4. Kapitel Der Chronist

Hresh mußte allen seinen Mut zusammenraffen, um vor Koshmar hinzutreten und darum zu bitten, man möge ihn an Thaggorans Stelle zum Chronisten ernennen. Er fürchtete nicht so sehr eine Abweisung, denn immerhin war sein Ansinnen ja ziemlich unerhört. Nein, wovor ihn grauste, das war, daß man sich über ihn lustig machen könnte. Und Koshmar konnte grausam sein; Koshmar konnte grob und verletzend sein. Außerdem wußte Hresh, daß sie bereits Grund genug hatte, ihn nicht zu mögen.

Doch zu seiner Überraschung schien die Stammesführerin sein unverschämtes Ersuchen huldvoll entgegenzunehmen. „Chronist, sagst du? Aber das ist eine Stellung, die üblicherweise dem ältesten Mann im Stamm gebührt, nicht wahr? Und du bist — wie alt?“

„Ich bin fast schon neun“, sagte Hresh mit Festigkeit.

„Neun. Ja, das ist aber noch nicht ganz Ältester Mann.“ Versuchte Koshmar ein Lächeln zu unterdrücken?

„Der Älteste Mann derzeit ist Anijang. Aber der ist ja wohl zu dumm für den Posten des Chronisten, nicht wahr? Außerdem, Koshmar, was hat mein Alter damit zu tun? Hier draußen sind doch alle Dinge für uns anders geworden. Gefahren lauern auf allen Seiten. Sämtliche erwachsenen Männer müssen beständig Wache halten. Wir hatten den Angriff durch die Rattenwölfe, wir hatten die Blutvögel, die Feuerkletten, die Lederflügler, wir müssen nahezu jeden Tag neue feindselige Kreaturen abwehren. Und die kommen alle immer und immer wieder. Ich bin noch zu klein, um im Kampf viel zu taugen. Vorläufig. Aber die Chronik führen, das kann ich.“

„Bist du da ganz sicher? Kannst du lesen?“

„Thaggoran hat es mich gelehrt. Ich kann Worte schreiben und sie lesen. Ich kann mich auch gut an Sachen erinnern. Ich beherrsche schon jetzt einen guten Teil der Chroniken auswendig. Prüfe mich mit irgendeiner Stelle! Die Niederkunft der Todessterne. die Erbauung der Kokons.“

„Du kannst die Chroniken lesen?“ fragte Koshmar erstaunt.

Hresh spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoß. Was für ein dummer Fehler! Die Chroniken waren mit Siegeln gesichert; niemand — außer dem Chronisten selbst — hatte das Recht, die Lade, in der sie geborgen waren, zu öffnen. Tatsächlich jedoch hatte Hresh es schon in den Tagen im Kokon manchmal bewerkstelligen können, ein paar Seiten der Texte zu studieren, die Thaggoran zuweilen offen in seiner Kammer umherliegen hatte lassen, denn der Alte Mann war manchmal sorglos gewesen oder allzu liebevoll vertrauend, aber er schien nie bemerkt zu haben, was Hresh hinter seinem Rücken anstellte. Den Großteil seiner Spurensuche in die Geschichte allerdings hatte Hresh erst nach Thaggorans Tod und klammheimlich durchgeführt, während die älteren Stammesmitglieder auf Nahrungssuche außerhalb des Lagers weilten. Oft blieb der Troß unbewacht; es gab keinen Chronisten mehr, der ein besonders wachsames Auge auf den Schatz gehabt hätte; niemand schien den kleinen Jungen zu bemerken, wenn er die geheiligte Lade öffnete, und niemand schien sich darüber Gedanken zu machen.

Hresh hoffte, daß Koshmar seine glatte Lüge nicht durchschauen möchte, und sagte stotternd: „Thaggoran hat mich die Chroniken sehen lassen. Er nahm mir das Versprechen ab, daß ich nie zu jemand darüber reden würde, aber ab und zu — als besondere Gunst — hat er mich.“

Koshmar lachte. „Das hat er getan? Wirklich? Fühlt sich keiner in diesem Stamm an seinen Schwur geschmiedet?“

Verzweifelt improvisierte Hresh weiter: „Er erzählte so gern die alten Geschichten. Und ich interessierte mich eben mehr als alle anderen dafür — und so hat er. und so haben wir — er und ich.“

„Ja. Ja, ich verstehe schon. Nun, es spielt jetzt keine große Rolle mehr, welche Eide gehalten und welche gebrochen worden sind, ehe wir in die Welt aufbrachen.“ Koshmar blickte wie aus Turmeshöhe auf ihn herab. Lange schien sie in eine ganz persönliche Grübelei versunken zu sein. Schließlich sagte sie: „Also, Chronist soll es sein? Und noch keine neun Jahre alt? Eine außergewöhnliche Vorstellung!“ Und dann, gerade als Hresh sich anschicken wollte, schmachbedeckt davonzuschleichen, sagte sie: „Aber ja. Geh und hol die Schriften! Und zeig mir, wie deine Schrift ist, danach werden wir entscheiden. Also, geh! Sofort!“

Mit hämmerndem Herzen stürzte Hresh davon. Meinte sie das im Ernst? Nahm sie ihn wahrhaftig und wirklich ernst? Würde sie ihm das Amt übertragen? Anscheinend bestanden Chancen. Natürlich konnte sie ja auch ein grausames Spiel mit ihm treiben, sich einen Spaß mit ihm erlauben; andererseits dber war Koshmar, obschon sie grausam sein konnte, nicht dafür bekannt, daß sie Scherze machte. Also meinte sie es ehrlich, entschied Hresh. Chronist! Er, Hresh sollte Chronist werden! Er vermochte es kaum zu glauben. Er würde der Alte Mann sein — und das mit nicht einmal neun Jahren!

An diesem Tag hatte Threyne die Heiligen Dinge in Obhut. Sie war eine kleine Frau mit weit auseinanderstehenden Augen und von dem Ungeborenen in ihrem Leib unförmig angeschwollen. Hresh stürzte auf sie zu und brüllte laut, daß Koshmar ihm befohlen habe, die Heiligen Bücher zu holen. Threyne begegnete dem mit Skepsis und wollte sie ihm nicht aushändigen; am Ende begaben sie sich beide vor das Stammesoberhaupt, wobei sie die schwere Schriftenlade zwischen sich mitschleppten.

„Doch“, erklärte Koshmar, „ich wollte, daß er mir die Bücher bringt.“ Threyne stierte sie kuhäugig verblüfft an. So etwas war in ihrem Hirn eindeutig gotteslästerlich; aber gegen Koshmar würde sie keinen Widerspruch wagen, nicht einmal in solch einer Sache. Brummig überließ sie Hresh die Lade.

„Verschwinde!“ sagte Koshmar zu Threyne und verscheuchte sie mit einer Handbewegung, als wäre sie ein Staubkorn. Als sie fort war, sagte die Anführerin zu Hresh: „Dann öffne das mal, da du ja anscheinend sowieso schon weißt, wie das geht.“

Eifrig setzte Hresh die Hände auf den Kasten, bewegte die Buckelknöpfe und ineinandergreifenden Siegel hierhin und dorthin. Trotz des nervösen Zitterns in seinen Fingern gelang es ihm fast sogleich die Verschlüsse zu entriegeln. Und da lag das Barak Dayir in seinem Beutel, daneben die Schimmersteine, und die Bände der Chronik, aufgestapelt, genau wie Thaggoran sie anzuordnen liebte: der Band des laufenden Jahres obenauf und das Buch des Weges direkt darunter.

„Also schön“, sagte Koshmar. „Nimm Thaggorans Buch heraus, schlag die letzte Seite auf und schreibe, was ich dir sagen werde.“

Er zog das Buch heraus und streichelte es ehrfürchtig. Als er es aufschlug, vollzog er das Schutzzeichen des Zerstörers: denn Dawinno war es, der Ausgleichende und Zerspellende, der zugleich auch der für die Wahrung des Wissens zuständige Gott war. Behutsam legte Hresh Seite um Seite um bis zur letzten beschrifteten, auf der Thaggoran links oben in seiner eleganten Handschrift die Geschichte des Auszugs niederzulegen begonnen hatte. Sein Bericht endete plötzlich, unvollständig, mitten auf der Seite; das rechte Blatt war leer.

„Bist du bereit?“ fragte Koshmar.

„Du willst, daß ich in dieses Buch schreiben soll?“ fragte Hresh, der seinen Ohren nicht traute.

„Ja. Also schreib!“ Sie zog die Brauen zusammen und schob die Lippen vor. „Schreib dies: Es wurde aber sodann von Häuptling Koshmar beschlossen, daß der Stamm ausziehen und Vengiboneeza suchen solle, die Große Stadt der Saphiräugigen, denn es galt als möglich, daß man dort auf Geheimnisse stoßen könnte, die von Wert bei der Neubesiedlung der Welt mit Völkern sein mögen...

Hresh starrte sie an, rührte aber keinen Finger.

„Nun mach schon und schreib dies nieder. Du kannst doch wirklich schreiben, oder? Du stiehlst mir doch nicht etwa die Zeit mit solchem Firlefanz? Oder? Hast du etwa wirklich.? Schreib, Hresh, oder bei Dawinno, ich laß dir die Haut abziehen für ein Paar Pelzstiefel für diese saukalten Nächte! Schreib!“

„Ja“, flüsterte er. „Ja, ich werde schreiben.“

Er drückte die fleischigen Polster seiner Finger auf die Seite, sammelte die ganze Kraft seines Gehirns in einen Punkt und sandte holterdipolter die von Koshmar diktierten Worte in einem wilden, verzweifelten Sturzbach von Worten auf das empfindliche Velinpergament. Und zu seiner erstaunten Bestürzung begannen sich sofort Schriftcharaktere abzuzeichnen: dunkelbraun auf dem gelben Grund. Schrift! Er schrieb wahrlich und wahrhaftig, er schrieb im Buch des Auszugs! Seine Schrift war nicht so geschliffen und kultiviert wie die Thaggorans, nein, aber sie war gut genug, eine wirkliche klare und verständliche Schrift.

„Laß mich mal sehen!“ sagte Koshmar.

Sie beugte sich nahe heran, spähte, nickte.

„Ah ja. Du hast die Gabe, wirklich. Du kleiner Unruhestifter und Fragesack, du kannst ja wahrhaftig schreiben! Ja. Ja.“ Sie schob die Lippen vor und packte das Buch an den Rändern mit festem Griff, und dann kniff sie die Augen zusammen und ließ den Finger über die Seite gleiten, runzelte die Stirn und begann nach kurzem murmelnd zu lesen: „Also beschloß der Häuptling Koshmar, daß der Stamm sich auf die Suche nach der Großen Stadt Vengiboneeza der Saphiräugigen...“

Das kam der Sache ziemlich nahe, aber die Worte, die sie jetzt vorlas, waren nicht ganz jene, die Koshmar gerade kurz vorher gesprochen und die Hresh niedergeschrieben hatte. Wie konnte so etwas sein? Er reckte den Kopf vor und starrte auf das Buch in ihren Händen. Der von ihm geschriebene Text begann dort noch immer so: „Es wurde aber sodann von Häuptling Koshmar beschlossen...“ War es denkbar, daß Koshmar selbst nicht lesen konnte, daß sie sich selbst aus dem Gedächtnis zitierte? Das war bestürzend. Aber nach kurzem Überlegen erkannte Hresh, daß es wirklich gar nicht so erstaunlich war.

Ein Häuptling brauchte die Kunst des Lesens nicht zu beherrschen. Dafür hatten Führer ihre Chronisten.

Und kurz darauf begriff Hresh noch etwas ebenfalls Bestürzendes, nämlich daß man ihm soeben Ziel und Bestimmungsort preisgegeben hatte, auf die sie während all dieser Monde zugewandert waren. Bis zu diesem Augenblick hatte sich die Führerin standhaft geweigert, das Ziel ihrer Wanderschaft irgendwem zu eröffnen. Und Hresh war dermaßen befangen und eingefangen gewesen von seinem Akt des Schreibens, daß er den Worten, die Koshmar geäußert hatte, keine Beachtung schenkte. Jetzt aber ging ihm deren Bedeutung auf.

Vengiboneeza! Sein Herz pochte fühlbar heftiger.

Bald würden sie sich auf die Suche machen nach dieser prunkvollsten, prächtigsten Stadt der Großen Welt!

Ich hätte es erraten müssen, dachte Hresh, zerknirscht. Thaggoran hatte nämlich darüber manchmal gesprochen, wie es im Buch des Weges geschrieben stehe, daß mit dem Ende des Winters das Volk aus seinen Kokons hervorkommen und mitten in den Trümmern der Großen Welt alle Dinge finden werde, die es brauchte, um sich zu Beherrschern des Planeten zu machen. Und wo konnte es einen besseren Ort geben, nach solchen Dingen zu suchen, als in der ehemaligen alten Hauptstadt der Saphiräugigen? Vielleicht war auch Koshmar auf diesen Gedanken gekommen; oder aber Thaggoran hatte ihn ihr aller Wahrscheinlichkeit nahegelegt. Vengiboneeza! Also wirklich, dachte Hresh, das Leben hat sich in einen Traum verwandelt.

Er hob die Augen zu Koshmar. „Also, bin ich nun der neue Chronist?“ fragte er.

Sie blickte ihn fest und prüfend an. „Wie alt sagtest du, bist du an Jahren? Neun?“

„Nicht ganz neun.“

„Nicht ganz neun Jahre.“

„Aber ich kann lesen. Ich kann schreiben. Ich habe schon viele Dinge gelernt, und ich steh doch erst am Anfang, Koshmar!“

Sie nickte. „Ja, so ist es wohl“, sagte sie. „Und vielleicht ist das ja auch die einzige Möglichkeit, wie ich dich unter Kontrolle halten kann, wie, Hresh? Hresh-der-Fragesack? Also wirst du diese Bücher lesen, und sie werden dir einige deiner Fragen beantworten und dir so viele neue Fragen stellen, daß du dermaßen viel mit deinen Büchern zu tun haben und dich gar nicht mehr davonschleichen wirst, um dir neue Methoden auszudenken, wie man einen Wirbel anzettelt, eh?“

„Ich hab aber schließlich die Rattenwölfe entdeckt, damals als ich mich allein weggeschlichen habe“, erinnerte er sie.

„Ja. Ja, wahrlich, das hast du getan.“

„Ich kann nämlich beides sein, nützlich und ein Nichtsnutz.“

„Ja. Vielleicht kannst du das wirklich“, sagte Koshmar.

„Das ist doch nicht so ein dummes Spiel, das du mit mir spielst, Koshmar? Bin ich wirklich der neue Chronist?“

Koshmar lachte. „Das bist du, Junge! Ja, du bist der neue Chronist. Wir ernennen dich noch heute öffentlich. Auch wenn du nicht einmal alt genug bist, um deinen Tag der Namensgebung zu feiern. Es sind neue Zeiten, und alles ist nun anders, wie? Oder doch fast alles. Was, Junge? Na?“

Also war es geschehen. Hresh widmete sich seinen neuen Aufgaben mit großem Eifer. So gut er konnte, ergänzte er Thaggorans unvollendeten Bericht über den Auszug des Volkes bis zur Aktualität und beschrieb die Fährnisse und Abenteuer, die das Volk an dem oder jenem Ort erfahren hatte. Er unternahm den Versuch, das Tageskalendarium zu rekonstruieren, auf daß man die Riten wieder korrekt erfüllen könne; aber in der Verwirrung, die auf Thaggorans Tod eingetreten war, hatte keiner sich um diese Aufgabe gekümmert, und so argwöhnte Hresh, daß seine Zählung wohl doch nicht so ganz exakt erfolgt sein mochte, so daß man also in Zukunft damit würde rechnen müssen, daß vielleicht Namenstage und Tvinnr-Tage und weitere Ritualereignisse nicht unbedingt exakt am richtigen Tag gefeiert werden würden. Er bemühte sich hingebungsvoll, dem abzuhelfen, allerdings ohne größere Zuversicht, daß es ihm gelingen könne, da Ordnung zu schaffen.

Es ergab sich, daß Hresh nun täglich zur Stammesführerin ging und daß sie zu ihm redete, und was von hoher Bedeutung schien, das schrieb er sodann in das große Buch. Und wenn sich ihm die Gelegenheit bot, vergrub er sich stets mit der brennend-eifrigen Neugier eines Höhlenmaulwurfs in die tieferen Schichtungen der Geschichtslade, denn ihn dürstete, alles zu entdecken, was es dort zu finden gab. Er schwelgte geradezu in dem Überfluß historischer Schätze. Es würde ihn vielleicht die Hälfte seines Lebens kosten, sämtliche Bücher durchzulesen, doch er war entschlossen, es wenigstens zu versuchen. In einer Art fieberischem Wissensdurst blätterte Hresh durch die Seiten der Texte, er streichelte sie, nahm sie in sich auf, erlaubte sich kaum je, mehr als ein paar Zeilen zu überfliegen, die ihn auf einer Seite gefangennahmen, ehe er zur nächsten weitereilte und zur übernächsten und übernächsten. Die Wahrheiten, die die Bücher enthielten, wurden verschwommen und verworren, während er durch die Texte irrte, und verwandelten sich für ihn zu noch dunklerer geheimnisvoller Rätselhaftigkeit als in der Zeit, in der er noch überhaupt keine Ahnung von ihnen gehabt hatte. — aber das war nicht wichtig, denn er würde ja ausgiebig Zeit haben, dieses Wissen meisterlich zu beherrschen. Im Augenblick aber wollte er nur wild in sich hineinschlingen.

Er legte sich das Amulett um den Hals, das Thaggoran gehört hatte, und trug es von nun an Tag und Nacht. Anfangs fühlte es sich merkwürdig an, wenn es ihm gegen das Brustbein schlug, doch gewöhnte er sich rasch daran, bis es schließlich sozusagen ein Teil von ihm wurde. Durch das Tragen fühlte er sich Thaggoran nahe. Und wenn er es berührte, konnte er Thaggorans Weisheit in sich herüberströmen fühlen.

Er griff auf die allerältesten Bücher zurück, die er kaum begriff, da sie in einem fremdartigen Duktus geschrieben waren, der nicht leicht mit Hreshs Gehirn in Harmonie zu bringen war. Dennoch ließ er die Fingerspitzen zitternd über die steifen Seiten gleiten, und nach einigem drang aus ihnen ein gewisser Sinn zu ihm herüber, der allerdings stets zweideutig war, vieldeutig, bruchstückhaft, flüchtig. Die Texte waren im Grunde fragmentarische Aufzeichnungen über die Umstände der Großen Welt: anscheinend Geschichten von der Zeit, da die Sechs Völker in Harmonie miteinander auf der Erde gelebt hatten — die Menschlichen und die Hjjk-Leute und die Vegetalischen und die Mechanischen und die Meeresbewohner und die Saphiräugigen. Das Ganze war blaß und verschwommen, der dünne Widerhall eines Widerhalls, aber selbst dieses Echo noch ertönte in seiner Seele wie eine schmetternde Fanfare aus der dunklen Tiefe der Zeit herauf. Es war gewiß die erstaunlichste Epoche aller Äonen, der Gipfelpunkt der verschwundenen Pracht der Erde, und die ganze Welt war ein einziges Freudenfest, damals. Beim bloßen Gedanken, an dies bebte er: die Vielzahl an Völkern, die vielen Rassen, die schimmernden Städte, die Schiffe, die zwischen den Sternen reisten. Er wußte kaum, wo er ansetzen sollte, um dies alles in sich aufzunehmen und zu begreifen. Er fühlte, wie das Wissen von diesen Dingen — so bruchstückhaf es sein mochte — in ihm sich ausbreitete und aufquoll, so daß er manchmal fürchtete, daran zu ersticken. Dann übersprang er Teile und las die Berichte über den tragischen Untergang der Großen Welt, als die Todessterne herabzustürzen begannen, genau wie es vor so langer Zeit vorhergesagt worden war. Warum hatten sie zugelassen, daß dies geschah, sie, diese Völker, die zu solch großer Herrlichkeit aufgestiegen waren? Hatten sie die niederfallenden Sterne nicht weglenken können? Das mußte doch gewiß in ihrer Macht gelegen haben, da sie ja auch Herrscher über alle anderen Dinge waren. Aber sie taten nichts! Nirgendwo war etwas erwähnt, nur das Nahen des drohenden Untergangs selbst. Damals gingen die Saphiräugigen zugrunde, denn ihr Blut war kalt und sie konnten Frostwetter nicht ertragen; und die Vegetalischen starben gleichfalls, da sie aus Pflanzenzellen waren, konnten auch sie den Frost nicht überleben. Hresh las den heroischen Bericht über den Freitod der Mechanischen, die nicht in die Neue Zeit als Überlebende eingehen wollten, obschon es ihnen ja möglich gewesen wäre. Er las und las und schlang alles in großen Schlucken in sich hinein, die ihn trunken machten.

Auch die Schimmersteine holte er aus der Lade, legte sie zu verschiedenen Mustern aus, streichelte und drückte sie und murmelte über ihnen, in der Hoffnung, Weistum aus ihnen zu gewinnen. Aber sie blieben stumm. Ihm erschienen sie nur wie dunkelschimmernde Steine. So sehr er sich mühte, sie verrieten ihm nichts. Betrübt erkannte er, daß das Volk künftig ohne ihre Weisung würde leben müssen. Das Geheimnis, wie die Schimmersteine zum Sprechen zu bringen seien, war dem Stamm mit Thaggorans Tod für immer verloren gegangen.

Der Barak Dayir, der ‚Wunderstein‘, war der einzige Gegenstand in der Lade, den Hresh überhaupt nicht zu untersuchen wagte. Er ließ ihn unangetastet in dem grünen Samtbeutel ruhen, ja er wagte es nicht einmal, diesen zu berühren. Der Stein würde — das wußte er — Pforten zu Wissensbereichen auftun, wie sie ihm nicht einmal durch das Lesen kundwerden konnten; aber er schreckte davor zurück, zuviel zu früh tun zu wollen. Der Wunderstein war Sternenstoff, so hatte Thaggoran ihm gesagt. Und er hatte auch gesagt, daß der Stein Gefahren in sich berge. Hresh zog es vor abzuwarten, bis er auf einen Hinweis für den sicheren Gebrauch gestoßen sein würde. Insgeheim und ohne daß andere etwas davon ahnten, pries er sich selbst eifrig für diesen singulären Akt klugen Verzichts, der seinem Wesen so vollkommen fremd war, und dann lachte er sich selbst wegen dieses widersinnigen Stolzes aus.

Den übrigen Stammesangehörigen bot die Erhöhung Hreshs in dm Stand des Chronisten vor allem Anlaß zu Belustigung. Sie hatten gehört, wie Koshmar ihn ernannt hatte, und sie konnten ihn tagtäglich beim Bagagetrain herumpottern sehen, in dem die Lade mit den Chroniken mitgeführt wurde; aber es bereitete ihnen einige Schwierigkeiten, die Tatsache zu begreifen, daß der Stammeschronist nunmehr ein kleiner minderjähriger Knabe sein sollte. Auch Mutter Minbain lachte und fragte ihn: „Also soll ich dich jetzt als Alter Mann anreden?“

„Es ist doch bloß ein Titel, Mutter. Mir ist es gleichgültig, ob man ihn benutzt, oder nicht.“

„Aber du bist der Chronist? So richtig wirklich der Chronist?“

„Du weißt doch, daß ich es bin“, antwortete Hresh.

Minbain preßte sich die Hände auf die Brüste. Unter schütterndem Gelächter keuchte sie scheinbar liebevoll, aber nicht eben freundlich: „Wie konnte ein so sonderbarer Wechselbalg wie du aus meinem Leib kommen? Wieso? Wie?“

Torlyri war ihm gegenüber netter, denn sie sagte ihm, man habe mit ihm die rechte Wahl getroffen, denn es sei ja offensichtlich, daß er zum Chronisten geboren sei; aber Torlyri war schließlich zu allen immer freundlich. Und Orbin, der sein Spielgefährte und Freund gewesen war, schaute ihn jetzt an, als sei ihm plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen. Die anderen Kinder in Hreshs Alter hatten sich in seiner Gegenwart sowieso nie so recht wohl gefühlt. Nun hielten sie sich ihm gänzlich fern, alle, außer Taniana, die von seiner neuen Erhabenheit völlig unbeeindruckt zu sein schien. Wie zuvor sprach sie mit ihm und wanderte im Treck an seiner Seite, als habe nichts sich verändert, obschon auch sie in der letzten Zeit ziemlich viel mit Haniman zusammensteckte, ausgerechnet mit dem. Was sie an diesem Hohlkopf interessieren konnte, war für Hresh schwer zu begreifen, auch wenn Haniman, seit er marschieren mußte, weniger schwabbelig geworden war und Anzeichen erkennen ließ, daß er etwas geschmeidiger und graziöser zu werden versprach, wenn auch nicht viel.

Anijang, der in der alten Zeit einfach auf Grund der Tatsache, daß er der älteste Mann im Stamm war, wohl Chronist geworden wäre, kicherte nur glucksend in sich hinein, wenn Hresh an ihm vorbeikam. „Was du mir für ’ne Menge Ärger erspart hast, Kleiner! Wenn ich mir vorstelle, was für eine Schinderei es für mich gewesen wäre, lesen zu lernen!“ Er schien ehrlich erleichtert zu sein. Die jüngeren Männer, die Krieger, beachteten Hresh im allgemeinen nicht, außer Salaman, der gelegentlich stehenblieb und ihn anstarrte, als könne er sich nicht überwinden zu glauben, daß ein Knabe, der sogar noch jünger war als er selbst, Chronist und ‚Alter Mann‘ des Stammes hatte werden können. Die übrigen Krieger beachteten ihn gar nicht. Der Chronist war eine ehrfurchtgebietende Respektsperson für sie, aber sie waren nicht bereit, Hresh mit Ehrfurcht zu begegnen, also ignorierten sie ihn. Als einziger von ihnen ließ sich Harruel herab, überhaupt mit ihm zu sprechen. Er gloste ihn von seiner Turmeshöhe herab an und wünschte ihm Erfolg bei seiner Arbeit. „Du bist sehr jung“, sagte er, „aber — andere Zeiten, andere Bräuche, und wenn du nun einmal unser Chronist sein sollst, so habe ich daran nichts auszusetzen.“ Worauf sich Hresh gebührlich bei Harruel bedankte, auch wenn dieser in letzter Zeit so riesig und seltsam geworden war — irgendwie verbittert über eine schmerzhafte Enttäuschung, so schien es, stets mit finsterer Miene herumlaufend, mit düsteren Augen und verkniffenen Lippen —, daß Hresh es vorzog, ihm nicht in die Quere zu kommen.

Natürlich galt als abgemacht, daß Hresh jedes Wort, das Koshmar ihm diktierte, als vertraulich und geheim betrachten sollte, bis der Häuptling bereit war, den ganzen Stamm zu unterrichten. Aber schließlich war Hresh ja erst neun Jahre alt. Und so geschah es eines Tages, nicht lange nach seiner Ernennung zum Chronisten, als er und Taniane allein zusammen waren, daß er zu ihr sagte: „Weißt du, wohin wir ziehen?“

„Das weiß niemand, außer Koshmar.“

„Ich weiß es.“

„Ach ja?“

„Und ich sage es dir, wenn du es als Geheimnis bei dir behältst.“ Er kam ihr mit dem Kopf ganz nahe. „Wir ziehen nach Vengiboneeza. Hältst du das für möglich? Vengiboneeza, Taniane!“

Er glaubte, die Offenbarung müsse sie sprachlos machen. Doch sie bewirkte weiter nichts als Verständnislosigkeit in ihrem Gesicht.

„Wohin?“ fragte sie.

Sie zogen westwärts weiter und immer weiter durch wechselndes Gelände; es wurde mit jedem Tag etwas wärmer, war aber noch weit von einem angenehmen Klima entfernt.

Kein einziges Mal stießen sie auf andere menschliche Wesen, sondern ihnen begegneten nur die fremdartigen Tiere der Wildnis. Koshmar hegte darin zwiespältige Gefühle. Gern wäre sie auf einen anderen Menschenstamm gestoßen, um so die Bestätigung zu erlangen, daß es keine überstürzte Torheit gewesen sei, als sie ihr Volk vor dem wirklichen Ende des Winters in den Auszug gehetzt hatte; ferner wäre sie auch gern die Sorge wegen der bedrückend unangenehmen Möglichkeit losgewesen, daß ihre sechzig Seelen alles waren, was von der Menschenrasse noch übrig war. Und in Wahrheit wünschte sie sich sehnlich, sich mit irgendwelchen anderen Wandergruppen zusammenzuschließen, mit denen ihr Volk die Nöte und Gefahren des Zuges hätte teilen können.

Gleichzeitig jedoch war ihr die Vorstellung, auf andere Stämme zu treffen, alles andere als angenehm. Seit langem hatte sie nun geherrscht, ihr Wille hatte absolut und unbestritten gegolten. Harruels sauertöpfisches Gesicht und sein unzufriedenes leises Nörgeln stellten für Koshmar keine echte Bedrohung dar, denn das Volk würde ihn nie an ihrer Stelle als Anführer annehmen. Wenn man jedoch auf einen anderen Stamm stieß und mit ihm eine Art Bündnis einging, dann könnten sich dabei sehr wohl Rivalitäten ergeben, Auseinandersetzungen, vielleicht gar Kampf. Aber Koshmar wollte auf keinen Fall ihre Macht mit einem anderen Häuptling teilen. Sie erkannte, daß sie bis zu einem gewissen Grad sogar wünschte, ihr Volk möchte die einzigen Menschlichen sein, die den Untergang der Großen Welt überleben konnten.

Auf diese Weise würde sie nämlich — sofern alles gut verlief — als eine der größten Führergestalten aller Zeiten in die Geschichtschronik eingehen, als jene, die allein die Menschenrasse wieder zum Leben erweckt hatte. War dies Hochmut und Eitelkeit? Ja, und sie gestand es sich ein. Aber es war doch gewiß auch keine unverzeihliche Ruchlosigkeit, solchen Ehrgeiz zu hegen.

Jedoch, ihre Aufgaben und ihre Verantwortung lasteten schwer auf ihr. Sie zogen durch gefährliches Land einem unbekannten Ziele zu. Jeder neue Tag brachte neue Beunruhigungen, die den Mut und das Durchhaltevermögen des Stammes auf harte Proben stellten, und Koshmar selbst war oft ungewiß, welche Richtung sie wählen sollte. Diese Zweifel allerdings mußte sie vor dem Volk verbergen.

Sie rief den Stamm zusammen und eröffnete ihm endlich, daß das Endziel Vengiboneeza sei. Die älteren Leute kannten diesen Namen aus den Geschichten, die Thaggoran ihnen erzählt hatte, als sie noch im Kokon lebten; aber die Jugend riß nur weit die Augen auf.

„Erzähle ihnen von Vengiboneeza!“ befahl sie Hresh.

Er trat vor und sprach von den herrlichen Türmen der uralten Stadt, von ihren leuchtenden Steinpalästen, den wundersamen Maschinen, den warmen blitzenden Teichen und den lichtflimmernden Gärten. Alle diese Beschreibungen hatte er entdeckt, indem er die Hände auf die Blätter der Chronik gelegt und die Bilder in seinem Gehirn hatte aufsteigen lassen.

„Aber wozu sollte Vengiboneeza für uns gut sein?“ fragte Harruel, als Hresh geendet hatte.

Koshmar fuhr scharf dazwischen: „Es ist der Beginn unserer Größe. Die Chroniken berichten uns, daß die Maschinen aus der Großen Welt dort noch immer warten und daß, wer sie findet, mächtig sein wird durch sie. Also werden wir nach Vengiboneeza ziehen und hineingehen und nach seinen Schätzen suchen. Und wir werden uns davon nehmen, soviel wir brauchen, und uns zu Beherrschern der Welt machen und uns eine eigene prachtvolle große Stadt erbauen.“

„Eine Stadt?“ fragte Staip. „Wir sollen eine Stadt haben?“

„Selbstverständlich werden wir eine Stadt haben“, sagte Koshmar. „Sollen wir denn wie die wilden Tiere des Feldes hausen, Staip?“

„Vengiboneeza ist Staub seit siebenmal hunderttausend Jahren“, sagte Harruel düster. „Dort wird es nichts geben, was uns nutzen könnte.“

„Die Chroniken berichten es anders“, widersprach Koshmar.

Es erhob sich ein Murren an mehreren Stellen. Staip brummte weiter, und Kalide und ein paar andere von den Älteren gleichfalls. Koshmar fing den Blick Torlyris auf, die bekümmert und besorgt zu ihr herschaute, und sie begriff, daß ihre Macht über das Stammesvolk aufs schwerste gefährdet war. Sie hatte ihnen mit dem leidensvollen schweren Treck zuviel abverlangt. Sie hatte sie aus der Bequemlichkeit des Kokons in Stürme und bittere Kälte gerissen und sie dem grausamen Glast der Sonne und dem bleichen kalten Licht des Mondes ausgesetzt. In eine Welt voll Blutvögel und Feuerketten und Wesen mit höhlenweit klaffenden Mäulern hatte sie das Volk überantwortet. Und geduldig hatten sie all das Ungeheure und die Plagen erduldet, nun aber fand ihre Langmut allmählich ein Ende. Jetzt mußte sie ihnen gewinnträchtigen Lohn anbieten, wenn sie das Volk dazu bewegen wollte, ihr weiterhin zu folgen.

„Hört mich an!“ rief sie laut. „Hat einer unter euch Grund, an mir zu zweifeln? Ich bin Koshmar, die Tochter von Lissiminimar, und ihr habt mich unter der Herrschaft Thekmurs zum Häuptling erwählt, und habe ich euch je im Stich gelassen? Ich werde euch nach Vengiboneeza führen, und alle die Wunder der Großen Welt werden uns gehören! Und dann werden wir uns erneut aufmachen und uns zu Herrschern über alles machen! Wir werden an wumen Orten schlafen und vom Süßen trinken, und es wird da sein Nahrung und feine Kleider und ein leichtes Leben für alle! Das gelobe ich euch, und dies ist das Gelöbnis des Neuen Frühlings!“

Noch immer mürrische Blicke da und dort. Staip trat unruhig von einem Bein aufs andere. Koshmar sah, wie Konya ihm etwas zuflüsterte. Auch Kalide wirkte unsicher und sagte ein, zwei Worte zu Minbain. Harruel schien irgendwo weit weg, in dumpfes Brüten versunken zu sein. Doch keiner erhob offen die Stimme gegen sie. Sie spürte, daß der Wendepunkt in dem Gefühl der Leute erreicht war.

„Auf nach Vengiboneeza!“ schrie Koshmar.

„Auf nach Vengiboneeza!“ kam das Echo von Torlyri. „Vengiboneeza!“ schrillte auch Hresh.

Ein Augenblick gespannter Unsicherheit. Die anderen schwiegen noch immer. Die Augen waren noch immer verdrossen. Koshmar sah die müden, bekümmerten, aufsässigen Leute. Einzig Torlyri und Hresh hatten sich für sie ausgesprochen; aber Torlyri war ihr Tvinnr-Partner; und Hresh, Hresh war ihre Kreatur, ihr Knecht. Wollte denn keiner sonst den Ruf aufgreifen?

„Vengiboneeza!“ Endlich. Eine helle kräftige Stimme. Orbin, dieser brave kräftige Junge. Und dann, ganz überraschend, auch Haniman, und dann ein paar von den älteren Leuten, Konya, Minbain, Striinin — und dann schließlich alle, alle, sogar Harruel, sogar widerwillig: Staip. Sie waren wieder ein geeinter Stamm und sprachen mit einer Stimme: „Vengiboneeza!“

Dann zogen sie weiter. Aber wie lange wird es dauern, fragte sich Koshmar, bis ich sie wieder ganz von vorn auf meine Seite bringen muß?

Je weiter sie zogen, desto höher wurden die Verluste. An einem Tag voll merkwürdig heißer, sprunghaft stürmischer Winde wurde der Jungmann Hignord von etwas Grünem-Gewundenem-Vielbeinigem, das aus einer im Boden versteckten Grube herausfuhr, davongetragen. Einige Tage später wurde das Mädchen Tramassilu, das ausgezogen war, um kleine gelbe baumbewohnende Kröten zu fangen, von einem riesenhaften wahnsinnigen Hüpfer mit einem langen roten Schnabel aufgespießt, der auf sie niedergefahren kam wie eine Lawine und dann schnatternd über ihrem Leichnam tanzte, bis Harruel ihn mit der Keule zerschmetterte.

Dies waren bereits vier Gefallene von sechzig Personen bei Beginn des Auszugs. Die Bäuche der Brutpaare schwollen vom Ersatz für die Verlorengegangenen, doch eine Geburt brauchte viel Zeit, und der Tod kam rasch hier draußen. Koshmar quälte die Furcht angesichts ihres schrumpfenden Stammes; was, wenn die Zahl so gefährlich abnahm, wenn noch mehr Frauen zugrundegehen sollten. Zwei der Verluste bisher waren schon fruchtbare Frauen gewesen. Man brauchte nicht mehr als ein männliches Stammesmitglied, um einen ganzen Stamm zu schwängern, das wußte Koshmar sehr wohl; aber es waren die Frauen, welche die Kinder trugen und gebaren, und sie brauchten lange zum Austragen.

Die schweren Wolken barsten, und es regnete zehn Tage und zehn Nächte lang, so daß alle vor Nässe troffen und stanken. Vorher hatten sie auf dem Treck keinen Regen gehabt. Aber der Anblick des vom Himmel fallenden Wassers verlor rasch seine Faszination. Regen hörte auf, etwas Neues zu sein und wurde zur quälenden Plage.

„Vengiboneeza?“ begannen sie zu sagen. „Wie lang dauert es denn noch bis Vengiboneeza?“

Es gab solche, die beharrlich behaupteten, ein neuer Todesstern sei auf die Erde geschlagen, zu weit weg, als daß man den Aufprall hier hätte hören können, und daß der Regen nur der Beginn einer neuen Zeit der Finsternis und Kälte sei. „Nein!“ beschied sie Koshmar heftig. „Der Regen ist nur etwas, das es eben in diesem Land hier gibt. Da, wo wir herkamen, war es trocken, nun, und hier ist es eben naß. Seht ihr denn nicht, wie dicht das Gras hier wächst, wie üppig das Laub ist?“ Und wirklich, es war so. Also zogen sie weiter, gebückt und durchnäßt und rochen nach feuchtem Fell. Und nach einiger Zeit hörten die Regen wieder auf.

Dann wurden die Tage allmählich kürzer. An jedem Tag seit dem Auszug aus dem Kokon war jeder Tag immer ein Stückchen länger gewesen als der vorherige; doch nun, man konnte es einfach nicht bezweifeln, sah man die Sonne an jedem Nachmittag ein wenig früher hinter den westlichen Horizont sinken.

„Vengiboneeza.?“ begann das Stammesvolk wieder zu brummen.

Und Koshmar nickte und wies gen Westen.

„Ich glaube, wir betreten ein Land der ewigen Nacht“, sagte Staip. Früher war er stets lustig gewesen, ein Mann, dem Zweifel und Schwarzseherei fremd waren. Nun war dies nicht mehr so. „Und ein dunkles Land, das wird ein kaltes Land sein“, sagte er.

„Ja, und ein totes Land“, sagte Konya, der nicht mehr lachte und sang. Während der letzten paar Wochen war er zu seiner vorherigen natürlichen Reserviertheit zurückgekehrt, ja sie hatte sich noch bedeutend verstärkt, so daß er nun nicht mehr bloß verschlossen und abweisend wirkte, sondern frostig und wie in irgendeinem schrecklichen Bezirk seiner Seele verirrt. „Nichts kann an einem solchen Ort überleben“, sagte er. „Wir sollten besser umkehren.“

„Wir müssen weiterziehen“, beharrte Koshmar. „Das, was jetzt geschieht, ist normal und naturgemäß. Wir sind an einen Ort gelangt, an dem die Dunkelheit stärker ist als das Licht. Wenn wir darüber hinaus sind, wird alles sich zum Besseren wenden.“

„Wirklich?“ fragte Staip.

„Habt Vertrauen“, sagte Koshmar. „Yissou wird uns beschützen. Emakkis wird uns ernähren. Dawinno wird uns leiten.“

Und so zogen sie weiter.

Doch in ihrem Innersten war die Anführerin gar nicht so gewiß, daß ihre Zuversicht berechtigt sei. Im Kokon waren Tage und Nächte stets gleich lang gewesen. Offenkundig war das hier draußen anders. Doch was bedeutete es tatsächlich, dieses Schwinden der hellen Tagesstunden? Vielleicht hatte Staip doch recht, und sie zogen in ein Reich, in dem die Sonne niemals aufging, und sie würden alle den Tod durch Erfrieren finden.

Sie wünschte sich sehr, Thaggoran wäre noch da, damit sie ihn um Rat fragen könne, denn er würde eine Erklärung gewußt haben — oder doch wenigstens irgend etwas Vertraueneinflößendes erfunden haben. Doch sie hatte jetzt keinen Thaggoran mehr, und der Alte Mann ihres Stammes war — ein Kind! Aber Koshmar ließ den Jungen trotzdem zu sich rufen und, achtsam bemüht, ihn nicht merken zu lassen, wie verwirrt sie sei, sprach sie zu ihm: „Ich muß einen sehr alten Namen finden, Chronist.“

„Und welcher Name wäre das?“

„Der Name, den die Uralten fanden für den Wechsel der Zeiten des Lichts und der Dunkelheit. Es muß da doch etwas in den Chroniken vermerkt sein. Und der Name ist der Gott; wir müssen diesen Gott bei seinem richtigen Namen anrufen, wenn wir beten, sonst wird das Licht der Sonne niemals wiederkehren.“

Hresh machte sich daran, die Archive zu durchstöbern. Er arbeitete das ganze Buch des Weges durch, das Buch der Stunden und der Tage, das Buch des Goldenen Erwachens, das Buch des Trügerischen Scheins, und manch anderen Band, darunter auch solche, die nicht einmal einen Titel hatten. Teilantworten fand er hier in dem oder jenem Buch und Bruchstücke in wieder einem anderen, und nach dreitägigem Forschen trat er wieder vor Koshmar hin und sprach: „Der Name lautet Jahreszeiten‘. Es gibt die Jahreszeit des vollen lichten Tags, auf welche folgt die Zeit der Dunkelheit, und nach dieser kommt die lichte Zeit wieder herauf.“

„Das ist ja einleuchtend“, sagte Koshrnar. „Die Jahreszeiten. Wie konnte ich nur dieses Wort vergessen?“ Und sie ließ Torlyri holen und trug ihr auf, zu dem Gott der Jahreszeiten zu beten.

„Und was für ein Gott ist das?“ fragte die sanftmütige Opferpriesterin.

„Ja, eben der Gott, der die Zeit des Lichtes und die Zeit der Dunkelheit schenkt“, sagte Koshmar.

Torlyri war unsicher. „Meinst du Friit? Aber Friit ist der Heiler. Also, der würde wohl Licht nach der Dunkelheit bringen.“

„Aber Friit würde nicht die Dunkelheit bringen“, sagte Koshmar. „Nein, es ist ein ganz anderer Gott.“

„Also, dann sage es mir, denn ich weiß wahrhaftig nicht, wem ich opfern soll.“

Koshmar hatte zwar gehofft, daß Torlyri da Bescheid wissen würde, aber nun erkannte sie, daß ihre Geliebte die Entscheidung von ihr erwartete. „Es ist Dawinno“, sagte sie ohne weiteres.

„Ja. Der Zerstörer“, sagte Torlyri und lächelte. „Die Finsternis und dann das Licht, ja, das wäre genau die Art von Dawinno. Er hält alles in Ausgewogenheit, damit es richtig werde — am Ende.“

Also ging von da an jeden Tag zur Mittagszeit, wenn die Sonne am höchsten am Firmament stand, Torlyri ans Werk und opferte Dawinno-dem-Vernichter in seiner Gestalt als Gott der Zeit des Jahres. Dabei verbrannte sie ein paar alte Fellflausen und ein Stück trockenes Moderholz in einer kostbaren alten Opferschale aus geschliffenem grünen Stein, der von Goldadern durchzogen war. Der zur Sonne aufsteigende Rauch enthielt ihre Botschaft an den Gott, dessen schwer begreifliche Feinheiten menschliches Begriffsvermögen überstiegen.

Obgleich die Tage immer kürzer wurden, ließ Koshmar keine weiteren Diskussionen über diese Erscheinung zu. „Das ist der Lauf der Jahreszeiten“, sagte sie und wedelte Einwände gebieterisch mit der Hand weg. „Das weiß doch ein jeder! Also, was wäre daran zum Fürchten? Jahreszeiten, die sind naturgegeben. Sie sind ein Geschenk Dawinnos an das Volk.“

„Ja“, brummte Harruel, nicht leise genug, daß Koshmar ihn nicht hören mußte. „Genau wie die Todessterne.“

Aber auch die Landschaft wandelte sich. Lange Zeit waren sie durch flaches Land gezogen; dann kamen Aufbrüche, die Gegenden wurden wild, voller brennend scharlachroter Felskämme, deren Oberkanten messerscharf waren. Und gleich jenseits davon stießen sie auf etwas Seltsames: etwas Totes aus Metall, doppelt so breit wie ein Mann, aber nur knapp halb so groß, das da ganz allein an einem kahlen felsigen Hang stand. Der Kopf war eine weitgeschwungene Kuppel mit einem Auge, die Beine höchst kunstvoll gestaltet. Früher einmal muß das Ding eine dichte schimmernde Metallhaut besessen haben, aber jetzt war es von den Regen unzähliger Jahre mit Rost und Korrosionsnarben übersät. „Es ist ein Mechanischer“, verkündete Hresh, nachdem er seine Bücher befragt hatte. „Hierher müssen sie gegangen sein, um zu sterben.“ Und wirklich, weiter drunten in den Niederungen stießen sie auf viele weitere derartige Objekte oder Geschöpfe, auf Hunderte, Tausende der untersetzten Metallwesen, auf ganze Plantagen von ihnen, die das Land in jeder Richtung bedeckten, wo sie aufrecht auf ihren kleinen einsamen Privatzonen ruhten, jeder in seinem kleinen abgeschlossenen Privatbereich. Und alle waren sie tot, und alle rosteten vor sich hin. Sie waren dermaßen zerfressen, daß sie bei der kleinsten Berührung sich auflösten und zu staubigen Rostwolken zusammenbrachen. „In den Tagen der Großen Welt“, erklärte Hresh feierlich, „lebten diese Wesen in den mächtigen großen Städten der großen Königreiche, wo alles und jeder eine Maschine war. Aber sie legten keinen Wert darauf weiterzuexistieren, als die Todessterne herabzustürzen begannen.“

„Was ist das, eine ‚Maschine‘?“ fragte Haniman.

„Eine Maschine“, erklärte Hresh, „ist eine Vorrichtung, die Arbeit erledigt. Ein Ding aus Metall, denkbefähigt und zweckorientiert und mit einer Art Leben ausgerüstet, das dem unsrigen nicht entspricht.“ Eine bessere Definition hatte er nicht gefunden. Aber das Stammesvolk nahm sie hin. Doch als dann ein anderer fragte, wieso es möglich sei, daß ein Etwas, das Leben besaß, selbst wenn es dem des Volkes unähnlich sein mochte, dieses Leben bereitwillig und widerspruchslos aufzugeben bereit sein konnte, als die Todessterne kamen, da wußte Hresh keine Antwort. Es überstieg nämlich sein Verständnis, wie man willig auf das Leben verzichten konnte.

Koshmar schlenderte suchend zwischen den Horden toter Mechanischer herum, weil sie hoffte, vielleicht auf einen zu stoßen, der möglicherweise noch genug Leben in sich hatte, um ihr sagen zu können, wie sie in die Stadt Vengiboneeza gelangen könnten, aber die blinden verrosteten Visagen höhnten ihr nur schweigend entgegen. Alle, allesamt waren sie so tot, daß eine Hoffnung, sie wieder zum Leben zu erwecken, unsinnig war.

Danach kamen sie durch eine scheußliche Sandwüste, die schlimmer war als alles, was der Stamm an Trockengegenden vordem überstanden hatte. Hier gab es überhaupt kein Wasser, nicht einmal ein Bächlein, kein Rinnsal. Wenn die Schwere eines Fußes auf ihn sank, zerriß und zerbröckelte der Erdboden. Nichts konnte hier grünen oder wachsen, nicht das winzigste Büschel Grashalme, und die einzigen Tiere waren flache, gelbe niedrige Wesen, die klingenscharfe Spuren hinter sich zurückließen, wenn sie durch den Sand glitten. Sie stachen Staip und Haniman, und denen schwollen schmerzhafte blaurote Beulen an den Beinen, die mehrere Tage lang nicht verschwanden. Sie stachen auch ein paar Tiere der Herde, die daran starben. Die Wanderer hatten mittlerweile nur noch sehr wenige ihrer Tiere übrig. Sie hatten die meisten von jenen, die sie mit sich aus dem Kokon geführt hatten, schlachten müssen, um die Leute zu ernähren, aber es waren auch einige weggelaufen und waren nun verloren, oder aber sie waren unterwegs von anderen Geschöpfen getötet worden. An diesem Ort der Trockenheit wurde dem Volk die Kehle versengt und die Augen sanken zurück in die Höhlen, und das Volk sagte unablässig immer wieder, wie dankbar und glücklich sie sein würden, wenn ihnen jetzt ein weniges von jenen Regen geschenkt wäre, die sie noch vor kurzer Zeit als derart beschwerlich empfunden hatten.

Dann aber ließen sie den Ort der Trockenheit hinter sich und kamen in ein grünendes Land, das von Seenketten und einem tückischen Fluß durchbrochen war, und sie überquerten es auf Flößen aus Leichtholz, deren Stämme sie mittels der Rindenhaut eines schmalen azurblauen Geschöpfes verbanden, das halb Schlange und halb Baum zu sein schien. Am ändern Ufer des Flusses lag eine Kette niedriger Hügel. An einem Tag, während sie die Bergkette überquerten, erhaschte die scharfsichtige Torlyri einen Blick auf einen riesigen Trupp Hjjk-Leute in der Ferne, ein ganzes gewaltiges südwärts marschierendes Heer. In dem trüben kupfernen Dämmerlicht wirkten sie nicht größer als Ameisen, als sie durch einen felsigen Engpaß zogen; aber es mußten Tausende sein, eine erschreckend hohe Zahl. Wenn sie Koshmars kleinen Trupp entdeckt hatten, so ließen sie sich jedoch nichts davon anmerken, und bald darauf war das Insektenvolk hinter den Bergfalten dem Blick entschwunden.

Die Tage wuchsen wieder und wurden länger. Die Luft wurde wärmer. Ab und zu fegten frische winterliche Luftströme von Norden herab, doch sie wurden immer seltener. Keiner vermochte mehr daran zu zweifeln, daß der tödliche Griff, in dem der Winter die Welt gefangen gehalten hatte, sich lockerte, sich gelöst hatte und bedeutungslos geworden war. Irgendwo auf der Welt war es noch Winter, aber das Land, das sie durchzogen, war ein Frühlingsland, und je weiter westlich sie kamen, desto milder wurde die Witterung. Koshmar fühlte sich bestätigt. Der Gott der Jahreszeiten blickte huldvoll auf sie.

Wo aber lag das gewaltige Vengiboneeza? Der Chronik zufolge lag die ehemalige Hauptstadt der Saphiräugigen an dem Ort, wo die Sonne sich zur Ruhe begibt, aber wo war das? Im Westen, gewiß. Aber Westen, das war ein riesig weites Land, das sich immer weiter und weiter erstreckte ohne Ende. An jedem Abend war der Stamm um viele müdemachende Meilen weiter westwärts gewandert, und jedesmal wenn die Sonne hinter dem Rand der Welt verschwand, wenn der Tag erlosch, zeigte es sich deutlich, daß sie trotz allen Marschierens diesem Platz nicht nähergekommen waren.

„Forsche erneut in den Büchern“, befahl Koshmar in ihrer Verzweiflung dem Knaben Hresh. „Es gibt bestimmt eine Stelle in den Büchern, die du übersehen hast und die uns sagt, wie wir nach Vengiboneeza gelangen können.“

Und er ließ die Hände wieder und immer wieder über die Seiten gleiten. Er forschte in den verstaubtesten, urältesten Bänden, in denen nur von der Großen Welt berichtet wurde. Doch da war nichts zu finden. Vielleicht suchte er an den falschen Stellen. Oder vielleicht hatten die Verfasser der Chroniken es nicht für nötig befunden, den Ort dieser großen Stadt anzugeben, da sie derart berühmt gewesen war. Oder aber die Information war einfach verlorengegangen. Außerdem waren diese ältesten Chroniken auch gar nicht die Originaltexte, soviel wußte er. Denn diese waren schon vor Hunderten von Tausenden von Jahren zu Staub zerfallen; seine Bücher waren die Abschriften von Abschriften der Abschriften, die während der langen Nacht im Kokon von Generationen von Chronisten nach den zerfallenden früheren Textversionen angefertigt worden waren; und wer wollte wissen, wieviel dabei durch Fehlerhaftigkeit verändert oder ganz fortgelassen worden war, bei diesem unablässigen Niederschreiben neuer Kopien? Manche Inhalte konnte er sowieso unmöglich begreifen, und was da stand, selbst wenn es oft ganz klar war, erschien ihm in einer trügerischen gespenstischen Schärfe fast wie in einem Traum, wo alles ordentlich und logisch zu sein scheint, während doch in Wirklichkeit nichts einen Sinn ergibt.

Also überlegte Hresh, ob es nicht an der Zeit sei, den Barak Dayir zu befragen. Doch er schreckte noch davor zurück. Nie zuvor hatte er sich vor etwas gefürchtet, nicht einmal damals, als er sich aus dem Kokon zu stehlen versucht hatte. Nein, das war gelogen. Er hatte sich damals doch davor gefürchtet, daß Koshmar ihn töten lassen könnte; vor dem Tod hatte er Angst, das wollte er gar nicht abstreiten. Aber der Tod war die einzige Frage, die ihre eigene Antwort bereits enthielt und umfaßte, und wenn man diese Frage stellte und damit die Antwort hatte, dann war man dahin und ein Nichts. Darum war dies die einzige Antwort, die er fürchtete. Und die Frage, wie man den Wunderstein benutzen sollte, konnte leicht die gleiche sein wie die Erkenntnis des Todes; und wenn er sich nicht angemessen schützte, mochte die Antwort gleichfalls die gleiche sein. Darum ließ er den Barak Dayir unberührt in dem Samtbeutel.

„Sag mir, wie wir nach Vengiboneeza gelangen!“ befahl Koshmar erneut.

„Ich forsche weiter“, antwortete Hresh. „Laß mir noch einige Tage Zeit, dann will ich dir sagen, was du zu wissen begehrst.“

Harruel trat zu Hresh, während dieser in den Schriften suchte. Er ragte turmhoch auf wie stets und sprach: „Alter Mann! Chronist!“

Erschrocken blickte Hresh auf. Unbewußt zog er das Buch von Harruel fort und bedeckte es mit der Hand. Als ob Harruel fähig sein könnte, darin zu lesen!

„Setz dich nieder, wenn du mit mir reden willst“, sagte Hresh. „Du bist zu weit weg, und mir tut der Hals weh, wenn ich versuche zu dir hinauf zuschauen.“

Harruel lachte. „Du bist ganz schön keck!“

„Was möchtest du von mir wissen?“

Wieder lachte Harruel. Es war ein rauhes Lachen, und es polterte aus ihm heraus mit dem Geräusch, das Steine machen, die einen Berghang hinunterrollen, aber seinen Augen zwinkerten, und blitzten dabei. Und Hresh wußte, daß er da ein verrücktes Spiel trieb, wenn nicht gar ein gefährliches. Ein noch nicht ganz neun Jahre alter Knabe erteilte dem stärksten Mann des Stammes Befehle: Wie sollte Harruel darüber nicht lachen müssen, wenn er ihn nicht statt dessen wütend in die Landschaft schleudern wollte? Aber ich bin der Stammeschronist, dachte Hresh trotzig. Ich bin der Alte Mann. Und er ist nur ein einfältiges Muskelpaket.

Der Krieger kniete an seiner Seite nieder und beugte sich nahe zu ihm, zu nahe, als daß Hresh sich dabei wohl gefühlt hätte. Es ging nämlich von Harruel ein scharfer stechender Geruch aus, und allein seine mächtige Masse von Leib wirkte beunruhigend.

Mit gedämpfter Stimme sagte Harruel: „Ich brauche dein Wissen.“

„Sprich!“

„Sag mir Kunde über das Ding, das Königtum heißt.“

„Königtum?“ wiederholte Hresh. Das war ein sehr altes Wort, und es war ihm zeit seines Lebens nie laut begegnet. Seltsam, es nun von Harruels Lippen zu hören.

„Du hast Kunde über das Königtum?“

„Einige“, gab Harruel zurück. „Ich erinnere mich, daß Thaggoran einmal davon sprach, als er aus den Schriften las. Du warst damals ein Säugling. Er sprach vom Herrn Fanigole und der Herrin Theel und Belilirion, und von den anderen Begründern des Volkes, damals in der Zeit, als die Todessterne kamen. Sie waren allesamt Männer, alle außer der Herrin Theel, und sie herrschten. Und ich fragte Thaggoran, ob es in den alten Zeiten oft so war, daß die Männer herrschten. An jenem Tag sagte Thaggoran, daß es in der Zeit der Großen Welt viele Könige gegeben habe, die Männer waren, und nicht nur unter den Menschlichen — auch die Saphiräugigen hatten Könige, sagte Thaggoran —, und er sagte zu mir, wenn der König sprach, dann gehorchte man seinen Worten.“

„Genau wie den Worten des Stammesführers heute.“

„Genau wie denen des Stammesführers, ja“, sagte Harruel.

„Dann weißt du ja bereits, was Königtum ist“, sagte Hresh. „Was kann ich dir mehr darüber sagen?“

„Sag mir, daß es dieses Ding wirklich gab.“

„Daß es in der Großen Welt Männer gab, die Könige waren?“ Hresh zuckte die Achseln. Er hatte sich damit nicht weiter befaßt. Aber auch wenn er es getan hätte, er bezweifelte doch, daß es recht wäre, Harruel oder irgend sonst einem, außer Koshmar, darüber etwas kundzutun. Die Chroniken existierten hauptsächlich zum Zwecke der Erleuchtung und Leitung des Stammesführers, nicht aber zur Belustigung des Volkes. „Ich weiß wenig über Königtum“, sagte er deshalb. „Was du sagtest, ist wohl schon das Wesentliche dabei.“

„Aber du könntest mehr darüber herausfinden, nicht wahr?“

„Vielleicht steht mehr in den Schriften“, sagte Hresh zögernd.

„Dann suche es hervor und berichte mir davon. Denn mir will scheinen, daß Königtum etwas ist, das nicht hätte in Vergessenheit geraten dürfen. Die Große Welt wird erneut erstehen; also müssen wir wissen, wie es in den Tagen der Großen Welt zuging, wenn wir sie ein zweites Mal zum Leben erwecken wollen. Forsche du in deinen Büchern, Knabe. Verschaff dir Kunde über die Könige und berichte mir darüber.“

„Du sollst mich nicht ‚Knabe‘ nennen“, sagte Hresh.

Wieder lachte Harruel, aber diesmal blitzten seine Augen nicht.

„Forsche in den Büchern darüber nach“, sagte er. „Und belehre mich in diesem, was du herausfindest — Alter Mann und Chronist.“

Er ging davon. Hresh blickte ihm furchtsam nach. Er bedachte bei sich, daß die Sache höchstwahrscheinlich Ärger bringen werde, und möglicherweise Gefahr. Beunruhigt betastete er das Amulett Thaggorans. An diesem Tag begann er in der Lade der Bücher nach der Bedeutung des Königtums zu suchen, und was er dabei fand, bestätigte seine Vermutungen.

Vielleicht sollte ich Koshmar davon berichten, dachte er.

Doch er tat es dann doch nicht; ebenso wenig wie er auch nur das geringste Stückchen Information, das er aus seinem Forschen gewann, an Harruel weitergab. Und dieser wiederholte zu der Zeit und im weiteren auch seine Fragen in diesem Bereich nicht mehr. Das Gespräch blieb eine persönliche Angelegenheit zwischen ihnen beiden; ein schwärendes Geheimnis.

Koshmar spürte die Niederlage auf sich zukommen. Wäre doch nur Thaggoran noch da, um sie zu leiten! Doch Thaggoran war dahin, und ihr Chronist war ein Kind. Sicher, Hresh war hurtig und voll Eifer und Willigkeit, doch es mangelte ihm an Thaggorans tiefer Weisheit und an dem Wissen über alle die Zeitalter, die vergangen waren, an der Vertrautheit mit ihnen.

Allmählich mußte sie sich der Wahrheit stellen: Sie konnte nicht hoffen, daß es ihr gelingen werde, das Volk noch länger zum Weiterziehen zu bewegen. Das Murren hatte wieder begonnen, und diesmal war es hitziger und aufsässiger. Es gab, wie sie wußte, bereits Leute, die sagten, man zöge ziellos und sinnlos dahin. Harruel hatte sich zum Anführer dieser Gruppe aufgeschwungen. Laßt uns doch an einem guten, fruchtbaren Ort siedeln und uns dort ein Dorf errichten — so redete er hinter Koshmars Rücken. Torlyri hatte ihn gehört, wie er vier, fünf andere Männer mit derlei Gewäsch bedachte. Im Kokon wäre es unvorstellbar gewesen, daß das Stammesvolk auch nur auf die Idee hätte kommen können, dem Wort und Geheiß des Führers zu widersprechen, aber sie waren eben nicht mehr im Kokon. Koshmar sah allmählich bereits das Schreckensbild vor sich: Sie, ihrer Macht entblößt — nicht mehr Retterin und Heilsbringerin einer wiedergeborenen Welt, sondern nichts weiter als ein abgesetzter Häuptling.

Und wenn man sie absetzte, würde man sie überhaupt am Leben lassen? Lauter vollkommen neue Vorstellungen für Koshmar. Es gab keine Überlieferung über die Absetzung von Häuptlingen und ihre Geschicke nach ihrer Entmachtung.

Koshmar hatte im Kokon die Platte aus schimmerndem schwarzen Stein zurückgelassen, in dem die Seelen der Stammesführer wohnten, die vor ihr gewesen waren. Sie hatte nichts weiter mit sich genommen als deren Namen; und diese sprach sie immer und immer wieder vor sich hin; aber vielleicht besaßen die Namen keine Kraft mehr, ohne den Stein, genau wie der Stein stumm und ohne Stärke war ohne die Namen.

Thekmur, dachte sie. Nialli. Sismoil. Lirridon. Wenn ihr noch immer bei mir seid — so führt mich jetzt!

Aber die dahingegangenen Führer zeigten sich ihr nicht. Koshmar wandte sich an Hresh um Rat. Ihm gegenüber — und er war der einzige, bei dem sie dies tat — hatte sie es aufgegeben, so zu tun, als folge sie einem klaren Befehl und Auftrag der Götter.

„Was können wir tun?“ fragte sie.

„Wir müssen einfach um Hilfe bitten“, antwortete der Knabe.

„Wen?“

„Ja, natürlich die Geschöpfe, denen wir unterwegs begegnen.“

Koshmar hielt nicht viel davon. Aber alles war immerhin einen Versuch wert. Und so ließ sie von dem Tag an jedes Lebewesen, das irgendwie über Denkvermögen verfügte, und sei es ein noch so einfaches, ergreifen, und dann beruhigte sie es, bis es still wurde, und dann bemühte sie sich mittels des Zweiten Gesichts und des Sensororgans, mit dem Geschöpf in Kontakt zu gelangen und von ihm das zu erfahren, was sie wissen mußte.

Das erste dieser Geschöpfe war ein komisches rundliches Fleischding, ohne Leib, nur ein Kopf mit einem Dutzend feister Beinchen. Lebhafte Erregungswellen durchströmten das Ding, als Koshmar sein Hirn nach Bildern von Vengiboneeza auslotete, doch mehr als dieses Gekräusel trat dabei nicht zutage. Von einem Trio ungeschlachter stelbeiniger, blauer Fellwesen, die anscheinend nur ein gemeinsames Gehirn besaßen, erhielt man bei der Befragung über Städte im Westen ein Gedankenmuster, das aus heftigem Schnauben und Brummen zusammengesetzt war. Und ein scheußliches Waldgeschöpf mit Hakenkrallen, doppelt so groß wie ein Mann, nur großes Maul und vorspringende Nase und übelriechendes orangerotes Haar, lieferte ein wildes rauhes Gelächter und das blitzhafte Abbild von erhabenen Türmen, die von erstickenden Schlingpflanzen überwuchert waren.

„Das bringt uns nicht weiter“, sagte der Häuptling zu Hresh.

„Aber wie interessant diese Tiere sind, Koshmar!“

„Interessant! Wir sterben hier vielleicht hundertmal in dieser Wildnis, und du würdest das bestimmt ebenfalls interessant finden, wie?“

Dessenungeachtet trug sie Hresh auf, allen diesen Geschöpfen Namen zu geben, ehe sie wieder in Freiheit gesetzt wurden, und er mußte diese Namen in sein Buch niederschreiben. Koshmar war überzeugt, daß die Benennung mit Namen für die Dinge der Welt wichtig sei. Denn, so meinte sie, dies mußten samt und sonders ganz neue Geschöpfe sein, Tiere, die erst nach dem Untergang der Großen Welt zu leben begannen, weswegen ja wohl auch in den Chroniken nichts über sie zu lesen stehe. Und indem man ihnen Namen gebe, gewinne man mehr und mehr Macht über sie, dachte sie. Noch immer klammerte sie sich nämlich an die Hoffnung, daß sie — und durch sie, ihr Volk — Beherrscher dieser Welt des Neuen Frühlings werden könnten. Und darum die Benennung mit Namen. Doch auch als Hresh die Namen sagte, empfand sie jedesmal nach langem Nachdenken die Sinnlosigkeit eines solchen Tuns. Sie wanderten als Verirrte in diesem Land umher. Und es gab kein Ziel für sie und keinen, der sie leitete und lenkte.

Koshmars Herz wurde von tiefster Niedergedrücktheit erfüllt.

Und dann, als das Volk am Rande eines gewaltigen schwarzen Sees im Kern eines feuchten Sumpflandes entlangzog, wallten die schwarzen Wasser auf und kochten heftig, und aus den Tiefen begann langsam ein absonderlicher Koloß sich zu erheben: ein Ding von enormer Höhe, aber so zerbrechlich zusammengefügt, daß es der nächste Windstoß zerschmettern mußte — bleiche Gliedmaßen, die nicht mehr waren als dünne Streben, ein Leib, der nur aus einer unendlich langgestreckten häutchenbedeckten Röhre zu bestehen schien.

Als das Ding sich immer höher und höher hinaufreckte, bis es fast das ganze Firmament vor ihnen verdeckte, warf Koshmar die Arme über ihr Gesicht vor Bestürzung, und Harruel stieß ein röhrendes Brüllen aus und schwang seinen Speer, und einige der furchtsameren Stammesmitglieder ergriffen die Flucht.

Aber Hresh hielt stand und rief laut: „Dies muß einer vom Volk der Wasserwanderer sein. Es ist ungefährlich, glaube ich.“

Höher und höher türmte sich das Ding und stieß aus dem See empor bis zu einer Höhe, die zehn- oder fünfzehnmal größer war als der längste Mann. Dort hielt das Geschöpf inne, schwebte über ihnen, hielt sich mit weitgespreizten Beinen im Gleichgewicht auf der oberen Seite des Wassers, auf dem es kaum eine Störung zu bewirken schien. Aus einer reihenartig angeordneten Zahl starrer strahlender grüngoldener Augen spähte es zum Volk herunter und nahm es irgendwie betrübt und mißmutig in Augenschein.

„Du da! Du Wasserläufer!“ brüllte Hresh hinauf. „Sag uns, wie wir die Stadt der Saphiräugigen finden können!“

Und erstaunlicherweise gab das gewaltige Geschöpf sogleich in der wortlosen Rede der Gedanken Antwort und sprach: „Ach, das ist nicht weit, nur zwei Seen und einen Fluß weiter drüben, Richtung Sonnenuntergang. Aber das weiß doch schließlich jeder! Bloß, was habt ihr davon, wenn ihr dort hingeht?“ Der Wasserschreiter lachte, scheußlich scheppernd, schrill und hysterisch und begann sich Stück um Stück zusammenzufalten und wieder in den See zu tauchen. „Was habt ihr? Was? Habt? Ihr? Davon? Heh?“ Und dann noch einmal das Gelächter, und dann verschwand das Ding im schwarzen Wasser.

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