3. Kapitel Eine Landschaft ohne Grenzen

Ein beißender Wind fegte schneidend über das trockene Flachland, riß den leichten Sandboden mit sich und wirbelte ihn zu dunklen Wolken auf. Hier wuchs beinahe überhaupt nichts: Es war, als hätte eine gewaltige Klinge die Oberfläche der Erde bis an die Wurzeln kahlgeschoren und alle fruchtbare Krume und alle kümmerliche Frucht davongekarrt.

Rechts von der Marschkolonne, nicht übermäßig weit entfernt, erstreckte sich ein Strang von blaugrünen niedrigen kahlen runden Hügeln. Links breitete sich ein endlos erscheinendes flaches Land bis zum Horizont. Es lag eine Schärfe in der Luft, und ihr Geschmack war ätzend. Aber der Tag war merklich wärmer als irgendeiner vordem. Es war in der dritten Woche des Auszuges.

In der nachmittäglichen Stille erhob sich ein seltsames Knurren, ein dumpfer Laut, wie keiner vom Volk ihn je vernommen hatte.

Staip wandte sich an Lakkamai, der an seiner Seite ging. „Die Berge dort reden zu uns.“

Lakkamai zuckte nur stumm die Achseln.

„Sie sagen: Kehrt um, kehrt um, kehrt um“, sagte Staip.

„Wie willst du das wissen?“ fragte Lakkamai. „Es ist doch bloß ein Geräusch.“

Auch Harruel hatte es gehört. Er blieb stehen, wandte sich dem Geräusch zu und beschattete die Augen gegen den Glast. Nach einer Weile beugte er sich dem Wind entgegen, schüttelte den Kopf, lachte und wies zu den Bergen hin.

„Mäuler“, sagte er.

Seine Augen waren außergewöhnlich scharf. Auch die anderen Krieger beschatteten die Augen wie er, doch sahen sie nur die Berge. „Was soll das heißen — Mäuler?“ fragte Staip.

„Vor den Bergen. Große sonderbare Tiere hocken dort und machen dieses Gebell. Sie haben keine Leiber, nur Mäuler“, sagte Harruel. „Seht ihr’s denn nicht?“

Inzwischen hatte auch Koshmar es gesehen. Sie trat neben Harruel und sprach: „Schau dir das an! Meinst du, sie sind gefährlich?“

„Ach, die sitzen bloß da“, sagte Harruel. „Und wenn sie sich nicht von der Stelle bewegen, dann können sie uns ja nichts tun, nicht wahr? Aber ich geh da mal rüber und inspiziere sie mal aus der Nähe.“ Er drehte sich um. „Staip! Salaman! Ihr kommt mit mir!“

„Darf ich auch mit?“ bat Hresh.

„Du?“ Harruel gluckste. „Dich werfen wir einem ins Maul und warten was passiert.“

„Bitte nicht“, sagte Hresh. „Aber darf ich mit?“

„Wenn es schon sein muß! Aber halt dich zurück, damit dir nichts geschieht.“

Sie gingen in langen Schritten über die Ebene auf die Berge zu, die drei Krieger und Hresh, und er hatte arge Mühe, mit ihnen mitzuhalten. In dichterer Nähe war das grunzende Bellen bedrückend laut, es ließ den Boden leise erbeben, und nun begriffen sie alle, daß Harruel sich über den Ursprung nicht getäuscht hatte. Am Fuße der Bergkette hockten in einer Reihe an die zehn, zwölf riesige schwarzblaue höckerförmige Wesen in gleichem, weitem Abstand zueinander. Es sah aus, als besäßen sie überhaupt keine Gliedmaßen oder Leiber, sondern wären nur unbewegliche riesenhafte Schädel mit stumpf glotzenden Augen. Und in regelmäßigem Rhythmus rissen sie die weiten Maulhöhlen auf und stießen ihre wummernden Unkenrufe aus.

Über die ganze Weite her nahten sich kleine Tiere, als wären sie von diesen dumpfen quäkenden Lauten mit unwiderstehlicher hypnotischer Kraft angezogen. Eins nach dem anderen trippelten oder krochen oder hüpften oder glitten sie ohne Zögern auf die großen Schädel zu und über den Rand der dunkelroten Unterkiefer und hinab in den schwärzlichen Schlund dahinter.

„Haltet euch zurück!“ befahl Harruel scharf. „Wenn wir zu dicht herangehen, werden wir vielleicht ebenfalls da hineingezogen.“

„Ich spüre kein Ziehen“, sagte Staip.

„Ich auch nicht“, versicherte Salaman. „Nur so ein winziges Kitzeln, vielleicht. Aber — Hresh! Hresh, komm zurück!“

Der Junge hatte sich immer weiter nach vorn geschoben, bis er vor den Kriegern stand. Und jetzt schritt er merkwürdig ruckartig über die Ebene auf die Kopfmäuler zu; mit zuckenden Schultern, und die Knie sausten bei jedem Schritt fast bis in Hüfthöhe empor. Das Sensororgan hatte er wie eine Schärpe um den Leib geschlungen.

„Hresh!“ brüllte Harruel.

Hresh befand sich inzwischen nicht weiter als fünfzig Schritt von dem nächsten Kopfmaul entfernt. Er bewegte sich wie ein Schlafwandler. Der Rhythmus des dröhnenden Brüllens beschleunigte sich. Der Erdgrund schwankte heftig. Harruel warf ärgerlich den Kopf zurück und stürzte vorwärts. Er faßte den Jungen um den Leib und hob ihn vom Boden hoch. Hresh starrte ihn blicklos an.

„Früher oder später wird dir deine Neugier den Hals kosten“, knurrte Harruel grimmig.

„Was? Was?“

„Der Junge ist ganz benommen“, sagte Staip. „Das Gedröhn — das hat ihn regelrecht reinziehen wollen.“

„Ich spür es jetzt auch“, sagte Salaman. „Wie eine Trommel, die uns ruft. wumm — wumm — wumm...“

Harruel blickte glotzäugig in fasziniertem Entsetzen zurück. Salaman hatte recht: der Lärm übte eine irgendwie magnetische Kraft aus und zog über die ganze Ebene her Lebewesen an sich, die von den Kopfmäulern verschlungen wurden. Abrupt bückte sich Harruel, packte einen Steinbrocken so groß wie seine Faust und warf ihn heftig auf das klaffende Maul zu. Aber der Wurf war um fünf oder zehn Schritte zu kurz geraten.

„Kommt!“ krächzte er laut. „Verziehen wir uns von hier und weg von dem Zeug da, bevor es zu spät ist!“

Und sie rannten wieder zurück zur Marschkolonne. Harruel trug Hresh unterm Arm, auf daß der nicht noch einmal unter den hypnotischen Zwang gerate und etwa wieder in sein Verderben zu stürzen versuche. Das Brüllen der gewaltigen Kopfmäuler in ihrem Rücken wurde lauter und fordernder, aber nur kurz, dann schwächte die Entfernung es ab.

Als die Männer wieder beim Stamm angelangt waren, fanden sie dort alles in Wirrwarr und Wirrsal Es hatte ein erneuter Angriff von Blutvögeln eingesetzt. Plötzlich waren die wildwütigen weißäugigen Wesen in einem dichten Schwarm aus der Düsternis im Osten herangekommen und wirbelten nun kreischend über den Köpfen der Menschen, auf die sie mit ihren rasiermesserscharfen Schnäbeln niederstießen. Delim kämpfte gegen eine Bestie an, die ihren ganzen Kopf mit hämmernden Flügelschlägen einhüllte, und Thhrouk wehrte sich gegen zwei Vögel gleichzeitig. Lakkamai schoß vorwärts, zerrte den Blutvogel von Delim weg und zerriß ihn in zwei Stücke. Die Frau kauerte auf der Erde und preßte beide Hände übereinander auf eine Augenhöhle, aus der das Blut strömte. Harruel sichelte mit seiner Speerspitze durch die Luft und spießte erst einen, dann einen zweiten Vogel auf. Koshmar befand sich mitten im Kampfgetümmel und brüllte allen ermutigend zu. Noch immer war aus der Ferne das dröhnende Brüllen der Maulköpfler vernehmbar, und darüber schrillten die kreischenden Schreie der Blutvögel.

Der Kampf dauerte zehn Minuten. Dann verzogen sich die Vögel ebenso rasch, wie sie erschienen waren. Der Stamm hatte sechs Verwundete, darunter Delim am schwersten verletzt. Torlyri verband ihr das Auge, aber sie würde damit nie wieder sehen können. Harruel hatte zwei tiefe Schnitte am Speerarm davongetragen. Auch Konya war verwundet worden. Allesamt waren sie erschöpft, bedrückt und mutlos.

Und zu allem brach auch noch die Nacht herein. Die letzten Lichtströme der sterbenden Sonne tauchten das flache Land in eine scharlachrote Flut.

„Ja also“, sagte Koshmar. „Es ist zu spät, um weiterzumarschieren. Wir schlagen hier das Lager auf.“

Harruel schüttelte den Kopf. „Nicht hier, Koshmar. Wir müssen erst etwas weiter wegkommen von diesen Mäulerbiestern. Hörst du sie nicht? Ihr Gebrüll ist gefährlich. Wenn wir hierbleiben, passiert es uns, daß die Leute in der Nacht davonlaufen und wie Schlafwandler mitten in deren Rachen stolpern.“

„Meinst du das im Ernst?“

„Wir haben so beinahe Hresh verloren“, sagte Harruel. „Der ist einfach direkt auf eins von den Dingern zugewankt.“

„Yissou!“ Stirnrunzelnd betrachtete Koshmar eine Weile die großen Schädel am Horizont. Dann spuckte sie aus und sagte: „Also gut. Ziehen wir weiter!“

Sie marschierten weiter, bis die Finsternis sie zum Anhalten zwang. Das Röhren der großen Maulköpfe war hier nur noch sehr leise vernehmbar. An einem Platz, wo aus dem Sand ein dünnes Wasserrinnsal brach, sank das Volk erleichtert zur Ruhe nieder.

„Es war ein Fehler“, sagte Staip leise.

„Daß wir aus dem Kokon ausgezogen sind, meinst du?“ fragte Salaman. „Du glaubst, wir hätten bleiben sollen? Versuchen sollen, es mit den Eisfressern aufzunehmen?“

Harruel fuhr sie wütend an. „Es war richtig, daß wir den Auszug gemacht haben“, sagte er mit fester Stimme. „Da kann es überhaupt gar keinen Zweifel geben, daß es die richtige Entscheidung war.“

„Was ich meine“, sagte Staip, „ist, daß wir in diese Richtung ziehen. Koshmar hat nicht recht getan, daß sie uns in diese elenden Ebenen führt. Wir hätten uns südwärts wenden sollen, dem Schein der Sonne zu.“

„Ach, wer weiß?“ sagte Harruel. „Eine Richtung ist so gut wie die andere.“

Im Dunkel der Nacht gab es beständig fremdartige unheimliche Geräusche: Zischen, Schnattern, Schrillen. Und das unablässige bohrende Röhren der Großmäuler in der Ferne, die ihren gierigen Hungergesang hinausgrölten, während sie am Fuß der kahlen Berge lauerten, bis ihre wehrlose Beute zu ihnen kam.

Es war die fünfte Woche der Wanderschaft. Torlyri war wie üblich bei Tagesanbruch aufgestanden, um das Opfer zum Sonnenaufgang darbringen zu können, und rollte, räkelte und streckte sich nun, ehe sie tapsig auf die Beine kam. Die Frühsonne badete sie in angenehme Wärme. Leise verließ sie den Lagerplatz, wo alle anderen noch schliefen, und spähte umher, bis sie einen passenden Fleck für ihr Opfer gefunden hatte: ein kleines Stück gen Westen. Es schien so, als sei da ein geheiligter Ort: ein kleiner Abhang, abgeschirmt, an dem Tausende von kleinen rotrückigen Insekten emsig mit dem Bau einer komplizierten türmebestückten Konstruktion über dem Sandboden beschäftigt waren. Also kniete sie daneben nieder, sprach die Worte, rief die Namen an, bereitete die Opfergaben.

Die frühe Morgensonne fühlte sich warm an, stark, angenehm. Während der paar letzten Tage war Torlyri aufgefallen, daß das Wetter irgendwie mehr und mehr angenehm geworden war. In den ersten Tagen war sie stets in einem kalten Dunst und zitternd und steif an jedem Morgen erwacht; jetzt aber kam ihr die Morgenluft milder und weicher vor, wenn auch nicht gerade schon wirklich mild und weich.

Trotzdem, es war ein Anzeichen für etwas, und es löste Hoffnung in ihr aus. Vielleicht war dies wahrhaftig der Neue Frühling, trotz allem.

In dem Punkt war Torlyri nämlich nie so ganz sicher gewesen. Genau wie alle übrigen Stammesmitglieder hatte sie sich von Koshmars hartnäckigem Optimismus fortreißen und aus dem Kokon wegreißen lassen. Aus Liebe zu Koshmar hatte sie ihre starken Bedenken nicht laut vorgebracht, aber sie wußte, es gab eine Gruppe im Stamm, die es vorgezogen hätte, wenn man im Kokon geblieben wäre. Dieser Auszug war ein gewaltiger, furchteinflößender Entschluß. Die Veränderungen waren dermaßen stark, daß Torlyri noch kaum zu glauben vermochte, daß sie diesen Schritt hinaus wirklich getan hatten. Seit ewig hatte der Stamm in seinem Kokon gelebt — oder doch jedenfalls beinahe seit ewigen Zeiten, was ja fast das gleiche war. Hunderte von Tausenden von Jahren — hatte der arme alte Thaggoran immer gesagt! Es war für Torlyri unmöglich, sich vorzustellen, wie lange so etwas sein mochte, viele hundert von tausend Jahren — oder auch bloß tausend Jahre. Tausend Jahre — das war doch eigentlich schon ‚immer und ewig‘. Also waren wohl Hunderttausend Jahre hundertmal mehr ‚ewig und immer‘.

Aber sie waren gehorsam ausgezogen — nachdem sie hundertmal für immer und ewig in ihrem Kokon gelebt hatten. Wie schlafbenommene, traumbetäubte Taumler waren sie Koshmar hinausgefolgt in eine Welt urplötzlich auftauchender Gefährdung.

Diese wilden blindwütigen, knurrend-pfeifenden Rattenwölfe — was für ein Segen, daß der Stamm vor ihnen gewarnt worden war, oder es hätte mehr als nur zwei Leben gekostet, soviel war sicher. Und dann diese Blutvögel — was war das für ein scheußlicher Kampf gewesen, bis man sie vertrieben hatte! Und dieses Flüggeziefer mit den Lederschwingen, das danach auftauchte. Und dann. nach dem. da kam.

Nein, Torlyri wußte es, es würde kein Ende geben der tödlichen Gefahren, die auf dieser weiten flachen Erdfläche auf das Volk lauerten. Und kalt war es hier, sogar jetzt noch, und trocken und zum Herzerbarmen öde, und es gab auch keine Mauern, Wände, Grenzen. Hier gab es keine Grenzen. Der Kokon hatte absolute Sicherheit geboten — und hier gab es nichts davon, überhaupt nichts an Sicherheit.

Und wenn sie nun den Kokon zu früh verlassen hätten?

Sicher, es waren Jahrhunderte seit dem letzten größeren Kataklysma vergangen, hatte jedenfalls Thaggoran behauptet. Was jedoch, wenn dies jetzt nur eine jener ruhigeren Intervallperioden war, zwischen dem Niedergang eines der Todessterne und dem Sturz des nächsten?

Vor ein, zwei Tagen hatte Minbain genau die gleichen angstvollen Befürchtungen ausgedrückt, als sie zu Torlyri kam, um in Kommunion mit Mueri zu treten. Es war das drittemal innerhalb einer Woche, daß Minbain um diese Vereinigung gebeten hatte. Die Auswanderung schien schwerer auf ihr zu lasten als auf den übrigen Frauen, den meisten edenfalls, vielleicht weil sie älter war als die meisten anderen, obwohl es ein paar gab, die sogar noch älter waren als Minbain und dennoch recht gut durchhielten. Sie aber wirkte abgehärmt und niedergeschlagen und steckte voller Zweifel.

„Thaggoran hat uns immer gesagt“, stammelte Minbain, „daß mindestens fünftausend friedliche Jahre vorbeigehen, zwischen der Zeit der niederstürzenden Todessterne. Aber das bedeutet doch nicht, daß damit alles vorbei ist, hat er gesagt. Jedesmal nach einer Zeit ohne Todessterne soll ein neuer Todesstern auftauchen. Wie können wir also sicher sein, daß die Welt jetzt den letzten von ihnen gesehen hat?“

„Yissou-der-Beschützer hat uns herausgeführt“, sagte Torlyri beschwichtigend und haßte sich im gleichen Augenblick dafür, daß ihr die tröstliche Lüge so glatt über die Zunge glitt.

„Wenn es aber nicht der Beschützer war, der uns herausgeführt hat?“ fragte Minbain. „Wenn es der Vernichter war?“

„Frieden“, flüsterte Torlyri. „Komm ganz dicht zu mir, Minbain. Laß mich deiner Seele Erleichterung spenden.“

Doch ihre eigene Seele fand wenig Ruhe. Zwar mühte sie sich, es nicht merken zu lassen, doch in ihr herrschte fast ebenso große Furcht wie in Minbain. Es gab einfach keine Garantie dafür, daß dies wirklich die richtige Zeit des Auszugs und Aufbruchs sei. Torlyri glaubte daran, daß die Götter es gut mit ihnen meinten; doch gab es auch keine Möglichkeit, das Walten und Wirken der Götter weislich zu wissen, die in ihrer Weisheit, so groß sie auch sein mochte, das Volk leicht in furchtbares Verderben führen mochten. Denn wie sollte denn irgend jemand wissen, was werden würde und kommen? Morgen oder über den Morgen oder am übernächsten Tag mochte man vielleicht schon das schreckliche Feuer aus dem Schweif eines Todessterns über die Himmel hereinfahren sehen, und dann würde die ganze Welt unter der gewaltigen Wucht des Zusammenpralls erbeben, und der Himmel würde schwarz sein, und die Sonne verborgen, und alle Wärme würde weichen von der Welt, und verderben würden alle wärmeliebenden Wesen, so sie nicht zeitig Schutz und Zuflucht fänden. Dies war so vielmals geschehen, in der Vorzeit, in den siebenhunderttausend Jahren des Langen Winters. Wie also sollte man gewiß sein, daß es nicht wieder so werden würde? Der Stamm schuldete es der Menschheit, sich zu bewahren und lebenskräftig zu erhalten, bis der lange Alptraum endlich von der Welt weichen würde.

Es ist möglich, daß wir die einzigen sind, die es überhaupt noch irgendwo gibt, dachte Torlyri.

Dieser Gedanke war entsetzlich. Nur dieses eine kleine, verwundbare Häufchen, etwa sechzig Frauen, Männer und Kinder, als Bollwerk und Brücke zwischen dem Menschen und seiner Auslöschung! Dürfen wir überhaupt auch nur das geringste Risiko eingehen, vernichtet zu werden, dachte sie, wenn wir die einzigen Überlebenden unserer Art sind? Es war doch so, als trügen sie die gesamte Bürde aus all den Millionen Jahren der menschlichen Existenz auf Erden: und alles zentrierte sich nun auf diese kleine Stammeshorde, diese lächerlich wenigen Versprengten und unsicher über die öden Ebenen Wandernden. Und das war eine fürchterliche Vorstellung.

Aber dennoch, die Tage wurden wirklich wärmer.

Es wäre ein Aberwitz gewesen, hätte sich das Volk bis ans Ende der Zeit in seinem kuscheligen Kokon verstecken wollen, um darauf zu warten, bis man absolut sicher sein konnte, der Auszug in die Welt sei gefahrlos. Die Götter gaben niemals absolute Gewißheit über etwas. Nein, man mußte den Einsatz wagen und glauben. Koshmar glaubte, daß es ungefährlich sei hinauszuziehen. Die Weissagungen harten es ihr angedeutet. Und Koshmar war Stammesoberhaupt. Torlyri wußte, sie selbst würde die Dinge nie mit dem klaren, kühnen Blick Koshmars sehen können. Dies war der Grund, warum Koshmar Häuptling war — und sie nur eine Priesterin.

Geschäftig bereitete sie das Sonnenaufgangsopfer vor. Allmählich ging es ihr besser. Ja, Yissou beschützte und ernährte sie wahrhaftig. Die Götter hatten das Volk nicht im Stich gelassen oder gar Verrat an ihm geübt, als sie Koshmar erlaubten, das Volk hinauszuführen. Alles würde sich zum Guten wenden. Sie waren durch gewaltige Fährnis gewandert, und große Gefahren lagen zuhauf noch vor ihnen; doch alles würde gut sein. Sie standen unter dem Schütze Yissous.

Der Auszug hatte die Erfindung eines neuen Morgenrituals erforderlich gemacht. Es vollzog sich nicht mehr der tägliche Tausch der Dinge aus dem Innern des Kokons gegen die Dinge von außerhalb. Statt dessen füllte Torlyri jeden Abend eine Schale mit Grashalmen und Erde von dem Ort, an dem sie über Nacht lagerten, und am nächsten Morgen bot sie die Gaben den vier Himmelsrichtungen dar und erflehte den Schutz der Götter, und dann trug sie den Inhalt der Schale mit sich, um ihn abends auf dem nächsten Lagerplatz zu verstreuen. Auf diese Weise wob Torlyri ein heiliges Band auf dem Weg des Volkes über das Antlitz dieser unvertrauten Welt.

Diese Kontinuität herzustellen, das erschien ihr als lebenswichtig. Nach Thaggorans Tod war es, als sei die ganze Vergangenheit abgeschnitten und der Stamm verwaist und ohne Ahnen und Erbe. Sie stolperten im Finstern weiter und konnten nur ahnen, was zu tun ihnen bestimmt sei. Da ihnen das Gestern so grausam abgeschnitten war durch den Tod des Chronisten, mußten sie einen neuen Geschichtsstrang spinnen, der sich bis in die künftigen Jahre erstrecken sollte.

Als Torlyri das Morgenritual beendet hatte, erhob sie sich und wollte ins Lager zurückkehren. Unerwartet bewegte sich unter ihren Füßen etwas im Boden. Sie blickte hinab, scharrte im sandigen Boden und fühlte ein antwortendes Zucken auf ihr Bohren. Sie stellte die Schale ab, schaufelte die oberste Erdschicht fort und enthüllte dabei ein Ding, das aussah wie ein dickes rosigschimmerndes Seil, das ein Stückchen tiefer vergraben lag. Das Ding wand sich konvulsivisch, irgendwie gereizt oder ärgerlich. Behutsam berührte sie es mit der Fingerspitze, und diesesmal zuckte es dermaßen heftig, daß zwei Armeslängen aus der Erde hervorbrachen und sich wie strammes Tau in die Höhe krümmte. Kopf- und Hinterende des Dings blieben weiter verborgen.

„Was für ein scheußlicher Wurm!“ kam von oben eine Stimme. „Töte ihn, Torlyri! Töte ihn!“

Sie blickte auf. Koshmar stand oben am Hang.

„Wieso bist du gekommen?“ fragte Torlyri.

„Weil ich nicht dort sein mochte“, sagte Koshmar mit einem merkwürdig verlegenen Lächeln.

Torlyri verstand. Das Lächeln war unmißverständlich. Koshmar verlangte es nach ihrem Tvinnrpartner; sie hatten sich seit dem Auszug aus dem Kokon noch nicht ein einzigesmal gedoppelt.

Daheim im Kokon gab es die Tvinnr-Kammern für derlei intime Aktivitäten, doch hier, unter der gewaltigen offenen Kuppel des Firmaments war Heimlichkeit nicht möglich. Und inmitten der ungewohnten angespannten Atmosphäre des Trecks war ihnen Tvinnr irgendwie nicht passend erschienen. Jedoch Doppeln war für das Wohlsein der Seele wesentlich. Und allem Anschein nach vermochte Koshmar nicht länger zu warten und war deshalb Torlyri zur Opferstelle gefolgt. Torlyri freute sich darüber. Freudig streckte sie ihrer Tvinnr-Partnerin die Hand entgegen. Koshmar schlitterte die Böschung herab an ihre Seite.

Das Geschöpf wand sich noch immer zuckend in der Erde. Koshmar zog das Messer. „Wenn du es nicht töten magst, dann tu ich es.“

„Nein“, sagte Torlyri.

„Nein? Aber wieso nicht?“

„Es hat uns nichts getan. Wir wissen nicht, was es ist. Warum können wir es nicht einfach in Ruhe lassen und woanders hingehen?“

„Weil ich es verabscheue. Es ist scheußlich.“

Torlyri starrte sie seltsam an. „Noch nie hab ich dich so sprechen hören. Töten ohne Grund, nur um zu töten, Koshmar? Das paßt nicht zu dir. Tu ihm nichts, ja? Ohne Not zu töten — das ist eine Sünde wider den Ernährer. Laß die Kreatur in Ruhe!“ Etwas bedrückte Koshmar schwer, soviel war deutlich. Torlyri bemühte sich, sie abzulenken. „Du, schau dir noch mal die Burg an, die die Insekten dort gebaut haben.“

Gleichgültig sagte Koshmar: „Wie interessant.“

„Nicht wahr? Schau mal, da haben sie ein kleines Tor gemacht, und da Fenster und Verbindungswege, und hier unten.“

„Ja, es ist wunderbar“, sagte Koshmar, ohne hinzusehen. Sie steckte das Messer fort; anscheinend hatte sie auch das Interesse an dem Seilgeschöpf verloren. „Komm, laß uns doppeln, Tvinnr Torlyri“, sagte sie.

„Gern. Gleich hier, meinst du?“

„Gleich hier! Und jetzt! Es ist schon eine Million Jahre her, seit.“

„Ja. Ja, natürlich.“

Torlyri nickte zustimmend. Sanft fuhr sie mit der Hand über die Wange ihrer Partnerin, und sie legten sich gemeinsam nieder. Ihre Sensororgane berührten sich, zogen sich zurück, betasteten einander aufs neue. Dann umwanden sie sich gegenseitig sacht mit den Sensororganen und vollzogen jene behutsamen und Umschlingungsbewegungen der Tvinnr und glitten in die Anfangsstadien ihrer Zusammenfügung hinüber.

Eine Stufe nach der anderen erreichten sie die Eingliederung, leicht, mühelos, mit der Gewandtheit, die aus der langen Vertrautheit miteinander erwachsen war. Sie waren Tvinnr-Partnerinnen seit ihren Jungmädchenjahren, und sie hatten nie Verlangen nach irgend jemand sonst gehabt, ganz so, als wären sie als die zwei Hälften eines einzigen Ganzen geboren worden. Manche hatten Probleme mit dem Tvinnr; Koshmar und Torlyri, niemals.

Dennoch gab es diesmal kleine Momente des Zögerns und der verfehlten Kontakte, auf die Torlyri nicht vorbereitet gewesen wäre. Koshmar war ungewöhnlich angespannt und starr; ihre ganze Seele schien froststarr zu sein, wie ein Stab aus einem biegsamen Metall, der lange an einem kalten Ort verweilte. Vielleicht kommt es nur daher, daß wir so lange nicht mehr getvinnrt haben, dachte Torlyri. Doch wahrscheinlicher war, daß das Problem vielschichtigere Ursprünge hatte als nur bloße Enthaltsamkeit. Sie öffnete sich für Koshmar, und während ihre Seelen sich mischten, mühte sie sich, aus Koshmars Seele zu lösen, was immer an Dunklem, Bedrückendem dorthin eingedrungen war.

Es handelte sich um eine viel intimere Verschmelzung als sie bei der bloßen Kopulation üblich ist; ein Akt, den Koshmar stets verabscheut und vermieden hatte und den Torlyri im Verlauf der Jahre nur zwei-, dreimal ausprobiert hatte, ohne dabei sehr viel davon zu haben. Die meisten Stammesangehörigen kopulierten nur selten, denn die Kopulation führte oftmals zu Befruchtung, und die Austragung einer Frucht mußte notwendig selten sein, da das Bedürfnis, Nachwuchs für den Stamm zu schaffen, im Kokon sich so selten ergab. Aber Tvinnr — ach, Tvinnr, die Dopplung, das war etwas anderes! Es war eine Methode der Liebe, ja, und eine Methode der Heilung, und zuweilen war es auch eine Methode, Wissen zu erwerben, das anders nicht gewonnen werden konnte; aber es war noch vieles andere außerdem.

Ihre Leiber hielten einander umschlungen, und ihre Seelen umfingen einander, und gemeinsam sanken sie tiefer und tiefer hinab, durch alle Schichten ihrem Ziel entgegen, der warmen dunklen Vereinigung, sie wehten wie Daunenflaum in warmen Windschüben, schwerelos, mühelos dahingetragen, glitten mit Leichtigkeit an den felsigen Abstürzen und scharfkantigen Steinsedimenten der Seele vorbei, meisterten mit arglos reiner Schlichtheit die hinterhältigen Klüfte und Kloaken der Vernunft. Bis sie schließlich völlig ineinandergefügt waren und eins im ändern zur Einheit verschmolzen, eins das andere umfassend und einschließend, völlig geöffnet für das Fluten und Ebben der anderen Seele. Torlyri suchte den Ursprung für Koshmars Beklommenheit, konnte ihn aber nicht finden; und dann — fortgerissen von der Wonne der Tvinnr-Vereinigung — vermochte sie sich nur noch dem Tvinnr selbst hinzugeben.

Hinterher lagen sie in warmer Erfülltheit dicht beisammen.

„Ist es jetzt fort aus dir?“ fragte Torlyri. „Der Schatten, die Wolke, die auf dir lasteten?“

„Ja, ich glaube.“

„Was war es? Magst du es mir sagen?“

Koshmar antwortete eine Weile nicht. Sie schien nach Worten zu ringen, um dem inneren Schmerz Ausdruck zu verleihen, der Qual, die Torlyri während des Tvinnr nur als harte dunkle Verknotung hatte wahrnehmen können, in den sie weder vorzudringen vermochte, noch ihn begreifen oder zur Auflösung veranlassen konnte.

Dann, einige Zeit später, vergrub Koshmar sacht die Finger in Torlyris dichtes schwarzes Fell und sagte wie von sehr weit her: „Weißt du noch, was der Hjjk-Mann sprach? Seine letzten Worte an uns? Es gibt keine Menschlichen, Frau aus Fleisch, das hat er gesagt.“

„Ja, ich erinnere mich daran.“

„Es haftet in meiner Seele, Torlyri, und es brennt mich. Was kann er damit gemeint haben?“

Torlyri wandte sich ihr zu, so daß ihre Augen dicht vor den Koshmars intensiv leuchtenden Augen waren. „Er sprach so nur aus reiner übermütiger Bosheit. Er wollte unsere Seelen betrüben, mehr nicht. Er war ungeduldig, es verdroß ihn, daß wir ihn nicht vorüberziehen lassen wollten. Also sagte er etwas, von dem er annahm, es würde uns schmerzen. Es war nur eine Lüge.“

„Aber er sprach die Wahrheit über die Rattenwölfe“, warf Koshmar ein.

„Dennoch. Das bedeutet ja nicht, daß auch alles übrige, was er sagte, Wahrheit gewesen ist.“

„Aber wenn es nun doch so wäre? Wenn wir die einzigen wären, Torlyri?“ Koshmar schien die Worte aus der Tiefe ihrer Brust herauf zupressen.

Die eisige Vorstellung war wie ein Echo auf Torlyris eigene unheilvolle Grübelei vor einiger Zeit. Düster bekannte sie: „Mir ist der gleiche Gedanke gekommen, Koshmar. Aber auch der Gedanke, was für eine Verantwortung wir tragen, was für eine Verpflichtung zum Überleben, falls wir sechzig Leute die einzigen Menschlichen sind, die es noch auf der Welt gibt, wenn alle anderen in des Langen Winters Wüten untergingen.“

„Verantwortung, ja.“

„Wie schwer dich dies bedrücken muß, Koshmar!“

„Aber nun bin ich nicht mehr gar so voll Sorge. Ich fühle mich stärker, Torlyri, seitdem wir Tvinnr waren.“

„Wirklich?“

Koshmar lachte. „Vielleicht brauchte ich weiter nichts, als mit dir zu doppeln, wie? Ich war so voller Trübsal, voll düsterer Ahnungen, so überwältigt von einem Gefühl, daß ich eine wahnwitzige Torheit begangen hätte und daß die Strafe für Dummheit stets schrecklich ist. — und ich wußte, daß ich allein verantwortlich sein würde, weil ich es war, die entschied, daß wir den Kokon verlassen müßten, und daß Thaggoran Zweifel hegte, und auch du.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wie immer hast du mich getröstet und froh gemacht, Torlyri. Du hast mir von deiner Kraft gegeben und mich befähigt, weiterzuhandeln. Das Hjjk-Männchen hat also gelogen, was? Wir sind nicht allein. Wir werden die anderen suchen und finden, und gemeinsam werden wir die Welt neu aufbauen. Ist es nicht so? Gewiß. Ganz gewiß. Wer könnte daran zweifeln! Ach, Torlyri, Torlyri, wie sehr lieb ich dich!“

Und sie umarmte Torlyri stürmisch. Doch Torlyri ging darauf nur halbherzig ein. Während der letzten paar Augenblicke hatte sie gespürt, wie etwas sich in ihrer Seele veränderte, etwas, das ihr Gemüt wie ein grimmiger, schwerer Schatten umdüsterte. Die Unruhe und Unsicherheit des Vortages waren wieder in sie zurückgekehrt. Wieder schien es ihr, daß das Schicksal des Volkes auf höchst unsichere Weise über einem unendlich tiefen Abgrund hinge. Und nun war sie in Zweifel und Verzweiflung verstrickt, als wäre bei ihrer Vereinigung mit Koshmar deren Seelenpein auf sie übergegangen.

„Bist jetzt du in deinem Herzen betrübt?“ fragte Koshmar nach einer Weile und zog die Hand zurück.

„Vielleicht.“

„Das lasse ich nicht geschehen. Sollst du mir das Herz leichter machen, nur um deines zu beladen?“

„Wenn ich dir deine Befürchtungen nehmen konnte, freut mich das sehr“, sagte Torlyri. „Aber ich fürchte, jetzt lastet deine Furcht und Sorge schwer auf mir.“ Sie schaufelte mit beiden Händen die sandige Erde auf und verstreute sie gereizt wieder. Schließlich sagte sie: „Koshmar, was wird, falls wir wirklich die einzigen Menschlichen sind?“

„Na und? Wenn wir es wären?“ sagte Koshmar großspurig. „Dann werden wir unser Erbe antreten und die Erde beherrschen, wir sechzig! Wir werden uns unser Königreich bauen auf dieser Erde. Wir werden sie mit Leuten unseresgleichen neu besiedeln. Wir müssen nur sehr achtsam und vorsichtig sein, mehr nicht, denn wir sind etwas Seltenes und Kostbares, wenn wir die einzigen überlebenden Menschen sind, die es noch gibt.“ ..

Der plötzliche Überschwang Koshmars wirkte unwiderstehlich auf Torlyri. Beinahe sogleich spürte sie, wie die düstere Bedrückung sich von ihr zu heben begann.

„Dennoch bleibt sich das gleich“, fuhr Koshmar fort. „Ob wir nun die einzigen überlebenden Menschlichen sind oder nur ein Häufchen unter Millionen. Wir müssen uns dennoch stets höchst vorsichtig verhalten auf unserem Zug und tunlichst allen Gefährdungen ausweichen, die diese Welt für uns bereithält. Denn vor allem anderen haben wir die Pflicht, einander zu beschützen und zu erhalten und.“

„Oh! Schau doch, schau, Koshmar!“ rief Torlyri plötzlich.

Sie deutete auf die Insektenburg. Das seilartige Geschöpf hatte sich mit einem Ende völlig vom Erdboden losgerissen. Es war unmäßig lang, dreifach oder gar vierfach mannslang. Hochgekrümmt und niederstoßend schlug das Ding wieder und wieder gegen die kunstvollen Mauern und Türmchen des Bauwerks. Das ausdruckslose, augenlose Vorderende öffnete sich zu einem klaffenden Schlund. Und sobald das Geschöpf eine Bresche in die Burg gebrochen hatte, begann es die kleinen roten Insekten und ihre zerschmetterten Wehrwälle mit gierigen Schlucken zu verschlingen, so daß bald keine Spur mehr von den Erbauern und ihrem Werk mehr übrigbleiben würde.

Koshmar schauderte. „Ja, Gefahren überall. Ich sagte dir ja, daß ich das da töten wollte.“

„Aber es hat dir doch nichts getan.“

„Und den Insekten, deren Burg es zerstört hat?“

Torlyri lächelte. „Koshmar, denen bist du keinen Gefallen schuldig.

Alle Geschöpfe müssen essen, sogar ekelhafte Wurmstricke. Komm weg, lassen wir es sein Frühstück in Ruhe beenden!“

„Es gibt Augenblicke, da vermute ich, daß du weit weniger sanftmütig und mild bist, als es den Anschein hat, Torlyri.“

„Alle Wesen müssen essen“, sagte Torlyri.

Koshmar überließ Torlyri ihren Pflichten, der Beendigung der Morgenrituale, die sie unterbrochen hatte, und kehrte zu der Stelle zurück, wo der Stamm lagerte. Inzwischen war es weit über die Stunde des Sonnenaufgangs hinaus, und sämtliche Stammesmitglieder waren auf den Beinen.

Koshmar hielt auf einem Hügelchen an und spähte gen Westen. Die Wärme der Morgensonne war angenehm auf dem Rücken und den Schultern.

Das vor ihr liegende Land flachte zu einer weiten nicht sehr tiefen Senke ab, ohne Bäume und nahezu ohne irgendwelche Merkmale. Es war hier sehr trocken, Sandboden, keine Seen, keine Flüsse, nur äußerst schmale Rinnsale. Ab und zu sah man die Buckel niederer Hügel, die aussahen, als wären sie von etwas gewaltig Starkem zerquetscht und dann glattpoliert worden, was höchstwahrscheinlich der Fall gewesen war. Koshmar versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen sein mochte: tiefe Lagen von Eis überall auf dem Land, Eis, das so schwer war, daß es wie ein Strom dahinfloß. Eis, das in Berge schnitt und sie zu Geröll zermahlte, sie dann in den Hunderten Tausenden von Jahren des Langen Winters davonfegte. Dies, so hatte Thaggoran gesagt, war geschehen in der Welt, während der Stamm sicher eingenistet im Kokon überwinterte.

Koshmar wünschte, Thaggoran könnte jetzt bei ihr sein. Es hätte keinen schmerzlicheren Verlust geben können als durch seinen Tod. Erst als er dahin war, hatte sie sich bewußt gemacht, in wie hohem Maß sie sich auf ihn gestützt und verlassen hatte. Er war das Gehirn des Stamms gewesen und seine Seele — und die Augen überdies auch noch. Ohne ihn waren sie wie Blinde, die hierhin und dorthin schwanken und nichts von den tiefen Geheimnissen wissen, die sie auf allen Seiten umgeben.

Sie verscheuchte die Vorstellung. Ja, Thaggoran war wichtig gewesen, aber nicht unersetzlich. Keiner war das. Sie hatte sich dagegen gewehrt, sich von seinem Tod entmutigen zu lassen. Thaggoran oder nicht, sie würden weiterziehen, weiter und weiter und weiter, bis sie Pfade über den ganzen runden Bauch der Welt gezogen hatten, sofern das sich als notwendig erweisen sollte, denn es war ihre Bestimmung, weiterzuschreiten, bis sie erreicht hatten, wozu immer sie in die Welt gerufen worden waren. Sie waren besondere Leute, dieser ihr Stamm. Das wußte Koshmar. Und sie — sie war eine besondere Führerin. Auch dessen war sich Koshmar gewiß. Und nichts würde sie von dieser Überzeugung abbringen können.

Manchesmal hatte sie auf diesen langen Märschen — wenn sie auch nur ein bißchen schwankend wurde, wenn Übermüdung und Sonnenglast und die trockenen kalten Winde Zweifel und Furcht und Schwäche in ihre Seele trugen — den Geist Thaggorans aus dem Tod heraufbeschworen in ihrem Herzen und ihn dazu benutzt, ihre Entschlossenheit zu bestärken. „Was sagst denn du dazu, Alter Mann?“ fragte sie den Geist Thaggorans dann. „Sollen wir umkehren? Sollen wir irgendwo einen sicheren Berg suchen und uns einen neuen Kokon graben?“

Und Thaggoran grinste sie dann an. Er neigte sich ganz nah zu ihr, und seine wäßrigen rotlidrigen alten Augen blickten forschend in die ihren, und er sagte dann meist: „Du redest törichtes Zeug, Weib.“

„Tu ich das? Wirklich?“

„Du bist geboren, um uns aus dem Kokon herauszuführen. Das fordern die Götter von dir.“

„Die Götter! Wer wüßte den Willen der Götter?“

„Eben“, sagte dann der alte Thaggoran meistens. „Es steht uns nämlich nicht zu, den Versuch zu unternehmen, die Götter begreifen zu wollen. Wir sind nur hierhergesetzt, um ihr Geheiß zu tun, Koshmar. He? Was sagst jetzt du dazu, Koshmar?“

Und dann sagte sie meist: „Wir werden weitergehen, Alter Mann. Du könntest mich nie zum Umkehren überreden.“

„Das würde ich auch niemals versuchen“, sagte der Geist Thaggorans, wurde nebelhaft und durchscheinend und entschwand ihren Blicken.

Koshmar blickte angestrengt nach Westen und versuchte aus dem abweisenden, flachen blauen Himmel die Vorzeichen abzulesen. Im Norden hing ein Zug weicher weißer Wolken, sehr hoch und mit weiten Zwischenräumen. Gut so. Graue, tief und schwer herabhängende Wolken waren schneeträchtige Wolken. Aber solche sah sie jetzt nirgendwo. Diese Wolken da droben bargen keinen Anlaß zu Besorgnis. Nach Süden hin sah sie einen Streifen wirbelnden Staubes über dem Horizont. Das allerdings konnte alles mögliche bedeuten. Stürme, die über das trockene Land herfielen, vielleicht. Oder eine Herde gewaltiger schwerhufiger Tiere, die dort dahindonnerte. Oder aber sogar ein feindliches Heer im Anzug. Es konnte alles sein und jedes.

„Koshmar?“

Harruel war an ihre Seite auf dem kleinen Hügel getreten, ohne daß sie dessen gewahr geworden wäre. Er stand, turmhoch, halb hinter ihr, eine mächtige, kraftstrotzende, breitschulterige Gestalt mit riesenhaften Unterarmen, anderthalb mal so groß wie Koshmar, und warf einen riesigen Schatten zur einen Seite, der sich wie ein schwarzer Mantel über den Erdboden breitete. Sein Pelz war von einem düsteren gelbroten Ziegelton, büschelhaft von den Wangenknochen und dem Kinn zu einem dichten verfilzten wilden roten Bart sprossend, unter dem seine Gesichtszüge nahezu versteckt lagen, so daß man nur noch die scharfen blauschwarzen Augen hindurchfunkeln sah.

Es erzürnte Koshmar, daß Harruel so insgeheim sich ihr genähert hatte und nun so dicht bei ihr stand, stumm — und irgendwie unausgesprochen einen Mangel an Respekt demonstrierend.

Kühl fragte sie: „Ja, was gibt es denn, Harruel?“

„Wie bald werden wir das Lager abbrechen, Koshmar?“

Sie hob die Schultern. „Das habe ich noch nicht entschieden. Wieso fragst du?“

„Sie fragen mich. Dem Stamm gefällt es hier nicht. Die Leute finden es hier zu trocken. zu. tot. Sie wollen zusammenpacken und weiterziehen.“

„Wenn der Stamm Fragen hat, dann sollte er sie vor mich bringen, Harruel.“

„Aber du warst nirgendwo zu finden. Also haben wir angenommen, daß du mit Torlyri unterwegs bist. Und sie haben mich gefragt. Aber ich konnte ihnen keine Auskunft geben.“

Sie blickte ihn fest an. Er hatte eine Färbung in der Stimme, die ihr mißfiel und die sie niemals vordem bei ihm wahrgenommen hatte. Mit dem bloßen Ton der Stimme schien er Kritik an ihr zu unterstellen; es war ein scharfer nörgelhaft-schuldsuchender Ton. Beinahe enthielt er eine Herausforderung.

„Und du hast ein Problem, Harruel?“

„Problem? Ja, was denn für eins? Ich hab dir doch gerade erklärt, die fragen mich, wann wir von hier aufbrechen.“

„Das hätten sie mich fragen sollen.“

„Aber, ich hab dir doch gesagt, du warst nirgendwo zu finden!“

„Ja, eigentlich“, fuhr Koshmar fort, als habe Harruel gar nichts geäußert, „hätten sie gar niemand fragen dürfen, sondern einfach darauf warten sollen, daß man ihnen befiehlt, was sie tun müssen“

„Aber sie haben mich gefragt. Und ich hatte ihnen nichts Verbindliches zu sagen.“

„Genau“, sagte Koshmar. „Es gibt gar nichts, was du ihnen hättest sagen können. Du brauchst doch im Grunde gar nichts weiter zu sagen als: Wir werden hier aufbrechen, wenn Koshmar bestimmt, daß wir aufbrechen. Derartige Entscheidungen fallen unter meine Weisungsbefugnis. Oder hättest du Lust, Harruel, statt meiner zu bestimmen?“

Er wirkte bestürzt. „Aber, wie sollte denn das sein? Du bist doch der Führer, Koshmar!“

„Ja. Und du tätest gut daran, das nicht zu vergessen.“

„Ich verstehe nicht, worauf du anspielen.“

„Verschwinde!“ sagte sie. „Sei so gut und hau ab! Geh! Geh, Harruel!“

Kurz zuckte etwas wie Wut in seinen Augen auf — vermischt mit Bestürzung und vielleicht sogar Furcht. In letzterem war Koshmar sich unsicher. Sie hatte immer geglaubt, Harruel leicht durchschauen zu können. Diesmal ging dies nicht. Er stand einen Augenblick lang da, funkelte sie an, öffnete die Lippen und schloß sie wieder fest, mehrmals, als bedenke er verschiedenartige wütende Widerreden und verwerfe sie allesamt; und dann vollzog er widerwillig die Ehrenbezeugung, wandte sich gewichtig um und wanderte steifbeinig davon. Kopfschüttelnd schaute sie hinter ihm drein, bis er wieder ins Lager hinabgestiegen war.

Seltsam, dachte sie. Sehr seltsam.

Alle Leute schienen sich zu verändern, hier draußen unter den Unbilden des Lebens an diesem Ort ohne schützende Wände. Sie vermochte die Veränderungen in ihren Augen zu erkennen, in ihren Gesichtern, in ihrer Körperhaltung. Einigen schienen Not und Mühsal geradezu Auftrieb zu bringen. Konya war ihr aufgefallen, ein sonst stets stiller Mann, der lieber für sich blieb, der auf einmal beim Marsch inmitten der Kolonne sang und tanzte. Oder der Knabe Haniman, der immer dermaßen weichlich und träge gewesen war: Gestern war er an ihr vorübergerannt, und sie hatte ihn kaum wiedererkannt, so hurtig und lebensheftig war er geworden. Und da waren die anderen, die bleich und müde wurden auf dem Marsch: Minbain etwa, oder der Jungmann Hignord, die sich fortschleppten, mit hängenden Schultern und die ihr Sensororgan im Staub hinter sich dreinschleppten.

Und jetzt dies: Harruel, der herumstampfte und von ihr forderte, daß sie ihm ihren Marschplan mitteile, und der fast so tat, als glaube er sich berechtigt, ihren Rang als Führer des Stammes einzunehmen. So groß und so kräftig er sein mochte, nie zuvor hatte er Koshmar gegenüber derartige ehrgeizige Regungen erkennen lassen. Stets war er auf seine grobschlächtige brummige Weise höflich-ergeben geblieben, gehorsam und verläßlich. Aber hier in diesem grenzenlosen Land ohne Mauern schien etwas Schwarzes, störrisch Starres in seine Seele eingezogen zu sein. Und in jüngsten Tagen schien es ihm kaum noch möglich, sein sehnliches Verlangen, den Stamm an Koshmars Statt zu führen, zu verhehlen.

Natürlich konnte derlei niemals geschehen. Seit ewigen Zeiten war ein Weib der Führer des Stammes gewesen, und nie hatte es darin, seit Begründung des Volks, eine Ausnahme gegeben, und so würde es auch ohne Wandel weiter sein. Gewiß, ein Mann wie Harruel war größer und kräftiger, als jemals eine Frau es ein könnte, aber der Stamm würde kaum einem männlichen Anführer vertrauen, gleichgültig, wie stark er sein mochte. Männer mangelte es an Klugheit; Männer waren bar der Fähigkeit, die Wichtigkeiten unter langfristigen Gesichtspunkten abzuwägen; Männer — jedenfalls die Starken Männer — waren zu plumpdirekt und handelten zu rasch und viel zu hastig überstürzt. Es steckte in ihnen einfach zu viel an zorniger Wut, Yissou mochte wissen, warum, aber es hinderte sie daran, ungetrübt zu denken. Koshmar erinnerte sich, wie Thekmur ihr gesagt hatte, daß die blinde Wut der Männer aus diesen Kugeln ströme, die sie zwischen den Beinen trugen, was ihnen beständig ins Gehirn steige und sie deshalb zu vernünftiger Ausübung von Herrschaft unfähig mache. Dies war während der letzten Lebenswochen Thekmurs gewesen, kaum wenig später, nachdem sie Koshmar offiziell zur Nachfolgerin deklariert hatte. Und Thekmur hatte wahrscheinlich ihre Kenntnisse über die Männer in enger Bekanntschaft mit diesen erworben, denn sie hatte oft Männer erkannt, in der Weise, wie Frauen Männer erkennen (was Koshmar selbst nie in ihrem Leben getan hatte).

Ihr Götter, dachte sie. Ist es etwa das? Begehrt Harruel mich?

Es war eine zugleich erregende und entsetzliche Vorstellung. Sie würde ihn von nun an strikt beobachten müssen. Denn soviel war klar, etwas lastete auf Harruels Seele, was da vordem nie sichtbar geworden war.

Vielleicht war es so, daß er — wenn er schon nicht selbst Führer des Volkes werden konnte — wenigstens der Verführer und Häuptling der Führerin sein wollte. Und das würde sie natürlich niemals erlauben. Aber — sie brauchte Harruel, sie brauchte seine große Kraft und Stärke und seinen kühnen Mannesmut, ja, sie brauchte sogar seinen Zorn und seine Wut. All dies erforderte sorgfältiges Überdenken.

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