Es war fast, als wäre der große grüne Berg über der Stadt plötzlich verschwunden. Man mochte diesen Berg vielleicht nicht gerade lieben, und vielleicht kam er einem auch überwältigend und bedrohlich vor, doch man hatte sich daran gewöhnt, ihn da aufragen zu sehen, und sollte er verschwinden, so würde dies das Gefühl einer beunruhigenden Leere zurücklassen.

Und war es schon beklemmend, daß der Stamm in einer einzigen Stunde derart einschneidend geschrumpft war, so war es noch viel beunruhigender, daß da eine ganze Horde von Fremden sich ganz in der Nähe niederlassen wollte.

Wenige Stunden nach Harruels Abspaltung war der gesamte Beng-Stamm auf den großen roten Bestien, die sie „Zinnobären“ nannten, in die Stadt eingezogen. Und es gab ihrer mehr, als man im Volk vermutet hatte: gut über hundert, darunter etwa dreißig, die allem Anschein nach Krieger waren. Sie besaßen achtzig oder neunzig Zinnobären, manche waren Reittiere, andere trugen Lasten. Weitere Packtiere, kleiner und blaugrün mit komischen dickknöcheligen Beinen, folgten im Troß. Es dauerte den ganzen Tag, bis der Zug der Beng durch das Tor in die Stadt gezogen war.

Koshmar bot ihnen den Dawinno-Galihine-Distrikt zur Niederlassung an. Es war ein anziehender Teil der Stadt, gut erhalten, mit Brunnen und Plätzen und ziegelgedeckten Gebäuden — und in beträchtlicher Entfernung von der Siedlung des Volkes. Hresh war wenig begeistert, daß sie dieses Stadtviertel erhalten sollten, da es dort Sachen gab, die er nicht richtig erforscht hatte. Doch Koshmar wählte den Bezirk gerade darum aus, weil es ein isolierter Sektor in der Stadt war und mit dem Hauptareal nur durch eine schmale Zufahrt verbunden, die zu beiden Seiten dicht mit einsturzgefährdeten, wackeligen Bauten bestanden war. Sie war der Meinung, daß es im Falle eventueller zwischen den zwei Stämmen ausbrechender Feindseligkeiten dem Volk möglich sein werde, die Beng festzunageln, indem man diese brüchigen Bauten zum Einsturz brachte und durch die Trümmer die Zufahrtsstraße blockierte.

Haniman überbrachte Hresh diese Neuigkeit; der aber schüttelte den Kopf. „Sie begeht einen Riesenfehler, wenn sie das glaubt. Die Beng haben dreimal soviele Krieger wie wir. Und diese riesigen gezähmten Bestien. Es gibt keine Möglichkeit, wie wir sie je innerhalb von Dawinno Galihine unter Blockade halten könnten.“

„Aber wenn die alten Häuser einstürzen, wie sollten sie dann herauskönnen?“

Hresh lächelte. „Sie würden die Zinnobären einsetzen, um die Trümmer beiseite zu räumen. Meinst du etwa, das würde denen schwerfallen? Und dann würden sie direkt auf unsere Siedlung zugepoltert kommen und alles niedertrampeln, was sich ihnen entgegenstellt.“

Haniman vollführte eine ganze Kette heiliger Abwehrzeichen in der Luft. „Yissou soll uns schützen, meinst du wirklich, daß es dazu kommt?“

Mit einem Achselzucken sagte Hresh: „Sie sind viele, wir nur wenige, und wir haben gerade die meisten unserer besten Krieger verloren. Wäre ich an Koshmars Stelle, ich würde äußerst liebenswürdig zu den Beng sein — und im übrigen das Beste hoffen.“

Tatsächlich aber schienen die Beng kein Interesse am Kampf zu haben. Wie sie es versprochen hatten, luden sie das Volk des Stammes in der ersten Nacht zu einem Fest ein und spendierten großzügig Fleisch und Früchte und Wein. Das Fleisch stammte von Tieren, wie sie Hresh noch nie vorher gesehen hatte; kurzbeinige, rundliche Tie re mit flachen schwarzen Nasen und dichtwolligen grauen rotgestreiften Decken. Auch die Früchte, die das Beng-Volk mitgebracht hatte, waren unbekannt, leuchtend gelb mit drei geschwollenen in einem Nippel endenden Lappen, sahen sie wie Brüste aus, und sie besaßen ein süßes moschusartiges Aroma.

Es gab danach noch weitere Feste, und man gab sich allgemein Mühe, den Anschein von Freundlichkeit zu erwecken, obwohl es dem allem an Wärme mangelte. Oft stellten sich vier oder fünf der behelmten Beng in die Siedlung des Volkes, standen da herum, glotzten, zeigten mit den Fingern und versuchten Gespräche anzuknüpfen. Doch was sie in der ihnen eigenen Bellsprache sagten ergab für keinen einen Sinn, nicht einmal für Hresh.

Manchmal zog Hresh seinerseits mit ein paar Gefährten aus, um diese Besuche zu erwidern. Das Helmvolk hatte sich in Dawinno Galihine eingenistet, als entspreche es perfekt ihren Bedürfnissen, und sie hatten damit begonnen, Schutt fortzuräumen und mit erstaunlicher Zielstrebigkeit und Schnelligkeit beschädigte Bauten zu restaurieren. Unablässig bosselten sie fieberhaft in ihrem Stadtsektor herum, sie gruben und hämmerten und reparierten. Hresh erschienen die Neukömmlinge viel, viel mehr Energie und Unternehmungsgeist zu besitzen als sein eignes Volk, auch wenn er dabei zugeben mußte, daß er selbst gegenüber dem Neuen und Exotischen ein gewisses positives Vorurteil hegte. Besonders ein Bau schien im Mittelpunkt ihrer Mühen zu liegen: ein schmaler schwarzer Steinturm, schimmernd, wie von Wasser überflössen, und um den sich in Reihen angeordnete offene Ringgalerien zogen. Hresh versetzte es einen Stich, als er die bengischen Arbeiter auf diesem feingestalteten nach oben zu sich verjüngenden Turm herumkrabbeln sah, denn es war eines der Bauwerke, zu deren Erforschung er bisher nie gekommen war. Und wenn er sich ihm jetzt näherte, betrachteten ihn die Beng mit Unbehagen, und einmal sprach ihn ein scharfnasiger Obrist in einem wuchtigen Bronzehelm mit brüsken wegscheuchenden Gesten an, was ja nicht eben wie eine Einladung zur Besichtigung aussah.

Wie es seine Art war, gierte Hresh danach, mehr über dieses neue Volk in Erfahrung zu bringen. Er wollte Bescheid wissen über die Geschichte und alles hören, was ihnen auf ihrer Wanderung durch die Welt nach Vengiboneeza widerfahren war. Er überlegte, ob es ihnen vielleicht gelungen war, mehr als er über die Zeit der Großen Welt herauszufinden. Es drängte ihn, von ihrem Gott, Nakhaba, zu hören und darüber, wie er sich von Göttern des eigenen Stammes unterscheide. Und fünfzig weitere Fragen blubberten in seinem Hirn. Er wollte alles erfahren. Alles, alles, alles!

Aber — wo beginnen, und wie?

Da er noch immer nicht viel Sinn in der Bengsprache zu entdecken vermochte, versuchte Hresh es mit der Sprache der Gestik. Er zog einen quadratschädligen klobigen Behelmten beiseite, der irgendwie gemütlich und zugänglich aussah, und mühte sich, ihn mittels umständlicher Gestikulation auszufragen, wo das Helmvolk in früherer Zeit gelebt habe. Der Beng antwortete ihm mit dröhnendem Lachen, bellte und rollte wild die scharlachroten Augen. Doch nach einiger Zeit schien er doch zu begreifen, worauf Hreshs mühselige Pantomimik hinaussollte, und er begann seinerseits Zeichen zu machen. Er wedelte eindrucksvoll mit den Armen, seine funkelnden Augen rollten von einer Seite zur ändern. Hresh gewann den Eindruck, als wolle der Mann ihm bedeuten, daß die Beng von Süden und Westen gekommen seien, von nahe dem Rand eines gewaltigen Ozeans. Aber ganz sicher war er sich dessen nicht.

Die Sprachbarriere stellte ein ernsthaftes Problem dar. Durch den versteckten Einsatz seines Zweiten Gesichts erwarb Hresh sich einiges Gefühl für Rhythmus und Tonalität der bengischen Sprechweise, und es schien ihm beinahe, als verstünde er auch die Bedeutung des gesprochenen. Doch zu glauben, daß man die Bedeutung von etwas verstehe, das war eben leider nicht das gleiche, wie etwas wirklich zu verstehen. Wann immer er sich bemühte, einen Bengsatz in seine eigene Sprache zu übersetzen, begann er zu tasten, und es mißlang ihm.

Koshmar erteilte ihm den Befehl, sich eifrig der Erlernung der bengischen Sprache zu widmen. „Dring in das Geheimnis ihrer Worte ein“, sagte sie, „und tu es rasch! Sonst stehen wir ihnen hilflos gegenüber.“

Eifrig und voller Zuversicht begab er sich ans Werk. Wenn einer wie Sachkor ihre Sprache erlernen konnte, dann würde vermutlich auch er keine Schwierigkeiten damit haben.

Wie sich herausstellte, war die Sache jedoch mühsamer, als er erwartet hatte. Zunächst wandte er sich an Noum om Beng, da dieser gebrechliche verhutzelte Alte im Beng-Stamm den gleichen Rang innehatte wie Hresh bei seinem Volk. Noum om Beng hatte sich in einem labyrinthischen Gebäude niedergelassen, das in den Tagen der Großen Welt möglicherweise ein Palast gewesen war. Es lag dem Spiralturm direkt gegenüber, und hier thronte er auf einer schwarzen Steinbank, über die eine festliche vielfarbige Webdecke gebreitet lag, und hielt den ganzen Tag lang Hof in der hintersten und unzugänglichsten Kammer des Hauses, einem kahlen, leeren schmucklosen Gemach mit weißen Wänden.

Er schien gern bereit, ihn zu unterrichten, und sie verbrachten immer wieder lange Stunden zusammen; Noum om Beng redete, und Hresh lauschte aufmerksam und mühte sich — mit höheren Erwartungen, als von Erfolg gekrönt —, die Bedeutung des Gesagten aus der Luft zu erhaschen.

Es fiel Hresh überhaupt nicht schwer, die Bezeichnungen für Dinge zu erlernen: Noum om Beng brauchte nur auf etwas zu zeigen und das Wort zu sagen. Doch wo es um abstrakte Begriffe ging, fand Hresh die Geschichte weitaus zäher und komplizierter. Nach und nach gelangte er zu der Überzeugung, daß Sachkors Behauptung, die Beng-Sprache zu verstehen, zu einem Teil leichte Wörter, zu drei Teilen Herumraterei und zu sechs Teilen Angabe gewesen sein müsse.

Allerdings gab es eine Verwandtschaft zwischen den Sprachen der Beng und seiner eigenen, dessen war Hresh sich gewiß. Die Sätze und Satzteile wurden auf ähnliche Weise aneinandergefügt, und bestimmte Bengwörter erschienen ihm wie traumerlebte Verzerrungen von Wörtern aus der Sprache des Volkes. Vielleicht waren beide Sprachen Abkömmlinge einer einzigen Ursprache, die jedermann gesprochen hatte, ehe die Todessterne gekommen waren. Doch schien es, daß während der vieltausendjährigen Isolation, in welcher die Stämme Schutz vor dem Langen Winter in ihren Kokons gesucht hatten, jeder Stamm für sich damit begonnen hätte, seine Sprechweise unmerklich zu verändern, bis dann, mit der Zeit, eine kleine Veränderung und noch eine und noch eine zu einem völlig verschiedenen, eigenständigen Wortschatz und grammatikalischen Formen führte.

Die langsamen Fortschritte, die Hresh machte, bereiteten ihm Verzweiflungsqualen. Er hatte nahezu alle anderen Forschungsarbeiten aufgegeben, um sich ausschließlich und ganzzeitlich auf das Bengstudium zu konzentrieren. Jedoch auch nach vielen Wochen verstand er nur sehr wenig. Mit Noum om Beng zu reden, das war wie wenn man zu sehen versuchte und dabei ein dickes schwarzes Tuch um den Kopf gewickelt hat. Es war, wie wenn man das Geräusch des Windes hören wollte, während man in einem dunklen Schlund, tief drunten in der Erde begraben liegt.


Er kannte fünfzig, sechzig einfache, leichte Wörter, doch hieß das ja nicht, daß er die Sprache der Fremden sprechen konnte. Noch immer wußte er nicht, wie er diese paar Wörter auf nützliche Weise zusammenfügen mußte, um Information zu übertragen — oder zu gewinnen. Und alles übrige an dieser Sprache war ihm wie gewaltiger Rauch und Dunst. Noum om Bengs trockene Flüsterstimme redete und redete und redete, und was Hresh betraf, so konnten dies durchaus Dinge von höchster Wichtigkeit sein, doch es gelang ihm nicht, mehr als ein Wort unter Tausenden zu erhaschen und zu begreifen. Der Greis war höflich und geduldig. Doch er schien nicht zu erkennen, wie wenig Hresh tatsächlich verstand.

„Du könntest es doch mal mit Tvinnr mit ihm versuchen“, schlug Haniman eines Tages vor.

Hresh war wie vom Donner gerührt. „Aber ich weiß ja nicht einmal, ob sie sowas wie Tvinnr überhaupt kennen!“

„Sie haben doch ihre Sensororgane, oder?“

„Ja, das schon, aber nimm mal an, sie benutzen sie ausschließlich für das Zweite Gesicht? Und stell dir mal vor, was wäre, wenn Tvinnr bei ihnen als eine Abscheulichkeit gilt?“

Das Thema Tvinnr war für Hresh sowieso eine leidige und schmerzliche Angelegenheit. Die Erinnerung an seinen katastrophalen Fehlschlag, als er mit Taniane hatte tvinnern wollen, brannte ihn noch immer im Herzen. Seit jenem Tag hatte er es nicht über sich gebracht, mehr als nur ein paar flüchtige Worte zu ihr zu sagen oder ihr direkt in die Augen zu schauen — oder auch nur daran zu denken, mit jemandem anderen zu tvinnern. Außerdem konnte er sich auch kaum vorstellen, woher er die Kühnheit nehmen sollte, dem alten Noum om Beng anzubieten, mit ihm zu tvinnern. Das war doch eine viel zu intime und viel zu private Sache! Vor drei oder vier Jahren hätte er möglicherweise versuchen können, etwas derart Verrücktes vorzuschlagen; doch nun, seit er etwas älter war, verlangte es ihn weit weniger nach der Befriedigung eines zügellosen Appetits.

„Du solltest das aber doch mal versuchen“, drängte Haniman. „Wer weiß? Vielleicht findest du dabei den Zugang zu ihrer Sprache, den du suchst.“

Die Aussicht, sich in der Umarmung des hageren, ausgedorrten Noum om Beng auf ein Lager zu betten, seinen schalen Atem auf den Wangen zu fühlen und mit ihm Sensororgankontakt zu haben, erfüllte Hresh keineswegs mit Freude. Jedoch, wenn er dies tun mußte, um den Schlüssel zu den Geheimnissen der Bengsprache zu finden.

Aber Hresh konnte sich nicht überwinden, seine ausgefallene Bitte direkt vorzutragen. Es war ihm zu peinlich, zu dreist. Statt dessen tapste er in seinem kargen Wortschatz umher und versuchte zu erklären, wie sehr er sich wünschte, daß er einen rascheren und direkteren Weg fände, die Beng-Sprache zu erlernen und zu sprechen. Dabei blickte er auf Noum om Bengs Sensororgan und dann auf sein eigenes. Leider schien der alte Behelmte jedoch den überdeutlichen Fingerzeig nicht zu verstehen.

Vielleicht gab es eine andere Möglichkeit. Zweites Gesicht? Ab und zu hatte Hresh kleine behutsame Sondierungen in das Bewußtsein einiger Behelmter versucht, ohne dabei allerdings jemals sehr tief einzudringen. Doch bei Noum om Beng hatte er dies niemals gewagt. Er erinnerte sich nur allzu gut daran, wie sich damals jener erste Kundschafter der Beng selbst getötet hatte, als Hresh es bei ihm mit dem Zweiten Gesicht versucht hatte. Noum om Beng war zu klug und erfahren, als daß Hresh hätte glauben dürfen, er werde es nicht merken, wenn er ihn sondierte, und außerdem wußte er nicht, wie der alte Mann auf das Eindringen in seinen Geist reagieren würde.

Es blieb also nur der Barak Dayir. Sein Talisman, sein Zauberschlüssel für alles. Höchstwahrscheinlich bot er die einzige wirkliche Hoffnung, daß Hresh jemals die Sprache der Beng einigermaßen klar würde verstehen lernen.

Als er das nächste Mal Noum om Beng besuchen ging, kam der Wunderstein, säuberlich in den alten abgetragenen Samtbeutel verstaut, mit ihm.

Er saß eine Stunde oder mehr Noum om Beng zu Füßen und lauschte dem unverständlichen Monolog des Alten. Die wenigen Wörter, die er verstand, schwebten aufreizend an ihm vorbei wie helle Blasen in einer dunklen Gaswolke, und wie gewohnt begriff er gar nichts von dem, was Noum om Beng sagte. Schließlich hielt der ausgemergelte alte Mann inne und schaute Hresh an, als erwarte er, daß dieser nun seinerseits eine ebenso lange Rede vom Stapel lasse.

Statt dessen holte Hresh den Barak Dayir hervor und ließ ihn aus dem Beutel in die Handfläche fallen. Goldenes Licht und eine schwache Wärme strahlten von ihm aus. Er murmelte die Namen der Fünf Erhabenen und schlug ihre Zeichen mit der anderen Hand, und dann hielt er das spitz zulaufende polierte Steinstück so, daß Noum om Beng es sehen konnte.

Die Reaktion des Alten war unmittelbar und dramatisch, als hätte er dreißig oder vierzig Jahre von seinem Alter in einem Augenblick von sich abgestreift. Die roten Augen glühten in plötzlichem Scharlachfeuer und leibhaftiger Lohe. Er stieß einen rauhen keuchenden Laut aus und erhob sich von seinem Sitz — und sank vor Hreshs ausgestreckter Hand so rasch in die Knie, daß die langen Purpurschwingen seines Helmes Hresh beinahe ins Gesicht getroffen hätten.

Noum om Beng sah ergriffen, ehrfürchtig und erstaunt aus. Ein Strom sich überstürzender Worte schäumte über seine Lippen, wovon Hresh jedoch nur eines verstehen konnte, das Noum om Beng viele Male wiederholte.

„Nakhaba! Nakhaba!“ Großer Gott! Großer Gott!

Im Verlauf jener ersten seltsamen Wochen nach dem Auszug Harruels und der Spaltung des Stammes überraschte Taniane sich oft dabei, daß sie dachte: Wäre ich doch mit ihm gezogen.

Dies hätte sie ganz gewiß getan, falls Hresh sich dazu entschlossen hätte. Als Harruel damals mit so wildem Gesicht Hresh aufgefordert hatte, zwischen seinem Stamm und seiner Mutter zu wählen, hatte Taniane den Atem angehalten und gewußt, daß sich jetzt ihr eigenes Schicksal entscheiden werde. Doch Hresh hatte es abgelehnt mit fortzuwandern; und Taniane hatte langsam ausgeatmet und aus ihrem Gehirn die Erklärung verbannt, die sie sonst einen Augenblick später abgegeben hätte: die Absage an ihr Volk und an das Leben in Vengiboneeza.

Und so war sie also noch immer hier. Aber warum? Und zu welchem Zweck?

Wäre sie mit den anderen ausgewandert, ein ganz neues, ein beschwerliches schwieriges Leben hätte sich ihr auf getan. Wie hart das Leben außerhalb der Stadt sein kann, das wußte sie ja bereits. Und sie konnte sich auch recht gut vorstellen, welche neuen Lasten und Beschwernisse die Herrschaft eines ‚Königs Harruel‘ mit sich bringen würde.

Der Mann war brutal, ungehobelt, grausam und gefährlich. Er hatte ein kaltes Herz und ein hitziges Temperament. Möglich, daß er nicht immer so gewesen war, doch Taniane hatte beobachtet, wie er sich seit dem Tag des Aufbruchs in die Welt mehr und mehr verändert hatte, sich mehr und mehr selbstherrlich und autonomistisch betragen hatte. Murrend und grollend, aufmuckend wider jegliche Entscheidung Koshmars, die Alleinmärsche ins bergige Grenzland, wann immer er Lust dazu verspürte, der Aufbau seiner eigenen kleinen Verteidigungsstreitmacht, ohne Koshmar erst um die Erlaubnis zu bitten, und endlich die direkte Konfrontation mit dem Häuptling, die Machtprobe — und die Vergewaltigung von Kreun, auch dies, wie er sie so einfach zu Boden warf und sie gegen ihren Willen mißbraucht hatte.

Ja, so war Harruel. Wahrscheinlich kopulierte er dort draußen in der Wildnis jetzt mit sämtlichen Frauen, die mitgezogen waren, und nicht nur mit seiner Gefährtin, Minbain; auch mit Thaloin und Weiawala und Galihine und Nittin. Denn er war ja jetzt der ‚König‘. Und er konnte tun, was in seinem Belieben stand. Er würde auch mit mir kopulieren, wenn ich mitgegangen wäre, dachte Taniane. Aber andererseits, es gab Schlimmeres, als mit einem König zu kopulieren.

Sie machte sich Gedanken darüber, warum Kreun ihn wohl abgelehnt hatte. Vielleicht deshalb, weil ihr der Kopf dermaßen voll war von dem Sachkor; ja, bestimmt deswegen. Zwang, das war nicht recht, aber normalerweise brauchte ja auch niemand mit Gewalt zur Kopulation gezwungen zu werden. Es genügte üblicherweise, wenn jemand einen höflich dazu einlud. Hätte Harruel Taniane in der Siedlung aufgefordert, sie hätte gewiß mit ihm kopuliert. Aber — er hatte sie eben nie aufgefordert. Immer war er für sich geblieben, immer nur hatte er finster drein-geblickt und in sich hineingebrummt. Vielleicht hat er mich für zu jung gehalten, dachte sie plötzlich bestürzt. Dabei war sie ja nicht viel jünger als Kreun, und die hatte ja auch seine Aufmerksamkeit erregt. Kreun ist sehr schön, behaupten die Leute, sagte sich Taniane, aber immerhin, von mir sagt man das ja auch.

Die Vorstellung, mit Harruel zu kopulieren, erregte sie. Ach, diese ganze männliche Kraft, diese ganze unheimliche Gewalttätigkeit. in der Umschlingung ihrer Beine! Ihn vor Lust stöhnen zu hören! Das harte Zupacken seiner Finger an dem Fleisch ihrer Arme!

Ja, schön und gut, aber Harruel, der war jetzt da draußen, irgendwo in der Wüste und Wildnis, und sie, sie hockte noch immer in Vengiboneeza, und sie wartete noch immer darauf, daß sie endlich älter sein werde, daß endlich ihre Zeit komme. Aber vielleicht kam die nie. Koshmar strotzte von Lebenskraft. Und das Grenzalter war abgeschafft. Taniane hatte sich früher immer träumerischen Wunschvorstellungen hingegeben, daß sie eines Tages Häuptling und Stammesführerin sein werde. Und nun erkannte sie, daß die Verwirklichung ihres Traumes in immer fernere Zukunft entschwand.

„Aber — würdest du denn Häuptling werden, wenn du jetzt bei Harruel wärst?“ fragte Haniman sie mit einem zweifelnden Blick. Haniman war in jüngster Zeit ihr Hauptfreund und ihr Kopulationspartner. Er wollte zwar auch immer gern mit ihr tvinnern, aber das hatte Taniane ihm nie erlaubt. „Harruel ist doch selbst Häuptling. Was sonst soll ‚König‘ bedeuten. Außerdem hat er schon eine Gefährtin. Da gab es doch für dich gar keinen Platz mehr.“

„Minbain wird immer älter. Das Leben in der Wildnis ist schwer. Vielleicht stirbt sie in ein, zwei Jahren.“

„Und dann würde Harruel dich erwählen? Klar, vielleicht würde er. Oder er nimmt dem Salaman die Weiawala weg, oder die Thaloin dem Bruikkos. Harruel ist König. Er kann tun, was ihm beliebt.“

„Ich glaube, er würde mich wählen.“

Haniman lächelte. „Und damit wärst du die Gefährtin des Königs. Aber hättest du damit irgendwelche Macht? Hat Minbain dadurch Macht gewonnen?“

„Ich bin anders als Minbain.“

„Ja, das ist allerdings wahr. Und du hältst dich für fähig genug, einen Brocken von Harruels Autorität und Macht für dich abzuzwacken, geht es darum?“

„Es läge im Bereich meiner Möglichkeiten, ja“, sagte Taniane.

„Wie Hresh es ausdrücken würde: es läge auch im Bereich deiner Möglichkeiten, fliegen zu lernen, indem du mit den Armen wedelst, wenn du dich nur lang genug darum bemühst. Aber auch das ist nicht sehr wahrscheinlich, außer durch ein Wunder.“

„Fliegen, das nicht. Aber ich hätte bestimmt Mittel und Wege gefunden, wie ich Harruel um den Finger wickeln kann.“ Taniane lächelte hinterhältig und verstohlen. „Und Harruel wird nicht ewig leben. Es ist ziemlich gefährlich, dort draußen im wilden Land. Weißt du noch, die Rattenwölfe? Und die Blutvögel? Wenn also dem Harruel etwas widerfahren würde, was meinst du, würde dann Konya König werden? Oder würden die Auswanderer aus der Stadt vielleicht dem Alten Brauch den Vorzug geben wollen und sich ein Weib zum Häuptling erwählen, was meinst du?“

Haniman lachte, scharf und schnaubend. „Wie bist du doch bezaubernd, Taniane! Aus dem Nichts beschwörst du dir Hauptrollen herauf — als Harruels Bettgefährtin, an Minbains Stelle, und als Harruels Herrin, sobald du sein Bett teilst. und dann gar noch als Harruels Nachfolgerin, wenn er tot ist. Aber wie die Dinge nun mal liegen, bist du jetzt hier, und der Harruel ist irgendwo, ziemlich weit weg, und er verschwindet mit jedem Tag weiter von hier.“

„Das weiß ich“, sagte sie und wandte das Gesicht weg.

Plötzlich fegte sich Hanimans Hand auf ihr Knie, und dann bewegte sie sich ein Stückchen weiter nach oben, den Schenkel hinauf, und hielt inne, wo ihre Schenkel zusammenstießen. Taniane wehrte die Hand nicht ab.

Ihre Gedanken verdüsterten sich. Sie lebte hier, und Harruel war weit, und — wie Haniman ihr so deutlich vor Augen geführt hatte — sie braute sich da ein Wunschsüppchen von großen Dingen für sich selber zusammen — aus dem Nichts. Sie hatte ihre Wahl getroffen; also mußte sie jetzt auch damit leben.

Wenn doch nur dieser Hresh nicht so ein Idiot wäre!

Immer noch spürte sie ein schmerzliches Zucken, wenn sie an Hreshs Blödheit zurückdachte, damals, als er sich so saudumm an sie rangemacht und sie gebeten hatte, mit ihm zu tvinnern. Selbstverständlich hätte sie nur allzu gern mit ihm! Aber sie hatte sich gezwungen gefühlt, ihn abzulehnen. Denn wenn sie damals, in jenem Augenblick, so bereitwillig auf sein Verlangen eingegangen wäre, dann hätte sie auch jegliche Hoffnung begraben können, diesen Jungen so für sich zu gewinnen, wie sie es beabsichtigte. Sicher, er hätte mit ihr getvinnert, und dann hätte er dankeschön gesagt und wäre abgezogen, um in der wilden Freude der Neuentdeckung, wie sie über einen kommt in den ersten Tvinnr-Tagen, vielleicht gleich danach mit Bonlai oder Sinistine oder Thaloin zu tvinnern — oder auch mit Haniman, wer konnte das schon wissen? —, und dann würde sich die wilde Begeisterung legen, und Hresh würde eine feste Tvinnr-Partnerschaft mit jemand eingehen. Mit irgendeinem. Und nicht unbedingt mit ihr, Taniane. Ihre Absicht, als sie ihn abgewiesen hatte, war gewesen, daß er abzog, beleidigt, um sich anderwärts eine gewisse Tvinnr-Erfahrung zu holen, um dann zu ihr zurückzukehren und in etwas geziemenderer, taktvollerer Weise erneut zu bitten (und sie wegen der Abfuhr natürlich nur um so mehr zu begehren). Und dann hätte sie ihn mit Freuden akzeptiert. Nur — das hatte er eben nicht getan. Statt dessen hatte er seither kaum je ein Wort mit ihr gesprochen; er hatte sich von ihr ferngehalten, ganz so, als würde es ihm brennenden Ärger verursachen, sie auch nur anzuschauen.

Der Trottel! Der Allerweiseste im Stamm — und dennoch ein solcher Dummkopf!

Hanimans Hand schlich sich weiter zwischen Tanianes Schenkel. Mit der anderen Hand begann er ihre Schulter zu streicheln. Die Hand glitt zu ihrer Brust.

„Magst du mit mir kopulieren?“ fragte er.

Sie nickte, weil sie immer noch an Hresh dachte und daran, daß sie die Tvinnr-Partnerin des gescheitesten Kopfes im Stamm hätte werden können, und was für vielfältige Kenntnis und Wissen sie auf diese Weise hätte erlangen können; ja, daß sie den Hresh sogar zu einem ewiglichen Bund hätte haben können, wenn es denn schon inzwischen das Sittengesetz erlaubte, daß der Alte Mann des Stammes eine ‚eheliche‘ Partnerschaft eingehe. Schließlich, das Sittengesetz hatte sich ja schon soweit gelockert und verändert, daß es der Opferfrau gestattet war, sich mit Lakkamai zusammenzutun, oder etwa nicht? Allerdings — das hatte Torlyri auch wenig geholfen, als Harruel die Stammesspaltung provozierte. Also, wenn ich Hresh zum ehelichen Mann bekäme, dachte Taniane, dann wären mein Einfluß und meine Macht nur wenig geringer als die von Koshmar, und wenn Koshmar dann noch stürbe.

„Und magst du mit mir danach tvinnern?“ fragte Haniman.

„Das, nein“, sagte Taniane. „Nein, mit dir will ich nicht tvinnern.“

„Jetzt nicht — oder überhaupt niemals?“

„Jetzt nicht, aber vielleicht auch nie.“

„Ach so“, sagte er. „Mein Pech. Aber du möchtest schon mit mir kopulieren?“

„Ja, aber sicher doch.“

„Und wenn ich dich nun bitten würde, meine feste Gefährtin zu werden?“

Taniane blickte ihn lange und fest an.

„Darüber laß mich mal noch ein bißchen nachdenken“, sagte sie. „Vorläufig wollen wir einfach nur mal kopulieren, einverstanden?“

Für Torlyri war es eine Zeit der Düsternis und Beklemmung. Sie hatte das Gefühl, als wäre das Licht aus ihrer Seele gewichen und als sei sie in einen Klumpen schwarzer Schlacke verwandelt worden. Soviel Schmerz — und wegen eines Mannes!

Wie schnell, wie abgrundtief war sie von Lakkamai abhängig geworden! Wie leicht verwundbar, wie schutzlos für den Schmerz, als er sie verließ! Kaum erkannte sie sich selbst wieder in dieser fremden, niedergeschmetterten Frau, die an keinem Morgen aufwachen konnte, ohne mit der Hand nach der leeren Stelle auf dem Lager zu tasten, an ihrer Seite, wo Lakkamai geschlafen hatte, und ohne dann in der Erinnerung wieder seine hallende Stimme zu hören, mit der er Harruel gelassen erklärt hatte, daß er sich dem Trupp der Aussiedler aus Vengiboneeza anschließen wolle.

Torlyri hatte mehr als dreißig Jahre zufrieden und ohne größeres Bedürfnis nach einem Manne gelebt. Ihre Liebe zu Koshmar und ihre Aufgaben als Opferfrau hatten ihr Leben hinlänglich erfüllt. Doch dann war der Neue Frühling gekommen, und der Große Aufbruch, und alles war verändert. Auf einmal kopulierte alles, verehelichte sich alles, plötzlich wurden ganze Scharen neuer Kinder in die Welt gesetzt wie nie zuvor. Und Torlyri hatte sich inmitten diesem gewaltigen Aufblühen des Stammes ebenfalls gefühlt wie eine Knospe, die sich öffnete und dem Licht entgegenreifte. Sie war verwandelt. Auch sie sehnte sich nun nach der Kopulation, sogar nach fester Partnerschaft und Kindern. Und darum hatte sie sich Lakkamai hingegeben, und nun war Lakkamai mit Harruel fortgezogen; und Torlyri fühlte sich verzweifelt und verlassen, auch wenn sie sich immer wieder vorsagte, sie stehe sich ja nicht schlechter als vorher, ehe sie sich mit Lakkamai eingelassen hatte.

„Komm zu mir!“ sagte Koshmar. „Tvinnre mit mir!“

„Ja“, sagte Torlyri. „Mit Freuden.“

Koshmar war in diesen schweren Tagen ein großer Trost für sie. Sie tvinnerten oft, viel häufiger als während der ganzen verflossenen Jahre, und jedesmal fühlte Torlyri dabei, wie Koshmar Kraft, Wärme und Liebe in sie herüberströmte.

Torlyri wußte, daß sie Koshmar durch ihre vernarrte Liebe zu Lakkamai tief verletzt hatte. Koshmar hatte das zwar nie mit Worten gesagt, doch nach allen den Jahren ihrer intimen Gemeinsamkeit war es unmöglich, daß Koshmar ihre wahren Gefühle von Torlyri hätte verbergen können, beim Tvinnern, aber auch sonst. Und dennoch war Koshmar bereitwillig zurückgewichen, damit Torlyri tun könne, wie sie wünschte. Und jetzt, wo die Affäre vorbei war, wo Lakkamai Torlyri ganz beiläufig und ungerührt hatte fallen lassen, zeigte Koshmar keinen Hauch von vorwurfsvollem Verhalten, weder Selbstgefälligkeit noch Grausamkeit, sondern nur Liebe, Wärme und Kraft.

Es konnte ihr nicht leichtfallen. Aber sie meisterte es.

Und das, wie Torlyri wußte, in einer Zeit persönlicher hoher Angespanntheit. Der Abfall Harruels hatte sie tief getroffen. Denn nie zuvor hatte Koshmar sich einer derartigen Verhöhnung ausgesetzt gesehen. Keinem Häuptling war dies je widerfahren. Vor dem gesamten Stamm verspottet zu werden, ihre Autorität mißachtet, beschimpft, stehengelassen zu werden — von elf Angehörigen des eigenen Stammes, die ihr einfach den Rücken zukehrten und davonliefen — was für eine Demütigung für Koshmar, was für eine Erniedrigung! Und dazu dann noch diese große Horde von Behelmten, die in die Stadt gezogen kamen, voller Betriebsamkeit und Energie, und mit ihren stinkenden Tierkolossen, ihren fremdartigen Sitten und Bräuchen, ihrer seltsamen Gewandung. Einst war einmal ein Kokon eine ganze geschlossene Welt gewesen, und Koshmar die höchste Herrscherin in dieser Welt; jetzt aber war das Volk in eine weitaus größere Welt vorgestoßen, und sie war nichts weiter als Häuptling eines kleinen und überdies gespaltenen Stammes, der eine kleine Nische in einer riesigen Stadt bewohnte, und in dichter Nähe einen anderen Stamm, viel größer, der bedrohlich näherrückte, der anmaßend sich auszubreiten und überzugreifen im Begriff schien.

All dies drohte die helleuchtende Sonne von Koshmars Macht zu verfinstern. Es waren schwere Schläge für ihr Ansehen, für ihr Selbstvertrauen, ja wider ihren hochgemuten Sinn selbst. Aber dank ihrer außergewöhnlichen Elastizität hatte Koshmar all diese Tiefschläge ausgehalten. Und sie hatte noch Kraft übrig, um davon ihrer Geliebten, Torlyri, zu spenden. Und dafür war ihr Torlyri mächtig dankbar.

Während sie beieinander lagen, gruben sich Koshmars Finger liebevoll in Torlyris dichten schwarzen Pelz. Die so vertraute Wärme, die enge, vertraute Nähe der Geliebten war tröstlich. Torlyri spürte, wie Koshmar zitterte, und sie lächelte ihr zu.

„Du“, flüsterte Koshmar. „Meine Liebste und Freundin. Meine einzige Liebe.“

Ihre Sensororgane berührten sich. Die Seelen glitten in die Vereinigung hinüber.

Und dann fragte sich Torlyri, wie es möglich gewesen sei, daß sie jemals Lakkamai mehr ersehnt hatte als Koshmar.

Hinterher allerdings, als sie sich in die Erlösungsstille sinken ließ, die nach dem Tvinnr eintritt, erkannte sie, daß dies eine törichte und sinnlose Frage war. Was sie von Lakkamai erhalten hatte, war etwas ganz und gar anderes als die Liebe, die sie und Koshmar einander schenkten. Von Lakkamai waren ihr Leidenschaft geworden, Aufregung, ein erregendes Mysterium. Es hatte eine Vereinigung mit ihm gegeben, die sie irrtümlich für eine Verschmelzung der Seelen gehalten hatte; doch nun erkannte sie, daß es nur eine Vereinigung der Körper gewesen war: gewiß, eine starke Verschmelzung, von hoher Intensität, aber nicht etwas von Dauer. Er hatte sie begehrt, sie hatte ihn begehrt, und eine Zeitlang hatten sie sich gegenseitig die Stillung dieses Verlangens geben können. Es war etwas Echtes, Reines gewesen, aber nicht von Dauer. Und dann hatte er aufgehört, sie zu begehren, oder er hatte etwas anderes mit schärferem Verlangen begehrt, und als Harruel seinen Aufruf tat, wer ihm Gefährte und Begleiter sein wolle bei seiner Eroberung des wilden Landes, war Lakkamai vorgetreten, ohne auch nur in Torlyris Richtung zu blicken, ohne auch nur einen Gedanken an sie zu verschwenden. Und er hatte sie auch nicht gebeten, mit ihm zu ziehen. Vielleicht hatte er sich gedacht, daß sie dazu nicht bereit sein würde — daß sie unweigerlich loyal sein und ihre Aufgaben als Opferfrau nicht aufgeben würde. Oder aber, es war ihm gleichgültig gewesen. Vielleicht hatte er ja alles bekommen, was er von Torlyri hatte haben wollen, und war jetzt mit ihr fertig und war bereit für ein neues Torlyri fragte sich erneut, ob sie mit ihm gezogen wäre, ob sie den Stamm und ihre Pflicht und Koshmar und alles vielleicht doch preisgegeben hätte, wenn Lakkamai sie nur darum gebeten hätte.

Sie wich der Beantwortung dieser Frage geflissentlich aus. Und sie war froh, daß sie ja eigentlich nicht gestellt worden war.

Harruel zog vor den anderen her, wenn sie marschierten, allein und abgesondert, mit dem Mantel königlicher Erhabenheit und Enthobenheit bedeckt. Dadurch betonte er seine Macht und seine Besonderheit. Außerdem bekam er dabei Gelegenheit zum Nachdenken.

Ihm war klar, daß er ohne festen realen Plan losgezogen war, mit keiner anderen Strategie, als einfach immer weiter und weiter zu ziehen, bis es den Göttern gefallen würde, ihm zu eröffnen, welches Schicksal sie ihm bestimmt hatten. Vengiboneeza — trotz des bequemen angenehmen Lebens, das sich dort bot — war nicht sein ihm bestimmtes Schicksal gewesen. Vengiboneeza war eine Totenstadt, und außerdem war es schon im Besitz anderer Völker gewesen. Es war weiter nichts als ein Ort, an dem man sich zeitweilig Unterschlupf suchte, um zu warten. Aber — worauf zu warten? Auf nichts, dachte er. Darauf, daß die weißgebleichten Ruinen einstürzen und uns in Wolken von Staub ersticken? Und selbst wenn es gelingen sollte, Vengiboneeza wieder zu irgendeiner Art Leben zurückzuführen, wenn man die Bauten restaurierte, die Maschinen irgendwie zum Funktionieren bringen könnte, so wäre das doch das Leben dieser anderen. Die Vorstellung, in der alten verlassenen Totenstadt fremder Leute leben zu sollen, war ihm widerwärtig. Ihm wäre dies erschienen, als müsse er in den schmutzigen Bettlaken eines anderen schlafen. Nein, Vengiboneeza war kein Ort für Harruel.

Er war nicht sicher, wo es einen Ort für ihn geben mochte. Aber er beabsichtigte, so lange weiterzuziehen, bis er ihn entdeckte.

An diesem Tag allerdings waren sie so weit gezogen, wie es ihnen möglich war. Die Nacht näherte sich. Sie waren in einen angenehmen Landstrich vorgestoßen, der voller gemächlich sich schlängelnder sanfter Täler war, üppig bestanden von Teppichen neuen Grases, der grünen und der roten Art. Direkt vor ihnen fiel das Land scharf ab, und was dahinter lag, erschien Harruels Augen als seltsam schön und von schöner Besonderheit.

Inmitten der weiten Wiesenfläche unter ihnen lag ein gewaltiges kreisförmiges Becken, weit und flach, und von einem scharfgezeichneten begrenzenden Rand umringt. Im Zentrum lag ein dichter Wald, dunkel und geheimnisvoll, der reichliche Jagdbeute versprach.

Das Becken sah zu ebenmäßig aus, als daß es hätte natürlichen Ursprungs sein können. Harruel dachte darüber nach. Wer hatte solch eine riesige Anlage erbauen können? Und warum? Und wenn es sich um eine Stadt oder ein Heiligtum aus den Tagen der Großen Welt handelte, wieso konnte man dann keine Spur von Ruinen und Resten von Bauten ausmachen? Von oben her war weiter nichts sichtbar als eine weite flache Senke, fast vom gleichen Durchmesser wie Vengiboneeza selbst es war, eine perfekte Kreisform, und darum herum ein Randwulst, und mit einem dichten Bestand von Gesträuch bewachsen. Doch, was immer das dort unten war, es war dem vorzuziehen, woher sie gerade kamen.

Denn fast eine Woche lang waren sie nun durch einen feindseligen deprimierenden Waldgürtel gezogen, in dem das Gezweig dermaßen verfilzt und durchwuchert war von wirren schimmernden schwarzen Rebgewächsen, daß die Sonne niemals bis auf den Grund dringen konnte. Der Boden des Waldes war trocken und unfruchtbar, von einer mehligen Puderschicht bedeckt. Die einzige Pflanze, die dort gedieh, war ein großes bleiches kuppelartiges Gewächs, fleischig und unheimlich, das urplötzlich innerhalb von Sekunden aus dem Erdboden hervorschoß, unglaublich rasch. Das Zeug war klebrig, und wenn man es anfaßte, brannte es an den Fingern. Aber unheimliche langbeinige kleine Blaupelzgeschöpfe hüpften abends durch den Wald und suchten diese flachen platten düsteren Dinger, und wenn sie eines gefunden hatten, bohrten sie sich direkt mitten hinein und fraßen es von innen heraus auf. Diese Geschöpfe waren schwer zu fangen, außer man stieß auf sie, während sie fraßen, denn dann waren sie dermaßen von ihrer Gier beherrscht, daß man sie an ihren Beinen packen konnte. Aber leider, als Speise waren sie kein Genuß, denn ihr Geschmack war in geröstetem Zustand sogar noch weniger schmackhaft als in rohem. Harruel war erleichtert, als sie diesen Ort wieder verließen.

Er wandte sich um und blickte den breiten Kamm zurück, den sie gerade überwunden hatten, und er spähte ins abendliche Dämmern, das von Osten her sich über sie zu senken begann. Der Himmel war beinahe schwarz, mit Ausnahme einer Stelle, wo ein einzelner goldener Lichtspeer auf eine hochragende Wand von feuergesäumten Wolken stieß. Konya und Lakkamai sah er nicht weit hinter sich, der Rest seiner Leute schleppte sich in weit auseinanderliegenden Grüppchen halbwegs fast bis zum Wald hin zurück.

Harruel legte die Hände an den Mund und schrie zurück: „Wir lagern hier. Weitergeben!“

Aus dem Süden wehte ein warmer Wind. Er versprach Regen. Große ungeschlachte graugefiederte Vögel mit leuchtend silbernen Hälsen, die lang und gekrümmt waren, klatschten aus den Baumwipfeln hervor und zogen in einem mächtigen Schwarm ab nach Nordosten. Sie sahen wenig anheimelnd aus, aber sie sangen im Flug wie eine ganze Götterschar. Vor zwei Wochen, am anderen Ende des Waldes, hatte Harruel Schwärme von kleinen zarten Vögeln mit grün-blauen Schwingen gesehen, die im Flug wie eine Handvoll Edelsteine blitzten, und sie hatten gegeifert und gekreischt wie eine Horde Teufel. Er fragte sich, warum es derartige Inkongruenz zwischen Stimme und körperlicher Schönheit geben konnte.

Wäre Hresh bei ihm gewesen, Harruel würde ihm diese Frage vorgelegt haben. Aber Hresh war nicht bei ihm.

Mit überkreuzten Armen stand er wartend da, bis Konya und Lakkamai ihn eingeholt hatten. „Es gibt gutes Wasser hier“, sagte Harruel. „Und da an den Sträuchern reichlich Beeren. Und ich glaube, morgen werden wir dort unten Jagdwild in Mengen finden.“ Er zeigte in den Kessel unter ihnen. „Da, nun schaut mal da hinunter. Was haltet ihr davon?“

Konya trat bis an den Rand, wo das Land plötzlich abbrach, und spähte in die dunstige grüne Senke hinab.

„Seltsam“, sagte er nach einiger Zeit. „Wie eine große runde Schüssel. Sowas hab ich noch nie gesehen.“

„Nein, ich auch nicht“, sagte Harruel.

„Da muß es alles mögliche Wild massenhaft geben. Schau mal, dort, die Ränder sind ja wie eine Rundbarriere, siehst du? Das Wild kann hinein, aber es wird ihm dann schwerfallen, wieder herauszukommen. Also bleibt es dort und wächst und gedeiht.“

„Eine Stadt“, sagte Lakkamai, der ernst hinabspähte. „Hier muß in alter Zeit einst eine Stadt gewesen sein.“

„Da bin ich mir gar nicht so sicher. Nein, ich glaube, das da haben die Götter erschaffen. Aber das werden wir ja morgen feststellen.“

Inzwischen rückten die anderen nach. Harruel begab sich beiseite, während sie das Lager aufschlugen.

Auch danach hätte er Hresh befragen können, über das gewaltige flache Becken dort unten im Talgrund. Warum es dort war, und wie es geformt worden war. Bei Hresh konnte man mit Sicherheit mit irgendeiner Antwort rechnen. Manchmal riet und rätselte er ja bloß herum, doch in den meisten Fällen bediente er einen schon mit echten Wahrheiten. Seine Bücher verrieten ihm fast alles, außerdem besaß er noch Hexerkräfte — oder vielleicht göttliche Kräfte — und konnte weiter sehen als gewöhnliche Leute und vielleicht sogar noch über das Zweite Gesicht hinaus.

Auch wenn Harruel dem Hresh nicht gerade freundschaftlich zugetan war, auch wenn ihm der Junge stets als lästig, schlau und gerissen, ja sogar als gefährlich erschienen war, so konnte er doch nicht bestreiten, daß Hresh über ein ungewöhnliches und besonderes Gehirn verfügte und sich eine profunde Kenntnis aus der Lade mit den Chroniken ergattert hatte. Aber wie sich gezeigt hatte, wollte Hresh nicht mitziehen. Harruel hatte an jenem Tag der Stammesspaltung einen Augenblick lang daran gedacht, ihn zu zwingen, war jedoch zu dem Schluß gelangt, daß dies unklug wäre, wenn nicht unmöglich. Koshmar hätte eingreifen können. Oder Hresh selber hätte selbst irgendein Unheil anrichten können, das ihn am Mitgehen gehindert hätte. Keinem war es je gelungen, Hresh zu etwas zu veranlassen, das er nicht tun wollte, nicht einmal Koshmar.

Doch Harruel war trotzdem losgezogen und hatte eine Richtung gewählt, ohne Hreshs Rat und Weisheit. Sie zogen nach Süden und Westen, den ganzen Tag lang der Sonne nach, bis sie unterging. Es wäre unsinnig gewesen, in die andere Richtung zu ziehen, denn von dorther waren sie ja gekommen, und dort hinten gab es nichts als leere Ebenen, verrostete Mechanische und umherziehende Heerscharen von Hjjk-Leuten. Aber in der eingeschlagenen Richtung barg sich das Versprechen des noch Unbekannten. Und es war ein grünes fruchtbares Land und schien voll von der drängenden pulsierenden Lebenskraft des Neuen Frühlings zu sein.

Tag um Tag hatte Harruel das Tempo bestimmt, und die übrigen hatten sich abgewechselt, um mit ihm Schritt zu halten. Er schlug ein rasches Marschtempo an, wenn auch nicht so rasch, wie wenn er alleine dahingezogen wäre. Minbain und Nettin hatten Kleinkinder auf dem Arm und mußten sich schließlich um sie kümmern. Und Harruel gedachte zwar ein strenger und starker König zu sein, jedoch kein törichter. Der starke König, so glaubte er, verlangt seinem Volke mehr ab, als es ohne Forderung zu tun bereit wäre, doch er fordert nicht mehr von ihm, als es zu geben imstande ist.

Er wußte, daß sie ihn fürchteten. Dafür sorgten schon seine Größe und seine Kraft und seine finstere Natur. Aber er wollte, daß sie ihn auch liebten, oder doch wenigstens verehrten. Dies mochte sich als gar nicht leicht erweisen zu erzielen; er argwöhnte, daß ihn die meisten für ein brutales wildes Tier hielten. Vielleicht trug die gewaltsame Kopulation mit Kreun daran die Schuld. Nun, es war in einem Anfall von Geistesverwirrung geschehen, und er war nicht stolz darauf, es getan zu haben; aber geschehen war eben geschehen. Er hatte eine höhere Meinung von sich selbst als die anderen, denn er kannte sich selbst besser. Sie vermochten seine innerliche Vielschichtigkeit nicht zu erkennen, sie sahen nur sein hartes wildwütiges Äußeres. Aber sie werden mich kennenlernen, dachte Harruel. Und dann werden sie erkennen, daß ich auf meine Art ein herausragender Mann bin, ein starker und gewitzter Anführer, ein Mann des Schicksals, ein Mann, zum König geeignet. Nicht ein wildes Tier, nicht ein Ungeheuer. Nein, stark, aber zugleich auch weise.

Eine Stunde lang, bis es dunkel wurde, um noch zu sehen, jagten die Männer, und die Weiber sammelten kleine fast azurblaue Beeren und runde stachelhäutige rote Nüsse. Dann ließen sich alle am Lagerfeuer nieder und aßen. Nittin, der zwar nie zum Krieger ausgebildet worden war, der jedoch — wie sich erwies — erstaunlich geschickt mit den Händen war, hatte am Bach, der durch den Wall floß, ein glattes, schnelles Tier auf Fischjagd erbeutet; es hatte einen langen schlanken purpurroten Leib und eine dichte Mähne von steifen gelben Haaren am Hals und Nacken. Die Hände an den kurzen Stummelarmen wirkten beinahe wie Menschenhände, die Augen funkelten vor Intelligenz. Das Tier bot gerade genug Fleisch, um sie alle zu sättigen, und es wurde kein Fetzchen davon fortgeworfen.

Danach war Kopulationszeit.

Es war nun alles anders als in den alten Tagen, den Tagen im Kokon, wo die Leute vom Stamm kopuliert hatten, wenn und mit wem sie Lust hatten, obwohl damals meist nur die vermählten Paare, die Zuchtpaare, daran als an einer fortgesetzten Aktivität Interesse hatten. In Vengiboneeza hatte sich dies geändert, und dort hatten nahezu alle sich feste Partner gesucht, um Kinder zu bekommen. Dabei hatte sich eine neue Sitte, entwickelt, ein neuer Brauch, wonach die vermählten Partnerpaare in der Regel nur mit ihrem festen Partner kopulierten. Auch Harruel selbst hatte sich an diese neue Sitte gehalten — bis zu jenem Tag mit der Kreun, als er vom Berge herabstieg.

Aber hier auf dem Treck hatte Lakkamai keine feste Partnerin, denn er hatte ja Torlyri nicht mitgebracht. Dies schien ihn aber nicht besonders zu bedrücken, daß er als einziger hier unvermählt war, während alle übrigen es waren. Doch Lakkamai beklagte sich selten über etwas. Er war ein Schweiger. Dennoch bezweifelte Harruel, daß Lakkamai sich damit zufriedengeben werde, den Rest seines Lebens ohne Kopulation zu verbringen, und es gab im Trupp niemanden, mit dem er hätte kopulieren können, außer den Gefährtinnen der anderen Männer und dem Kind Tramassilu, die aber erst in vielen Jahren das ausreichende Alter zum Kopulieren erlangt haben würde.

Außerdem kam hinzu, daß Harruel, nun da er selbst auf den Geschmack gekommen und ein brennendes Interesse am Kopulieren entwickelt hatte, nicht daran dachte, sich bis ans Ende seiner Tage mit Minbain zu begnügen. Je älter sie wurde, desto mehr schwanden die Reste ihrer früheren Schönheit, und die mühsame Aufzucht des Kindes Samnibolon raubte ihr viel Kraft. Wohingegen Konyas Galihine noch in der Blüte ihres Weibstums stand, und die Maiden Thaloin unWeiawalala glühten in der Hitze ihrer Jugend, und sogar Nettin war nicht ganz saftlos. Also hatte Harruel eines Abends, ziemlich zu Beginn des Trecks schon, den neuen Brauch verkündet; und in jener Nacht hatte er sich Thaloin zur Kopulationspartnerin erwählt.

Wenn Minbain etwas dagegen einzuwenden hatte, so behielt sie es für sich, ebenso wie Bruikkos, der Gefährte Thaloins.

„Wir werden kopulieren, wie es uns gefällt“, erklärte Harruel. „Wir alle — nicht nur der König!“ Er hatte aus der Kreun-Affäre die Erfahrung gelernt, daß er besser behutsam verfahre, wenn er Sonderprivilegien für sich beanspruchte: Er durfte sich bis zu einem gewissen Punkt vorwagen, aber nicht weiter, sonst würden seine Leute sich wider ihn erheben und ihn stürzen oder ihn schlagen, wenn er schlief.

Aber er war dann doch nicht entzückt, als Lakkamai und Minbain einige Nächte später sich davonmachten, um zu kopulieren. Doch es war nun einmal Gesetz, und er konnte sich schwerlich dagegen auflehnen. Also schluckte er sein Mißvergnügen hinunter. Und mit der Zeit gewöhnte er sich daran, daß die anderen Männer mit Minbain kopulierten; und er selbst tat das sowieso, wie es ihm beliebte.

Inzwischen machte sich niemand mehr über das Thema der Kopulation weiter Gedanken. Zur Kopulationszeit an diesem Abend erwählte sich Harruel die Weiawala. Ihr Fell war weich und schimmerte, und ihr Atem duftete warm und angenehm. Wenn sie überhaupt einen Fehler hatte, dann den, daß sie zu leidenschaftlich war und sich immer und immer wieder aufs neue an ihn drängte, bis er sie schließlich wegstoßen mußte, um sich ein wenig auszuruhen.

In der Ferne schnatterten und röhrten und sangen Tie re grell durch die Nacht. Dann begann es zu regnen, wolkenbruchartig, und ihr Feuer erlosch. Niedergeschlagen kauerten sie sich alle dicht zusammen und wurden triefnaß. Weiter drüben hörte Harruel jemand brummen, daß man in Vengiboneeza doch wenigstens ein Dach überm Kopf gehabt hatte. Er fragte sich, wer das gesagt hatte: das konnte ein potentieller Störenfried werden. Doch Weiawala klammerte sich wieder an ihn und lenkte ihn ab, und er vergaß das Murren. Nach einer Weile ließen die Regengüsse nach, und er versank in Schlaf.

Am anderen Morgen brachen sie ihr Lager ab und stiegen rutschend und kullernd die vom Regen glattgemachte Hangflanke hinab. Jene, die am Abend zuvor dem gewaltigen Becken inmitten des Graslandes wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatten, betrachteten es nun bei der Annäherung mit Interesse. Besonders Salaman schien davon fasziniert zu sein und blieb mehr als einmal stehen, um hinabzustarren.

Als sie dann tief genug hinabgestiegen und so nahe herangekommen waren, daß sie nicht länger die ganze weite Mulde oder Schüssel erkennen konnten, sondern nur mehr die Biegung des ihnen nächstgelegenen Abschnitts des Randes, sagte Salaman plötzlich. „Ich weiß, was das ist.“

„So, weißt du das?“ sagte Harruel.

„Es muß ein Ort sein, an dem ein Todesstern auf die Erde niedergeschlagen ist.“

Harruel lachte rauh auf. „Oh, du Weitschauender! Du Hüter der Weisheit!“

„Verspotte mich, wenn es dir beliebt“, sagte Salaman. „Ich glaube trotzdem, daß es so ist. Da, sieh dir einmal das an!“

Auf der Strecke vor ihnen lag eine Vertiefung, in der sich der Regen gesammelt hatte, die aber nun kaum mehr als ein Tümpel voller weichen grauen Schlammes war. Salaman packte einen Steinbrocken, so schwer, daß er ihn kaum zu heben vermochte, und schleuderte ihn mit aller Kraft in einem hohen Bogen von sich, so daß er mit lautem Platschen mitten in den Tümpel fiel. Schlamm spritzte überall weit umher und traf Nittin und Galihine und Bruikkos.

Salaman überhörte ihr zorniges Protestgeschrei. Er rannte los und zeigte auf die Stelle, an der der Steinbrocken niedergestürzt war. Er lag in dem aufgeweichten Boden halb begraben, und ringsum war der Modder gleichmäßig weggedrängt worden und formte einen kreisrunden Krater mit deutlich abgezeichnetem Rand.

„Siehst du? Verstehst du?“ fragte er. „Der Todesstern fällt in die Mitte des Graslandes. Und die Erde fliegt nach allen Seiten davon. Und das ist dann, was dabei herauskommt.“

Harruel stierte ihn verdutzt an.

Er hätte nicht gewußt, wie er entscheiden könnte, ob das, was Salaman da behauptete, wahr sei oder nicht. Wer hätte schon sagen können, was sich hier vor Hunderten von tausend Jahren wirklich abgespielt hatte? Was ihn allerdings erstaunte und beunruhigte, das war die scharfe Logik in Salamans Argumentation. Dies alles so durchzudenken, sich den Krater vorzustellen, zu vermuten, wie er sich gebildet haben konnte, sich bewußt zu werden, daß er die gleiche Wirkung erzielen könne, indem er einen Stein in den Schlamm schleuderte — also, wahrlich so etwas hätte man vielleicht von Hresh erwartet, aber von keinem anderen sonst. Und Salaman hatte bislang nie Anzeichen eines dermaßen scharfsinnigen Intellekts gezeigt. Er war nichts weiter gewesen als ein ruhiger Jungkrieger, der gehorsam seine Pflicht tat.

Harruel sagte sich, es werde wohl klug sein, diesen Salaman scharf im Auge zu behalten. Er konnte sich als sehr wertvoll erweisen. Aber er konnte auch zu einem Problem werden.

Konya sprach: „Wir können sehen, wie der Stein im Schlick liegt. Wieso können wir dann dort drunten nicht auch den Todesstern liegen sehen? In der Mitte da ist doch nichts weiter als Grün.“

„Es ist so viele Jahre her“, sagte Salaman. „Vielleicht ist der Todesstern schon lange verschwunden.“

„Und der Krater selbst ist geblieben?“

Salaman zuckte die Achseln. „Die Todessterne waren vielleicht aus einem Stoff gemacht, der nicht lang bestehen kann. Vielleicht waren es gewaltige Eisbälle. Oder feste Feuermassen. Wie sollte ich das wissen? Hresh — der könnte so was vielleicht wissen, aber doch nicht ich. Ich sag euch ja nichts weiter, als daß ich glaube, daß dieser Kessel vor uns auf diese Art entstanden ist. Es liegt ganz in deinem Belieben, meiner Meinung zu sein, oder auch nicht, Konya.“

Sie zogen dichter heran. Als sie aber dem Rand ganz nahe gekommen waren, sah Harruel, daß dieser um kein Zehntteil so scharfgezeichnet war, wie es aus der Höhe den Anschein gehabt hatte. Der Rand war abgetragen und abgerundet und an einigen Stellen kaum noch erkennbar. Von oben aus hatte er sich durch den Kontrast zu dem umliegenden Grasland abgehoben — hier unten aber war erkennbar, daß die Stürme der Zeiten ihn geglättet und ausgewaschen hatten. Und da er dies erkannte, empfand Harruel um so höhere Achtung vor Salamans Theorie, und vor Salaman selbst ebenfalls.

Konya sagte: „Wenn aber hier wirklich ein Todesstern eingeschlagen hat, denn sollten wir besser da nicht reingehen.“

Harruel stand auf dem Kamm und blickte in das dichte Buschland darunter, wo er bereits schwerfällige Tiere ziehen sah. Er warf einen Blick zu Konya zurück.

„Wieso nicht?“

„Weil es ein von den Göttern verfluchter Ort ist. Ein Ort des Todes.“

„Also mir sieht das da doch ziemlich lebendig aus“, antwortete Harruel.

„Die Todessterne wurden ausgesandt als ein Zeichen für den Zorn der Götter. Sollten wir uns also an einen Ort begeben, an dem solch ein Zorneszeichen begraben liegt? Der Hauch der Götter ruht auf diesem Ort. Hier ist Feuer. Und hier ist Verderben.“

Harruel erwog dies eine Weile.

„Ziehn wir doch darum herum“, sagte Konya.

„Nein!“ Harruel klang apodiktisch. „Das hier ist ein Ort des Lebens. Was immer für Zorn die Götter gehegt haben mögen, er galt der Großen Welt, nicht uns. Denn warum hätten uns sonst die Götter über den Langen Winter hinweg beschützt und bewahrt? Es beliebte den Göttern, jenen die Welt aus den Händen zu nehmen, die in ihr gelebt hatten, und sie uns zu überantworten. Wenn also hier ein Todesstern niederfiel, so ist dies ein geheiligter Ort.“

Seine eigene geschickte Argumentation beeindruckte ihn selbst, ebenso wie dieser urplötzliche Sprudel von Beredtheit, von dem ihm allerdings wegen der Mühsal der Schädel dröhnte. Außerdem wußte er, daß er in diesem Falle auf Konyas Warnungen keine Rücksicht nehmen durfte. Es gab nur eine Entscheidung: Vorwärts, immer nur vorwärts gehen. Das war die Art der Könige.

Konya blieb hartnäckig: „Harruel, ich glaub aber wirklich, wir sollten.“

„Nein!“ rief Harruel laut. Er zog sich zum Kraterrand empor und hinüber und fiel halb, halb kletterte er in das begrünte Becken darunter. Die Tiere, die dort weideten, beäugten ihn ruhig und furchtlos. Vielleicht hatten sie niemals zuvor menschliche Wesen oder andere Feinde zu Gesicht bekommen. Dieser Ort war eine abgeschirmte Schutzzone. „Mir nach!“ rief Harruel. „Hier gibt es massenhaft Fleisch, soviel einer nur fressen kann!“ Und er stürzte weiter, und all die übrigen, auch Konya, verloren keine Zeit und folgten ihm.

In Koshmars Brust brannte nun eine beständige Wut; doch sie verbarg dies — dem Stamm zuliebe — und Torlyri zuliebe, aber auch in eigenem Interesse.

Es verstrich keine Stunde, in der sie nicht im Geiste diesen Tag der Stammesspaltung wiedererlebte. Die Szene verfolgte sie bei Tage und kehrte nachts in Alpträumen wieder. „Die Weiberherrschaft“, hörte sie Harruel sagen, „ist vorbei!“ Sie hörte es wieder und immer wieder. „Vom heutigen Tage an bin ich der König.“ König! Was für ein absurdes lächerliches Wort! Ein männlicher Stammeshäuptling! So etwas war für Kreaturen wie die Beng denkbar, aber doch nicht für das Volk! „Wer kommt mit mir?“ hatte Harruel gerufen. Seine rauhe scharfe Stimme hallte unablässig in ihr nach. „Diese Stadt hier bedeutet Unheil und Krankheit, und wir müssen aus ihr fortziehen! Wer kommt mit mir und begründet mit mir ein großes Königreich, weit weg von hier? Wer zieht mit Harruel? Wer? Wer?“

Konya. Salaman. Bruikkos. Nittin. Lakkamai.

„Wer zieht mit Harruel? Wer? Wer? Sei du Häuptling, soviel es dir beliebt, Koshmar. Die Stadt gehört dir. Ich aber werde aus ihr fortziehen und dir kein Ärgernis mehr sein.“

Minbain. Galihine. Weiawala. Thaloin. Nettin.

Einer nach dem anderen waren sie auf Harruels Seite übergewechselt, und sie stand da wie ein versteinertes Weib, und ließ sie fortgehen, denn sie wußte, daß sie nichts tun konnte, es zu verhindern.

Die Namen der Dahingezogenen waren für sie wie ein ätzender Tadel. Sie hatte kurz daran gedacht, Hresh zu bitten, er möge sie nicht in die Chronik eintragen, ja den gesamten Vorfall zu unterschlagen. Aber dann war ihr bewußt geworden, daß die Eintragung ein Muß war, und zwar umfassend und ohne Beschönigungen: die Spaltung des Stammes, die Niederlage des Häuptlings. Denn genau dies war es, eine Niederlage, und die schlimmste, welche jemals ein Stammeshäuptling hatte hinnehmen müssen. Aber die Chronik durfte nicht nur eine Aufzeichnung der Triumphe sein. Koshmar rief sich selbst strikt zur Raison. Nein, in den Chroniken mußte die Wahrheit niedergelegt sein, und zwar die gesamte Wahrheit, wenn sie für jene irgendeinen Nutzen haben sollten, die sie in unausdenklicher Zukunft — vielleicht — lesen würden.

Einer von sechs Erwachsenen des Stammes hatte sich dafür entschieden, ihre Oberherrschaft abzuschütteln. Nun war der Stamm erschütternd geschrumpft, nur noch ein ärmlicher Rest, einige seiner kühnsten Krieger waren verschwunden, und vielversprechende Jungfrauen und junge Mütter und zwei Kinder, die die Hoffnung auf die Zukunft garantiert hatten. Hoffnung? — Was für eine Hoffnung konnte es denn jetzt noch geben? „Die Stadt gehört dir“, hatte Harruel gesagt. Aber dann hatte er hinzugefügt: „Vielmehr, sie gehört jetzt den Behelmten.“ Und ja, dies war die Wahrheit. Diese Leute schwärmten überall in Vengiboneeza umher. Sie waren überall. Inzwischen war es wahrhaftig ihre Stadt geworden. Trafen sie in irgendwelchen vorstädtischen Bezirken auf Angehörige des Volkes, so gab es zornige finstere Blickwechsel, und manchmal auch scharfe Worte, als verübelten die Leute vom Bengvolk es, daß jemand in ihren Bereich eindringe. Und Hresh und seine ‚Sucher‘ zogen nur noch gelegentlich in die Ruinenbereiche, um nach den Schätzen der Großen Welt zu graben; Hresh allerdings ging anscheinend doch ziemlich regelmäßig in das Beng-Viertel, um dort mit deren Altem Mann zu konferieren. Die Beziehung zwischen den beiden schien irgendwie völlig abgehoben und persönlich zu sein, vollkommen unbeeinträchtigt von den Spannungen, die sich zwischen den zwei Völkern immer mehr abzeichneten. Aber im übrigen hatte sich der Stamm in sich selbst zurückgezogen, man blieb überwiegend in der Siedlung oder in deren Nähe und leckte die Wunden, die der Tag der Spaltung geschlagen hatte.

Hin und wieder fragte sich Koshmar, ob es nicht die klügste Entscheidung wäre, wenn man sich ganz und gar aus Vengiboneeza zurückzöge, ins weite freie Land zurückkehrte und ganz von vorn begönne. Doch jedesmal, wenn solche Gedanken in ihr heraufdrangen, würgte sie sie wieder hinunter. In dieser Stadt sollte ihr Volk seinem Schicksal begegnen; so stand es im Buch des Weges. Und was wäre das schon für ein Schicksal, sich davonzustehlen wie feige Tiere und die Stadt einem anderen Stamm zu überantworten? Das ‚Volk‘ war mit einem Ziel und einer Aufgabe hierher gekommen — und die Aufgabe war noch nicht gelöst. Also müssen wir bleiben, dachte Koshmar.

Aber wenn ich Harruel jemals wieder begegne, schwor sie sich, dann werde ich ihn mit meinen eigenen zwei Händen töten. Ob er wacht oder im Schlafe liegt, wo ich ihn finde, will ich ihn töten.

„Hast du Schmerzen?“ fragte Torlyri sie eines Nachmittags.

„Schmerzen? Was denn für Schmerzen?“

„Dein Mundwinkel war ganz verkniffen, ganz merkwürdig. Wie wenn dir was weh täte und du dagegen ankämpfst.“

Koshmar lachte. „Ein Faserchen Essen, das sich zwischen den Zähnen verfangen hat, weiter nichts, Torlyri.“

Sie gestattete keinem Einblick in die stürmische Verwirrung, die in ihr herrschte. Hocherhobenen Hauptes schritt sie durch die Siedlung, stolz und mit breiten Schultern, als sei gar nichts geschehen. Wenn sie mit Torlyri tvinnerte — und sie taten dies in jüngster Zeit häufig, denn Torlyri war tiefverletzt durch Lakkamais Treulosigkeit und bedurfte der stützenden haltenden Liebe Koshmars in hohem Maße —, so strengte sich Koshmar gewaltig an, um die Unruhe in ihrer Seele vor der Geliebten zu verbergen. Und begab sie sich unter das restliche Stammesvolk, so strahlte sie Fröhlichkeit aus, Optimismus und das werbeträchtige Selbstvertrauen eines Politikers. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig. Ihre Leute waren völlig durcheinander durch die Spaltung und durch den Einzug der Behelmten. Eine Spätreaktion hatte sich bei den meisten Hiergebliebenen bemerkbar gemacht. Leute, die während des gesamten Aufenthaltes im Kokon die einzigen auf der ganzen Welt zu sein geglaubt hatten, mußten nun damit zurande kommen, daß Fremde praktisch mitten unter ihnen lebten. Das war nicht leicht zu verarbeiten. Sie fühlten den Druck, die Bedrängung durch die Seelen der Behelmten in ihrer engen Nachbarschaft und empfanden dies wie den Druck auf ihren eigenen Seelen, den man unter der schwerlastenden, verdichteten, aufgeladenen Luft vor einem Sommergewitter wahrnimmt. Und dann — der Verlust der Elf — der scharfe Bruch in dem Geflecht des Stammes, das Auseinanderreißen von Freundschafts- und Familienbindungen, die ein Leben lang stetig gehalten hatten, die bloße Wucht einer derartig großen Umstellung und Veränderung — ach ja, das war schwer zu ertragen, sehr schwer, auch dies!

Angesichts so vieler Schmerzen und Bekümmerung ringsum konnte Koshmar es sich nicht erlauben, sich durch ihre persönlichen Verletztheiten schwächen zu lassen. Jedoch ging sie oft in ihren kleinen Kapellenschrein und kniete dort nieder und sprach zu dem Geist der Thekmur und zu den Geistern anderer Häuptlinge vor ihr, und daraus erwuchs ihr einiger Trost, soviel eben die Weisheit ihrer Vorgängerinnen zu bieten hatte. Sie hatte ein gewisses wohlduftendes Kraut gefunden, das in den Spalten der Mauern der Stadt wuchs, und wenn sie dies auf ihrem Altarfeuer verbrannte, benahm es ihr die Sinne und machte sie schwindlig, und dann vermochte sie die Stimmen der Thekmur und Nialli und Sismoil zu hören, und der anderen, die vor ihrer Zeit gewesen waren. Und, den Göttern sei Dank, sie zeigten Koshmar auch keinerlei Verachtung! Sie waren barmherzig und freundlich, obwohl sie doch als Häuptling versagt hatte. Ja, obwohl sie ein Versager war.

Aber die wesentliche und Hauptaufgabe war nun, daß das Volk einen Weg fände, mit dem Volk der Behelmten zu leben. Und sich natürlich gegen ihr weiteres Vordringen mit allen Mitteln — außer dem offenen Krieg — zur Wehr zu setzen. Es galt, eine Teilung der Stadt zu arrangieren, die nicht den Charakter einer demütigenden Absonderung wie in einem Seuchenfall an sich trug: ihr Sektor, unser Sektor und hier der gemeinsame Sektor.

Aber wie es schien, hatten die Beng da andere Vorstellungen.

„Sie wollen uns da überhaupt nicht mehr reinlassen“, berichtete Orbin eines Tages und zog eine ziemlich abgegriffene Kopie des von Hresh angefertigten Stadtplans hervor, auf dem er einen Stadtquadranten weit oben im Nordosten, nahe dem Bollwerk der Berge bezeichnete. „Sie haben quer über den Zugang zum ganzen Bezirk ein Seil gespannt, und als Praheurt da gestern in die Nähe kam, haben sie ihn angebrüllt und ihn fortgescheucht.“ Und Haniman hatte eine ähnliche Geschichte zu berichten. „Da“, sagte er. „Da, längs der Uferlinie. Da stellen die jetzt so ’ne Art Bildnisse auf. Aus Holz, und mit Matten aus Fell bedeckt, und sie sehen ziemlich verärgert aus, wenn wir zu dicht rankommen.“

„Zählt sie“, befahl Koshmar. „Ich will ganz genau wissen, wieviele Beng es da gibt. Macht mir Listen, schreibt mir jeden einzelnen hinein gemäß der Form seines Helms.“ Sie unterbrach sich. „Ihr könnt doch alle schreiben?“

„Hresh hat mich ein wenig in dieser Kunst unterrichtet“, sagte Haniman.

„Schön, dann nimmst du eine Zählung vor. Denn wenn wir gegen sie kämpfen müssen, dann müssen wir schon auch wissen, womit wir es effektiv zu tun haben werden.“

„Und du gedenkst, gegen sie zu kämpfen, Koshmar?“ fragte Haniman.

„Ja, sollen wir uns denn von denen vorschreiben lassen, wohin wir gehen dürfen und wohin nicht?“

„Aber sie sind dermaßen viele! Und wir haben Harruel und Konya nicht mehr bei uns!“

Koshmar funkelte ihn wütend an. „Diese Namen werden hier nie wieder genannt, Junge! Waren sie denn unsere einzigen Krieger? Nein, wir können in jedem Kampf auch so zurechtkommen. Geh und zähl die Beng. Geh schon und zähl sie!“

Nach einigen Tagen erstatteten Haniman und Orbin Bericht, daß es einhundertundsiebzehn Beng gebe, Frauen und Kinder eingeschlossen, möglicherweise aber hätten sie einige der in den Häusern lebenden Säuglinge nicht miterfaßt. Mindestens vierzig Beng schienen Krieger zu sein. Koshmar brütete über diesem Zahlenmaterial und war beunruhigt. Das Volk verfügte über nur noch elf Krieger, und die waren nicht sämtlich in Höchstkondition für den Kampf. Vierzig Kämpfer dagegen, das stellte wahrlich ein gewichtiges Aufgebot dar.

Und diese Tiere der Beng, ihre höckerigen Zinnobären, die frei und ungestört umhertrampelten und herumschnüffelten — auch sie fielen ins Gewicht, wenn auch auf andere Art. Sie zogen nämlich durch Vengiboneeza, wohin immer ihr Verlangen sie trieb, und kamen häufig direkt mitten in die Siedlung des Volkes, wo sie kleinere Bauten beschädigten, Sachen, die man zum Trocknen in der Sonne gebreitet hatte, verstreuten und zertrampelten und die Kinder in Angst und Schrecken versetzten. Koshmar war sich darüber im klaren, daß bei jedem Gefecht ihre Krieger gegen die auf diesen Bestien reitenden Krieger der Beng würden antreten müssen. Und ein solcher Kampf wäre der schlechte Irrsinn.

Es gibt keine Möglichkeit, wie wir uns gegen diese Leute wehren könnten, dachte sie. Sie werden uns Vengiboneeza wegnehmen, ohne auch nur den kleinen Finger zu rühren.

Wir sollten sofort von hier wegziehen — trotz der Weissagungen im Buch des Weges.

Nein. Nein. Nein. Nein.

„Du mußt uns allen die Sprache der Beng beibringen“, befahl Koshmar dem Hresh. Wenn die Beng — und das stand ja nun noch längst nicht sicher fest — tatsächlich Feinde des Volkes sein sollten. In vielerlei Hinsicht bemühten sie sich nämlich um ausgesprochen höfliches, ja sogar freundliches Betragen. jedoch, wenn es nötig werden sollte, mußte man in der Lage sein, sie auszuspionieren, und dazu mußte man verstehen, was sie sprachen. Hresh hatte irgendwie einen Weg gefunden, die Sprache zu meistern, ganz so, wie sie es erwartet hatte. Doch er behauptete, er sei noch nicht soweit, andere zu unterrichten. Er benötige ein festeres Fundament in der Sprache, zunächst einmal, und viel mehr Zeit für die Analyse und Klassifizierung seiner Kenntnisse, ehe er sein Wissen dem Stamm mitteilen könne.

Koshmar war klar, daß Hresh log; er verbarg einfach vor ihr und Torlyri, wie geläufig er bereits in der Zunge der Beng-Leute sprechen konnte. Immer schon war er so gewesen, immer schon hatte er sein Ansehen und seinen Einfluß zu steigern gewußt, indem er besonderes Wissen für sich behielt. Jetzt jedoch war es seine verdammte Pflicht, seine Kenntnisse den anderen mitzuteilen, und Koshmar gab ihm zu verstehen, daß sie sein Spielchen durchschaue.

„Nur noch ein paar Stunden mit Noum om Beng“, versprach Hresh. „Dann fange ich hier an und gebe Unterricht, Koshmar. Jeder kann es dann lernen.“

„Aber werden wir es denn lernen können?“

„Ach, das ja. Ja. Es gibt da keine wirklichen Schwierigkeiten an der Sprache, sobald man die Grundprinzipien einmal begriffen hat.“

„Das gilt vielleicht für dich, Hresh.“

„Wir alle werden bengisch reden wie die Beng“, sagte er. „Laß mir nur noch ein ganz klein bißchen Zeit, mich damit vertraut zu machen, dann werde ich — was ich weiß — mit allen und jedem teilen. Das verspreche ich dir.“

Koshmar lächelte und bedachte ihn mit einer Umarmung. Der herrliche Hresh! Der unersetzliche Hresh! Kein anderer hätte das Volk durch diese schwere Durststrecke hindurchführen können. Was wäre es für ein Unglück gewesen, wenn Hresh seiner Mutter, Minbain, gefolgt und mit dem Harruel davongezogen wäre! Aber Koshmar wußte auch, daß sie ihn niemals hätte ziehen lassen. In diesem Punkt wäre sie unerbittlich geblieben; hier hätte sie gekämpft, selbst wenn dies ihren Tod, den Tod von allen bedeutet hätte. Ohne Hresh war der Stamm verloren. Und sie wußte dies.

Sie sprachen eine Weile von dem Vordringen der Beng und von den Sperren, die an verschiedenen Stellen der Stadt errichtet worden waren. Hresh war der Überzeugung, daß die Beng bestimmte örtlichkeiten aus rein religiösen Gründen abgrenzten und nicht um ihren Anspruch auf dort möglicherweise befindliche Maschinen aus der Großen Welt zu fixieren. Doch sei er sich da bei weitem nicht sicher, sagte er, und es dränge ihn, sich wieder seinen eigenen Forschungen zu widmen, sobald die Bedingungen in der Stadt wieder sicherer geworden wären, damit nicht die Beng auf Sachen stießen, die für das Volk von Wert sein könnten.

Dann schwiegen sie. Allerdings gab es noch ein Thema, über das Koshmar mit ihm zu reden gedachte.

Nach einer Weile sagte sie also: „Sag mal, Hresh, zwischen dir und Taniane — gibt es da Schwierigkeiten?“

„Schwierigkeiten?“ fragte er zurück und wich ihrem Blick aus. „Was denn für Schwierigkeiten?“

„Du möchtest gern mit ihr tvinnern.“

„Schon möglich.“ Seine Stimme klang sehr dunkel.

„Hast du sie denn gebeten?“

„Einmal. Ich hab es ziemlich dumm angestellt.“

„Du solltest sie noch einmal bitten.“

Hresh sah ausgesprochen unbehaglich drein. „Sie kopuliert mit dem Haniman.“

„Kopulation und Tvinnr haben nichts miteinander gemein.“

„Ja, aber sie wird sich dem Haniman ehelich verbinden, oder nicht?“

„Keiner von den zweien hat irgendwas davon zu mir gesagt.“

„Aber sie werden es tun. Alle verbinden sich jetzt. Sogar.“ Er unterbrach sich.

„Sprich nur weiter, Hresh.“

„Sogar Torlyri hatte für eine Weile einen festen Geliebten“, sagte er und sah elendiglich verlegen aus. „Tut mir leid, Koshmar. Ich wollte nicht.“

„Du brauchst gar nicht so zerknirscht zu sein. Meinst du denn, ich hätte das zwischen Torlyri und Lakkamai nicht gewußt? Aber das ist ja genau, worauf ich hinaus will. Selbst wenn Taniane sich mit Haniman verbandelt, und wohlgemerkt, ich sage keineswegs, daß sie das tun wird, dann hat diese Verbindung noch immer nichts mit dem Tvinnern zu tun, ebenso wenig wie eine Kopulation. Sie könnte trotzdem deine Tvinnr — Partnerin sein, wenn du das willst. Aber — du mußt sie eben darum bitten. Sie wird nämlich nicht dich bitten, begreifst du?“

„Aber, ich hab dir doch gesagt, ich hab sie schon einmal gebeten. Es hat nicht geklappt.“

„Bitte sie erneut, Hresh!“

„Es wird auch beim zweitenmal nicht klappen. Wenn sie dazu bereit ist, mit mir zu tvinnern, warum gibt sie mir das dann nicht irgendwie zu verstehen?“

„Sie hat Angst vor dir“, sagte Koshmar.

Er blickte zu ihr auf. Seine riesigen Augen schimmerten vor Verblüffung. „Angst — vor mir?“

„Ja, weißt du denn nicht, wie außergewöhnlich du bist? Meinst du nicht, daß dein Gehirn den ändern manchmal Furcht einjagt? Und das Tvinnr — die Begegnung zweier Bewußtheiten.“ „Taniane hat selbst ein starkes Bewußtsein“, sagte Hresh. „Für sie besteht überhaupt kein Anlaß, sich vor dem Tvinnr mit mir zu fürchten.“

„Gewiß, sie ist stark.“ Stark genug, um eines Tages Führerin und Häuptling zu sein, sagte Koshmar bei sich selbst. Nur nicht gar so rasch, wie es ihr wohl lieb wäre. „Aber sie weiß nicht, ob sie dir im Tvinnr gewachsen wäre. Ich glaube jedoch, sie wäre wohl bereit, das zu wagen, wenn du sie nur noch einmal bitten würdest.“

„Glaubst du das wirklich, Koshmar?“

„Ja, das glaube ich. Aber sie wird nie von sich aus und zuerst an dich herantreten. Du mußt schon derjenige sein, der bittet.“

Er nickte. Sie konnte die wilden Gedanken hinter seinen Augen rasen sehen.

„Also, dann werde ich es tun! Und — danke, Koshmar. Ja, ich will mit ihr tvinnern! Ich will es!“

Hastig wandte er den Blick ab. Er schien vor Ungeduld zu glühen.

„Hresh?“

„Ja?“ Es kam zögernd.

„Bitte sie, aber nicht heute, verstehst du? Nicht, solange die Vorstellung davon noch so in deinem Hirn brodelt. Laß dir Zeit und denk zunächst einmal darüber nach. Nimm dir Zeit und denke!“

Hresh lächelte. „Mach ich“, sagte er. „Du bist sehr klug, Koshmar. Du durchschaust das alles so viel besser als ich.“ Und er ergriff ihre beiden Hände und drückte sie. Dann schoß er wie ein Pfeil über den Platz davon.

Koshmar blickte ihm nach. Er ist so gescheit, dachte sie. Und doch noch dermaßen jung, fast noch ein Knabe, und dabei so ernst — und so töricht. Aber alles wird sich für ihn zum Guten wenden.

Es ist so leicht, dachte sie, anderen in derlei Dingen zu helfen.

Dann sah sie Torlyri nahe der Tempelecke stehen. Ein Behelmter war von irgendwo aufgetaucht und mühte sich ab, ihr etwas zu sagen, und die beiden führten eine lebhafte Pantomime auf, unter großem Gelächter, doch wie es schien, mit geringem Nutzen für das gegenseitige Verständnis. Aber Torlyri schien jedenfalls Spaß daran zu haben. Sie stieg allmählich aus der tiefen Niedergeschlagenheit wieder herauf, in die sie nach Lakkamais Fortgang versunken war. Ihre Pflichten als Opferfrau des Stammes sind gewiß eine starke Tröstung für sie, dachte Koshmar, nicht nur die Erledigung der Rituale, sondern die Tröstung, die sie anderen spendet, wenn sie die ängstliche Verwirrtheit zu lindern versucht, welche von der Spaltung und der Ankunft der Behelmten bewirkt wurde.

„So schau sie dir doch nur an!“ sagte Koshmar zu Boldirinthe, die gerade vorbeikam, und zeigte auf Torlyri und den Helmträger. „Seit Monaten hab ich sie nicht mehr so fröhlich gesehen.“

„Kann sie denn schon ihre Sprache sprechen?“ fragte Boldirinthe.

Koshmar lachte glucksend. „Ich glaube keiner von den beiden hat die geringste Ahnung, was der andere ihm zu sagen versucht. Doch das spielt keine Rolle. Sie hat Spaß dran, oder nicht? Mich freut das. Ich bin immer froh, wenn Torlyri froh und glücklich ist.“

„Anderen zu helfen, das hebt einen über das eigene Selbst hinweg“, sagte Boldirinthe. „Es lenkt den Kopf vom eigenen Kummer ab.“

„Ja, so ist es“, antwortete Koshmar.

Der Behelmte war einer, der ihr vorher nie aufgefallen war, ein hagerer, aber kräftiger Mann, der jenem ersten, dem Kundschafter vor langer Zeit, sehr ähnlich sah. Vielleicht war er dessen Bruder. An seiner rechten Schulter war eine ausgedehnte nackte kahle Stelle, die sich bis zu seinem Hals erstreckte, als wäre ihm dort in viel jüngeren Jahren eine schreckliche Wunde geschlagen worden. Sein Helm war weit weniger scheußlich als die der meisten anderen, keine Hörner, keine vorstoßenden Klingen, keine glosenden Monster, nur eine schlichte hochgewölbte Schüssel aus vergoldetem Metall, bedeckt von dünnen roten Plättchen in Gestalt runder Laubblätter.

Koshmar beobachtete die beiden eine kleine Weile. Dann wandte sie sich ab.

Harruels Stimme erklang in ihrem Innern, wie so oft, wenn sie ihn am wenigsten zu hören wünschte. Die Weiberherrschaft ist vorbei. Vom heutigen Tage an bin ich König. Wer will mit mir ziehen... ein großes Königreich gründen... fern von hier? Wer wird mit Harruel ziehen? Wer? Wer?

Ich glaube, ich begebe mich jetzt in meine Kapelle, dachte Koshmar. Ich glaube, ich werde die Flamme entfachen und die Duftkräuterschwaden atmen, ich will nun mit Thekmur oder Nialli Zwiesprache halten.

Es war der Barak Dayir, der den Pfad der Verständigung zwischen Hresh und Noum om Beng aufgetan hatte.

Es war offenkundig, daß er vom ersten Augenschein an gewußt hatte, worum es sich dabei handelte. Diese lodernde Erregung, die erste und einzige Erregtheit, die Hresh jemals an Noum om Beng erkannt hatte, bewies dies zur Genüge. Der behelmte Uralte sah in dem Wunderstein ein Geschenk der Götter — ja er war für ihn gewissermaßen etwas an sich schon Göttliches. Er blieb lange Zeit auf den Knien davor liegen, ehe er sich schließlich mit einem langen forschenden Blick zu Hresh wandte, als wolle er wortlos fragen: Weißt du, wie man dies benutzt?

Als Antwort vollführte Hresh eine Pantomime: Wie er mit dem Sensororgan den Wunderstein umfaßte. Er imitierte gestenreich einen plötzlichen Energieausbruch in der Luft, eine gesteigerte Wahrnehmung um seinen Kopf. Noum om Beng bedeutete ihm, er solle genau dies bitte jetzt tun; und Hresh umschloß nach kurzem Zögern den Barak Dayir mit der geringelten Spitze seines Sensororgans und fühlte sogleich, wie die Kraft der Erleuchtung sich seiner Seele bemächtigte und sie weitete.

Kurz darauf legte Noum om Beng sein Sensororgan neben das Hreshs — ohne es direkt zu berühren, doch so dicht, daß dazwischen kaum ein Lichtschimmer sichtbar war —, und dann fand zwischen ihnen eine Bewußtseinsverbindung statt.

Es war nicht wie die Verbindung, die sich beim Zweiten Gesicht ergibt, und auch nicht die des Tvinnr, es war mit überhaupt nichts vergleichbar, was Hresh bei seinen früheren Experimenten mit dem Wunderstein erlebt hatte. Noum om Bengs Bewußtsein lag nicht offen vor ihm da. Doch gelang ihm ein Einblick, etwa so, wie man von außerhalb in eine Schatzkammer schaut. Für Hreshs Verständnis war das, was er sah, eine Reihe von inneren Behältnissen, wie versiegelte kleinere Parzellen, die mit peinlicher Genauigkeit dortselbst aufgebaut waren. Er wußte, daß dies nicht wirkliche Abteilungen waren, sondern bloße Gedankenleer, geistige Gegenstücke.

Aus der Öffnung von Noum om Bengs Bewußtsein blies ihm ein fader Eiseshauch entgegen. Dort war auch ein eisiger Ort, so kalt wie die dunklen uralten Höhlen unter dem einstigen Kokon des Stammes es gewesen waren, durch die Hresh gelegentlich als Kind gewandert war.

„Dies ist für dich“, sagte Noum om Beng. Und er reichte Hresh ernst eines der kleinsten, säuberlich eingehüllten Päckchen aus einer der obersten Abteilungen, „öffne es“, sagte Noum om Beng. „Nur zu, öffne es! öffne es!“ Mit zitternden Fingern zupfte Hresh an der Verpackung. Schließlich gelang es ihm, das Päckchen zu öffnen. Und dort lag eine Dose, die aus einem einzelnen lichtdurchleuchteten grünen Edelstein geformt war. Noum om Beng machte eine heftige Handbewegung. Hresh hob den Deckel der Büchse.

Das Juwel, die Verpackung, die Schatzkammer und alles übrige verschwanden blitzartig. Hresh fand sich allein in der Finsternis hockend wieder und blinzelte mit den Lidern und war verwirrt. Sein Sensororgan umklammerte fest den Barak Dayir. Nach einigem wurde er Noum om Bengs gewahr, der still am anderen Ende des Gemaches saß und ihn beobachtete.

„Laß jetzt den Verstärker los“, sagte Noum om Beng. „Du wirst Schaden nehmen, wenn du ihn weiter so festhältst.“

„Den — Verstärker?“

„Was du den Barak Dayir nennst. Laß ihn los! Nimm schon deinen blöden Schwanz da weg, Junge!“

Noum om Bengs dünne, scharfe Pfeifstimme knatterte und knallte wie eine Peitschenschnur. Hresh gehorchte sofort, steifte sein Sensororgan und ließ den Wunderstein zu Boden gleiten.

„Heb ihn auf, Junge! Und stecke ihn wieder in den Beutel!“

Hresh begriff, daß Noum om Beng in der Sprache der Beng zu ihm gesprochen hatte, und daß er in der Lage war, das Gesagte zu verstehen, selbst nachdem er den Barak Dayir fortgelegt hatte.

Er verstand die Bedeutung der Wörter, und er begriff, wie jedes der von dem alten Mann geäußerten Wörter mit den anderen darum herum in Verbindung stand.

Auf irgendeine Weise hatte Noum om Beng die Sprache des Volkes der Behelmten mit einem Schlage in Hreshs Schädel übertragen. Mit zittrigen Fingern verstaute Hresh den Stein. Der alte Mann starrte ihn weiter unverwandt an. Die seltsamen roten Augen blickten kalt, gefühllos, streng. In dem ist kein Funken Liebe, dachte Hresh. Nicht zu mir und auch nicht für sonst jemanden. Nicht einmal für sich selber.

„Du nanntest es einen ‚Verstärker‘?“ sagte Hresh mit Bengworten, die ihm leicht über die Lippen gingen, sobald er sie heraufbefahl. „Ich habe das Wort noch nie zuvor gehört. Was bedeutet es? Und was ist es, unser Wunderstein? Woher kommt es? Und was ist sein Zweck?“

„Du wirst mich als Vater ansprechen.“

„Wie könnte ich dies? Ich bin der Sohn des Samnibolon.“

„Gewiß, das bist du. Dennoch wirst du mich Vater nennen. Hresh-der-Antwortfinder, so nennst du dich doch gern selbst, nicht wahr? Aber, mein Kleiner, in deinem Kopf sind nur wenige Antworten, aber viele, viele Fragen.“

„Also, als ich jung war, da haben sie mich immer Hresh-den-Fragesack genannt.“

„Und das bist du noch immer. Komm her! Tritt näher! Noch näher!“

Hresh kauerte sich dem alten Mann zu Füßen nieder. Noum om Beng blickte ihn stumm lange prüfend an. Dann — urplötzlich und unerwartet — zuckte seine klauenhafte Hand auf und schlug Hresh auf die Wange, genau wie Harruel es am Tage der Spaltung getan hatte. Der Streich war vollkommen überraschend, und es lag eine überraschende Kraft in ihm. Hreshs Kopf fuhr heftig zurück. Tränen traten ihm in die Augen, und gleich nach den Tränen schoß Zorn in ihm auf, und er hatte alle Mühe, sich zu beherrschen und den Schlag nicht spontan zurückzugeben. Er ballte die Fäuste, biß die Zähne zusammen, preßte die Knie gegeneinander, bis die krampfartige Wut verflogen war.

Ich darf ihn niemals schlagen, befahl sich Hresh, wie gemein er mich auch herausfordert. Wenn ich ihm so einen Hieb versetzte, wie er mir, würde ich ihn totschlagen. Sein Genick würde zerbrechen wie ein verdorrter Zweig.

Und dann dachte er: Nein, das würde nicht geschehen. Denn ich wäre tot, ehe meine Hand sein Gesicht erreichen kann.

„Warum hast du mich geschlagen?“ fragte Hresh verwirrt.

Statt einer Antwort schlug Noum om Beng ihn erneut, diesmal auf die andere Gesichtshälfte. Der Schlag war ebenso hart wie der erste, aber er kam weniger überraschend, und Hresh konnte die Wucht mildern,indem er mit dem Schlag mitging.

Hresh starrte den alten Mann an.

„Hab ich irgendwie dein Mißfallen erregt?“ fragte er.

„Ich habe dir gerade eine dritte Ohrfeige gegeben“, sagte Noum om Beng, obschon sich seine Hand überhaupt nicht bewegt hatte.

Diese ruhige beiläufig geäußerte Behauptung verwirrte Hresh einen Augenblick lang. Aber wirklich nur ganz kurz, denn dann begriff er, worin seine Verfehlung bestanden haben mußte.

„Es tut mir leid, daß ich dich gekränkt habe. Vater“, sagte er leise.

„Das ist besser. Schon besser.“

„Von nun an will ich den gebührlichen Respekt zeigen“, sagte Hresh. „Verzeih mir, Vater.“

„Ich werde dich noch viele Male schlagen“, sagte Noum om Beng.

Und er wich nicht von seinem Wort, was Hresh auch in jedem anderen Bereich feststellen sollte. Es verging kaum eine Begegnung, ohne daß Noum om Beng die Hand zum Schlag wider Hresh erhob, manchmal nur leicht, beinahe spöttisch-streichelnd, manchmal mit verblüffender Kraft, und stets dann, wenn Hresh am wenigsten damit rechnete. Es war ein rigoroses, ein sinnverwirrendes Training zur Disziplin, und oft hatte Hresh eine geschwollene Lippe oder ein Auge tobte, oder sein Kiefer schmerzte ihn noch tagelang später. Aber er schlug niemals zurück, und nach einiger Zeit erkannte er die Prügel als einen wesentlichen Bestandteil der Lehrmethode des Noum om Beng, als eine Art Akzentsetzung und Unterstreichung, die man einfach als ganz natürlich und ohne Widerrede hinzunehmen hatte. Zwar begriff Hresh nur selten sofort, was er gesagt hatte, um einen Strafhieb zu verdienen, aber gewöhnlich ging ihm dann später ein Licht auf, vielleicht eine halbe Stunde später, manchmal aber auch erst nach mehreren Tagen. Und es handelte sich immer um irgendeine Vernageltheit, eine Dummheit seinerseits, die ihm auf diese drastische Weise gewaltsam zur Kenntnis gebracht wurde, eine Denkschlamperei, oder einen vorschnellen, kurzsichtigen Denkschluß, oder einen Verstoß gegen das intellektuelle Zeremoniell.

Im Laufe der Zeit bedrückten Hresh weniger die Prügel als solche, sondern seine Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit, durch die sie ausgelöst wurden. Was Noum om Beng ihm nämlich im Verlauf der folgenden Monde demonstrierte, war dies: Daß er, Hresh, zwar gescheit sei, daß jedoch seine Geisteskräfte, auf die er bislang stets dermaßen stolz gewesen war, ihre Grenzen hatten. Diese Erkenntnis war schmerzlich. Und so hockte er denn steif und verkrampft seine Lernstunden bei dem Alten Mann der Behelmten ab und rechnete stets düster mit dem nächsten, platschend auf ihn hereinbrechenden Beweis, daß er es schon wieder einmal nicht geschafft habe, ein ihm von Noum om Beng gestecktes Ziel zu erreichen.

„Ja, aber worüber diskutiert ihr denn zusammen?“ fragte Taniane ihn einmal, denn inzwischen hatten sie wieder miteinander zu sprechen begonnen, wenn auch zurückhaltend und natürlich, ohne jemals auf die damalige, unter einem so ungünstigen Stern erfolgte plumpe Aufforderung anzuspielen.

„Meistens redet er. Ja, eigentlich redet immer nur er. Und. und überwiegend ist es Philosophie.“

„Das Wort kenne ich nicht.“

„Nachdenken über das Denken. Ideen von Vorstellungen. Sehr hoch und sehr wolkig. Ich kapiere nicht ein Zehntel von dem, was er mir vorsagt.“ Noum om Beng, erklärte ihr Hresh, bestimme sämtliche Themen und lasse sich niemals in eine nicht von ihm vorbestimmte Richtung hin ablenken. Hresh war begierig, ihn über die Herkunft und die Geschichte des Volkes der Behelmten auszufragen, über den Zusammenbruch der Großen Welt, über die Befindlichkeiten anderwärts in der derzeitigen Welt, ach, über vieles andere mehr. Und hin und wieder bedachte ihn Noum om Beng mit verführerisch-quälenden Appetithäppchen und Köderbissen, aber kaum jemals mehr. „Er hat mir zu verstehen gegeben, daß das Helmvolk schon viel länger hier draußen in der Welt lebt als wir“, berichtete Hresh Taniane. „Und daß es da draußen noch viele andere Stämme gibt, und daß ein großer Teil der Welt von den Hjjk-Leuten beherrscht wird. Aber alle diese Informationen erhalte ich von ihm auf irgendwie nebelhaft verschwommene Weise, und ich muß auf eine Antwort hinter seinen Antworten lauschen.“ Tatsächlich blieben die meisten von Hreshs Fragen glatt ohne Antwort; für einige bezog er Schläge, allem Anschein nach wegen ihrer Zudringlichkeit, auch wenn Hresh selbst nie irgendein Muster, eine Regel ausfindig zu machen vermochte, warum manche seiner Fragen an Noum om Beng diesen zum Prügeln veranlaßten, andere aber nicht. Die Frage nach dem Wesen der Götter konnte ihm an einem Tag einen Hieb eintragen, und ebenso leicht gelang dies mit der banalen und ganz unschuldigen Frage nach den Lebensgewohnheiten der Zinnobären an einem anderen Tag. Womöglich war es ja so, daß Noum om Beng schlechthin keine Fragen über irgend etwas gestellt zu bekommen wünschte; oder aber, es lag ihm daran, Hresh einfach in Unsicherheit schweben zu lassen. Und dies gelang ihm nun wahrlich gut.

„Er schlägt dich?“ fragte Taniane verwundert.

„Das gehört zum Unterrichtsprogramm. Das hat überhaupt nichts Persönliches.“

„Aber — es ist doch dermaßen entwürdigend. Wenn da einer jemand so richtig mit der Hand schlägt.“

„Es ist weiter nichts als die Unterstreichung eines philosophischen Gedanken“, sagte Hresh.

„Ach, du und deine Philosophie!“ Aber Tanianes Stimme klang ganz lieb, und ihr Lächeln war warm und weich. Dann fügte sie hinzu: „Du, das verändert dich aber irgendwie, Hresh. Diese ganzen Gespräche mit dem Alten Mann.“

„Verändert mich?“

„Na ja, du bleibst immer so für dich, jetzt. Du redest ja kaum noch mit mir — oder mit sonstwem im Volk. Wenn du nicht bei diesem Noum om Beng bist, dann hockst du allein auf deinem Zimmer oder wanderst — wie ich mir zu vermuten gestatte — irgendwo durch die versteckten Hintergassen von Vengiboneeza. Mit uns Suchern ziehst du schon lange nicht mehr los.“

„Koshmar will überhaupt nicht, daß wir auf Forschungsausflüge gehen, ehe wir nicht verstanden haben, was die Beng vorhaben.“

„Ja — aber du gehst doch trotzdem. Ich weiß das. Und außerdem gehst du immer allein, und anscheinend suchst du auch gar nichts. Du strolchst bloß so ziellos herum.“

„Woher willst du denn das wissen?“

„Weil ich dir ein paarmal heimlich gefolgt bin“, sagte Taniane mit einem unverschämten Lächeln.

Er zuckte die Achseln, fragte aber nicht, warum sie dies getan habe, und so versandete ihr Gespräch. Vor dem Wahrheitsgehalt ihrer Rede allerdings konnte er sich nicht verschließen. In seiner Seele fanden Veränderungen statt, die er keinem anderen mitzuteilen zu können glaubte, da er sie ja kaum selbst begriff. Dies hing mit der Offenbarung des Lebensbaumes zusammen, wodurch Hresh so schlüssig bewiesen worden war, daß das Volk nicht das Recht hatte, sich für Menschen zu halten, und mit der Ankunft der Beng, mit dem Abfall Harruels und der Gesamtsituation des Stammes in Vengiboneeza. und mit vielem anderem, nicht zuletzt mit seiner privaten Beziehung zu Taniane, beziehungsweise eben dem Nichtvorhandensein einer solchen. Aber es war einfach zuviel, als daß er sich damit gleichzeitig hätte auseinandersetzen können. Wie hatte Torlyri einmal zu ihm gesagt? Keiner kann gleichzeitig mit zwei monströsen Sachen fertigwerden, oder?

Und nun näherte er sich wieder einmal dem Gemach des Noum om Beng, und um seine Brust schnürte sich ein Reifen von Unruhe und Unbehagen, und in seinem Magen zuckte es. Diese Besuche entwickelten sich für ihn mehr und mehr zu einer Belastung. Zu Beginn war es nicht so gewesen. Aber das war viele Monde her. Damals war ihm Noum om Beng nur als ein seltsam fremdartiger verschrumpelter alter Mann erschienen, zerbrechlich und uninteressant und sonderbar. Er hatte für Hresh nichts weiter bedeutet als eine Ablagerung von ihm vertrautem Wissen, ein Fossil, eine Art Schriftenlade, die nur auf ihn wartete, daß er sie öffne und die Texte entziffere. Aber seit sie die Sprache des jeweils anderen zu sprechen vermochten, hatte Hresh allmählich mehr und mehr begriffen, wie Noum om Beng in Wahrheit war; er hatte die geistige Tiefe und Kraft des Mannes erkannt, auch seine eisige Nüchternheit und Kargheit, und es gelang ihm einfach nicht, ein Gefühl der ängstlichen Bestürzung zu unterdrücken, wenn er daran dachte, daß er diesem Mann seine Seele und sein Bewußtsein bloßlegen sollte. Seit Thaggorans Lebenstagen war Hresh keinem begegnet, der auch nur entfernt wie Noum om Beng gewesen wäre; und Thaggoran war eine ihm viel zu nahe vertraute Gestalt gewesen, und Hresh selber war viel zu jung gewesen, als daß irgend etwas in ihren Gesprächen ihm hätte Angst machen können. Aber jetzt mit Noum om Beng war dies anders. Dieser eröffnete Hresh unbegreifliche neue Welten, und das war durchaus furchteinflößend.

„Du wirkst bedrückt heute“, sagte Noum om Beng, als Hresh an diesem trockenen heißen Hochsommertag in sein Privatgemach trat. Die beiläufige Bemerkung kam fast so unerwartet wie einer der Schläge, die Noum om Beng so freizügig austeilte. Denn Noum om Beng zeigte nur selten, daß er sich der seelischen Befindlichkeit Hreshs bewußt sei oder gar Interesse dafür aufbringe.

Hresh nahm zu Füßen der Steinbank des Alten Platz und sagte: „Koshmar hat mich erneut gebeten, unserem Volk die Bengsprache beizubringen, Vater.“

„Nun, dann unterrichte sie! Warum zaudertest du so lange?“

Hresh spürte, wie es ihm heiß ins Gesicht stieg. „Dieses Wissen ist etwas, das mir ganz persönlich gehört. Ich hüte es eifersüchtig, Vater.“

Noum om Beng lachte. Es klang eher wie ein Husten.

„Ja, glaubst du denn, du könntest das alles für dich allein behalten? Lehre sie, Junge! Gib es weiter! Es kommt der Tag, an dem alle Welt in der Zunge der Beng sprechen wird; bereite dein Volk darauf vor, auf daß es für sie nicht unerwartet komme!“

Hresh fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Willst du damit sagen, daß die ganze Welt bengisch sein wird, Vater?“

„Ja, soweit sie nicht hjjkisch sein wird.“

Hresh dachte da an Harruel, der sich in der Wildnis sein kleines Königreich zu bauen versuchte, und er überlegte, wie er wohl sich in ein derartiges Realitätskonzept einfügen würde. Oder auch Koshmar, nebenbei. Doch er erwähnte Noum om Beng gegenüber nichts davon.

„Also glaubst du, daß es die Absicht der Götter war, als sie die Große Welt vernichteten, den Beng den Weg zur Oberherrschaft zu bahnen?“

„Wer will das schon wissen“, sagte Noum om Beng. „Was die Absichten der Götter sind? Die Götter sind grausam. Allem eifernden Streben winkt am Ende ein Hagel von Todessternen. So ist es geschehen, wieder und wieder, und so wird es sein in kommender Zeit. Uns ist es nicht gegeben, die Gründe dafür zu begreifen; wir vermögen nur immer weiter voranzustreben, ringend mit allem und dagegen kämpfend, um zu überleben, und um sodann zu wachsen und dann in Besitz zu nehmen. Und am Ende gehen wir zugrunde. Das zu verstehen ist unwichtig. Es geht nur um das Überleben und das Wachsen und die Eroberung, um mehr nicht.“

Niemals zuvor hatte Noum om Beng sich derart deutlich über seine Lebensphilosophie geäußert. Hresh — für den dies wie ein Hagelschauer von Schlägen war — saß zitternd da und mühte sich zu fassen, was er da soeben vernommen hatte.

„Also werden die Todessterne wiederkommen, um uns zu vernichten?“ fragte er schließlich.

„Nicht für eine lange, lange Zeit. Jetzt sind wir vor ihnen sicher, und noch für eine so lange Spanne Zeit, daß wir sie unmöglich erfassen können. Aber kommen werden sie einst, wenn du und ich längst vergessen sind. Es liegt in der Art der Götter, die Todessterne immer und immer wieder über die Welt hereinbrechen zu lassen. So war es von Anbeginn aller Zeiten.“

„Darf ich aus deinen Worten schließen, daß die Todessterne, welche die Große Welt vernichteten, nicht die ersten waren, die auf diese Welt herabfielen?“

„So ist es. Millionen Jahre verstreichen zwischen jeder Heimsuchung der Schwärme der Todessterne. Dies weiß ich, Kind. Und dies Wissen ist auf mich gekommen von den Uralten. Die Todessterne stürzten auf die Große Welt herab, und sie fielen auf jene Welt, die vor der Großen Welt bestand. Und auf die Welt vor dieser Welt.“

Hresh brachte kein Wort hervor und saß nur starr da.

Noum om Beng sprach weiter: „Wir wissen nichts von diesen älteren Welten. Die Vergangenheit ist immer fort und vergessen, so sehr wir uns auch mühen mögen, sie zu retten. Sie lebt nur mehr in Schatten weiter und in Träumen und bläßlichen Bildern. Aber die Leute in der Großen Welt wußten diese Bilder zu deuten, und ebenso wußten dies die Menschlichen vor ihnen.“

„Die Menschlichen. waren. vor ihnen.“

„Natürlich. Die Menschen waren sehr alt, als die Große Welt entstand. Aber die Todessterne sind noch älter. Es gab keine Menschen hier, als die Todessterne das vorletzte Mal herabstürzten; oder wenn sie bereits existierten, dann waren sie nichts als einfältige kleine Geschöpfe, so wie wir es nun sind, vor denen alles noch offen daliegt, und sie haben damals die Zeit der tödlichen Sterne wohl ebenso überstanden, wie wir es diesmal versuchten.“

Hresh war so starr, daß er nicht einmal mit einem Lid zucken konnte, während Noum om Beng diese Worte sprach. Und dese Worte trafen ihn wie die letzten Axthiebe, ehe ein gewaltiger Baum zu Boden bricht.

„Vor langer, langer Zeit“, fuhr Noum om Beng fort, „war eine Zeit der Größe für die Menschlichen, und sie beherrschten die Welt. Und ich glaube, daß sie sich an die Todessterne erinnerten, die niederstürzten, als ihre Rasse noch jung war, oder aber sie fanden die Erinnerung an sie wieder, ich vermag dir nicht zu sagen, wie es war. Und die Zeit der Größe der menschlichen Rasse — und sie war langdauernd — durchlief ihren ganzen Kreis in der Zeitspanne zwischen den Sternenschwärmen. Die Größe der Menschlichen erwuchs und verging in dieser Zeitspanne. Und danach erwuchs die Große Welt und erblühte, und über diese Große Welt brachen die jüngsten Todessterne herein. Und nun ist die Welt unser, und wir werden in ihr etwas Großes errichten, so wie es die Menschlichen getan haben und die Völker der Großen Welt nach ihnen; und eines Tages, in Millionen Jahren von heut an, werden die tödlichen Sterne wiederkehren. Dies ist die Wahrheit. So ist der Gang der Welt von allem Anfang an.“

Hresh saß still da und kämpfte gegen das Entsetzliche an, das er soeben vernommen hatte. Er zitterte unter der Last einer solch unvorstellbaren Vergangenheit, die sich vor ihm erhob wie ein Turm über den nächsten gestapelt bis hinauf zu den Sternen.

Nach sehr langer Zeit sagte er: „Aber wenn dies so ist, Vater, dann ist es doch ganz unwichtig, was wir tun, nicht wahr? Wir könnten wachsen und gedeihen und etwas noch Größeres schaffen als die Große Welt; und wenn das Rad sich dann um sich selbst gedreht hat, wird alles, was wir geschaffen haben, ebenso vernichtet werden wie die Große Welt. Auch sollten wir dann ja nicht glauben müssen, daß die Vernichtung, wenn sie kommt, als eine Strafe über uns kommt. nicht um eine sündhafte, böse Zivilisation zu zerstören. Denn gleichgültig, ob wir gut sind oder böse, ob wir auf dem von den Göttern vorgeschriebenen Pfad wandeln, oder ob wir sie verhöhnen. die Mördersterne kommen doch, so oder so. Und sie kommen immer wieder und brechen über uns herein, wenn ihre ihnen bestimmte Zeit naht, und sie stürzen herab über die Bösen und die Tugendsamen gleichermaßen, und ungerührt über die Faulen ebenso wie über die Fleißigen, über die Freundlichen wie über die Grausamen, so daß alles eins ist. Man könnte also auch ebenso gut gar nichts aufbauen, denn was immer wir bauen, es wird vernichtet werden. Und das ist die Welt, welche die Götter für uns geplant haben? Das erscheint mir uns gegenüber als abscheulich brutal; aber, nun ja, die Götter entziehen sich unserem Verständnis. Wolltest du mir dies sagen, Vater?“

„Das ist es, was ich als die Wahrheit erkannt habe.“

„Nein“, sagte Hresh. „Solch eine Glaubensüberzeugung ist zu grausam. Denn sie unterstellt, daß es im Universum eine Fehlerquelle gibt, Schwachstellen, daß alles im Kern fundamental falsch ist.“

Noum om Beng saß still da und nickte vor sich hin. Über das verhutzelte Gesicht huschte etwas, was fast wie ein Lächeln aussah.

„Aber wir sterben doch, oder?“ fragte er.

„Am Ende unseres Lebens, ja.“

„Und — ist dies eine Bestrafung?“

„Nein, weil wir an unser Ende gelangt sind. Die Bösen leben oft ein langes Leben, und die Guten sterben jung: Also kann der Tod nicht eine Strafe sein, ausgenommen natürlich, wir werden alle auf gleiche Weise gestraft.“

„Sehr exakt, mein Junge. Es hätte keinen Sinn; also, wie sollten wir je hoffen, es begreifen zu können? Die Götter haben beschlossen, daß es für uns den Tod geben soll, und so ist jeder von uns ein Individuum, allein und sterblich. Aber die Götter haben auch das Ende der Großen Welt beschlossen; sie haben den Tod beschlossen für die Welt der Hjjk, die jetzt herrschen, und für die Welt der Beng, die danach kommen wird. Wenn du dies als einen Konstruktionsfehler des Universums bezeichnest, so irrst du. Denn — das Universum ist so. Das Universum ist vollkommen — nur wir sind mit einem Makel behaftet. Die Götter wissen, was sie anrichten und tun. Wir werden es niemals erfahren. Aber dies heißt nicht, daß wir einfach aufhören dürften, uns zu bemühen.“

Hresh schüttelte den Kopf. „Wenn alles keinen Sinn hat, wenn der Tod einen jeden unter uns einholt, wenn die Todessterne über unsere Zivilisationen niederstürzen, ja aber dann könnten wir doch ebenso gut gleich leben wie die wilden Tiere. Trotzdem tun wir es nicht. Wir plagen uns weiter. Wir planen, wir träumen, wir bauen.“ Und mitgerissen von der eigenen Leidenschaft, rief er: „Und ich will wissen, warum! Ich werde mein Leben dransetzen, um herauszufinden — warum!“

Er merkte, daß er äußerst laut geredet hatte. Außerdem fiel ihm auch noch ein, daß er schon eine ganze Weile lang den Noum om Beng nicht mehr mit dem Ehrentitel ‚Vater‘ angeredet hatte, auf den der Alte Helmgreis solch großen Wert legte. Und trotzdem hatte er deswegen noch keine Prügel bezogen. Wahrhaftig, dies war ein außergewöhnlicher Tag.

Noum om Beng erhob sich, was dauerte, denn er entfaltete und entfaltete und entfaltete sich zu seiner ganzen beeindruckenden Länge und füllte den ganzen Raum aus auf seine knitterig-zerbrechliche Weise wie ein Wasserläufer aus Papier, der eine andere Gestalt angenommen hat. Von sehr hoch oben blickte er zu Hresh herab, und man konnte unmöglich die Gedanken abschätzen, die über sein Gesicht huschten, auch wenn Hresh recht sicher war, es müßten höchst gewaltige Gedanken sein.

Viel Zeit verstrich, ehe Noum om Beng sprach. „Ja. Weihe dein Leben der Suche nach dem Warum. Und dann komm zu mir und sage mir deine Antwort. Wenn ich dann noch leben sollte, wird es mich höchlich interessieren, sie zu vernehmen.“ Dann lachte Noum om Beng. „Als ich in deinen Jahren war, bedrückte mich die gleiche Frage, und auch ich suchte nach einer Antwort. Wie du siehst, habe ich versagt und sie nicht gefunden. Aber vielleicht wird es dir anders ergehen. Vielleicht, mein Sohn. Vielleicht.“

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