10. Kapitel Fluß und Abgrund

Koshmar sprach: „Also soll es Lakkamai für dich sein, ja?“ Es war der dritte Tag nach dem Ende der Regenzeit. Koshmar und Torlyri waren bei Einbruch der Nacht allein in dem Haus, das sie gemeinsam bewohnten. Es war nach dem Mahl, zu dem sich der ganze Stamm zur Feier des Mitwinterfestes des Ernährers versammelt hatte — alle, außer dem immer noch geheimnisvoll abwesenden Sachkor, nach dem inzwischen Tag um Tag Suchtrupps ausgeschickt wurden.

Torlyri, die sich bequem ausgestreckt hatte, setzte sich hastig auf. Noch nie hatte Koshmar einen derartigen Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen: Furcht und eine irgendwie schafsdümmliche Schuldbewußtheit, etwas, das kecker Herausforderung ziemlich nahe kam, alles vermischt und gleichzeitig.

„Du weißt es also?“

Koshmar lachte rauh. „Wer wüßte es nicht? Hältst du mich für ein Kind, Torlyri? Nachdem ihr zwei euch seit Wochen in jedem Winkel der Siedlung geradezu mit den Augen verschlungen habt — nachdem du mit jedem dritten Satz, den du anfängst, Lakkamais Namen sagst, während du früher ein ganzes Jahr und noch ein halbes dazu verstreichen lassen konntest, ohne je einen Anlaß zu finden, von ihm zu reden.“

Torlyri senkte beschämt den Blick. „Und — du bist zornig auf mich, Koshmar?“

„Hat sich das so angehört? Als wäre ich wütend darüber, daß du glücklich bist?“ Doch in Wirklichkeit war Koshmar viel tiefer beunruhigt, als sie selbst dies je für möglich gehalten hätte. Seit geraumer Zeit wußte sie nun schon, daß so etwas geschehen werde, und sie hatte sich selbst immer vorgeredet, daß sie dann stark sein würde, wenn es einmal eintraf. Doch jetzt, wo es so gekommen war, bedrückte es ihr Herz wie eine schwere Last. Nach einer Weile sagte sie: „Du hast bereits mit ihm kopuliert, nicht wahr?“

Torlyris „Ja“ war kaum vernehmbar.

„Früher einmal, als wir noch Mädchen waren, vor langer Zeit, hast du das getan. Mit Samnibolon, wenn ich mich recht erinnere. Minbains Samnibolon, stimmt’s?“

Torlyri nickte. „Ja, und noch ein, zwei anderen. Aber ich war damals noch sehr jung. Und es ist so unendlich lang her.“

„Und es bereitet dir Vergnügen?“

„Jetzt, ja“, sagte Torlyri leise. „Damals, früher, da empfand ich nichts dabei. Jetzt, sehr.“ „Großes Vergnügen?“

„Manchmal“, sagte Torlyri mit rauher, schuldbewußter Stimme.

„Das freut mich ungemein für dich.“ Koshmar klang schrill und gezwungen. „Du weißt ja, daß ich in der Kopulation nie etwas gefunden habe. Aber angeblich bringt es einem ja was, sagt man.“

„Vielleicht muß man es mit der richtigen Person tun.“

Koshmar schnaubte durch die Nase. „Für mich gibt es dafür keine richtige Person, und das weißt du genau! Wenn du ein Mann wärst, Torlyri, würde ich nur allzu gern mit dir kopulieren. glaube ich. Aber wir haben ja unser Tvinnr, du und ich. Das haben wir, und mir genügt es. Ein Stammeshäuptling braucht nicht zu kopulieren.“

Ebenso wenig wie die Opferpriesterin, fügte Koshmar stumm hinzu.

Sie wandte den Blick ab, damit Torlyri ihr nicht den Gedanken aus den Augen ablesen könne. Sie hatte geschworen, Torlyri in nichts zu behindern, wie schmerzlich dies auch für sie selbst werden mochte.

Torlyri sagte: „Da du gerade von Tvinnr sprachst.“

„Ja, sprich auch du mir von Tvinnr, Torlyri! Wann immer es dich danach gelüstet!“ Vor plötzlichem Eifer begann sie rascher zu atmen. Je stärker die Bindung Torlyris an Lakkamai wurde, desto heftiger verlangte es Koshmar nach Zeichen der Zuneigung zu ihr. „Willst du — jetzt? Jetzt gleich? Aber gern. Komm!“

Torlyri verzog überrascht und möglicherweise nicht gerade erfreut das Gesicht. „Wenn du es wünschst, sicher, Koshmar. Aber das war es eigentlich nicht, was ich habe sagen wollen.“

„Ach?“

„Ich wollte dir gerade sagen, daß es an der Zeit für Hreshs Tvinnr-Tag ist. Wenn ich ihn von seinen Maschinen und seinem Wunderstein lang genug weglocken kann, muß ich ihn jetzt bald wegführen, damit er eingeweiht werde.“

„Schon so weit“, sagte Koshmar kopfschüttelnd. „Hresh hat schon seinen Tvinnr-Tag?“

Es war eine der Aufgaben der Opferfrau, die jungen Leute im Stamm in die Geheimnisse des Tvinnr einzuführen, und Torlyri hatte das Ritual stets mit höchster liebevoller Behutsamkeit vollzogen. Koshmar hatte nie etwas gegen all diese Tvinnr-Akte mit anderen gehabt, obwohl diese ja viel stärker intim waren als eine Kopulation. Die Einweihung war Torlyris von den Göttern ihr auferlegte Pflicht. Wenn das alles irgendeinen Sinn haben sollte, dachte Koshmar, dann sollte ich mir mehr Sorgen darüber machen, daß sie mit Hresh tvinnern wird, als über ihre Kopulation mit Lakkamai. Und dennoch ist es genau umgekehrt. Die Tvinnr-Akte Torlyris mit dem Jungvolk stellten für Koshmar keine Bedrohung dar. Aber die Kopulation mit Lakkamai — die Kopulation — mit Lakkamai.

Ach, Kopulation ist ein Nichts, dachte sie ärgerlich.

Sie warf sich Mangel an Logik vor. Und dann sagte sie sich, daß der ganze Komplex weit über alle Logik hinausreiche. Es gibt eine Logik des Herzens, redete sie sich zu, von der die Vernunft sich nichts träumen läßt.

„Taniane hatte ihr erstes Tvinnr, Orbin auch schon, und nun ist Hresh an der Reihe“, sagte Torlyri. „Und danach kommt Haniman.“

„Wie rasch die Zeit verstreicht. Manchmal sehe ich ihn noch immer als den kleinen Frechdachs, der sich an dir vorbei aus der Schleuse stehlen wollte, damals als die Eisfresser kamen und der Träumeträumer erwachte. Dieser bemerkenswerte Tag scheint mir jetzt so schrecklich weit zurückzuliegen. Ebenso wie Hreshs Kindheit.“

„Alles war so seltsam“, sagte Torlyri. „Etwa, daß der Alte Mann des Stammes noch nicht einmal Ht genug sein sollte zum Tvinnern.“

„Glaubst du, es wird ihn verändern, wenn er mal damit anfängt?“

„Ihn verändern? Wieso denn das?“

„Wir sind so stark von ihm abhängig“, sagte Koshmar. „In seinem merkwürdigen kleinen Kopf steckt so viel Wissen. Aber Kinder verändern sich manchmal, sobald sie erst einmal mit dem Tvinnr beginnen. Hast du das denn vergessen, Torlyri? Und Hresh ist ja wirklich noch ein rechtes Kind. Das dürfen wir nämlich niemals vergessen. Sobald er einen Tvinnr-Partner gefunden hat, könnte es geschehen, daß er sich für viele Monate ganz und gar dem Tvinnr hingibt und darin völlig aufgeht, und was geschähe dann mit der Erforschung von Vengiboneeza? Es wäre durchaus möglich, daß Hresh sogar schon Interesse an Kopulation zeigte.“

Mit einem Achselzucken sagte Torlyri: „Na und? Wenn schon! Was wäre denn daran so schlimm?“

„Er hat Verantwortung, Torlyri.“

„Er ist ein Junge, der auf dem Sprung steht, Mann zu werden. Beabsichtigst du etwa, ihm seine Jugend zu verweigern? Soll er doch tvinnern, soviel es ihm Spaß macht. Und soll er doch kopulieren, wenn es das ist, was er möchte. Von mir aus soll er doch sogar kopulieren und Kinder zeugen!“

„Kinder zeugen? Der Stammeschronist soll eine Partnerin nehmen und Kinder zeugen?“

„Koshmar, wir leben im Neuen Frühling. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, ihn durch veraltete Bräuche in Fesseln zu legen.“

„Aber der Alte Mann des Stammes soll keine Familie gründen“, sagte Koshmar störrisch. „Genauso wenig wie der Häuptling oder die Opferfrau. Tvinnr-Beziehungen, das ja. Kopulieren, sofern einer danach Verlangen hat, ja. Aber einen ehelichen Partner nehmen? Wie könnte dies geschehen? Wir sind von den Göttern Erwählte, und damit sind wir abgesondert von den anderen und ihnen enthoben.“ Koshmar schüttelte den Kopf. „Aber wir sind abgeschweift. Wann hattest du vor, Hresh zu initiieren?“

„In zwei Tagen, oder in dreien. Falls er keine zuwiderlaufenden anderen Pflichten hat.“

„Gut“, sagte Koshmar. „Dann erledige es, so rasch wie möglich. Aber sag mir Bescheid. Und danach müssen wir ihn im Auge behalten und aufpassen, daß er sich nicht verändert.“

Lächelnd sagte Torlyri: „Ich bin sicher, er wird hinterher kein anderer sein. Vergiß nicht, er besitzt den Barak Dayir, Koshmar. Was könnte die Tvinnr-Einweihung ihm bringen, was der Wunderstein ihm nicht längst fünfzigfach tiefer geschenkt hat?“

„Vielleicht. Ja, vielleicht.“

Das Schweigen lastete lange und war schon unbehaglich.

„Koshmar?“ sagte Torlyri schließlich.

„Ja?“

Torlyri zögerte. „Möchtest du jetzt noch — tvinnern?“

„Aber selbstverständlich“, sagte Koshmar. Auf einmal wieder weicher gestimmt und eifrig.

„Bevor wir anfangen, noch eine Frage.“

„Sprich!“

„Du sagtest, die Opferfrau sollte keinen Ehemann haben.“

Koshmars Blick wurde starr. Ihr war nicht bewußt gewesen, daß die Lage dermaßen ernst sei.

„Das ist nie der Brauch gewesen“, sagte sie kühl. „Weder der Stammesführer, noch der Alte Mann, noch die Opferpriesterin. Kopulieren, das ja. Tvinnr — selbstverständlich. Aber eine Ehepartnerschaft mit Kindern. niemals! Wir sind besondere Leute!“

„Ja. Schon gut, das weiß ich ja.“

Und wieder trat Schweigen ein. Ein häßliches diesmal.

Schließlich sagte Koshmar: „Erbittest du die Erlaubnis, Lakkamai als deinen festen Zeugungspartner zu nehmen, Torlyri?“

„Wir würden gern feste Ehepartner werden, ja“, antwortete Torlyri ausweichend.

„Und du bittest mich um die Einwilligung.“

Torlyri schaute sie mit festem Blick an. „Wir leben im Neuen Frühling, Koshmar.“

„Willst du damit sagen, daß ihr meine Zustimmung überhaupt nicht mehr braucht? Sag, was du denkst, Torlyri! Sprich aus, was in deiner Seele ist!“

„Ich habe nie zuvor derartige Gefühle gehabt.“

„Das ist zweifellos richtig“, erwiderte Koshmar scharf.

„Aber was soll ich denn tun, Koshmar?“

„Deine Pflichten und Aufgaben gegenüber den Göttern und dem Volk erfüllen“, sagte Koshmar. „Führe Hresh weg und weihe ihn ein! Vollzieh deine täglichen Opferrituale! Spende denen um dich von deiner Güte, wie du dies stets getan hast!“

„Und — Lakkamai?“

„Mit Lakkamai verfahre so, wie du es wünschst.“

Und zum drittenmal versank Torlyri in Schweigen. Koshmar ließ es gewähren, und es dauerte und dauerte.

Schließlich fragte Torlyri: „Möchtest du vielleicht jetzt, Koshmar?“

„An einem anderen Tag“, sagte Koshmar. „Um die Wahrheit zu gestehen, ich fühle mich heute abend sehr erschöpft, und ich glaube, es würde kein gutes Tvinnr werden.“ Damit wandte sie sich ab. Dann sagte sie noch bedrückt: „Ich wünsche für dich nur Freude, Torlyri. Du verstehst das doch? Ich wünsche nichts anderes, als daß du glücklich bist.“

Inzwischen machte Hresh sich mehr und mehr allein in die Ruinen auf, als wolle er Koshmar zu einem Verbot herausfordern; doch die schien sich darum nicht zu kümmern, ja vielleicht bemerkte sie es gar nicht. Meistens war sein Ziel die Große Welt. Diese plumpe Maschine mit den vielen Hebeln und Knöpfen im Kellergewölbe unter dem Platz der Sechsunddreißig Türme übte auf ihn eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus.

Inzwischen wußte er, daß der steinerne Schwebeblock, der ihn nach unten trug, automatisch nach einer gewissen Zeitspanne aus der Kellerhöhle wieder aufwärts fuhr; also hatte er nun Haniman oder sonst jemanden nicht länger nötig, um den Abwärtsmechanismus in Gang zu setzen. Und wenn es da irgendwelche Gefahren gab, so war er gern bereit, sich auf sie einzulassen, wenn er dabei nur verhindern konnte, daß andere an seinen Reisen in die ferne Vergangenheit teilnahmen. Die Große Welt, das war seine ganz persönliche Schatzhöhle, und er wollte in ihr herumstöbern, wie es ihm gerade gefiel.

Die Prozedur war jedesmal dieselbe. Man aktivierte den schwarzen Steinquader; man stieg zu der Maschine hinab; man ergriff den Barak Dayir mit dem Sensororgan; man faßte an die Hebel. und die Große Welt erwachte blitzschnell, greifbar nahe, lebendig und bestürzend zum Leben.

Er trat niemals zweimal zum gleichen Zeitpunkt in diese Welt ein. Die äußere Struktur der Stadt schien jedesmal anders zu sein. Es war, als habe diese Maschine die lange Geschichtsdauer des sagenhaften Vengiboneeza in sich gespeichert, diese ganzen hundertmal tausend Jahre des Wachstums und der Verwandlungen, und als böte sie ihm willkürlich beliebige Vergangenheitsschnipsel. manchmal aus dem Früh-Vengiboneeza, das noch in den Anfängen der prachtvollen Entfaltung steckte, manchmal aber war es auch eine Variante der Stadt, die zweifellos aus den allerletzten Jahren datierte, denn, so ähnlich war die Struktur dem Aufrißplan der Ruinenstadt.

Es gab keinen drastischeren Beweis für die lebensstrotzende Dynamik, von der das alte Vengiboneeza beherrscht gewesen sein mußte, als diesen beständigen Wandel, der Hresh hier vor Augen geführt wurde. Selten einmal stieß er auf ihm vertraute Orientierungspunkte und Landmarken — die Hafenboulevards, die sechsunddreißig Türme der Plaza, den Turm, den sein Volk zum Tempel gemacht hatte, die Villenviertel an den Berghängen. Manchmal waren diese Bezugspunkte vorhanden, ein andermal wieder fehlten sie. Die flache, wuchtige, drohende Zitadelle blieb als einziger Ort unveränderlich und unerschütterlich sie selbst, wann immer Hreshs Seele sich über den Abgrund der Äonen zurück in die Vergangenheit schwebte.

Einmal verlor er sich in einer Zeit, in der entlang den Straßen in den tieferliegenden Stadtteilen hohe weiße Palisaden wie Reihen von Speeren errichtet waren und die Stadt voll von Seeherren war, die in Scharen in ihren schimmernden Silberkaleschen vom Uferkai heraufparadierten. Ein andermal wirbelten droben Paniere aus einer unerklärlichen Energie in knisterndem Wirrwarr buntfarbiger Lichter, und eine gewaltige Pilgerschar von Hjjk-Leuten wand sich in den Berg hinab, unzählbare Millionen von ihnen, die hintereinander sich in die Stadt fädelten, die sie in sich aufnahm, als sei ihre Kapazität unermeßlich und unbegrenzt. Oder es zeigte sich Hresh ein Aufzug einer Schar von Menschen — widerwillig gestand er ihnen jetzt diesen Status zu, da er kaum anders konnte, obschon er noch immer verzweifelt hoffte, bei der Auswertung seiner Entdeckungen einer Fehlinterpretation aufgesessen zu sein —, fünfzig, sechzig an Zahl von diesen haarlosen, dünngliedrigen Geschöpfen, die sich dann auf einem weiten Platz der Stadt dicht unterhalb der Zitadelle niederließen. Dort tauschten sie dann stumm ihre Gedanken aus, und er war von dieser Kommunikation völlig ausgeschlossen, so sehr er sich auch bemühte, ihr Geheimnis zu enträtseln.

Doch überwiegend war Vengiboneeza eine Stadt der Saphiräugigen. Sie beherrschten sie. Auf jeweils zehn Angehörige der anderen Rassen, die Hresh erblickte, kamen mindestens hundert von diesen Reptilischen, wenn nicht tausend. Er sah sie, wohin immer er blickte: dickschenkelig, mit langen Kinnbacken, monströs von Körpergestalt, mit funkelnden Augen, Kraft und Weisheit und selbstsichere Gelassenheit ausstrahlend.

Es war für Hresh weiter nicht schwer, in ein Gespräch mit den Wesen zu kommen, denen er in Vengiboneeza begegnete, selbst mit den Meeresherren, selbst mit den Menschen. Jedermann verstand ihn, und jedermann war ausnahmslos höflich. Doch mehr und mehr zwang sich ihm die Erkenntnis auf, daß es sich dabei nicht um reale, wirkliche Unterhaltungen handle. Vielmehr waren es nette Phantasmagorien, Illusionen, die der Apparat erzeugte, der sein Tor in die Vergangenheit war. Er selbst war nicht wirklich dort in der Großen Welt, die vor siebenmal hunderttausend Jahren unter dem Niedersturz der Todessterne gestorben war, sondern war vielmehr nur in irgendeine Projektion verstrickt, ein Faksimile, einen Abklatsch, der zwar höchst lebensecht wirkte, es jedoch nicht war, und der ihn in sich hineinsaugte, als wäre er, Hresh, wirklich auf einer Wanderung durch die gewaltige Stadt.

Besonders deutlich wurde dies, weil er sich natürlich in seiner gewohnten Art und Weise in die Gespräche mit den Bewohnern stürzte: voller Fragen. Aber irgendwie entbehrten die Antworten, die er erhielt, der Substanz. Zwar schienen sie etwas zu bedeuten und auszusagen, doch schien sich dieser Sinn jedesmal zu nichts zu verflüchtigen, wenn er die Antworten in seinem Geist aufzunehmen versuchte; es war wie eine Speise, die man bei einem Traum-Festmahl genießt. Hresh erfuhr überhaupt nichts von denen, die er auf den Straßen des versunkenen Vengiboneeza traf und befragte. Alles war wahrhaftig verloren und versunken und dahin, unzugänglich gemacht für ihn durch die grausame Hürde der Zeit.

Dennoch, was er sah, war atemberaubend, und er reifte daran und wurde reicher — und auch von großer Ehrfurcht erfüllt gegenüber der vergangenen Größe und Pracht.

Die Saphiräugigen tauchten anscheinend im alten Vengiboneeza auf und verschwanden wieder, wie es ihnen beliebte, sie waren da und wieder fort, und das mit verblüffender Geläufigkeit. Pop — da waren sie, und pop, schon waren sie wieder verschwunden.

Für ihre außerstädtischen Reisen besaßen sie ein weiteres Wunderding: Himmelskarossen wie schimmernde rosig-goldene Blasen, die lautlos zu Boden sanken und aus sich wie durch Zauber an den Flanken öffnende Schleusen ihre Fahrgäste entließen. Hresh sah Hunderte solcher Blasenballons droben in der Luft lautlos und rasch dahinreisen. Nie stießen sie gegeneinander, auch wenn sie manchmal sehr dicht zusammenzukommen schienen. Und im Innern saßen die Saphiräugigen, gemächlich und gelassen.

Ein drittes Mittel der Ortsveränderung — sofern es sich dabei um so etwas handelte — bestand in rätselhaften Vorrichtungen, die auf kleinen glatten Plattformen aus grünem Stein montiert waren. Es handelte sich dabei um schmale vertikale Röhren aus dunklem Metall, etwa so lang wie ein voll ausgewachsener Mann, die sich am oberen Ende zu haubenbedeckten glatten Kugeln weiteten, die nicht größer waren als der Kopf eines Menschen. Ein seltsam heftiges Licht, blau und rot und grün, spielte um die Öffnungen an diesen Kugeln, als entströmte es irgendeinem hochenergetischen Apparat in ihrem Innern.

Ab und zu näherte sich einer der Saphiräugigen mit noch gelasseneren und ruhigeren Bewegungen als gewöhnlich einem der Podeste, auf denen diese Apparate standen. Gewöhnlich begleiteten ihn dabei andere Angehörige seiner Art fast körpernah, manchmal sogar, indem sie ihre kleinen Unterarme ihm auf den massiven Leib legten. Aber immer wichen dann diese begleitenden Saphiräugigen zurück und ließen den Abreisenden allein auf die Plattform steigen. Und der schob sich nahe an die Kugel an der Spitze der Röhre heran, bis sein gewaltiges Kinnbackengesicht vom Licht, das aus ihrem Innern kam, hell leuchtete; und dann wurde das Geschöpf plötzlich ins Innere der Kugel gesogen. Hresh sah nie genau, auf welche Weise dies vor sich ging, und er begriff auch nicht, wie da Platz sein sollte für den gewaltigen Körper der Saphiräugigen in solch einer kleinen glühenden Kugel. Es gelang ihm auch nie, den Moment des Übergangs zu erfassen, den Augenblick, in dem der Saphiräugige, der in die Kugel starrte, hineingesogen wurde und dem Blick entschwand.

Doch wohin immer die Reise der Saphiräugigen auch führen mochte, es war offensichtlich eine Reise ohne Wiederkehr: viele gingen in die Kugelgebilde an der Spitze der Tubus ein, doch Hresh sah niemals einen dort herauskommen.

Wie es schien, war keiner dieser Apparate in das moderne Vengiboneeza herübergerettet worden. Hresh schaute sie ausschließlich bei seinen Visionstouren. Im real-existenten Ruinenhaufen der Stadt vermochte er nicht einmal Reste oder Spuren dieser grünen steinernen Plattformen auszumachen, auf denen diese Röhrenkonstruktionen montiert gewesen waren.

Nachdem er aber viele Male das Ritual der Haubenkugeln beobachtet hatte, entschied Hresh sich endlich, es selbst einmal in Augenschein zu nehmen. In einer mondlosen Nacht betrat sein träumender Geist einen verlassenen weiten Platz. Nahebei stand ein Baum, dessen Äste sich unter der Last riesenhafter keilförmiger brauner Nüsse bogen, von denen jede größer war als die Spannweite seiner beiden Hände. Er türmte diese Nüsse übereinander, zu einem Haufen, der hoch genug war, ihm von der Spitze den Blick in die Kugelöffnung zu erlauben. Das war ein ziemlich schwieriges Unternehmen. Die kantenglatt gestapelten Nüsse rutschten und glitten nämlich immer wieder unter ihm weg, und er mußte sich an der Kugelhaube festhalten, um nicht zu stürzen. Und so klammerte er sich fest und schob den Kopf dicht an die Öffnung heran.

Gewiß wußte er, daß damit eine Gefahr verbunden war. Er konnte hineingezogen und fortgetragen werden — wohin? In eine andere Welt? Zur Heimstatt der Götter? Und natürlich war auch seine gänzliche Vernichtung möglich, denn mehr und mehr hatte sich in ihm der Verdacht bestärkt, daß die Saphiräugigen diese Gerätschaften dazu benutzten, ihrem Leben ein Ende zu setzen, wenn ihr Todestag für sie endlich gekommen war. Doch die Versuchung, einmal einen Blick in solch ein Ding zu werfen, war unwiderstehlich. Und außerdem, redete er sich vor, ist das Ganze ja bloß eine Vision. Wie sollte ihm ein Apparat, den es in seiner Realität überhaupt nicht gab, der mindestens siebenmal hunderttausend Jahre vor seiner Geburt zu existieren aufgehört hatte, irgendwie schaden können?

Ja, aber wenn da gar niemand wirklich lebt, meldete sich in seinem Innern eine Stimme, wie ist es dann möglich, daß diese ganzen großen Nüsse von dem Baum gepflückt und da so aufgestapelt werden?

Hresh wischte diesen Einwand beiseite. Er schaute ins Innere dieser Kapsel.

Im Kern befand sich etwas Seltsames: ein Bereich von äußerster Schwärze, also schon wirklich dermaßen schwarz, daß davon eine Art Lichtstrahlung ausging, die das Licht überstrahlte. Verwirrt starrte er darauf und wußte plötzlich, daß ihm Einblick nicht nur in eine andere Welt, sondern in ein völlig fremdes Universum gewährt werde, einen Bereich, ganz und gar jenseits der Machtsphäre der Götter. Zwar war dieser Schwärzebereich sehr klein — Hresh meinte, er könne ihn leicht in einer Hand einfangen —, aber es wohnte ihm eine große Energie inne. Sie haben kleine Bruchteile dieses fremden Universums eingefangen, überlegte er sich, und sie in diesen runden Metallbehältnissen gespeichert; und wenn sie aus dem Machtbereich der Götter fortzureisen gedenken, dann gehen sie zu einem von diesen Behältnissen, und die Schwärze dort schaufelt sie in sich hinein und transportiert sie davon.

Ruhig und unbeirrt wartete er, daß auch er fortgebracht werde. Er war völlig im Bann dieser Maschinerie. Mochte sie ihn also hintragen, wohin sie wollte.

Aber er gelangte nirgendwohin. Er starrte das Ding an, bis ihm die Augen weh taten; und dann tauchten zwei Gestalten aus dem Schatten auf — ein Saphiräugiger und ein Vegetalischer — und winkten ihm zu.

„Du, geh da weg!“ flüsterte der Vegetalische mit einer irgendwie raschelnden Stimme. „Da lauert Gefahr, du Kleiner.“

„Gefahr? Wo denn? Ich kann doch meine Hand einfach so reinstecken — und es passiert nichts.“

„Geh dennoch weg von dort!“

„Also, schön, ich geh hier weg, wenn du mir erklärst, worum es sich da handelt.“

Das Vegetalgeschöpf legte keusch seine Petalblätter zusammen; der Saphiräugige stieß sein zischelnd-höhnisches Kichern aus. Dann erläuterten sie ihm den Apparat, wobei sie beide gleichzeitig redeten, aber er begriff völlig, was sie zu ihm sagten, jedenfalls so lange, wie sie zu ihm sprachen. Und das verwirrte und verwunderte ihn über alle Maßen; aber es war wie alles übrige, was er während seiner Besuche in der Großen Welt aufnahm, es war ebenso substanzlos und unbefriedigend wie Traumspeise, und wenn da den Sprüchen vielleicht im ersten Augenblick, in dem sie gesprochen wurden, ein Sinn anhaftete, so entglitt er ihm doch sogleich wieder, so sehr er sich auch mühte, ihn festzuhalten.

Er trat von dem Podest herunter, und sie führten ihn zu einem Ort voller Lichter und Gesang. Aber alles, woran er sich hinterher zu erinnern vermochte, war eine von ihm getroffene Schlußfolgerung, nicht aber irgend etwas, das sie ihm erläutert hatten. Und das ging etwa dahin, daß mittels dieser Apparaturen die Bewohner der Großen Welt ihr Leben zu beenden pflegten, wenn sie erkannten, daß ihre Zeit zum Sterben gekommen war.

Aber wozu sollten sie sterben wollen? Er fragte sich das, und er fand darauf keine Antwort.

Und dann überlegte er: Die wußten doch, daß die Todessterne kommen würden, und trotzdem blieben sie da und warteten, bis sie kamen.

Aber — warum? Warum sollten sie so etwas tun?

Und auch darauf fand er keine Antwort.

In Hreshs Visionen gab es einen Ort, an dem vor dem Himmel die ganze Welt abgebildet war. An der Außenwand eines niederen zehnseitigen Gebäudes war eine flache Scheibe aus einem silbrighellen Metall schräg hängend angebracht; und wenn er auf einen Knopf daneben drückte, schoß aus dem Nirgendwo ein Speer von scharfer Helligkeit und traf auf diese Scheibe, und vor seinen Augen erwachte ein gewaltiger Weltglobus zu leuchtendem Leben. Er wußte sofort, daß es sich um die Welt handelte, denn er hatte Abbildungen davon in den Chroniken gesehen. Dort waren die Bilder flach, dies hier war gerundet, aber er wußte trotzdem, daß es die Welt war, denn es stand in den Chroniken, daß die Welt in Wirklichkeit so sei. Hresh hatte aber nie gedacht, daß es solch eine Menge Welt geben könnte. Er konnte ganz um die Kugelwelt herumwandern, und es gab etwas auf allen Seiten. Er sah vier gewaltige durch riesige Meere getrennte Landmassen. Weite ausgedehnte Städte zeigten sich ihm, überzogen von einem Spitzengewebe von Straßen, breit wie Flüsse aus Licht, und Seen und Ströme, und Berge und Ebenen. Und obwohl das alles nur Bilder in der Luft waren, konnte Hresh die brausende starke Brandung der großen Meere fühlen und die Last der Gebirge, und wenn er sich die Darstellung der Städte beschaute, entstand in ihm die Illusion, und er glaubte wirklich, winzige Gestalten in den winzigen Straßenschluchten umherwimmeln zu sehen.

Eine dieser Landmassen war riesenhaft groß und füllte beinahe das ganze Antlitz der Welt aus. Und wenn er auf die andere Seite des Globus ging, sah er dort zwei weitere Landflächen, eine über der anderen, und die vierte befand sich am unteren Rand der Welt und war ein eisiger Ort, von dem deutlich fühlbare Kälte ausging.

„Aber wo ist Vengiboneeza?“ fragte Hresh, und nahe der linken Kante der oberen Landmasse auf der Globushälfte mit zwei Landmassen blitzte ein scharfgrünes Licht auf.

„Und Thisthissima?“ fragte er. „Mikkomord? Tham?“

So rasch, wie er weitere Städtenamen aus der Großen Welt aussprechen konnte, blinkten sie als Lichter auf dem Globus auf, der sich zu drehen begann, um sie ihm zu zeigen. Dann aber war sein geringer Vorrat an Namen erschöpft, und er trug dem Ball auf, ihm gleichzeitig alle Städte zu zeigen. Dem Wunsch wurde sogleich Folge geleistet, und es blinkten dermaßen viele Lichtpunkte auf, und die Kugel drehte sich dermaßen rasch, daß er momentan geblendet zurückwich und vor Entsetzen die Hände über die Augen legte. Und als er danach wieder hinzuschauen wagte, war der Weltglobus verschwunden.

Er unternahm nie wieder einen Versuch, ihn zum zweitenmal heraufzubeschwören. Aber das Bild dieser runden Welt mit ihren weiten Meeren und den kolossalen Landmassen, die überall von den blendenden Lichtern ihrer Myriaden Städte übersät waren, würden ihm nie wieder aus der Erinnerung fallen. Und er begriff nun, wie groß die Große Welt wirklich gewesen war.

Ein anderes Ding, das ihm die Unermeßlichkeit der verloren gegangenen Welt vor Augen führte, war ein Konstrukt, von dem er annahm, es müsse der Baum des Lebens sein, von welchem Thaggoran zuweilen gesprochen hatte.

Es war eigentlich kein richtiger Baum, überhaupt nicht, sondern eher so etwas wie ein Tunnel oder eine Anordnung von Tunnels, denn die Struktur lag über viele hundert Schritt waagerecht auf einem offenen parkähnlichen Gelände gebreitet. Der Boden lag unter dem Geländeniveau, und darüber wölbten sich Bogendächer aus einem so vollkommen durchsichtigen Material, daß es schien, als wäre da überhaupt keine Bedachung. Im Zentrum lag eine große Hauptgalerie, von der kleinere Passagen abzweigten und von diesen wieder weitere, noch engere.

An der Spitze jeder Verzweigung lag eine gerundete Kammer, und in jeder dieser Kammern hauste eine Kleinfamilie von Tieren, eine jegliche anscheinend in ihrer für sie natürlichen Umgebung, denn manche der Kammern waren trocken und wüstenähnlich, andere hingegen feucht und voll saftigen Laubwuchses. Man konnte durch diesen Baum des Lebens von einem Ast zum nächsten wandern, ohne die dort wohnenden Geschöpfe im geringsten zu stören.

Als der Stamm über die großen Ebenen zog, hatte Hresh derartige Tiere nicht gesehen. Doch sie ähnelten einigen, die er im Bestiarium, dem Buch der Tiere, in den Chroniken abgebildet gesehen hatte. Also mußten es wohl die Geschöpfe sein, die auf der Welt gelebt hatten, ehe die Todessterne kamen: die ausgestorbenen Tiere, die verschwundenen Mitbewohner der früheren Welt.

Da gab es riesenhafte gemächlich trottende schwarzrote Geschöpfe mit Hörnern wie Trompeten, die sich an den Spitzen zu weiten Schellen öffneten, und es gab da zierliche Langbeiner, mit fahlgelbem Fell und runden, erschreckten Augen, so groß, wie Hreshs Hand lang war, und da gab es auch wilde, kle ine niedrige und flache Kreaturen, die aus nichts weiter als aus Schnauze und Zähnen und Krallen zu bestehen schienen. Es gab da etwas Braungelbes mit schwarzen Streifen, das durch einen Morast watete, auf vier dürren Beinen hoch darüber stakte und mit seinem langen Hals und dem langen zähnestrotzenden Schnabel nach unten stieß, um unselige grüne Geschöpfe aus dem Schlick zu fischen.

Es gab dort rundliche trommelähnliche Tiere, die aus ihren prallgespannten Bäuchen fröhlich-dröhnende Geräusche von sich gaben. Es gab schlangenhafte Tiere mit drei Köpfen. Und scheue kleine mit gewaltigen Ohren, von grünem Moos und dichten winzigen flachen Blättern bedeckt, so daß Hresh nicht hätte sagen können, ob es sich um Tiere oder um Pflanzen handelte.

Er wanderte verwundert und benommen durch all diese Kammern, und ihre Vielfalt und Vielzahl verwirrte ihn. Eine schwere Traurigkeit kam über ihn, als er daran dachte, daß höchstwahrscheinlich alle dieser Tiere inzwischen von der Welt getilgt worden waren, es sei denn jemand hätte sie in einen Kokon gesteckt und bewahrt, so daß sie dort die eisigen Jahrhunderte abwarten konnten. Er bezweifelte dies allerdings. Nein, sie waren wohl alle dahin, tot und verschwunden mit den Saphiräugigen.

Bei einer Kammer fast an der höchsten äußersten Spitze des liegenden Lebensbaumes stieß er auf etwas, das ihn vollkommen überraschte: eine Gruppe von Geschöpfen, die aussahen wie Angehörige seiner eigenen Gattung und die ihren Lebensbeschäftigungen auf ziemlich ähnliche Art in einem verkleinerten Stammeskokon nachgingen.

Sie sahen nicht haargenau so aus wie Hresh selbst. Auf den ersten flüchtigen Blick hin schien es ja so, doch bei genauerer Inspektion erkannte Hresh, daß ihre Sensororgane dünner waren und in anderem Winkel am Körper hingen, daß die Ohren groß waren und weit hinten am Schädel saßen, was ihm außerordentlich seltsam erschien, und daß ihr Fell ungewöhnlich dicht und sehr grobhaarig war. Die Erwachsenen waren kürzer als die seines Stammes, und ihre Leiber waren nicht so untersetzt. Die Hände saßen in einem ungewohnten Winkel an den Gelenken und hatten lange schwarze Finger und grellrote Handflächen, nicht die rosafarbenen, wie Hresh sie hatte.

Er fühlte eine Beklemmung in der Brust. Diese Entdeckung war verheerend.

Es war, als stellten diese Tiere da eine frühere Version seines „Volkes“ dar, ein erster Entwurf. Sie waren ihm ebenso ähnlich, wie sie sich von ihm unterschieden. Doch vermochte er die Ähnlichkeiten eben nicht zu bestreiten. Die Verwandtheit. Ja, das waren Wesen ihm ähnlicher Art. Mußten es sein. Aber eben ur-uralt. So also hatte das ‚Volk‘ ausgesehen in den Tagen der Großen Welt.

Es stand geschrieben im Buch der Tiere, daß Dawinno-der-Zerstörer unablässig damit beschäftigt war, die Formen und Gestalt aller Geschöpfe der Welt zu verwandeln. Und diese Veränderungen waren so gering, daß man sie von einer Generation zur nächsten kaum wahrzunehmen vermochte, doch in dem Verlauf einer derart gewaltigen Zeitspanne konnten sie sich zu bedeutsamen Unterschieden aus wachsen. Und hier sah Hresh nun den Beweis dafür. Die Rasse, die nach dem Ende des Langen Winters aus den Kokons hervorgekrochen war, unterschied sich stark von jener, die sich dort vor siebenmal hunderttausend Jahren versteckt hatte.

Aber hinter dieser Wahrheit verbarg sich eine noch tiefere und viel bestürzendere. Hresh hätte sie gern ignoriert, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Aber es gab davor kein Entrinnen.

Es konnte kaum Zweifel daran geben, daß dieser Baum des Lebens da nichts weiter war als eine Sammlung von Tieren, die man hier möglicherweise zur Belustigung der Bewohner von Vengiboneeza angelegt hatte. Es gab hier keine Seeherren, keine Hjjks, keine Vegetalischen, keinen Vertreter eines der zivilisierten Völker der Großen Welt: nur ganz schlicht und einfach — Tiere. Und Hreshs eigene Urahnen befanden sich hier, mitten unter den Tieren.

Seine Muskeln zuckten in zorniger Abwehr. Aber es gab kein Ausweichen, die Beweise waren nicht zu leugnen. Stückchen um Stückchen, Schritt für Schritt hatte diese Stadt ihn gezwungen, das zu erkennen und anzuerkennen, was er so mühevoll zu unterdrücken versucht hatte, seit sein Volk Einzug in Vengiboneeza gehalten hatte: In den Tagen der Großen Welt war seine Rasse als keineswegs zu den Menschlichen gezählt, sondern als einfache Tiere angesehen worden, nicht von gleichem Rang wie die Sechs Völker. Hochentwickelte, überlegene Tiere möglicherweise, aber eben doch nur Tiere, die man auf diese Weise in Gefangenschaft zur Schau stellen durfte, als ein Objekt unter vielen anderen, hier an diesem Ort, wo man die Tiere der Vorzeit besichtigen konnte.

Hresh fühlte sich benommen, durcheinander, am Boden zerstört. Lange stand er in dumpfer Betäubung da und stierte stumm vor sich hin. Die Leute in der Kammer — nein, die Geschöpfe in der Kammer. diese Tiere, die seine Verwandten waren — beachteten ihn nicht. Aber vielleicht konnte keines der im Baum des Lebens zur Schau gestellten Tiere jene sehen, die gekommen waren, um sie anzusehen.

Er winkte ihnen zu. Er trommelte gegen die durchsichtige Wand ihrer Kammer. Mit rauher, brüchiger, trotziger Stimme: „Ich bin Hresh — euer Bruder! Ich bin gekommen, euch frohe Botschaft zu bringen. daß die Kinder eurer Kindeskinder die Erbschaft und den Besitz der Welt antreten werden!“ Aber die Wörter kamen wirr und stolpernd aus seinem Mund, und die Geschöpfe in der Kammer blickten nicht einmal auf.

Nach einiger Zeit stahl er sich davon und kehrte wieder nach draußen auf den Boulevard zurück. Er sah die grüne Zitadelle der Träumeträumer hoch über sich am Hang hocken. So düster das Bauwerk war, nun brannte es ihm mit dem wütenden Glast von tausend Sonnen entgegen. Er zuckte zusammen und wandte sich ab. Dort war der Ort für Menschen. Dies wußte er inzwischen mit zweifelsfreier Gewißheit. Ihr Tempel, ihre Herberge und ihr ganz persönliches Hauptquartier oder ihre Zentrale, oder was sonst. Ihr Ort, dachte er. Nicht der unsrige. Ein Ort für Menschen. Und was immer wir uns einbilden mögen, daß wir sind, das sind wir nicht.

Und wieder einmal glaubte er, das scheußliche zischelnde Lachen der Wächter am Stadttor zu vernehmen.

Kleiner Affe. Äffchen. Verwechsle nie deinesgleichen mit Menschen, Kind!

Er machte, daß seine Vision verblaßte, und tauchte aus dem antiken Vengiboneeza auf wie ein Ertrinkender, der sich mit heftigen Armbewegungen an die Oberfläche des Wassers rudert.

Nach seiner Rückkehr in die Siedlung sprach er mit keinem, nicht einmal zu Taniane, über das, was er gesehen hatte. Jedoch fühlte er sich seltsam ihr gegenüber, so als wäre er für sie durchsichtig. Sie starrte ihn aus der Ferne versteckt und zurückhaltend an, als wollte sie ihm zu verstehen geben: Du hast ein schreckliches Geheimnis in dir, das du nicht mit mir zu teilen wagst, aber ich kenne es schon.

In seiner Verwirrtheit und seinem Gram hielt er sich mehrere Tage lang von ihr fern, und als sie dann wieder miteinander redeten, handelte es sich um belanglose Dinge und war nichts weiter als eine Plauderei, oberflächlich und voller sorgfältiger Aussparungen. Er war nicht in der Lage zu etwas anderem in seinem derzeitigen Zustand, und sie schien dies zu wissen.

Einige Tage darauf brachen erneut die wilden Dschungelaffen über die Siedlung herein und zerschmetterten unter Geheul und Gekreisch Fenster, schleuderten Dreckbrocken und Kot und wieder die Nester der Stechinsekten herunter. Hresh funkelte die Eindringlinge voll wütenden Abscheus an. Jede Faser in seinem Herzen stöhnte bei der Vorstellung, daß das ‚Volk‘ und diese ekelhaft dreckigen kreischenden Tiere vielleicht enge Verwandte sein könnten, wie die Künstlichen, die Wächter der Saphiräugigen dies behauptet hatten. Doch als dann Staip und Konya sich aufs Dach begaben und ein halbes Dutzend der Angreifer aufspießten, fror Hresh vor Entsetzen, mußte gegen die Tränen ankämpfen und sich abwenden. Er konnte es nicht ertragen, zuzuschauen, wie man sie so einfach abschlachtete. Ihm war das wie Mord. Er wußte nicht, was und wie er denken sollte, und er hatte das Gefühl, als könne er überhaupt nichts mehr verstehen und begreifen.

Minbain arbeitete auf dem Feld. Sie setzte die Frühlingsstecklinge der jungen Flammensaatpflanzen, als Torlyri zu ihr trat und sagte: „Ich bin auf der Suche nach Hresh. Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?“

Minbain lachte. „Oh, vielleicht ist er grad auf dem Mond. Oder er schwimmt von einem Stern zum ändern. Wer weiß denn schon, wohin sich Hresh aufmacht? Ich jedenfalls weiß es nicht, Torlyri.“

„Also, vermutlich wandert er wieder in den Ruinen herum.“

„Wahrscheinlich. Ich habe ihn seit zwei, drei Tagen nicht mehr zu sehen bekommen.“ Schon lange hatte Minbain damit aufgehört, Hresh als ein Kind ihres Leibes zu betrachten. Er war ein Wesen außerhalb ihres Begriffshorizontes, etwas so Rasches und Seltsames und Unvorhersehbares wie ein Wetterleuchten oder ein Blitz. Sie richtete ihr Augenmerk wieder auf das Pflanzbeet. Aber nach einer Weile blickte sie wieder auf und fragte: „Du hast nicht etwa zufällig Harruel irgendwo gesehen? Der ist mir nämlich auch schon seit einer ganzen Weile nicht mehr unter die Augen gekommen.“

„Ist er nicht die meiste Zeit auf Patrouille droben in den Bergen?“

„Viel zu viel Zeit“, sagte Minbain. „Wenn ich ihn mal in einer von fünf Nächten im Haus habe, ist das schon ’ne Sensation. In dem Kerl braut sich was Ungutes zusammen.“

„Soll ich mal mit ihm reden? Wenn ich ihm auf irgendeine Art helfen kann.“

„Paß bloß auf, wenn du das versuchst! In letzter Zeit jagt er mir Angst ein. Zorn kocht in ihm hoch, wenn man es am wenigsten erwartet. Und noch merkwürdigere Sachen. Er stöhnt im Schlaf, schlägt um sich, ruft die Götter an. Also, ich will dir mal eins sagen Torlyri, er macht mir Angst. Aber trotzdem wäre es mir schon lieber, er würde seine Nächte häufiger daheim verbringen.“ Und mit einem schiefen Lächeln fügte sie hinzu: „Es gibt da ein paar Dinge an ihm, die ich stark vermisse.“

„Ich kann mir, glaube ich, vorstellen, was du meinst“, sagte Torlyri und lächelte gleichfalls.

„Wozu brauchst du denn Hresh? Hat er schon wieder was angestellt?“

„Nein, sein Tvinnr-Tag ist fällig“, sagte Torlyri.

„Sein Tvinnr-Tag?“ Minbain blickte überrascht auf. „Wer hätte an so was gedacht! Jetzt ist der auch schon alt genug! Wir rasch die Zeit vergeht! Und mir ist überhaupt nichts aufgefallen.“ Und dann schüttelte sie den Kopf. „Ach, Torlyri, Torlyri, wenn der Hresh nun schon alt genug fürs Tvinnr ist, wie alt muß dann ich inzwischen sein!“

„Da mach dir mal keine Sorgen, Minbain. Man sieht dir dein Alter wirklich nicht an.“

„Dafür sei Yissou Lob und Preis.“

Und wieder wandte Minbain sich ihrer Arbeit zu.

Torlyri sprach: „Sollte ich zufällig Harruel über den Weg laufen, dann werde ich ihm sagen, daß du ihn gern hin und wieder mal zu Gesicht bekommen möchtest.“

„Und ich tu das gleiche, falls ich über Hresh stolpern sollte.“

Die Wunde, die ihm bei der Besichtigung des Lebensbaumes geschlagen worden war, brauchte lange, um zu heilen. Hresh schwor sich, er werde nie wieder in den Keller der Sechsunddreißig Türme hinabsteigen und er werde nie wieder eine Reise in das lebendige Vengiboneeza unternehmen. Doch je mehr Tage vergingen, desto stärker machte sich seine angeborene Neugier wieder bemerkbar, und er begriff, daß er seinen Schwur nicht lange würde halten können, aber er schwor sich feierlich, sollte er ein zweites Mal auf den Baum des Lebens stoßen, er würde keinen Fuß hineinsetzen. Es verlangte ihn nicht im geringsten danach, diesen Ort jemals wiederzusehen, in dem seine Vorfahren eingepfercht hockten wie wilde Tiere, zum Ergötzen und zur Belehrung zivilisierter Wesen.

Als er aber dann tatsächlich dorthin zurückkehrte, entdeckte er keine Spur von dem Ort, wo der Baum des Lebens sich befunden hatte. Erneut war die Stadt stark verändert, und an Bauten, die er von früheren Besuchen in Erinnerung hatte, waren da nur noch die Zitadelle und eine Handvoll anderer noch übrig. Er empfand deswegen eine große Erleichterung, denn er argwöhnte, wenn er wieder auf den Baum des Lebens gestoßen wäre, er wäre doch wieder hineingegangen, trotz seines Schwurs, trotz allem.

„Ach, da bist du ja endlich“, sagte Torlyri. „Ich such dich schon den ganzen Morgen überall!“

Hresh kam verdreckt und zerzaust über den gebogenen Boulevard vom Emakkis-Boldirinthe-Viertel zum Nordteil der Stadt auf sie zugeschlendert. Auf seinem Gesicht lag der ferne abwesende Ausdruck eines Menschen, der sich halb hier und halb in einer anderen Welt befindet.

Er kehrte sich Torlyri zu, als habe er nicht die geringste Ahnung, wer sie sein mochte. Sein Blick wich dem ihren ein wenig aus. „Bin ich für etwas zu spät dran?“

„Weißt du, was heute für ein Tag ist?“

„Friit?“ sagte er dumpf. „Nein, heut ist Mueri. Ich bin sicher, es ist Mueri.“ „Heute ist dein Erster Tvinnr-Tag“, sagte Torlyri lachend.

„Heute?“

„Ja, heute.“ Sie streckte ihm die Arme entgegen. „Das ist für dich ganz unwichtig, was?“

Hresh ging nicht darauf ein, sondern starrte auf seine Füße. Mit der linken großen Zehe begann er Muster in die weiche Erde zu zeichnen. „Ich hab gedacht, morgen ist der Tag“, sagte er mit dunkler ängstlicher Stimme. „Ehrlich, Torlyri. ehrlich!“

Sie erinnerte sich daran, wie er damals vor der Kokonschleuse auf dem Felssims gestanden hatte, zitternd in der eiskalten Luft, und wie er sie angefleht hatte, Koshmar nicht zu verraten, daß er sich hinauszuschleichen versucht hatte. Jetzt war er Jahre älter, sehr verändert, ernster geworden durch seine Aufgaben im Stammesverband; und dennoch, in Wahrheit hatte er sich überhaupt nicht verändert, oder doch? Nein, nicht in irgend etwas Wesentlichem. Er war jetzt fast schon ein Mann, nicht länger der wilde verängstigte Junge, ‚Hresh-der-die-Antworten-weiß‘, das war er nun, der Hüter und Pfleger der Chroniken, der Anführer der Sucher, ohne Zweifel der Gescheiteste im ganzen Stamm, und dennoch, irgendwie war er auch ‚Hresh-der-Fragesack‘ geblieben, das eigenwillige, sprunghafte, aufmüpfige Kind. Vergißt der doch glatt den eigenen Tvinnr-Tag! Zu so etwas war wirklich niemand außer Hresh fähig.

Vor drei Tagen hatte sie ihm aufgetragen, sich auf die endgültigen Initiationsrituale in seine Mannheit vorzubereiten. Das hieß, daß er hätte fasten sollen, den Leib äußerlich und innerlich reinigen, er hätte bestimmte Gesänge singen müssen, meditieren müssen. Aber — hatte er das getan, wenigstens teilweise? Wahrscheinlich nicht. Was Hresh für wichtig hielt, das bestimmte einzig und allein er selbst.

Aber wenn er sich nicht vorbereitet hat, dachte sie, wie kann er dann erwarten, sein erstes Tvinnr zu feiern? Sogar er, Hresh, mußte sich doch darauf gebührlich vorbereiten. Sogar er.

Also sagte sie: „Du siehst seltsam aus. Hast du wieder an den Maschinen der Großen Welt herumgespielt, ja?“

Er nickte.

„Und du hast Sachen geschaut, die dich beunruhigen?“

„Ja“, sagte er.

„Möchtest du mit mir darüber reden?“

Hastig schüttelte Hresh den Kopf. „Eigentlich nicht.“

In seinen Augen hing noch immer dieser halb abwesende Ausdruck. Er schien auf irgendeinen Punkt hinter ihrer linken Schulter zu starren, als ertrage er höflicherweise die Unterhaltung, ohne irgendwie sichtlich an ihr teilzuhaben. Er hatte sich in einen Schmerz vergraben, dem Torlyri einfach nicht auf die Spur kommen konnte. Immer mehr verstärkte sich in ihr die Überzeugung, daß es falsch wäre, ihn am heutigen Tag zu seinem ersten Tvinnr zu führen.

Aber wenigstens konnte sie versuchen, seinen Schmerz zu lindern.

Also sandte sie Energie zu ihm hinüber und Wärme, berührte ihn, hüllte ihn ein. Hresh starrte weiter ins Leere. In einer seiner Wangen zuckte und pulsierte etwas.

Nach einer Weile sprach er wie von weit weg: „Während wir hier stehen, kann ich rings um mich herum überall die Vergangenheit sehen. Das alte Vengiboneeza. Das Vengiboneeza aus der Zeit der Großen Welt.“ Seine Stimme klang merkwürdig heiser. Seine Unterlippe bebte. Und jetzt blickte er ihr zum erstenmal direkt in die Augen, und sie sah eine Fremdartigkeit in seinem Blick und auch Furcht, wie sie dies niemals zuvor dort erblickt hatte. „Manchmal, Torlyri, weiß ich nicht, wo ich bin. Oder in welcher Zeit. Die antike Stadt überlagert diese jetzige, sie hebt sich und breitet sich wie eine Maske darüber, wie eine Vision, wie ein Traum. Und das macht mir Angst. Weißt du, daß ich nie zuvor wirklich vor irgend etwas Angst gehabt habe, Torlyri? Ich will einfach nur die Dinge erkennen und begreifen. Und darin ist ja nichts, weswegen man sich ängstigen müßte, kann gar nichts zum Fürchten sein. Aber manchmal sehe ich Dinge, wenn ich nach Vengiboneeza hineingehe, die. die.“ Seine Stimme schwankte. „Die antike Stadt erwacht für mich zum Leben. Und wenn dies geschieht, lagert sie sich über diesen Trümmern hier wie eine leuchtend goldene Maske, die so schön ist, daß es mir Entsetzen einflößt. Und dann komme ich in diese Stadt, diese Ruinenstadt, zurück, und dann liegt die über der alten Stadt wie. wie ein Knochenschädel über einem Gesicht.“

„Hresh...“, sagte sie leise und zog ihn an die Brust.

„Ich will lernen, Torlyri. Alles lernen über alles, was da ist und jemals war. Aber manchmal. manchmal sind die Sachen, die ich dabei finde.“

Er glitt aus ihrer Umarmung und trat ein paar Schritte beiseite, und dann stand er so da, wandte ihr den Rücken zu und starrte zum Berghang hinauf.

„Vielleicht warten wir doch besser noch ein Weilchen mit deinem ersten Tvinnr“, sagte sie nach einer Weile.

„Nein. Heute ist der richtige Tag.“

„Heute ist deine Seele in tiefer Unruhe.“

„Es sollte trotzdem zum richtigen Zeitpunkt, am vorbestimmten Tag geschehen.“

„Aber wenn du durch andere Dinge dermaßen abgelenkt bist, daß du nicht in den Tvinnr-Zustand eingehen kannst.“

„Ich spüre, daß ich schon ruhiger werde“, sagte Hresh. „Einfach (dadurch, daß ich in deiner Nähe bin. mit dir reden kann.“ Er wandte ihr plötzlich wieder das Gesicht zu. Er schien zu wachsen. Plötzlich sprach er mit dunklerer, vor Entschlossenheit zitternder Stimme. „Komm, also! Komm, Torlyri! Es wird spät, und wir haben Wichtiges zu tun.“

„Glaubst du ganz wahrlich, du solltest.?“

„Unbedingt!“

„Ja, aber hast du die erforderlichen Vorbereitungen getroffen? Alles, was du dafür tun mußt?“

„Es wird genügen“, sagte Hresh. Er lachte sie kurz mit einem strahlenden Lächeln an. Auf einmal wirkte er wach, begierig, erregt. „Darum sollten wir jetzt in deine Kammer gehen, Torlyri. Heute ist mein Tvinnr-Tag! Kannst du mir vergeben, daß ich das vergessen habe? Du weißt ja, ich muß an so vielerlei denken. Allerdings, wer könnte schon seinen eigenen Tvinnr-Tag vergessen? Also, komm nun, und lehre mich die Kunst, Torlyri! Ich warte schon mein ganzes Leben darauf, daß dieser Tag endlich kommt!“

Es war, als sei er von einem Augenblick zum nächsten aus einem Schlaf erwacht oder vom Krankenlager aufgestanden. Urplötzlich schien all seine Trübsal und seine Benommenheit von ihm gewichen zu sein. War dem wirklich so, fragte sich Torlyri, oder spielte er ihr dies nur vor? Aber er wirkte wahrlich wieder ganz wie sein wahres Selbst, von einem Moment zum nächsten wiederhergestellt: der übersprudelnde, ungeduldige Hresh, der ‚Hresh-voller-Fragen‘, stets hungernd nach neuen Erfahrungen. Vielleicht hatte er an diesem Vormittag mitten unter den Mysterien des alten Vengiboneeza ein Erlebnis zuviel gehabt, aber was für eine düstere Wolke sich dort über ihn gelegt haben mochte, nun, in diesem Augenblick, schien sie von ihm gewichen zu sein.

Dennoch war sie sich seinetwegen nicht ganz sicher.

„Es schadet nichts, wenn wir einen Tag länger warten“, sagte sie.

„Heute, Torlyri. Der Tag ist heute!“

Sie lächelte und umarmte ihn noch einmal. Hresh war einfach nicht kleinzukriegen. Wie hätte sie ihn abweisen können?

„Also schön, dann komm mit! So sei es denn: Heute ist der Tag.“

Im Kokon hatte das Tvinnr-Rirual grundsätzlich in besonderen kleinen Kammern stattgefunden, die etwas abseits von der zentralen Wohnkammer lagen. Schließlich handelte es sich ja dabei um eine sehr private Sache, um den allerpersönlichsten intimen Akt, den es gibt. Sogar die Kopulation konnte in Sichtweite anderer ausgeführt werden, ohne Anlaß zu erstaunten Reaktionen zu bieten, aber das Tvinnr, nein, das niemals!

Seit der Stamm sich in Vengiboneeza niedergelassen hatte, war der Brauch der besonderen und abgesonderten Tvinnr-Kammern etwas in Vergessenheit geraten. Hier konnte man jederzeit privat und ungestört in den eigenen Wohnräumen oder in irgendeinem verlassenen Gebäude der Stadt tvinnern. Die Gefahr, daß jemand dabei stören würde, war gering. Doch ein Erst-Tvinnr, das war etwas anderes, das war eine hochkomplizierte Sache, und so hatte Torlyri dafür eine besondere Kammer eingerichtet, die in einer Galerie unter dem Tempel lag und wo eine zufällige Störung unmöglich war. Dorthin führte sie nun Hresh.

Als sie den Tempel betraten, tauchte aus den Schatten der Mueri-Seitenkapelle die hohe schlanke Gestalt des Mädchens Kreun auf. Als sie dicht bei ihnen angelangt war, blieb sie stehen und wandte sich Torlyri zu, als wolle sie zu ihr sprechen; aber über ihre Lippen drang nur ein Seufzer, dann eilte sie rasch davon und war bald nicht mehr zu sehen.

Torlyri schüttelte den Kopf. Seit etwa zwei Wochen war das Mädchen sehr seltsam geworden. Natürlich war sie zutiefst verstört über das Verschwinden Sachkors, den sie hatte heiraten wollen: er hatte sich in dünne Luft aufgelöst, dieser Sachkor, und keiner fand irgendeine Spur von ihm in der Stadt. Hresh hatte unter Zuhilfenahme seines Wundersteins entschieden, daß Sachkor noch am Leben sein müsse. Doch sogar Hresh hatte keine Ahnung, wo Sachkor sich befinden mochte. Dies war merkwürdig; doch der Grad, in dem sich Kreun in sich selber verschlossen hatte, erschien ihr sogar noch viel seltsamer. Kummer allein schien als Ursache dafür nicht zu genügen. Das Mädchen war völlig verändert seither, ein ganz anderer Mensch, sie war gereizt und redete nicht mehr und brütete nur vor sich hin. Hielt sich abseits. Weinte viel. Das alles dauerte schon viel zu lange. Torlyri beschloß, sie sich einmal beiseite zu nehmen, um ihr die Last auf ihrer Seele, was immer es sein mochte, ein wenig zu erleichtern.

Aber nicht heute. Dieser Tag gehörte Hresh.

Eine breite gewundene Steinrampe, wie sie die Architekten der Saphiräugigen so gern verwandten, führte zu Torlyris Tvinnr-Gemach hinab. Glühbeerenbüschel in Wandleuchtern verströmten ein bleiches orangerötliches Licht.

Als sie die Rampe hinabzuschreiten begannen, sagte Hresh urplötzlich: „Ich habe über die Götter nachgedacht, Torlyri.“

Das kam ihr überraschend. Er sollte in diesem Augenblick ans Tvinnrn denken, und nicht an sowas. Aber eigentlich überraschte sie ihre Überraschung gar nicht. Vieles von dem, was Hresh von sich gab, war überraschend. Und Hresh tat selten das, was irgendwer von ihm erwartete.

„Hast du das?“ fragte sie sanft.

„Bei meinen Nachforschungen habe ich etwas gesehen“, sagte er. „Eine Maschine der Uralten, die mir Tiere zeigte, wie sie in der Zeit der Großen Welt gelebt haben. Manche waren den heutigen Tieren ziemlich ähnlich, aber trotzdem waren sie anders. Die Tiere, die durch die Zeiten hindurch aus der Großen Welt überlebten, haben auf deutlicher oder weniger deutliche Art viele Veränderungen erfahren.“

„Ja, vielleicht ist es so“, sagte Torlyri und überlegte, wohin dieses Gespräch führen mochte.

„Ich fragte mich also, welche der Götter derartige Veränderungen bewirkt“, fuhr Hresh fort. „Also, es ist Dawinno, der sie verwandelt hat. Er ist es doch, Torlyri, nicht wahr? Der im Ablauf der Jahre alle Wesen verwandelt? Dawinno schafft neue Formen aus den alten.“

Torlyri blieb auf der Rampe stehen und blickte Hresh prüfend und verwundert an. Dieser kleine Junge, der heute zum Mann werden sollte — und dann schwirren ihm derartige Gedanken durch den Kopf. wahrlich, es gab keinen so wie Hresh und sicherlich hatte es auch nie zuvor einen wie ihn gegeben!

„Dawinno nimmt das Alte weg, ja“, sagte Torlyri behutsam. „Er schafft Platz für das Neue.“

„Nein, er bringt das Neue aus dem Alten hervor.

„Ist das deine Lesart der Sache, Hresh?“

„Ja. Ja — Dawinno ist der Verwandler der Formen!“

„Also gut“, sagte Torlyri, die immer weniger begriff.

„Aber Verwandlung ist eben nichts weiter als Verwandlung“, sagte Hresh. „Es ist keine Schöpfung.“

„Ja, vermutlich ist es so.“

Seine Augen leuchteten nun beinahe fiebrig.

„Aber wo beginnt dies alles? Bedenke doch nur, Torlyri, welche Götter wir verehren. Wir beten zum Ernährer und zum Tröstergott, zum Heilgott. Und zum Schützer und zum Zerstörer. Aber es gibt keinen Gott, den wir als den Erschaffenden — den Schöpfer bezeichnen würden. Wem also verdanken wir unser Leben, Torlyri? Wer hat die Welt gemacht? Ist es Yissou?“

Seit Beginn des Gespräches hatte Torlyri sich unbehaglich gefühlt, doch jetzt steigerte sich dieses Gefühl rasch und in bedenklichem Maße.

„Yissou ist der Beschützer“, sagte sie.

„Eben. Aber nicht der Schöpfer. Wir wissen ganz einfach nicht, wer der Schöpfer ist. Wir denken sogar überhaupt nie daran. Hast du dir je Gedanken darüber gemacht, Torlyri? Hast du?“

„Ich vollziehe die Riten. Ich diene den Fünf Erhabenen.“

„Und diese Fünf müssen einem Sechsten dienen! Aber wer ist er? Wieso haben wir für ihn keinen Namen? Warum gibt es keine Riten, ihn zu ehren? Er hat die Welt gemacht und alles, was in ihr ist. Dawinno verwandelt die Welt schließlich nur. Und wenn ich mir so die Beweise für seine Umgestaltung anschaue, beginne ich eben mich zu fragen, wie die Ur-Gestaltung war, verstehst du mich? Es gibt einen höheren Gott als Dawinno — und wir wissen gar nichts von ihm. Siehst du das ein, Torlyri? Begreifst du? Er entzieht sich uns, hält sich vor uns verborgen. Aber bei ihm ist die höchste Macht. Er besitzt die Schöpferkraft. Er kann etwas aus dem Nichts machen. Und er kann alles in jegliches andere umgestalten. Ja, es könnte sogar sein, daß er sich derartig widerwärtige und hirnlose Bestien nimmt wie diese Affen, die uns dermaßen quälen, und sie zu etwas verwandelt, das. das fast menschlich ist. Er kann alles, was er will, Torlyri. Er ist der Schöpfer! Ja, vielleicht hat er sogar die Erhabenen Fünf erschaffen!“

Sie starrte ihn entsetzt an.

Sie war keine hirnlose Frau, aber es gab für sie bestimmte Bereiche, in die sie lieber nicht fragend vordringen wollte. Niemand tat dies. Es gehörte sich einfach nicht, Spekulationen über die Natur und das Wesen der Götter anzustellen; man hatte einfach zu tun, was sie befahlen. Und so hatte sie es ihr Leben lang gehalten, getreulich und gut. Die Fünf herrschten über die Welt — ihr genügten die Fünf.

Und da war nun dieser Hresh und legte ihr Gedanken vor, die sie als zutiefst beunruhigend empfand. Ein Schöpfergott, sagte er. Nun, es war ja klar, daß alle Dinge einmal ihren Anfang genommen haben mußten, wenn sie jetzt schon wirklich einmal innehielt und darüber nachdachte, aber das mußte vor sehr, sehr langer Zeit gewesen sein, und in welcher Weise konnte es die jetzt und heute Lebenden beeinflussen? Es war einfach töricht, sich über derlei Gedanken zu machen. Die Vorstellung allerdings, daß da vielleicht einmal eine Zeit gewesen war, in der die Himmlischen Fünf selbst noch nicht waren, daß ein anderer sie ins Dasein gerufen haben könnte, das ließ Torlyri den Kopf schwindlig werden. Denn wenn die Fünf einen Erschaffer gehabt hatten, dann hatte ja möglicherweise auch dieser Erschaffer seinerseits wieder einen, der ihn erschaffen hatte, und dieser wieder war womöglich von einem noch höherrangigen Gott erschaffen worden. und. und. und.

Und das hörte nie auf. Ihr Kopf drehte sich.

Und dann noch diese Geschichte mit den zu Menschen werdenden Affen. Was sollte denn das für einen Sinn haben?

Ach, Hresh, Hresh, Hresh!

Ruhig, aber mit Festigkeit sagte sie: „Wir wollen unsere Gedanken jetzt auf das Tvinnr lenken, Hresh.“

„Wenn du so willst.“

„Nicht nur, weil ich es so will. Sondern weil wir aus diesem Grund hierher gekommen sind.“

„Also schön“, sagte er. „Dann tvinnern wir eben heute, Torlyri.“

Sie lächelte ihm zärtlich zu und legte ihm beide Hände in seine Hände. Plötzlich kam es ihr so vor, als sei sie der Neophyt und Hresh derjenige, der die Einweisung vornehmen sollte. Es verwirrte sie wie immer, wenn sie mit diesem Jungen zu tun hatte. Sie sagte sich vor, daß er ja wirklich nichts weiter sei als ein Knabe, ein Junge von nur dreizehn Jahren, und daß er ihr kaum bis zur Brust reichte, und daß der Grund ihres Hierseins seine erste Tvinnr-Erfahrung sei, nicht die ihre.

Also stiegen sie gemeinsam weiter abwärts, bis sie an der niederen Steingalerie und dem Spitzbogen anlangten, der in ihr kleines Tvinnr — Gemach führte. Aber während sie durch die schmale Tür traten, Torlyri mußte sich ein wenig bücken wegen der Höhe, nahm sie plötzlich eine Veränderung in Hreshs Körpergeruch wahr, und sie wußte, daß erneut eine kleine Veränderung der Situation sich ereignete. Kaum hatten sie den Ort betreten, hatte Hresh die Führung übernommen. Aber vielleicht — dachte sie — wird ihm jetzt doch allmählich bewußt, daß er wirklich jetzt zum erstenmal tvinnern soll. Das Ereignis nahm für ihn reale Wucht an. Und von daher rührte dieser Duft von Beklommenheit und Furcht, der von ihm ausströmte. Er mochte gut und gern Hresh-der-Chronist sein, Hresh-der-Weise, doch daneben war er halt auch nur der kleine Junge, und daran begann er sich nun wieder zu erinnern.

Das Tvinnr-Gemach war ein zwölfwandiger Raum, durch Maßwerk aus Blausteinrippen voneinander abgesetzt; diese Rippen stießen an der Decke zu einem komplexen Kreuzgewölbe zusammen, das halb in den Schatten verborgen war. Es war ein kleiner Raum, möglicherweise früher einmal eine Vorratskammer der Saphiräugigen; für den persönlichen Gebrauch von derartig voluminösen Personen, wie sie es waren, zweifellos viel zu winzig. Doch für Torlyris Zwecke genügte der Raum allemal. Sie hatte ein Lager aus übereinander gestapelten Pelzen hergerichtet, und in den Wänden gab es Nischen, in die sie gewisse heilige Gegenstände gesetzt hatte. Von Wandampeln schimmerte flackerndes grüngelbes Licht von Glühbeeren, dünn, jedoch ausreichend.

„Leg dich da nieder und bereite deine Stille vor“, befahl Torlyri. „Ich muß einige Gebete und Rituale machen.“

Sie trat von einer Nische zur anderen und rief nacheinander die Großen Fünf an. Die heiligen Amulette und Talismane in den Nischen waren alt und wohlvertraut, sie hatte sie aus dem Kokon mitgebracht, und sie waren ölig und glatt von dem langen Gebrauch. Es war sehr wichtig, für ein Erst-Tvinnr die Gunst der Götter zu erlangen: der Neophyt war dabei weit offen für die äußeren Kräfte und Mächte, und wenn die Götter nicht in ihn eingehen wollten, dann taten dies möglicherweise „andere“ Kräfte. Zwar hatte Torlyri keine Ahnung, wer oder was diese Mächte sein mochten, doch sie gab sich große Mühe, ihnen keine Gelegenheit zu bieten.

So schritt sie also durch das Gemach, schlug die vorgeschriebenen Zeichen, murmelte die vorgeschriebenen Worte. Sie erbat von Yissou, er möge Hresh vor Schaden schützen, wenn seine Seele sich entblößte. Sie rief Mueri an, dem Jungen die Bedrückung zu nehmen, die seinen Geist zu trüben schien. Und sie betete zu Friit um die Heilung aller Narben, welche seine Verwirrung an ihm hinterlassen haben mochten. Und zu Emakkis flehte sie, er möge ihm Kraft und Ausdauer schenken. Vor der Altarnische Dawinnos blieb sie lange stehen, denn sie wußte, daß der Zerstörer der Gott war, dem Hresh sich ganz besonders ergeben hatte; und wenn denn Dawinno tatsächlich — wie Hresh behauptet hatte — der Große Verwandler und Umgestalter war, dann war es ja nur vernünftig, seine besondere wohlwollende Gnade auf die bevorstehende Verwandlung herabzuflehen.

Die Nischenschreine waren so angeordnet, daß jeweils zwischen ihnen eine blanke Facettenwand lag, so daß es insgesamt in dem zwölfflächigen Raum sechs davon gab. Aber da Torlyri für die sechste Nische nie Verwendung gefunden hatte, hatte sie sie leer gelassen. Jetzt jedoch, als sie ihren Umgang beendete, blieb sie davor stehen und rief zu ihrer eigenen Verblüffung eine Gottheit an, die sie nicht kannte, diese geheimnisvolle Nummer Sechs, von der Hresh noch vor kurzem gesprochen hatte.

„Wer immer du sein magst“, flüsterte sie, „das heißt, falls es dich überhaupt gibt, höre auf die Worte, die Torlyri spricht. Ich erflehe von dir, daß du achthabest und wachst über diesen absonderlichen Knaben, der dich liebt, daß du ihm Stärke schenkest und ihn bewahrst für all das, was ihm zu tun bestimmt ist auf dem Angesicht dieser deiner Welt. Das ist es, was Torlyri von dir wünscht, im Namen der Fünf, die dein sind. Amen.“

Und bestürzt über ihr Verhalten starrte sie in die schattendunkle Vertiefung der sechsten Nische.

Dann machte sie kehrt und kniete sich neben Hresh auf das Pelzlager. Er beobachtete sie mit großen aufmerksamen Augen.

„Hast du deine Ruhe hergestellt?“ fragte sie.

„Ja, ich glaub schon.“

„Du bist nicht sicher?“

„Ich habe meine Stille erreicht, ja.“

Torlyri bezweifelte dies ziemlich stark. Die Traumverschwommenheit, die eigentlich in seinem Blick hätte liegen sollen, war nicht da. Wahrscheinlich hatte er sich nicht einmal in der Technik geübt, obwohl sie ihn darin unterrichtet und ihm aufgetragen hatte, Übungen zu machen. Aber möglicherweise war Hreshs Gehirn durchaus in der Lage, in einen Tvinnr-Zustand überzugehen, selbst wenn in ihm nicht vollkommene Stille herrschte. Man konnte eben nie etwas mit Gewißheit annehmen, wenn man es mit Hresh zu tun hatte.

Aus der Dawinno-Nische hatte sie einen heiligen Gegenstand genommen, einen glatten, weißen Stein, um dessen Leibung ein grobes grünes Fasergespinst geknüpft war. Dies drückte sie nun als Schutzzauber Hresh in die linke Hand und schloß ihm die Finger darüber. Der Stein würde ihm helfen, sich scharf zu konzentrieren. In der anderen Hand hielt er bereits das Amulett, das einstmals Thaggoran gehört hatte.

In feierlichem Ritualton sprach sie: „Dies bedeutet die äußerste Freude für uns vom Volk. Dies ist die Vereinigung der Seelen, die unsere Gabe und Besonderheit ist. Wir gehen in Demut und ehrfürchtiger Scheu in die Verschmelzung. Wir vollziehen das Tvinnr voll freudigen Entzückens.“

Torlyri fühlte, wie die Spannung in ihr anwuchs.

Wie oft hatte sie das Ritual durchexerziert, und mit wie vielen vom Volk! Beinahe die Hälfte von ihnen hatte sie zum Erst-Tvinnr geführt; nie aber war sie vor der Aufgabe gestanden, ihre Seele mit einem Wesen wie Hresh zu verschmelzen. In sein Bewußtsein einzudringen. und das seine in ihres dringen zu lassen — auf einmal war sie ganz überraschend von einer Unruhe erfüllt. Und so fand sie es denn hier und jetzt, im allerletzten Augenblick, nötig, selber eine Stillung durchzuführen, die harmlosen schlichten Übungen zu absolvieren, wie sie gewöhnlich nur Neulinge während der Trainingszeit praktizieren mußten. Hresh schien zu merken, daß sie sich ungewöhnlich verlegen fühlte; sie sah, daß seine bohrenden Augen sie beunruhigt anschauten, ganz so, als hätte sich erneut die Gewichtung verschoben, und er wäre der Meister und sie der junge Neophyt.

Doch der Augenblick verging. Und sie war ganz ruhig.

Sie legte die Arme um ihn, und sie lagen eng beisammen.

„Ergötze dich mit mir“, sagte sie leise. „Ruhe bei mir.“

Ihre Sensororgane berührten einander. Er zögerte — sie konnte es fühlen, an der plötzlichen blitzschnellen Versteifung der Muskeln. aber dann entspannte er sich, und sie begannen das Tvinnr.

Anfangs war er etwas unbeholfen (aber so waren sie ja immer alle), doch schon bald begriff er die Bewegungen, und von da an wurde es leicht. Torlyri spürte die ersten zarten Zuckungen der Vereinigung, und sie wußte, es würde keine Komplikationen geben. Hresh ging in sie ein. Sie ging in Hresh ein. Die Verbindung war eindeutig da. Sie fühlte die einzigartige Struktur seiner Seele, ihre Färbung, ihren Klang.

Und er war sogar noch seltsamer, als sie bisher gedacht hatte. Sie hatte mit großer Einsamkeit gerechnet, und — ja, die fand sie in ihm. Aber seine Seele besaß eine Tiefe und war so reich und erfüllt, wie sie dies niemals zuvor erfahren hatte. Die Stärke seines Zweiten Gesichts war überwältigend, selbst jetzt schon in den Anfangsstadien des Tvinnr. Aber auch jetzt schon konnte sie die Macht fühlen, die ihm zu Gebote stand und die er zurückhielt. Die Kraft seines Bewußtseins war wie die eines wild über ein gigantisches Wehr in den Abgrund stürzenden Flusses. Konnte sie Schaden erleiden, wenn sie sich mit einem solchen Geist vereinte?

Nein. Nein. Kein Harm würde je von Hresh hervorgehen können.

„Verschmilz mit mir im Tvinnr“, sagte Torlyri und tat sich ihm ganzauf.

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