6. Kapitel Die Kunst des Wartenkönnens

In wundersamem Staunen bezogen Koshmar und ihr Volk Wohnung in der großen Stadt der untergegangenen Saphiräugigen.

In Trümmern und zerfallend war Vengiboneeza noch immer ein Ort, dessen Pracht das Vorstellungsvermögen aller weit überstieg. Die Lage war vorzüglich, in einer geschützten Senke, die nördlich und zum Teil auch östlich von einem goldbraunen Gebirgswall abgeschirmt war, während südlich und östlich schützend der dichte Dschungel lag, durch den der Stamm soeben gezogen war, und im Westen ein dunkler See — oder vielleicht ein Meer — von solcher Weite, daß es unmöglich war, bis an das andere Ufer zu spähen. Von Westen her wehten beständig warme Winde und trugen Feuchtigkeit von dem Wasser heran. Die Regen fielen häufig, und das Land grünte üppig. Es war Winter, die Zeit der kurzen Tage, die zugleich auch die Regenzeit zu sein schien, und sie war wirklich außerordentlich naß. Aber tagsüber war die Luft mild, und Frost gab es nur in ganz wenigen Nächten, und auch dann nur in der Stunde kurz vor der Dämmerung. Als die Tage länger wurden, trat eine sichtliche Wachstumssteigerung ein, und die Witterung wurde sogar noch wärmer. Alles war nun sehr anders als während jener ersten erbärmlichen Monate nach dem Auszug aus dem Kokon, als sie die trostlosen kahlen Weiten im Herzen des Kontinents durchqueren mußten. Es war eindeutig: Die Zeit des Langen Winters war vorbei. Keiner zweifelte nun mehr daran.

Vengiboneeza war überall ringsum, weitgestreckt, gewaltig, unbegreiflich, eine in sich geschlossene, in ehrfurchtgebietendem Schweigen ruhende Welt. Vom Gestade des Meeres bis an den Rand des Dschungels und zu den waldbedeckten Vorbergen des Felsmassivs breitete sich die tote Stadt in alle Himmelsrichtungen aus, ohne erkennbare Planung, ohne erkennbare Geordnetheit. In einigen Teilen liefen die Straßen als breite offene Boulevards mit grandiosem Ausblick auf die Berge oder die See dahinter; in anderen Stadtbezirken waren die Straßen ein Geflecht winzigkleiner Alleen, die sich in verzweifelter Intimität ineinander wanden oder von hohen Mauern abgesperrt waren, die den direkten Zugang zu darunterliegenden Plätzen abriegelten. Vielerorts ragten hohe Türme auf, meist dichtgedrängt in Reihen zu zehnt oder zwanzig, manchmal aber — und dies waren dann die höchsten gewaltigsten Türme — standen sie in erhabener Vereinzelung über einer Umgebung von niederen Flachbauten mit grünen Kachelkuppeln.

Besonders direkt an der Küste lagen weite Stadtbezirke in Trümmern; doch vieles hatte auch standgehalten.

Der Lange Winter hatte hier weniger Narben hinterlassen als in den ungeschützten Ebenen im Osten, jedoch gab es auch hier der Narben genug. Während der Winterzeiten war die See mehr als einmal hochgegangen und hatte die näheren, tieferliegenden Bezirke überschwemmt. Man konnte an hohen Wänden uralte graue Wassermarken sehen, und auf Balkonen in Höhe der zweiten Stockwerke lagen Strudelteppiche von Sand und Geröll. Auf den Flachdächern häuften sich die verstreuten, zerschmetterten Knochen von Seegeschöpfen wie Schneedriften. Auch wurde deutlich, daß einst träge kriechende Eisflüsse von den Bergflanken herabgeflossen sein mußten und die Bauten in den höhergelegenen Bezirken ineinandergeschoben und zermalmt hatten. Auch sah es so aus, als wäre die Erde selbst aus ihren Tiefen heraufgebrochen und habe in vielen Teilen der Stadt die Straßendecke senkrecht aufgestülpt, Bauten gefährlich schiefgekippt oder zerquetscht, so daß sie in zerschmetterten Trümmerstücken und Scherben regenbogenfarbigen Metalls umherlagen.

„Wunderbar dabei ist aber“, sagte Torlyri, „daß überhaupt etwas übrig ist, nach diesen ganzen siebenmal hunderttausend Jahren.“

„Es hat sich bestimmt jemand darum gekümmert“, sagte Koshmar. „Das kann gar nicht anders sein.“

Und dies schien wirklich der Fall zu sein. Vielerorts sah man Anzeichen von Reparaturarbeiten, ja sogar von Wiederaufbau in größerem Umfang, als rechneten die Hüter der Stadt jederzeit mit der Rückkehr der Saphiräugigen und mühten sich, die Stadt einigermaßen empfangsbereit für sie zu machen. Aber wer waren diese Hüter? Nirgendwo sah man Anzeichen von Mechanischen oder Künstlichen irgendwelcher Art: der Ort schien vollkommen verlassen zu sein, bis auf die drei gewaltigen Wächter vor dem Tor, und die verließen ihren Posten niemals.

„Suche in den Chroniken!“ befahl Koshmar dem Hresh. „Und sage mir dann, auf welche Weise diese Stadt gewartet und erhalten wurde.“

Und er suchte höchst eifrig. Zwar entdeckte er eine ganze Menge über die Gründung und die Hochblüte von Vengiboneeza, aber nicht den geringsten Hinweis auf ihr Fortbestehen. Alles in allem hätten es auch die Gespenster der Saphiräugigen selbst sein können, die durch die Straßen huschten, um das Nötige zu tun.

Anfänglich wagte sich der Stamm noch nicht in die entfernteren Bezirke der Stadt vor. Koshmar führte sie nur gerade so tief in die Stadt, daß sie sich vor den Geschöpfen des Dschungels sicher fühlen konnten, nicht jedoch so weit, daß sie sich in dem Labyrinth zerstörter Straßen hätten verirren können. Später war noch Zeit genug für solche riskanten Unternehmungen; vorläufig galt es vor allem, Geduld zu wahren in diesen ersten Tagen voller Rätsel. Siebenhundertmal tausend Jahre lang hatten sie die Geduld aufgebracht, in einem einzigen Kokon in einem Berghang zu überleben. Koshmar selbst war keine außergewöhnlich geduldige Frau, doch sie bemühte sich unablässig, die Kunst zu meistern, die jeder weise Häuptling erlernen muß: das Wartenkönnen.

Sie suchte ein Viertel in der Nähe des Südtores aus, das nicht allzu stark zerstört war. Hier erhob sich ein prachtvoller sechseckiger Turm aus glattem blauroten Stein mit zahlreichen Fenstern über einem ausgedehnten Bezirk jener kleinen Gebäude mit den grünen Kuppeln. Diese wies sie mit — wie sie meinte — beträchtlichem Führungsgeschick den Stammesmitgliedern zu. Jedem der Zuchtpaare wurde ein eigenes Haus zugeteilt. Die Krieger bekamen ein Gemeinschaftsquartier, auf daß sie sich beständig auf die Füße treten mußten, wobei sie zum Teil diese ruhelose Energie loswerden konnten, die sonst vielleicht zu Ärger führen mochte. Den älteren Stammesangehörigen erlaubte man, in Dreier- und Vierergruppen zusammenzuhausen, damit sie sich gegenseitig um den anderen kümmern könnten, und sämtliche Kinder brachte man in einem Haus, direkt angrenzend an das der unverheirateten Arbeiterinnen, unter. Für sich selbst und Torlyri bestimmte Koshmar das dem großen Turm nächstgelegene Haus. Der Turm sollte der Stammestempel werden, und später, wenn sie erst einmal die Stadt durchstreiften, konnte er ihnen als Wahrzeichen dienen, um sie wieder sicher in ihren Heimatbezirk zurückzuführen, denn es hatte den Anschein, daß es keine Gegend in Vengiboneeza gab, von der aus man ihn nicht hätte sehen können.

Es war die glücklichste Zeit, die Koshmar je erlebt hatte. An jedem Tag mußte sie irgendeine Schwierigkeit lösen, irgendwelche Verordnungen erlassen, irgendwelche Entscheidungen treffen.

Im Kokon war sie oft von Unruhe und Unsicherheit erfüllt gewesen. Ihr starker Drang nach Führerschaft war überwiegend unerfüllt geblieben. Von ihrer Kindheit an war sie für das Häuptlingsamt geformt worden, und sie benutzte ihre Fähigkeiten mit Scharfsinn und Stärke. Aber sie war ein Anführer, der seine Führerschaft nicht einsetzen konnte, denn im Kokon war alles viel zu glatt verlaufen. Gewiß, sie erfüllte die ihr zustehende Rolle bei sämtlichen Ritualen, sie hielt Gericht und sprach Urteile, wenn Zwistigkeiten oder Zank ausbrachen, sie fungierte als Rat und Stütze für die Schwachen und als Besänftiger der Starken und Starrköpfigen. Darin bestand ihr Leben und ihre Aufgabe als Stammesführerin im Kokon.

Doch sie hatte ihre Tage verstreichen sehen, ohne einen wirklichen Zweck, ohne Ziel, und sie hatte das Ende ihrer Tage auf sich zukommen sehen, ohne daß ihre innere Ruhelosigkeit Linderung gefunden hätte. Obschon sie mit dreißig noch so lebensvoll war wie ein junges Mädchen, wußte sie doch, daß es auch für sie keinen Weg gab, dem heransausenden Grenzalter zu entrinnen. Das Gesetz galt absolut. Nur der Chronist durfte zuweilen über sein fünfunddreißigstes Jahr hinausleben. Für Häuptlinge jedoch gab es da keine Ausnahmen. Koshmar hatte sich oft darüber Gedanken gemacht, wie das in ein paar Jahren sein würde, wenn man sie aus der Ausstiegsluke stoßen mußte, gleichgültig wie lebensstark sie noch sein mochte, auf daß sie draußen in der Welt ihren Tod finde.

All das war nun anders. Jetzt war es von vordringlicher Bedeutung, daß sie allesamt so lange wie nur möglich lebten, daß jene, die dazu in der Lage waren, Kinder zu tragen, sich eifrig dieser Aufgabe widmeten.

Manche vom Stamm verstanden das nicht, jedenfalls anfangs. Anijang, der der älteste von allen war, kam nicht lange nach dem Einzug in Vengiboneeza zu Koshmar und sagte: „Dieser Tag ist mein Todestag. Was soll ich tun? Allein in den Dschungel wandern?“

„Anijang, es gibt keine festgesetzten Todestage mehr!“ hatte Koshmar gesagt und dabei gelacht.

„Keine Todestage? Aber ich bin fünfunddreißig. Ich habe ganz sorgfältig mitgezählt.“ Er holte eine brüchige alte Lederschnur hervor, die mit Knoten übersät war. „Da, hier ist der Tag.“

„Ja, bist du denn nicht noch stark und gesund?“

„Nun.“ Er zuckte die Achseln. Seine Schultern waren krumm, und die Haare um die Schnauze begannen grau zu werden, aber für Koshmars Blick sah er noch recht gesund und munter aus.

„Es besteht kein Anlaß, daß du sterben solltest, ehe die natürliche Zeit für dich gekommen ist“, sagte sie. „Wir leben jetzt nicht mehr im Kokon. Jetzt gibt es Platz für alle, und zwar solange sie leben können. Außerdem wirst du hier noch gebraucht. Es gibt hier viel zu tun für uns alle, und in Zukunft wird es noch mehr Arbeit geben. Wie könnten wir auf dich verzichten, Anijang?“

Der verwirrte, verlorene Ausdruck in den Augen des Alten verblüffte sie. Dann aber begriff sie, daß er schon vor langer Zeit seinen Frieden mit dem Tod gemacht hatte und nun nicht fähig war, die Gnadenfrist, den Aufschub willkommen zu heißen, ja nicht einmal ihn zu begreifen. Ihm, diesem durchschnittlichen, schlichten, denkträgen schwer schuftenden Mann, genügten die fünfunddreißig Jahre Leben. Er sah keinen Grund zum Weiterleben. Tod, das war für ihn nur ein unendlicher, friedlicher, angenehmer Schlaf.

„Ich soll also nicht gehen?“ fragte Anijang.

„Du darfst nicht gehen. Dawinno verbietet es.“

„Dawinno? Aber er ist doch der Vernichter.“

„Er ist der Ausgleicher“, sagte Koshmar. „Er gibt und er nimmt. Er hat dir dein Leben geschenkt, Anijang, und du sollst es noch viele künftige Jahre hindurch behalten.“ Sie ergriff ihn fest an den Armen und zog ihn an sich. „Freue dich, Mann, und juble! Du sollst lange leben! Geh und suche deinen Tvinnr-Gefährten und feiert diesen Tag!“

Mit schlurfenden Schritten ging Anijang davon. Er schien nichts zu begreifen; aber er würde sich fügen.

Manche andere, auch das wußte Koshmar, würden ähnlich verwirrt werden. Man würde das Problem mittels eines Häuptlingserlasses regeln müssen. Lange besprach sie sich mit Torlyri über das, was dabei zu erklären sein würde. Es fiel ihnen dermaßen schwer, die Formulierungen auszuarbeiten, daß sie schließlich ein Tvinnr vornahmen, wobei sie das nötige Tiefenverständnis fanden. Hierauf rief Koshmar den Stamm zusammen und verkündigte die Neue Ordnung.

Das Volk tue nicht recht, wenn es glaubte, daß die Götter jemals den frühen Tod von ihnen gefordert hätten. Sie gemahnte an die Lehren, mit denen sie erzogen seien. Die Götter hätten nur verlangt, daß das Volk auf ordentliche Weise im Kokon lebe, bis die Zeit des Auszugs gekommen war. Und da die Götter das Leben liebten, war es wichtig gewesen, daß ab und zu junges Leben in den Kokon Einzug halte; da aber der Stamm nicht leicht den Kokon erweitern konnte und weil die Nahrungsmittel knapp waren, hatten die Götter die Weisung erteilt, die Bevölkerung im Gleichgewicht zu halten. Fünfunddreißig Jahre und nicht mehr hatten sie leben dürfen, dann mußten sie den Kokon verlassen und sich ihrem Schicksal ausliefern, damit neues Leben Einzug halten könne. Für jedes Neugeborene ein Tod. Und keiner, verkündete Koshmar, bezweifelte jemals die Notwendigkeit und Weisheit dieser Anordnung.

Aber die erbarmungsvollen Götter brachten sie nun gnädig aus dem Kokon heraus in die Welt, und die alten Einrichtungen waren nicht mehr angemessen. Die Welt war riesenhaft groß — der Stamm war klein; Nahrung war leicht zu finden. Und deshalb war es nun das Verlangen der Götter, daß das Volk fruchtbar sei und sich mehre. Der Tod würde für jeden kommen, wenn es dem Willen der Götter so gefalle, aber nur dann. Dieses Jetzt, sagte Koshmar, sei die Zeit des Lebens, die Zeit der Freude, die Zeit des Wachsens für den Stamm.

„Und wie lange werden wir dann leben von nun an?“ fragte Minbain. „Werden wir ewig leben?“

„Nein“, erwiderte Koshmar. „Nicht ewig. Nur für die natürliche Zeitspanne, wie lang sie eben sein mag.“

„Schön“, sagte Galihine, „aber wie lang ist das?“

„So lange, wie vordem die Chronisten gelebt haben“, erklärte Koshmar. „Denn sie allein erfüllten ihre natürliche Lebenszeit.“

Immer noch blieben die Gesichter ausdruckslos.

„Ja, und wie lang ist denn das?“ wiederholte Galihine.

Koshmar warf Hresh einen Blick zu. „Sag mir, Knabe, wie lautete der Name des Chronisten, der die Lade vor Thaggoran hütete?“

„Thrask“, sagte Hresh.

„Thrask, ach ja. Ich hatte das vergessen, weil ich bei seinem Tod noch sehr jung war. Kaum einer unter euch war in Thrasks Tagen schon geboren, aber ich sage euch dieses, er lebte, bis er alt war und gebückt und bis sein Pelz ganz und gar weiß war. Und dies ist die natürliche Zeit.“

„Alt und gebückt sein“, sagte Konya und schauderte ein wenig. „Ich bin nicht so ganz sicher, ob ich das möchte.“

„Für Krieger“, sagte plötzlich der junge Haniman ziemlich vorlaut, „wird die natürliche Zeit ganz bestimmt kürzer gemacht, Konya.“

Die Versammlung löste sich unter Gelächter auf. Koshmar erkannte, daß größere Unsicherheit herrschte, als sie vorausbedacht hatte: Der Tod bedeutet für manche die Befreiung, begriff sie, und ist nicht der brutale Abbruch des Lebens, als der er ihr erschien. Aber sie würden lernen. Sie würden mit der Zeit die neue Lebensweise erfassen. Aber auch wenn sie noch sich mit dem Neuen Denken herumschlugen, ihre Kinder würden es nicht mehr tun, und ihren Kindeskindern würde es schwerfallen, überhaupt nur zu glauben, daß einstmals ein Grenzalter und ein Sterbetag im Stamm wirklich Gesetz gewesen waren.

Koshmar sah auch, daß es nicht damit getan war, den Zwangstod abzuschaffen, sie mußte gleichzeitig auch die Produktion neuen Lebens fördern. Deshalb widerrief sie in einem weiteren neuen Gesetz die Geburtenbeschränkungen. Nicht länger mehr, verkündete sie, dürfe die Zeugung und Aufzucht von Nachkommen nur auf einige wenige Partnerpaare des Stammes beschränkt bleiben — und bei diesen gar jeweils auf nur ein einziges Kind, das gezeugt werden sollte, wann immer der Stamm Ersatz benötige für einen, der das Grenzalter erreicht habe. Nein, von nun an könne jeder, der das Tvinnr-Alter erreicht habe, Kinder in beliebig großer Anzahl haben. Nein, könne nicht bloß, sondern sollte sie haben. Der Stamm sei zu klein, dem müsse Abhilfe geschaffen werden.

Sogleich traten immer neue junge Paarungen vor Koshmar und ersuchten um die Kopulationsrituale. Als erste kamen Konya und Galihine, danach Staip und Boldirinthe. Dann — höchst überraschend — Harruel mit Minbain, die den Hresh von ihrem Partner Samnibolon getragen hatte, und Samnibolon war schon vor langem am Fieber gestorben. Gedachte Minbain allen Ernstes noch einmal an Kinder? Koshmar fragte sich, ob es jemals eine Frau im Stamm gegeben habe, die zwei Kinder zur Welt brachte, und noch dazu von verschiedenen Vätern. Aber was soll es, mahnte sie sich zum tausendstenmal, wir haben eine Neue Zeit. Und hatte sie nicht selbst verkündet, daß alle dazu Befähigten die heilige Pflicht hätten, Nachwuchs zu produzieren? Warum also nicht Minbain, die ja noch im fruchtbaren Alter stand? Warum nicht jede unter uns?

Und warum nicht du selbst, Koshmar? fragte überraschend eine Stimme in ihrem Innern.

Die Vorstellung war so seltsam, daß sie laut losprustete vor Lachen. Ich bin ein Häuptling, gab sie sich selbst Antwort und versuchte sich vorzustellen, wie sie mit riesig angeschwollenem Bauch in einer Laubhütte lag, umringt von hilfreichen Weibern, während ein Kind sich den Weg aus ihrem Leib zu bahnen mühte. Im übrigen konnte sie sich nicht einmal in den Armen eines Mannes sehen, seine Hände auf ihrer Brust, seine Hände, die ihre Schenkel spreizten. Oder — wie immer hatten sie es denn gern? Die Frau bäuchlings auf dem Boden liegend, und der Mann wirft sich mit seinem Gewicht über sie und nimmt sie von hinten — nein, nein, das war nichts für sie, für sie war die Führerschaft als Bürde schwer genug.

Aber warum nicht Torlyri? fragte die selbe Stimme.

Koshmar zog zischend die Luft ein und preßte die Fäuste in die Flanken, als hätte jemand ihr einen Bauchtritt versetzt. Die warme liebe Torlyri? Ihre Torlyri? Aber, sie war doch schon die Mutter obs ganzen Stammes, ihre Torlyri. Sie brauchte nicht auch noch selbst Kinder zu gebären. Wie hätte auch die Opferfrau Zeit für Kinderaufzucht finden sollen, wie? Sie hatte so vieles andere zu tun.

Dennoch, das Bild wollte nicht von ihr weichen: Torlyri in den Armen eines Kriegers, dessen Gesicht sie nicht sehen konnte. Torlyri keuchend und stöhnend. Torlyris Sensororgan peitschenzuckend, wie es bei der Kopulation geschieht. Torlyri, die ihre Schenkel öffnet.

Nein. Nein. Nein. Nein!

„Aber warum nicht Torlyri? “ fragte die selbe Stimme wieder.

Koshmar ballte die Fäuste.

Es ist die Neue Zeit, gewiß, sprach sie bei sich selbst. Aber Torlyri gehört mir.

Taniane fragte: „Was haben diese Dinger der Saphiräugigen damit gemeint, als sie sagten, wir seien Affen, keine Menschlichen?“

„Nichts“, beschied Hresh sie. „Es war weiter nichts als eine blöde Lüge. Die haben nur uns runtermachen wollen.“

„Aber warum wollen die so was machen?“

„Weil wir lebendig sind“, sagte Hresh. „Und sie sind Sachen, die nie lebendig waren, Dinge, von einer ebenfalls toten Rasse erbaut.“

Harruel sagte: „Sie haben uns Affen genannt. Ich weiß, was Affen sind. Ich hab die zwei erlegt, die dich im Dschungel angegriffen haben. Und beim Einzug in die Stadt tötete ich noch mehr. Ich wollte, ich hätte sie alle umgebracht, die dreckigen scheißeschmeißenden Tiere. Was sind die, diese Affen, die angeblich unsere Verwandten sind?“

„Tiere“, sagte Hresh. „Nur Tiere.“

„Und wir, sind wir auch nur Tiere?“

„Wir sind menschliche Wesen“, sagte Hresh.


* * *

Hresh sagte solche Worte, als könne an ihrem Wahrheitsgehalt kein Zweifel bestehen. Doch in Wirklichkeit empfand er keine Gewißheit, sondern tapste nur verwirrt in einem dunklen Sumpf umher.

Ein Menschlicher zu sein, dachte er, das war etwas Großes und Herrliches. Es hieß, Glied in einer endlosen aufsteigenden Kette zu sein, die von den urältesten Zeiten der Welt heraufreichte. Ein Affe zu sein — oder auch nur der Vetter eines Affen —, das war kaum besser als diese übelriechenden und schnatternden dummen Viecher, die an ihren Sensororganen von den Bäumen schaukelten — nein, verbesserte Hresh sich, von ihren Schwänzen — dort drüben am Stadtrand im Dschungel.

Also, was sind wir, fragte Hresh sich, Menschen — oder Affen?

Im Buch des Weges der Chroniken stand geschrieben, daß zum Winterende die Menschlichen aus ihren Verstecken herauskommen und zu dem zerstörten Vengiboneeza ziehen würden, wo ihnen die Dinge zuteil werden würden, die sie brauchten, um die Herrschaft über die ganze Welt zu erlangen. Dies jedenfalls las Hresh aus dem Text heraus; und er interpretierte es sich auch so, daß die Schriften das ‚Volk‘, sein Volk, meinten, wenn im ‚Buch des Weges‘ von den ‚Menschlichen‘ die Rede war.

Aber stimmte das auch? Die Chroniken waren nicht in den einfachen Worten alltäglicher Rede abgefaßt; sie setzten sich aus verkapselten Denkpaketen zusammen, zu denen der Leser durch seine Geisteskräfte Zugang erhält. Und darin eröffnete sich ein weites Feld für Fehlinterpretationen. Das, was von dem Pergamentblatt in seine Finger sprang und von seinen Fingern in seinen Verstand, wenn er im Buch des Weges studierte, war ein Konzept, das das ‚Volk‘ zu meinen schien, also wohl Jene-für-die-das-Buch-geschrieben-ist. Jedoch konnte es ebenso leicht auch bedeuten Menschliche-die-anders-sind-als-das-Volk. Bei genauerem Studium erkannte Hresh, daß die einzige unstrittige Lesart jene war, die sagte, daß ‚Jene-die-sich-für-Menschliche-halten‘ am Winterende nach Vengiboneeza kommen würden, um die Schätze der Stadt für sich zu fordern.

Jedoch, es war möglich, sich für menschlich zu halten, auch ohne es wirklich zu sein!

Die künstlichen Wächter der Saphiräugigen, sagte Hresh zu sich, erklären uns, wir seien Affen — oder doch Abkömmlinge von Affen. Koshmar erwidert erzürnt, wir seien Menschliche. Wer hat recht? Meint das Buch des Weges, daß wir nach Vengiboneeza kommen werden — oder irgendwelche geheimnisvollen sie?

Alles übrige im Buch des Weges schien für das ‚Volk‘ und zu seinem Nutzen geschrieben zu sein. Es war schließlich ihr Buch, von ihnen und für sie geschrieben. Also, wenn das Buch des Weges sagt ‚Menschliche‘, dachte Hresh, dann muß es sich doch gewißlich auf uns beziehen. Aber sagt das Buch des Weges tatsächlich ‚Menschliche‘, fragte sich Hresh. Oder war dies nur die Bedeutung, die das ‚Volk‘ dem Wort unterlegt hat, weil es sich im Verlauf der Jahrhunderte angewöhnt hat, sich als menschlich zu betrachten, auch wenn dies tatsächlich nicht der Fall war?

Er fand aus der Verwirrung nicht heraus.

Er fragte sich: Aber spielt es wirklich eine Rolle, ob wir menschlich sind oder etwas anderes? Wir sind, was wir sind, und was wir sind, das ist keineswegs irgendwie niedrig oder verächtlich.

Nein. Nein.

Genauer als irgend jemand sonst wußte er, wie diese Affenwesen aus dem Dschungel waren. Er hatte ihnen direkt in die Augen geblickt und die Tierhaftigkeit dort gesehen. Um seinen Hals hatte sich ein kräftiger behaarter Schwanz geschlungen und ihn fast zu Tode gewürgt. Er hatte das Keckern und sinnlose Geschnatter gehört. Aus ganzer Seele verabscheute er sie, und aus ganzer Seele betete er, die Künstlichen möchten gelogen haben und zwischen seinem Volk und den Affen des Dschungels gebe es nicht einmal eine allerfernste Verwandtschaft.

Fest redete er sich ein, daß er und sein Volk menschliche Wesen seien, genau wie Koshmar es behauptete. Aber er wünschte sich auch sehr, daß er dessen so gewiß sein könnte, wie sie es zu sein schien. Er wünschte, er fände irgendeinen Beweis. Aber bis er den nicht gefunden hatte, würde er eben weiter mit seinen quälenden Zweifeln leben.

Das Volk mußte Vengiboneeza mit anderen Lebewesen, mit kleineren, teilen, von denen manche sehr unangenehm waren.

Die Dschungelaffen kamen manchmal herein, kletterten auf den hohen Simsen und Dachkronen nahegelegener Häuser herum und bewarfen die unten mit Gegenständen — Steinchen, Kotkugeln, kleinen scharfkantigen knallroten Beeren, die wie glühende Kohlen brannten. Schlangen mit hochgespreizten grünen Hauben hinter dem Kopf waren überall, ringelten sich schläfrig zwischen Steinen, entrollten sich aber dann und wann zischend und stießen zu. Das Mädchen Bonlai wurde gebissen, ebenso der Jungkrieger Bruikkos, und beide lagen viele Tage krank darnieder, fiebernd und trotz der Arzneien und Bannsprüche, die Torlyri bei ihnen anwandte, von Schmerzen gepeinigt.

Salaman stieß beim Stöbern zwischen zwei schrägbedachten dreiseitigen Alabastergebäuden, etwa hundert Schritte hinter dem Zentralturm auf eine Platte im Boden, auf der ein Metallring befestigt war, und er beging den Fehler, daran zu ziehen. Die Platte ließ sich mühelos heben, aber sofort kamen aus den Tiefen der Erde in Horden schimmernde, grüngolden blitzende Geschöpfe herauf, nicht länger als ein Mannsdaumen und umschwärmten ihn. Ihre Augen waren riesig und glitzerten wie feurigrote Edelsteine, und ihre klickenden kleinen Kiefer waren messerscharf. Salaman mußte ein Dutzend Bisse erdulden, aus denen sogleich Blut floß. Er brüllte vor Schmerzen, und Sachkor und Moarn kamen hinzugelaufen, und zu dritt gelang es ihnen, die Angreifer abzuwehren, aber inzwischen hatten sich die kleinen Bestien überall hin verbreitet. Allerdings waren ihre Leiber weich und konnten leicht mit dem Schlag eines Strohbesens zerschmettert werden. Nach einstündigen Kampfmaßnahmen seitens einer sechsköpfigen Kampftruppe des Stammes waren sämtliche Biester tot. Während der Nacht sammelten unsichtbare Aasfresser die kleinen Leichen auf der Plaza auf, und im Morgengrauen war nichts mehr von ihnen sichtbar.

Aber jeder Tag brachte irgendwelchen neuen Ärger mit sich. Es gab vielerlei Arten von stechenden Insekten, kleine und schwierige und hartnäckige. Es gab giftige kleine Eidechsen, die leise zischten. Es gab Vögel mit spitz zulaufenden durchsichtigen Flügeln und zierlichen zartblauen Schnäbeln, die auf hohen Wipfeln aufbäumten und jeden, der unter ihnen vorbeikam, mit einem schimmernden klebrigen Speichel beschossen, der auf der Haut schmerzhafte Striemen hervorrief.

Doch alles in allem war die Stadt kein unangenehmer Aufenthaltsort. Es gab sogar Leute, die sagten, das Leben hier sei beinahe so angenehm wie damals im Kokon. Und andere erklärten gar, trotz all der kleinen Ärgernisse und der Existenz unter dem furchtbaren freien Himmel sei das Leben hier doch wahrlich jenem in den alten Tagen im gemütlichen engen Bau im Bauch des Berges vorzuziehen.

An einem Tag in der fünften Woche nach dem Einzug in Vengiboneeza rief Koshmar Hresh vor sich und sprach zu ihm: „Morgen sollt ihr, du und Konya, beginnen die Stadt zu erforschen.“

„Konya? Warum Konya?“

„Ja hast du etwa gedacht, ich würde dich allein ausschicken? Wir können nicht Gefahr laufen, dich zu verlieren, Hresh.“

Das war verdammt ärgerlich. Er hatte sich vorgestellt, daß er sich nach eigenem Belieben werde umsehen können, wenn Koshmar ihn endlich in die Stadt hinaussandte, daß er ungestört denken könne und seine Nase überall hineinstecken, wo er Lust dazu empfand, ohne dabei beständig Rücksicht auf einen klobigen großen Klotz von reizbarem Krieger nehmen zu müssen, der auf ihn aufpassen sollte. Hresh brachte Einwände vor, doch umsonst. Die Saphiräugigen, sagte Koshmar, konnten möglicherweise die Stadt mit tödlichen Fallen übersät haben; oder vielleicht wären die weiter außerhalb gelegenen Bezirke von den Brüllaffen besetzt, oder von einer unbekannten Art gemeiner Insekten oder Reptilien mit giftigem Biß. Hresh sei für den Stamm zu wertvoll. Nein, sie wolle da keinerlei Risiko eingehen. Einer der Krieger müsse mit ihm ziehen. Entweder dies, beschied sie Hresh, oder er müsse in der Siedlung bleiben und ältere, kräftigere Männer würden ohne ihn die Erkundungen durchführen.

Hresh war inzwischen klug genug geworden und wußte, wann der Versuch sich lohnte, gegen Koshmars Entscheidungen zu opponieren, und wann man sich am besten ihren Wünschen fügte. Er verzichtete.

Am Morgen des bestimmten Tages war es warm und hell, die tiefkriechenden Bodennebel wurden rasch von der Sonne aufgesogen. Konya und er standen auf dem Platz vor dem Großen Turm. „In welche Richtung willst du gehen?“ fragte Konya.

Hresh hatte keinen Plan. Doch er spähte äußerst ernsthaft nach rechts und nach links, ganz so, als sei er mit tiefen Überlegungen beschäftigt, dann streckte er den Zeigefinger geradeaus und deutete auf einen breiten eindrucksvollen Boulevard, der zu einem der grandiosesten Teile der Stadt zu führen schien.

„Da lang“, sagte er.

Anfangs schritt Konya vor ihm her und stampfte mit den Beinen auf das Pflaster, um zu prüfen, ob es ihr Gewicht tragen werde, spähte in Türöffnungen und Seitengassen nach verborgenen Feinden, pochte mit dem Ende seines Speeres gegen die Mauern von Gebäuden, um sich zu vergewissern, daß sie nicht zusammenfallen würden, wenn er und Hresh daran vorbeigingen. Aber als es nach einer Weile deutlich wurde, daß nirgends wilde Bestien sprungbereit lauerten, daß die Straßen unter ihnen nicht einbrechen, daß die Häuser nicht zusammenstürzen würden, eilte Hresh voraus und wandte sich allem zu, was seine Neugier erregte, und Konya erhob dagegen keine Einwände.

Hresh war es, als betrete er eine verzauberte Welt. Er war vor Erregung ganz benommen, und seine Augen zuckten dermaßen hastig von einem Ding zum anderen, daß ihm der Kopf zu dröhnen begann. Er wollte alles mit einem einzigen gewaltigen gierigen Schluck in sich hineintrinken.

Überall sah er Bauten, deren Großartigkeit und massige Gestalt ihm den Atem verschlugen. Fast schien die Große Welt noch zu leben. Jeden Augenblick, stellte er sich vor, konnten aus diesem Bau da Saphiräugige oder Vegetalische oder Seeherren auf die geschwungenen Zinnen strömen, oder aus jenem anderen dort, das in zarten Filigranbögen aufstieg, die wie gefrorene Musik wirkten, oder jenem dort mit seinen gelben Türmen und weitgespannten Flügeln.

„Hier herein“, rief er Konya zu. „Nein, lieber das da! Nein, dies sieht noch besser aus! Was hältst du davon, Konya?“

„Ach, welches du willst“, erwiderte der Krieger stumpfsinnig. „Mir kommen sie alle gleich gut vor.“

Hresh grinste. „Wir werden viele wunderbare Dinge finden. Das steht in den Chroniken. Alles ist erhalten geblieben, die wundersamen Maschinen, die sie in der Großen Welt benutzt haben. Wir werden es alles vorfinden, genau da, wo die Saphiräugigen es zurücklassen mußten, als die Todessterne kamen.“

Aber er fand sehr bald heraus, daß dem leider ganz und gar nicht so war.

Viele der äußerlich so guterhalten wirkenden Bauten waren in ihrem Innern nur noch Trümmer. Manche waren leere Schalen, in denen nichts weiter war als leise rieselnder uralter Staub. Andere waren in sich zusammengestürzt, und die einzelnen Stockwerke lagen chaotisch über- und durcheinander, und man hätte ein Heer von kräftigen Gräbern benötigt, um in diese Schutthügel vorzudringen. Bei wieder anderen Gebäuden scheinbar unversehrten Fassaden und Gehäusen genügte die leiseste Berührung, um sie zu dunklen Dunstwolken zerstieben zu lassen, wenn Hresh ihnen nahekam.

„Wir sollten jetzt aber umkehren“, sagte Konya schließlich, als die purpurnen Schatten des Nachmittages zu wachsen begannen.

„Aber wir haben nichts gefunden!“

„Morgen ist auch noch ein Tag“, erklärte Konya.

Es war ihm arg peinlich, daß er mit leeren Händen von seiner Expedition zurückkehren mußte, und er konnte Koshmar kaum ins Gesicht blicken, als er Bericht erstattete.

„Nichts?“ fragte Koshmar.

„Nichts“, murmelte Hresh kläglich. „Noch nicht.“

„Nun, morgen ist auch noch ein Tag“, sagte Koshmar.

Und er zog beinahe Tag um Tag aus, nur nicht an Tagen, an denen es regnete. Gewöhnlich begleitete ihn Konya, manchmal auch Staip; niemals Harruel, denn dieser war zu riesenhaft und überwältigend, und Hresh erklärte Koshmar unverblümt, daß er niemals etwas Vernünftiges zustandebringen werde, wenn ihm dabei Harruel beständig seinen Atem ins Genick schnaufte. Er hätte auch liebend gern auf Konya oder Staip verzichtet, doch dies untersagte Koshmar ganz strikt, und widerwillig mußte er zugeben, daß sie recht habe, wenn sie ihn nicht allein in die Stadt ziehen ließ. Kaum sonst jemand im Stamm konnte überhaupt lesen, von der Auslegung der Chroniken ganz zu schweigen. Wenn Hresh etwas zustieß, würde das Volk hilflos sein, aller Kenntnis der Vergangenheit beraubt sein und ohne Hoffnung auf Verständnis und Kunde des Künftigen.

Nach einigem, als Koshmars Befürchtungen bezüglich der Gefahren in der Stadt sich ein wenig gelegt hatten, zog Hresh manchmal mit Orbin als Begleiter aus.

Orbin war zwar nicht älter als er, aber er war stets größer und stabiler gewesen, und jetzt wuchs er dermaßen rasch, daß es so aussah, als werde er in wenigen Jahren ebenso gewaltig und stark sein wie Harruel selber. Und noch etwas später wählte Hresh sich Haniman als Gefährten und Leibwächter. Zur allgemeinen Verblüffung wuchs auch Haniman zu einem großen und starken und sogar einigermaßen beweglichen Jüngling heran. Er war nun dem Haniman, den Hresh im Kokon gekannt hatte, ganz und gar nicht mehr ähnlich, der so langsam und feist und tolpatschig und — wie es den Anschein hatte — aufreizend dumm gewesen war. Der Treck quer durch den Kontinent hatte ihn anscheinend verwandelt, oder aber, bedachte Hresh, es hat mehr in Haniman gesteckt von Anfang an, als ich zu erkennen bereit war.

Es machte aber keinen Unterschied, mit wem er auszog — gleich ob Konya oder Staip, Orbin oder Haniman — oder in welcher Richtung er die Stadt durchforschte — nach Nord oder Süd, Ost oder West. Zu seiner beschämten Erbitterung vermochte er nämlich nichts zu entdecken, was von rgendwelchem denkbaren Nutzen gewesen wäre, höchstens gelegentlich ein verbeultes Stück Blech oder Scherben trüben Glases.

„Du siehst so traurig aus“, sagte Taniane. „Es ist enttäuschend, nicht?“

„Ach, da draußen gibt es massenhaft Sachen. Bald werde ich was finden.“

„Ich bin sicher, daß du das tust.“ Taniane schien sich stark für seine Explorationen zu interessieren. Er fragte sich, warum. Vielleicht hatte er auch sie unterschätzt. Sie war inzwischen größer als er und wuchs rasch weiter, und ihr Verstand schien sich zu dehnen und zu vertiefen und in alle Richtungen zu strecken. In ihren Augen lag ein ungewöhnlicher Ausdruck, ein seltsames forschendes Leuchten, das auf verborgene Kompliziertheit schließen ließ. Es war, als wäre ihre fullenhafte Mädchenhaftigkeit nur die Maskierung für etwas dunkler Fremdartiges. Eines Tages bat sie ihn, er möge ihr das Lesen beibringen, was ihn ziemlich überraschte. Also begann er sie zu unterrichten. Er gewann ein unerwartetes Vergnügen daraus, wenn er mit ihr an einen stillen Ort, fern von den anderen, sich zurückzog und ihr die Geheimnisse der geheiligten Kunst erläuterte. Dann jedoch kam einige Zeit später auch Haniman und bekundete Interesse am Lesenlernen, und das verdarb natürlich alles. Hresh konnte ihn schlecht zurückweisen, doch damit fanden auch die Stelldicheins mit Taniane ein Ende, denn er verfügte nicht über genug Zeit, um beiden Privatunterricht zu erteilen, und nach einiger Zeit kam er auf den Gedanken, daß Haniman ihn genau aus diesem Grund darum gebeten hatte.

Das große Rund der Jahreszeiten drehte sich weiter. Den milden Regenwinter löste eine trockenere, heißere Zeit ab, und danach kam eine Zeit voll kühler Winde aus dem Osten und kündigte die Wiederkehr des Winters an. Unerschütterlich zog Hresh weiter suchend durch die Ruinenstadt. Durch eine staubige leere Haushülse nach der anderen stöberte er und fand nichts. Er kochte vor Ungeduld. Er fragte sich, ob er jemals irgend etwas Verwendbares finden werde.

Allmählich sah es nämlich so aus, als sei Vengiboneeza vollkommen nutzlos.

Aber was war dann mit den Weissagungen im Buch des Weges? Waren sie bloßer Lug und Trug? Und angenommen, er entdeckte niemals etwas in diesen Ruinen, wie es mehr und mehr den Anschein hatte? Bedeutete dies dann, daß die Schätze der Stadt wahrhaftig ausschließlich den wirklich Menschlichen vorbehalten bleiben sollten, wer immer und wo immer die sein mochten? Und daß also die Leute vom Volk in Wirklichkeit doch nichts anderes waren als arrogante aufmüpfige Affen, die sich zur Krone der Schöpfung hochstilisierten und in einen Rang erhoben, in dem sie nichts zu suchen hatten?

Hresh kämpfte erbittert gegen diese niederschmetternde Schlußfolgerung an. Jedoch tauchte sie wieder und immer wieder aus den Tiefen seines Denkens herauf und quälte ihn.

Er suchte immer weiter und immer ferner und ferner von der Niederlassung des Stammes. Inzwischen wanderte er oftmals zu weit, als daß er am selben Tag noch hätte zurückkehren können, und er ersuchte um die Erlaubnis und erhielt sie, an irgendwelchen allzu weit entfernten Forschungsstätten über die Nacht ein Lager errichten zu dürfen. Für solcherlei Exkursionen mußte er zwei Leibwächter mit sich nehmen, in der Regel Orbin und Haniman, auf daß einer während der nächtlichen Stunden wachbleiben und Wache halten könne. Doch stießen sie nie auf Gefahren, auch wenn gelegentlich ein streifendes Dschungeltier äsend vorbeizog und ein-, zweimal eine Affenhorde lärmend durch die oberen Geschosse der umliegenden Gebäude tobte, sich durch die leeren Fensterhöhlen hantelte und wütend von einer Zinne zur nächsten sprang.

Die Ausmaße und die Vielschichtigkeit der Stadt verwirrten Hresh noch immer, doch nach Ablauf eines Jahres, oder beinahe, kannte er sich darin weit besser aus als irgendwer sonst vom Volk. Er als einziger sah in Vengiboneeza nicht nur ein vollkommen unbegreifliches Labyrinth. Er teilte die Stadt in Zonen auf und begann jeden Sektor nach einem der Fünf Himmlischen, und jeden dieser fünf Sektoren unterteilte er wiederum in fünf bis zehn Unterbereiche, die er nach Angehörigen des Stammes benannte. Sodann fertigte er eine schlichte auf einen alten Pergamentstreifen gezeichnete Planskizze der Stadt an, die er die ganze Zeit über mit sich trug.

Taniane sah den Plan einmal, als er ihn zufällig aus dem Leibgurt holte, und fragte: „Was ist denn das? Lernst du jetzt auch noch, wie man Bilder schreibt?“

„Ach, das ist weiter nichts von Bedeutung.“

„Darf ich’s mal anschauen?“

„Lieber nicht.“

„Ich lach dich auch bestimmt nicht aus, ich verspreche es dir!“

„Es — es ist was Heiliges“, sagte er lahm. „Das darf nur der Chronist ansehen.“

Er überlegte sich, warum er ihr wohl diese Lüge aufgetischt hatte. An dem Stadtplan war überhaupt nichts Heiliges. Ganz im Gegenteil, es bestand nicht nur kein Grund zur Geheimhaltung, sondern er wußte, daß er wahrscheinlich sogar noch Abschriften anfertigen sollte, damit auch die übrigen vom Volk endlich eine Art Grundbegriff von der Stadt bekämen. Doch irgend etwas in ihm ließ ihn zögern. Seine Kartenskizze verlieh ihm Macht über die Stadt — aber auch Macht über den Rest des Stammes. Die Lust, die er aus diesem Exklusivwissen gewann, war nicht besonders nobel, das wußte Hresh, doch war es ein unverfälschtes Vergnügen, und überhaupt, ihm gefiel es eben so.

An einem Tag im Frühwinter, als Hresh wieder einmal bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele betrübt war über die enttäuschende Ergebnislosigkeit seiner fruchtlosen Suche, begab er sich wieder zum südlichen Haupttor, an dem er auf die drei künstlichen Riesen gestoßen war, die von den Saphiräugigen dort zurückgelassen worden waren. Sie standen noch immer am selben Ort, bei den großen Säulen aus grünem Stein, schweigend, bewegungslos, erhaben.

Er schritt um sie herum, bis er vor ihrem Angesicht stand. Und diesmal starrte er ohne Furcht oder Ehrfurcht zu ihnen hinauf.

„Wenn ihr etwas anderes als Maschinen wäret“, sagte er, „dann würdet ihr wissen, daß es reine Zeitverschwendung war, daß ihr hier diese ganzen Tausende von Jahren Wache geschoben habt.“

Das Ding zur Linken blickte ihn mit einem beinahe amüsierten Funkeln in den riesenhaften leuchtenden Augen an.

„Ist dies an dem und wahr, kleiner Affe?“

„Du sollst mich nicht so heißen! Ich bin menschlich! Ein Mensch!“ Hresh wies erzürnt auf das Monster in der Mitte, den Saphiräugigen, der Koshmar und ihrem Volk seinerzeit schließlich die Erlaubnis zum Betreten der Stadt gegeben hatte. „Du selber hast dies zugestanden! ‚Also seid ihr von nun an die Menschlichen‘ das hast du uns gesagt.“

„Ja, das stimmt“, sagte der Saphiräugige in der Mitte. „Ihr seid jetzt die Menschen.“

„Hast du das gehört?“ wandte sich Hresh an den Linken Riesen.

„Ich habe. Und ich stimme zu: Ihr seid von nun an die Menschen. Was immer ihr davon haben mögt. Aber warum sagst du, wir hätten unsere Zeit vergeudet, kleiner Affe?“

Hresh würgte seine Verärgerung hinunter.

Frostig sagte er: „Weil ihr Wache haltet über eine leere tote Stadt. In unseren heiligen Schriften steht, daß es hier nützliche und brauchbare Dinge aufbewahrt geben soll. Aber hier ist nichts außer zerstörten Gebäuden, Elend, Chaos, Staub und Abfall.“

„Eure Bücher sagen die Wahrheit“, sprach der mittlere Riese.

„Ich habe überall gesucht. Es ist nichts da. Die Bauten sind leer. Ein herzhaftes Niesen, und die halbe Stadt stürzt zusammen.“

„Du solltest tiefer schürfen“, sagte der Saphiräugige zur Linken.

„Und suche, forsche mit dem, was dir helfen kann zu finden, was du suchst“, ergriff der Riese rechter Hand zum erstenmal das Wort.

„Ich verstehe nicht. Sagt mir, was ihr meint.“

Das Zischelgeräusch ihres Gelächters rieselte auf ihn herab.

„Kleiner Affe, Äffchen!“ sagte der linke Riese beinahe zärtlich. „Ach, du ungeduldiges kleines Äffchen!“

„Sagt es mir!“

Aber sie gönnten ihm nichts weiter als ihr zischendes Lachen und ihr hochmütig-herablassendes Krokodillächeln.

Ein, zwei Monate später befand sich Hresh mit Hanuman in jenem Stadtsektor, den er Emakkis Boldirinthe genannt hatte, als er endlich das erste noch funktionstüchtige Artefakt aus der Großen Welt entdeckte.

Emakkis Boldirinthe war ein Distrikt im Norden der Stadt und war von außergewöhnlicher Schönheit und hohem Liebreiz. Er lag halbwegs zwischen der See und den Vorbergen, und drei Dutzend schlanke, sich nach oben hin verjüngende Türme aus dunkelblauem Marmor waren als Ring um einen weiträumigen Platz angeordnet, der mit schimmernden schwarzen Schieferplatten ausgelegt war. Die Scheiben in den dreieckigen Fenstern der Türme waren heil und strahlten im Spätnachmittagslicht in einem funkelnden rosa Widerschein. Raffiniert gearbeitete doppelt mannshohe Metallportale saßen noch fest auf ihren massiven Drehangeln, als warteten sie nur darauf, bei jeder Berührung sich aufzutun. Die Bauten selbst wirkten, als seien sie gerade erst vorgestern verlassen worden. Hresh bestaunte sie ergriffen und spürte, wie sich die Last ihres unvorstellbar hohen Alters drückend auf ihn senkte, und es war ein Gefühl, als werde die Zeit als Ganzes in diesen einen einzigen Augenblick zusammengedrückt. Ein Prickeln lief ihm über den Nacken, als werde er von Myriaden unsichtbarer Augen beobachtet.

„Was meinst du?“ fragte Haniman. „Sollen wir versuchen hineinzugehen?“

Sie hatten den ganzen Tag lange gesucht. Es ging ein feuchter Wind. Hresh fühlte sich müde und mutlos.

„Ich war bereits drin“, sagte er, obwohl es gelogen war. Er hatte zwar diese Türme inzwischen mehrmals aus der Entfernung gesehen und war ihnen auch einmal genauso nahe gekommen, doch auf eine widerwärtige Weise hatte ihn eben ihre Unversehrtheit entmutigt und vom Betreten abgehalten. Irgendwie war es ihm als sinnlos erschienen. Sie würden ebenso leer sein wie die übrigen alle; und seine Enttäuschung würde dann nur um so schmerzlicher sein, weil sie so guterhalten wirkten.

„Warste schon? In allen? In jedem einzelnen?“

„Zweifelst du an meinem Wort?“ fragte Hresh scharf.

„Es ist ja bloß, es sind so viele davon da — und es besteht ja schließlich immer mal die Chance, daß einer irgendwo weiter drüben in dem Kreis was enthält. irgendwas.“

„Also schön“, sagte Hresh. Ihm fehlte der Mut, seine Schwindelei noch länger aufrecht zu erhalten. Es ist ja bloß, weil ich dermaßen müde bin, dachte er, daß ich keine Lust habe, diese Türme zu untersuchen, und dabei habe ich mir doch so viele ganz und gar nicht so vielversprechende Gebäude angesehen. Und ein Hresh, der stolz war auf den Namen Hresh-voller-Fragen und Hresh-der-sie-beantwortet, der sollte es eigentlich nicht nötig haben, daß Kerle wie Haniman ihn dazu drängen müssen, eine Inspektion jetzt und sofort in Angriff zu nehmen. „Also schön, schauen wir das uns mal an, und dann machen wir für heute Schluß.“

Haniman zuckte nur die Achseln.

„Ich geh zuerst rein“, sagte er.

Und ohne auf Hreshs Erlaubnis zu warten, lief er zu dem nächstgelegenen Turm und blieb dann vor dem großen Eingangstor kurz stehen. Dann streckte er die Arme aus, soweit sie reichten, als wollte er das Gebäude damit umarmen, dann preßte er sich fest dagegen und schob kräftig. Die Tür tat sich so überraschend auf, daß Haniman mit einem überraschten Schrei vorwärts in die Eingangshalle taumelte und dort in der Dunkelheit verschwand.

Hresh stürzte hinter ihm drein. In einem langen Lichtstrahl sah er dicht hinter der Türschwelle Haniman bäuchlings daliegen.

„Alles in Ordnung?“ rief Hresh.

Er sah, wie Haniman sich langsam aufrappelte, sich den Staub aus dem Pelz klopfte und dann nach oben starrte. Hresh folgte seinem Blick, und ihm stockte der Atem. Das Gebäude war innen hohl, ein einziger dunkler offener Raum, der nichts weiter enthielt als eine spiralige Anordnung metallischer Streben und Röhren, die wenige Fuß über dem Grund begann und dann in Zickzacksprüngen von Wand zu Wand verlief, höher und höher hinauf, in einem derart komplizierten Muster, daß ihm schwindlig wurde, als er versuchte, ihm zu folgen. Zunächst konnte er das Muster nur ein paar Stockwerke hoch nachvollziehen, doch je mehr sich seine Augen an die Düsternis gewöhnten, desto besser erkannte er, daß die sich überkreuzenden Strukturen immer höher und höher, vielleicht gar bis an die Spitze des Turmes hinaufreichten. Es war wie ein gewaltiges Netzgewebe. Hresh überlegte sich, ob vielleicht in den fernen oberen Bereichen eine gigantische Spinne bebend auf sie lauerte. Aber nein, das hier war ja ein Metallgeflecht, unbezweifelbar Metall, schimmerndes leichtes silbernes Material, das sich kühl und glatt unter den Händen anfühlte.

„Ob wir da raufklettern?“ fragte Haniman.

Hresh schüttelte den Kopf. „Versuchen wir zuerst mal rauszufinden, was das hier für ein Ort ist.“

Er langte nach oben und berührte die nächste Sprosse. Sie ertönte in einem satten musikalischen Klang, tief und erstaunlich schön, der langsam und feierlich in die nächste Schicht des Gewebes aufstieg und zur übernächsten und so fort und auf jeder Stufe widerhallende Klänge auslöste. Wundersam vibrierende Töne hallten überall um sie herum wider, wurden stetig intensiver, je höher sie im Turm nach oben stiegen, bis zu einem betäubenden Getöse anschwollen, von dem das ganze Innere des Baus erfüllt war.

Hresh starrte benommen, entzückt, aber auch furchtsam hinauf und dachte, daß der Klang im nächsten Augenblick die Spitze erreichen müsse und daß unter der Gewalt dieses schrecklichen ansteigenden Getöses der ganze Bau über ihnen niederbrechen könne.

Aber es tat sich nichts weiter, als daß der Ton, nachdem er ein atemverschlagendes, hirnsprengendes Höchstvolumen erreicht hatte, sehr rasch wieder schwächer und zarter wurde. Und Augenblicke darauf war er völlig verklungen, und sie standen in bestürzender Stille da.

„Mach deine Lampe an“, sagte Hresh. „Ich will sehen, was auf der ändern Seite ist.“

Vorsichtig umkreisten sie den Innenraum, wobei sie sich dicht an der Außenwandung hielten. Jedoch schien das schimmernde Metallgewebe über ihren Köpfen alles zu sein, was der Bau enthielt. Zu ebener Erde jedenfalls war nichts Bemerkenswertes irgendwo zu entdecken. Der Boden bestand aus nackter, trockener und harter brauner Erde. Als sie wieder beim Eingang angelangt waren, winkte Hresh Haniman zu, und sie traten ins Freie und gingen über den Platz zum nächsten Turm in dem Kreis. Er entsprach genau dem ersten — raffinierte Metallstrukturen in einer dunklen hohlen Schale. Und so war es auch beim dritten, vierten und fünften Turm. Erst als sie beim zehnten Bau der Serie angelangt waren, stießen sie auf eine Verschiedenheit.

In diesem Turm nämlich war ein rechteckiger schimmerndschwarzer Steinquader von der selben Art Stein, wie er draußen zur Pflasterung des Platzes verwendet worden war, glatt in dem nackten Boden genau in der Mitte des Raums eingelassen. Es hätte eine Art Opferstelle sein können, oder aber vielleicht war es auch der Verschluß über einer unterirdischen Kammer.

Du solltest tiefer schürfen, hatte der Künstliche der Saphiräugigen gesagt. Hresh verzog die Stirn und schüttelte den Kopf. Ganz bestimmt hatte doch die Kreatur damit nicht etwas so töricht Wortwörtliches gemeint wie, daß er unter der Erde suchen solle.

Er kniete nieder und rieb die Hände über das schwarze Steinviereck. Es fühlte sich kühl an und sehr glatt, wie etwa schwarzes Glas, und es waren darauf keinerlei Inschriften, die Hresh hätte entdecken können, ja nicht einmal Spuren von solchen. Dann trat er in die Mitte des Steines und blickte in das verwirrende Strebenwerk über ihm hinauf. Die untersten Sprossen lagen hier in der Mitte des Turmes knapp außerhalb seiner Reichweite.

„Komm her und mach einen Buckel!“ befahl Hresh. „Ich will etwas versuchen.“

Haniman ging gefügig auf die Knie nieder. Hresh kletterte ihm auf die Schultern und befahl ihm dann aufzustehen; und als Haniman wieder aufrecht dastand, versetzte Hresh dem nächsterreichbaren Metallstab mit zwei Fingern einen kräftigen Stups, und das ganze Gebäude begann in klaren Tönen zu widerhallen.

Sogleich reagierte die schwarze Steinplatte mit einem dunklen Stöhnen und einem irgendwie mechanischen Seufzen; und dann setzte sie sich in Bewegung und glitt langsam abwärts.

„Hresh?“

„Halt dich gerade!“ schrie Hresh. „So, jetzt laß mich erst mal wieder runter!“ Er sprang von Hanimans Rücken und stand stocksteif neben ihm, unsicher darum bemüht, das Gleichgewicht zu wahren, während der Steinquader gemächlich weiter abwärts sank, beinahe schwebend und immer tiefer und tiefer und tiefer in die Dunkelheit hinunter.

Schließlich hielt die Platte an. Und plötzlich glühte ringsum bernsteingoldenes Licht auf. Hresh blickte sich um. Sie befanden sich auf dem Grund einer hochgewölbten Höhle, die sich endlos weit durch die Tiefen der Erde zu erstrecken schien. Die Decke verlor sich in den Schatten über ihnen. Die Luft war trocken und abgestanden, besaß aber dabei etwas scharf Stechendes, das Hresh an die kalte Luft während der ersten Tage nach dem Auszug aus dem Kokon erinnerte, obwohl es hier unten gar nicht kalt war.

Die Höhlenwände rechts und links entlang und bis zu einer Höhe, wo sich die Sicht verlor, waren mit einem Gewirr von Götzenbildern bedeckt, riesenhafte halb im Dunkel verhüllte Plastiken, die Fries um Fries in die Höhe stiegen. Anfangs fiel es schwer zu erkennen, was für Gestalten dort dargestellt waren, doch allmählich konnte Hresh Einzelheiten unterscheiden und erkannte, daß es sich vorwiegend um Saphiräugige handle, die aus irgendeinem grünen Stein als Hochrelief gearbeitet waren, allerdings waren die schweren ausladenden Kieferknochen und die gerundeten Bäuche wüst übertrieben. Die Figuren waren grotesk, bizarr und besaßen einen Hauch sowohl von Entsetzlichkeit wie von Komik. Einige waren abnorm feist oder besaßen absurd verlängerte Gliedmaßen oder Augen, die so groß waren wie eine dutzendfach vergrößerte Untertasse. Vielen von ihnen sproßten fünf oder sechs verkleinerte Abbilder ihrer selbst wie Pusteln aus den Bäuchen und Schultern. Die unheimlichen dolchartigen Zähne waren gefletscht. Aus den klaffenden Rachen schien lautlos Gelächter zu dröhnen.

Doch die zu beiden Seiten emporwuchtenden Statuen waren nicht nur Bildnisse der Saphiräugigen. Nein, hier fand sich eine ganze Welt zusammen — ja sogar ein ganzer Kosmos — aus dichtgedrängten wogend-wuchernden Statuen in aberwitziger Vielfalt und Zahl, Geschöpfe jeglicher Art, in gräßlich gedrängten verrenkten Gruppen dicht zusammengepackt.

Hie und da sah Hresh die Gestalten von Hjjk-Leuten zwischen den Saphiräugigen, auch einige kuppelköpfige Mechanische, die sich nicht sehr von jenen unterschieden, die der Stamm in den Niederungen dicht hinter den scharlachroten Felsbergen rostzerfressen angetroffen hatte, und da waren andere Wesen, die wie wanderndes Gestrüpp aussahen, mit Blütenblättern als Gesichtern und belaubten Ästen anstelle von Armen und Beinen.

„Was ist denn das für ein Zeug?“ fragte Haniman.

„Vegetalische, glaube ich. Ein Volksstamm aus der Großen Welt, der im Langen Winter vernichtet wurde.“

„Und die da?“ fragte Haniman. Er wies auf eine Gruppe bleicher länglicher Gestalten, die Hresh stark an Ryyig den Träumeträumer gemahnten, dieses sonderbare haarlose Geschöpf, das schlummernd im Kokon über — wie man sagte — hundertmal Tausende Jahre gelebt hatte. Hier schritten sie aufrecht auf zwei langen dünnen Beinen dahin, und gewissermaßen ähnelten sie auch den Menschen des Volkes, aber sie besaßen kein Fell und keine Sensororgane, und ihre schwächlichen Leiber wirkten sogar in Stein weichlich und verletzbar.

Hresh schaute sie lange, lange an.

„Also, ich weiß nicht, was die darstellen sollten“, sagte er schließlich.

„Aber die sind doch wie der Träumeträumer, oder?“

„Ja, das schien mir auch so.“

„Aber — eine ganz große Rasse von Träumeträumern.?“

Hresh erwog dies bei sich. „Wieso nicht? Vor dem Langen Winter lebten möglicherweise vielerlei Arten von Lebewesen auf der Erde.“

„Also waren die Träumeträumer eins von den Sechs Völkern der Großen Welt, von denen die Chroniken berichten?“ Haniman begann an den Fingern abzuzählen. „Die Saphiräugigen, die Seeherren, die Hjjks, die Vegetalischen, die Menschlichen — das macht fünf.“

„Du hast die Mechanischen weggelassen“, sagte Hresh.

„Stimmt. Also, damit haben wir alle sechs. Also — wer waren dann die Träumeträumer?“

„Vielleicht Leute von einem fremden Stern. In jenen Tagen gab es hier alle möglichen Leute von fremden Sternen.“

„Aber was hatte einer von einem fremden Stern in unserem Kokon zu suchen? Wieso lebte der da?“

„Das weiß ich leider auch nicht.“

„Du scheinst ’ne ganze Menge nicht zu wissen, was?“

„Du stellst zu viele Fragen“, antwortete Hresh ärgerlich.

„Ach, und ich dachte, du bist Hresh-der-die-Antworten-weiß.“

„Also, frag mich das lieber ein andermal, ja?“ sagte Hresh.

Er drehte ihm den Rücken zu, stieg behutsam von dem Steinquader, der sie hier heruntergetragen hatte, und machte ein paar vorsichtige Schritte in die Höhle hinein. Bei seiner Bewegung glitt das bernsteinfarbene Licht vor ihm her und erhellte seinen Weg. Es schien aus unsichtbaren Öffnungen zu strömen, die wohl fünfzehn bis zwanzig Schritte voneinander angeordnet waren und die durch seine Annäherung in Betrieb gesetzt wurden.

Zwar quollen überwältigend komplizierte Massen von Skulpturen zu beiden Seiten bis in weite Entfernung, doch der Boden der Höhle selbst schien glatt und leer zu sein. Als Hresh jedoch weiterging, nahm er nach und nach einen brockenähnlichen Gegenstand wahr, etwas Hohes, Breites, das weit hinten in der Düsternis auf seinem Weg hockte. Als er näher herangekommen war, erkannte er, daß er von einer komplexen, deutlichen Struktur war, vielleicht eine Maschine, die überall mit Knöpfen und Hebeln bestückt war und aus einem schimmernden bräunlichgelblichen Material, das fast wie Bein aussah.

„Was hältst du davon?“ fragte Haniman.

Hresh gluckste. „Bald wird man dich noch Haniman-den-Fragesack nennen!“

„Ist das was Gefährliches?“

„Könnte sein. Aber ich weiß es nicht. In allen Texten, die ich gelesen habe, steht kein Wort über das alles hier.“ Er hob die Hände und hielt sie über der nächsten Reihe von Knöpfen in der Schwebe, wagte jedoch nicht, etwas zu berühren. Plötzlich überkam ihn das klare Gefühl, daß dieses Ding da eine Art übergeordneter Kontrollapparatur sein müsse, mit der das ganze Webgeflecht der drei Dutzend Türme um die Plaza in Verbindung stehe. Und diese Spiralen und Streben und Sprossen dienten dann vielleicht dazu, Energie zu sammeln und hierher zu schleusen.

Und wenn ich nun diese Knöpfe berühre? fragte er sich. Fährt dann diese gesammelte Energie durch meinen Leib und zerstört mich?

Und zu Haniman sagte er: „Tritt zurück!“

„Was hast du denn vor?“

„Ich mache einen Test. Und es könnte gefährlich sein.“

„Wäre es nicht besser, du wartest erst noch ein bißchen und untersuchst das Ding erst mal genauer?“

„Genau das mache ich jetzt, ich untersuche es.“

„Hresh...!“

„Tritt zurück! Weiter! Noch weiter!“

„Hresh, das ist irrsinnig. Du redest Blödsinn, und deine Augen sind ganz wild. Geh weg von dem Ding!“

„Ich muß es aber versuchen“, sagte Hresh.

Er legte die Hände an die nächsten Knöpfe und preßte sie, so hart er konnte.

Er rechnete mit allem: Daß Blitze plötzlich wie ein funkelndes Schwert durch die Höhle zucken würden; das Krachen furchtbarer Donner, das Brüllen von Winden, das Schreien und Wimmern verlorener Seelen. Daß er selbst sogleich zu Asche und Staub verbrennen werde. Doch er verspürte weiter nichts als eine schwache Wärme und ein leises Kitzeln. Flüchtig schoß ihm ein bestürzendes sinnenverwirrendes Bild durch das Gehirn: ihm schien, als wären all die Myriaden Bildnisse in der Höhle zum Leben erwacht, als bewegten sie sich, wanderten gestenreich, redend, lachend umher. Ihm war, als werde er in einen reißenden Fluß gerissen, als sauge ihn ein Strudel von Lebendigkeit in sich hinein.

Der Gefühlseindruck dauerte nur kurz. Doch in diesem kurzen Augenblick hatte Hresh die Empfindung, als sei er, er höchstselbst, Erbe und Bürger der Großen Welt. Er befand sich inmitten ihres wundersamen heftigen Gezeitengewoges. Er sah sich selbst durch die pulsierenden Straßen Vengiboneezas schreiten, sich durch das Gedränge und den Trubel auf dem Marktplatz schieben, auf dem sich Angehörige der Sechs Rassen zu Tausenden drängten, Seeherren, Vegetalische, Hjjks, Saphiräugige, Schulter an Schulter. Er nahm die drückendfeuchte schwüle Luft auf seinem Gesicht wahr. Schlanke Bäume beugten sich tief unter der Last ihrer dicken, schweren, öligschimmernden blaugrünen Belaubung. Fremdartige Musik zirpte in seinen Ohren. Der Duft von hundert unbekannten Gewürzen ließ seine Nüstern erstaunt beben. Der Himmel war ein Teppich von leuchtenden Farben: azur, türkis, ebenholzschwarz, scharlachrot. Alles, alles war da, und alles war wirklich.

Es betäubte ihn, und er empfand Demut und Scham.

Mit einem Schlag begriff er, was eine Zivilisation in Wahrheit sei: er verstand die maßlose ungebändigte wimmelnde Vielfalt, die Myriaden vielfältig verflochtener Interaktionen, den Austausch von Ideen, auch das Rangeln und Feilschen auf dem Marktplatz, verstand das Ränkeschmieden und Planen, die Konflikte, den Ehrgeiz und die Eigensucht, und er erfaßte das Wesentliche an einer großen Masse von Leuten, die gleichzeitig in unendlich viele persönlich ihnen wichtige Richtungen streben. Dies hier war so drastisch anders als das einzige soziale Leben, das er bislang gekannt hatte, das Leben im Kokon, das Leben des „Volks“, daß ihn eine tiefe ehrfürchtige Erschütterung überkam.

Wir sind wirklich ein Nichts, dachte er. Wir sind nichts weiter als Kreaturen, die Jahrhundert über Jahrhundert versteckt und geschützt gelebt haben, die einen endlosen, sich ständig wiederholenden Kreislauf erbärmlich trivialer Aktivitäten abspulten, die nichts aufbauten, nichts veränderten, nichts schufen.

Seine Augen brannten von den heißen Tränen. Er fühlte sich klein und erbärmlich, ein unbedeutendes Kürzel in einer Gruppe unwichtiger Kürzel, die sich von der eigenen Überheblichkeit verblenden ließen. Dann aber machte sein tiefer Gram auf einmal einem trotzigen Stolz Platz, und er dachte: Wir waren nur ganz wenige. Und wir lebten, wie wir es mußten, um zu überleben. Unser Kokon wuchs und gedieh, und wir bewahrten unsere Überlieferungen. Wir haben unser Bestes getan. O ja, wir haben das Beste daraus gemacht! Und als es an der Zeit zum Aufbruch war, zum Auszug aus der Isolation im Kokon, da sind wir fortgezogen, um die Welt in Besitz zu nehmen, die uns als Erbteil hinterlassen wurde; und wenn man uns nur ein bißchen Zeit gibt, dann werden wir diese Welt wieder groß machen.

Dann rutschte die Vision fort, der bestürzende Augenblick war vorbei, und Hresh stand zitternd da, blinzelte mit den Augen, war verwirrt, aber noch immer lebendig.

„Was ist denn passiert?“ fragte Haniman. „Was hat das Ding gemacht?“

Hresh wies ihn mit einer zornigen Geste ab. „Laß mich!“

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja. Ja, doch. Laß mich in Ruhe!“

Er war stark benommen. Die Welt, in die er in dieser dumpfdunklen Höhle zurückgekehrt war, wirkte auf ihn nur wie ein verabscheuungswürdiges Trugbild, während eine andere Welt, die so hell, so lebendig war, die wahre Welt für sein Leben darstellte. So jedenfalls war es ihm vorgekommen, bis dann die Höhlenwelt wieder über ihn hereingebrochen war und die andere Welt seinem Zugriff entrissen und dahin war. Und in diesem Augenblick hätte er alles darum gegeben, hätte er sie wieder zurückholen können.

Ihm kam der Verdacht, daß er wahrscheinlich nur ein winziges Bruchteil dessen erfahren habe, was diese Maschine ihm zu bieten hatte. In ihr erwachte die Große Welt erneut zum Leben! Hier verbarg sich der glimmende Zunder einer uralten Magie, hier schwelte ein Kraftfeld, das durch die drei Dutzende Türme hier herabgezogen und aufgebaut wurde, mitten durch das abnorme Statuengewirr hindurch, eine Kraft, die durch sein Gehirn getobt war und ihn durch die verflossenen Jahrhunderte hinweg und zurück getragen hatte in eine verlorene Welt der unfaßbaren Wunder. Und er würde diesen Sprung über die Äonen hinweg wiederholen können! Es war nichts weiter dazu erforderlich als eine Handberührung.

Zum zweitenmal hielt er die Hände über die Schaltknöpfe.

„Du, he, mach das nicht!“ schrie Haniman. „Das bringt dich um!“

Hresh verscheuchte ihn mit einer Handbewegung und packte die Hebel.

Doch diesmal geschah — nichts. Er hätte ebensogut die eigenen Ellbogen festhalten können, was die Wirkung anging.

Er tapste umher, berührte diesen Knopf, dann jenen, dann wieder einen anderen. Nichts. Nichts.

Vielleicht hatte sich die Maschine leergebrannt, um ihm diesen einmaligen Blick ins Wunder zu ermöglichen.

Oder aber dachte er, ich bin es, der ausgebrannt ist. Es könnte ja sein, daß sein Gehirn vom Anprall dieser Kraft dermaßen betäubt war, daß es nichts weiteres fürderhin aufnehmen konnte.

Er trat zurück und betrachtete sich das ‚Ding‘ eindringlich. Möglich, daß es eine gewisse Zeit brauchte, um die Energie wieder neu aufzubauen, nachdem es sie abgegeben hatte. Nein, er würde eine Weile warten und es ein wenig später noch einmal versuchen.

Also hatten ihn auch die Künstlichen Wächter der Saphiräugigen am Tor nicht betrogen, als sie ihn aufforderten, mehr in die Tiefe zu gehen bei seiner Suche. Sie hatten es in einem ganz primitiven Sinne wortwörtlich gemeint. Und vielleicht warteten alle die Wunderdinge, die Vengiboneeza noch enthielt, gleichfalls in unterirdischen Höhlen wie dieser hier verborgen, tief unter den großen Bauten.

Dann fiel Hresh der andere Rat ein, den die Saphiräugigen ihm gegeben hatten: Suche mit dem, was dir hilft, das zu finden, wonach du suchst.

Damals hatte der Rat ihm wenig sinnvoll geklungen. Jetzt aber erkannte er darin plötzlich einen Sinn. Er holte heftig Luft, während Furcht und Erregung ihn gleichermaßen durchliefen.

Meinten sie etwa den Barak Dayir? Den Wunderstein?

Der magische Talisman, den Generationen von Chronisten sorgsam in der Lade mit den Heiligen Schriften aufbewahrt hatten? Der Mechanismus, das Werkzeug, das Ding, das Thaggoran höchstpersönlich mit so hoher furchtsamer Ehrerbietung gehandhabt hatte?

Also, versuchen kann ich es ja, dachte Hresh. Vielleicht kommt etwas dabei heraus.

Und wenn er bei diesem Versuch sterben sollte, so war es doch ein lohnender Versuch; hier gab es nämlich bedeutende Fragen, die auf Antwort warteten, und wenn er alles aufs Spiel setzen mußte, um — wie er hoffte — alles zu gewinnen, nun, dann sollte es eben so sein.

„Komm“, sagte er zu Haniman. „Verschwinden wir von hier — wenn wir können.“

„Willst du denn nicht weiter daran rummachen?“

„Jetzt nicht“, sagte Hresh. „Erst muß ich einiges nachforschen. Ich glaub, ich weiß, wie man das Ding in Gang setzt, aber ich muß erst die Chroniken zurate ziehen, ehe ich es versuche.“

„Was hast du denn da vorhin gesehen?“

„Die Große Welt“, sagte Hresh.

„Ach — ehrlich?“

„Ja. Einen Augenblick lang. Nur einen Augenblick lang!“

Haniman sackte vor Verblüffung die Kinnlade nach unten, und er stierte ihn an.

„Und — wie war das?“

Hresh zuckte die Achseln. „Überwältigender als alles, was du dir jemals vorstellen kannst“, sagte er mit leiser, erschöpfter Stimme.

„Ja, sag doch! Sag es mir doch!“

„Später einmal.“

Haniman sagte dann nichts mehr. Aber nach einer Weile fing er erneut an. „Also, was wirst du jetzt machen? Was mußt du denn wissen, damit du diese Maschine in Gang setzen kannst?“

„Da kümmre du dich mal nicht drum“, sagte Hresh. „Was wir im Augenblick rauskriegen müssen, das ist, wie wir diesen Steinblock da dazu veranlassen können, wieder nach oben zu gehen, damit wir von hier wegkommen.“

In seinem heißen Eifer, die Höhle zu erforschen, hatte er diesem Problem überhaupt keine Beachtung geschenkt. Es war leicht genug gewesen, hier herunterzukommen; aber was sollten sie jetzt tun, um wieder hinaufzugelangen? Er nickte Haniman zu, und sie sprangen wieder auf die schwarze Steinplatte. Aber der Steinquader blieb reglos, wo er auf dem Boden der Höhle lag.

Hresh patschte mit den Handflächen auf den Stein. Ohne Ergebnis. Er tastete an den Kanten entlang, um vielleicht einen Hebel zu finden, der das Ding in Bewegung setzte, so etwas ähnliches wie das Rad, mit dem sie in der Vergangenheit die Luke des Stammeskokons geöffnet hatten. Aber es tat sich nichts.

„Vielleicht gibt’s ja ’nen anderen Weg nach oben“, schlug Haniman vor. „Eine Treppe, irgendwo.“

„Ja, und wenn wir vielleicht wild genug mit den Armen wedeln, dann können wir hier rausfliegen“, fuhr Hresh ihn scharf an. Er kniff die Augen zusammen und spähte in die Düsternis. Ein Hebel vielleicht, der aus der Wand ragt — du läufst rasch hin, ziehst ihn, saust zu dem Steinblock zurück.

Kein Hebel irgendwo. Also, was jetzt? Zu Yissou beten? Nun, Yissou selber hatte vielleicht auch keine Ahnung, wie man von hier wieder nach droben-draußen gelangen konnte. Oder er hatte kein Interesse daran, was mit zwei naseweis-neugierigen kleinen Jungen passierte, die sich hierher verlaufen hatten.

„Mensch, wir können doch nicht den ganzen Tag lang hier rumhocken“, sagte Haniman. „Komm schon, gehn wir da weg und schaun wir, daß wir was finden, was das Ding da bewegt! Oder aber ’nen andren Weg nach draußen. Wie willste denn eigentlich wissen, daß es nicht doch da irgendwo ’ne Treppe gibt?“

Hresh zuckte die Achseln. Schließlich, sich umzusehen, das kostete ja nichts. Also suchten sie in der entgegengesetzten Richtung den Höhlenboden ab, spähten da und dort die Sockel der Reliefgruppen ab, ob dort nicht ein Schaltapparat, eine Geheimtür, eine Treppe oder irgend etwas verborgen sei.

Plötzlich erklang ein stöhnender Laut, als ächzte und vibriere der Boden unter ihnen schwerfällig. Bestürzt und ängstlich blieben sie stehen und blickten einander an. In der dicken, stickigen und schalen Luft breitete sich ein Staubgeruch aus.

„Eisfresser?“ flüsterte Haniman. „Die sich von unten rauf zu uns durchbohren wie damals im Kokon?“

„Eisfresser? Hier?“ antwortete Hresh. „Nein, das kann nicht sein. Ich dachte, die leben bloß in Bergen. Aber (fer Untergrund wackelt, das stimmt. Und.“

Danach erklang ein Seufzen, wie er es bereits früher vernommen hatte, und darauf wieder ein tiefes qualvolles Stöhnen; und dann begriff Hresh, was da geschah. Nein, Eisfresser gab es hier keine. Die Geräusche, die sie da vernahmen, waren die der unsichtbaren Mechanismen, die sie in diese Tiefen herabgetragen hatten.

„Zum Stein!“ brüllte er. „Der geht ganz allein nach oben!“

Und wirklich hatte die Platte sich langsam zu heben begonnen. Verzweifelt rannte er auf sie zu. Sie war bereits bis zu seinen Knien aufgestiegen, als er die Kante packen und sich hinauf wuchten konnte. Er blickte sich nach Haniman um und sah, daß der ganz komisch schwerfällig und unbeholfen herumtapste, wie wenn er durch Wasser zu laufen versuchte. Es war wieder der Haniman von früher, der feiste, ungeschlachte Junge, aus dem sich Haniman herausgewachsen hatte; aber der feiste alte Haniman mochte ja verschwunden sein, doch war offensichtlich auch diese seine neue verbesserte Ausgabe immer noch langsam auf den Beinen. Hresh beugte sich über die Kante des Steinquaders und gestikulierte heftig zu ihm hin.

„Mann! Beeil dich doch! Das Ding geht hoch!“

„Ich — versuch — es — ja — “, grunzte Haniman, Kopf auf dem Brustbein und mit wirbelnden Armen.

Aber als Haniman dann endlich — eine Ewigkeit später — den Steinblock erreichte, war der bis in seine Schulterhöhe aufgestiegen. Hresh streckte die Arme nach unten, um ihn an den Handgelenken zu fassen. Er verspürte einen scheußlichen reißenden Schmerz, als würden ihm die Arme aus den Schultergelenken gekugelt, und einen Augenblick lang glaubte er, daß das Gewicht Hanimans ihn von dem Steinquader herunterzerren müsse. Aber irgendwie fand er auf dem glatten schmiegsamen Stein Halt und zerrte. Und mit einem entsetzlichen Übermaß an Krafteinsatz hievte Hresh Haniman hoch, bis der sich mit dem Kinn an der Kante des Steins festhalten konnte. Und danach war es leichter. Der Steinquader erhob sich in die dunkle Kuppel über ihnen. Seite an Seite lagen sie bäuchlings da, und sie keuchten alle beide, sie zitterten und waren ganz erschöpft. Nie zuvor hatte Hresh solche körperlichen Schmerzen gefühlt wie jetzt: über die ganze Länge seiner Arme hin, pochende, brennende, zuckende Schmerzen, die nicht aufhören wollten; und er hatte den starken Verdacht, daß die Geschichte noch schlimmer werden würde, ehe sie wieder heilte.

Der Steinquader glitt weiter und weiter aufwärts. Hresh faßte schließlich Mut und spähte über den Rand nach unten, über den Rand hinweg, und sah nur Dunkelheit dort; das Bernsteinlicht mußte wohl erloschen sein, kaum waren sie halbwegs in der Luft. Auch über ihnen — Finsternis! Doch es dauerte nicht lang, und sie waren wieder droben im Turm der Metallspiralen, und der Steinquader lag wieder festverankert und plan im Lehmboden des Erdgeschosses.

Stumm erhoben sich die beiden von dem Stein. Und ohne ein Wort wanderten sie den Weg zu ihrem Stamm zurück. Die Nacht war hereingebrochen, eine schwerlastende, sternlose, geheimniserfüllte Nacht. Hresh vermochte sich nicht zu erinnern, daß er sich je zuvor in seinem ganzen Leben dermaßen müde und ausgelaugt gefühlt hätte, nicht einmal an den allerschlimmsten Tagen des Langen Marsches. In seinem Kopf jedoch brannte der Widerschein der Bilder, die er in diesem einen kurzen Augenblick aus der Großen Welt in all ihrer Lebendigkeit geschaut hatte. Er wußte, er würde bald wieder in die Höhle unter dem Turm zurückkehren.

Nein, nicht sogleich, das nicht, so sehr er es sich auch ersehnte, denn ihm war klar, daß er für das nächstemal gewisse Vorbereitungen würde treffen müssen, ehe er es wagen durfte. Aber bald. Und dann würde er den Barak Dayir mitnehmen.

In den folgenden Tagen beobachtete Taniane Hresh und Haniman ausgiebig, denn sie spürte, daß denen bei ihrem jüngsten Erkundungsgang ins Herz der Stadt etwas Ungewöhnliches widerfahren sein müsse. Bei der Rückkehr hatten ihre Augen geleuchtet, und die Gesichter eine seltsame Verwirrtheit verraten. Hresh war direkt zu Koshmar gegangen und hatte dabei alle und jeden beiseitegeschoben, die mit ihm reden wollten, bevor er die Führerin gefunden hatte, als quelle er über von dringlichen Berichten. Aber als Taniane ihn dann später am Abend ausfragen wollte, was er denn gesehen habe, funkelte er sie an, als wäre sie eine Hjjk, und sagte fast wütend: „Nichts. Ganz und gar nichts.“

Ihr kam es so vor, als hätte sie schon ihr ganzes Leben lang sich bemüht, Hresh dazu zu bringen, daß er ihr etwas, irgendwelche von seinen Geheimnissen verrate, und daß er sie stets auf Armeslänge im Abstand von sich gehalten habe. Sie wußte natürlich, daß dieser Eindruck nicht ganz den Tatsachen entsprach. Damals, in den Tagen des Kokons, hatten sie oft zusammen gespielt, und er hatte ihr viel erzählt, verrückte phantastische Sachen über seine Visionen von der Welt draußen vor dem Kokon, seine Träume über das Leben in den Alten Zeiten oder seine Varianten von den Märchen, die der alte Chronist Thaggoran ihm weitergab. Nur zu oft war sie nicht fähig gewesen zu begreifen, wovon Hresh dann redete, oder aber es hatte sie einfach nicht genug interessiert. Und wieso auch? Damals war sie ja nur ein Kind gewesen. Alle waren sie nur Kinder gewesen, sie, Orbin, Haniman, auch Hresh. Aber Hresh war schon immer der Sonderling gewesen, der Andersartige, weit über die anderen hinaus und fern von ihnen, Hresh-der-Frager.

Er hält mich bestimmt für eine Idiotin, dachte Taniane bedrückt. Und er glaubt, ich bin hohl, ich bin einfältig.

Doch sie war jetzt kein Kind mehr. Sie entwickelte sich bestürzend rasch auf ihre Weiblichkeit hin. Wenn sie mit den Händen über ihren Leib strich, konnte sie die harten Knospen ihrer Brüste spüren. Ihr Pelz gewann an satter Färbung und wurde mehr und mehr zu einem schimmernden Dunkelbraun mit rötlichen Schattierungen, und er wurde dicht und seidig. Und sie wurde größer, fast war sie schon so lang wie manche der Vollreifen Frauen, etwa wie Sinistine oder Boldirinthe. Und jedenfalls war sie größer als Hresh, bei dem das Wachstum etwas langsamer voranzugehen schien.

In dieser Zeit begann Taniane sich Gedanken darüber zu machen, wen sie sich als Partner suchen solle.

Sie wünschte sich dafür Hresh. Das hatte sie schon immer getan. Sogar damals, als sie noch kleine Kinder und im Kokon waren und in den wilden Spielen, die sie spielten, von Wand zu Wand kullerten, den Fußringkämpfen, dem Handstand und dem Höhlensegeln. stets hatte sie davon geträumt, erwachsen zu sein, Kinderträgerin zu sein, davon geträumt, wie sie im dunklen Paarungstrakt des Kokons bei Hresh lag. Und auch wenn er so klein war, auch wenn er derart seltsam war, sie spürte in ihm eine drängende Kraft, eine Energie und eine vibrierende Erregtheit, die sie veranlaßt hatten, sich nach ihm zu sehnen, auch wenn sie damals noch nicht gewußt hatte, was Sehnsucht und Verlangen ist.

Jetzt aber war sie älter. Aber sie sehnte sich noch immer nach Hresh. Allerdings, so wie es aussah, behandelte er sie auch weiterhin als ganz beiläufig-nebensächlich und ohne ihr besonderes Interesse zu widmen. Er schien völlig in seiner Aufgabe als Chronist aufzugehen und in einer Welt für sich zu leben.

Und Chronisten wählten sich ja sowieso nie Fortpflanzungspartner. Selbst angenommen, Hresh würde sie so innig lieben wie sie ihn, was hatten sie denn für eine Chance, jemals zu einer Paarung zu kommen? Ach, nein, sie würde sich wahrscheinlich mit irgendwem sonst verkuppeln müssen, wenn es für sie an der Zeit war.

Orbin? Gut, der war groß und kräftig, und dabei in all seiner Stärke sanft. Aber — er war auch langsam im Denken und dumpf. Mit ihm würde sie sich sehr bald langweilen. Außerdem galt sein unverhohlenes Interesse der kleinen Bonlai, auch wenn die zwei, drei Jahre jünger war als ihre Altersgruppe. Diese Bonlai, die war genau die Art von bequemer derber und kumpelhafter Frau, wie Orbin sie bevorzugen würde. Und er, der ruhige, geduldig-gelassene Orbin, würde durchaus bereit sein (unterstellte Taniane), zu warten, bis Bonlai reif genug war.

Und damit blieb nur Haniman. Der einzige andere Jungmann ihrer Altersgruppe. Aber der Gedanke, sich mit Haniman paaren zu sollen, kam ihr doch als recht absonderlich vor. Als sie noch jünger waren, war der so eine erbärmliche Gestalt gewesen, so langsam, so träge, so feist, immer hechelnd hinter den anderen herjapsend. Damals — in den Kokontagen — hätte sie sich nicht vorstellen können, daß irgendeine Frau Lust darauf haben könnte, mit Haniman zu kopulieren — oder eine Tvinnr-Beziehung zu ihm einzugehen. oder überhaupt irgend etwas mit ihm anzustellen. Dennoch besaß er etwas Liebenswertes, oder er war vielmehr so ganz und gar unbedrohlich — und so hatte sie sich einfach zu ihm als zu einem Gefährten hingezogen gefühlt. Jetzt aber hatte er sich dermaßen grundlegend verändert. Langsam war er zwar immer noch ein bißchen, auch unbeholfen, immer noch ein Taps mit Dingen, und andauernd zerbrach er etwas. aber er war inzwischen ein starker Junge geworden, und der ganze wabblige Babyspeck war von seinem Leib verschwunden. Gewiß, faszinierend war er nicht — wie etwa Hresh es war. Aber. er war einigermaßen akzeptabel als Mannspartner — meinte sie jedenfalls. Außerdem war er möglicherweise tatsächlich ihre einzige Chance.

Schön, also werde ich mich mit Haniman zur Kopulation verbinden, beschied sie sich und schmeckte sozusagen diese Vorstellung bei sich ab, um zu sehen, was sie dabei empfinde. Taniane und Haniman. Haniman und Taniane. ja, aber in den Namen steckte doch sogar eine Klangassonanz! Das paßte ja ganz gut zusammen. Taniane und Haniman. Haniman und Taniane.

Und trotzdem. trotzdem.

Sie brachte es doch nicht so ganz über sich. Eine Kopulationspartnerschaft mit Haniman, nur weil er der einzig greifbare Partner war? Mit Haniman, dem Lahmlack, Haniman, dem Außenseiter, der bei jedem Spiel immer die allerletzte Wahl gewesen war. auch wenn er jetzt ja ein bißchen verändert war, für sie blieb er doch und würde es immer sein, der gleiche Haniman: ein Junge, den sie gern zum Freund hatte, aber als Kopulationspartner? — Nein, das nicht, o nein.

Vielleicht stießen sie irgendwann einmal bald auf einen anderen Stamm von Leuten, wie Hresh das immer so kühn mutmaßte. Und dann würde sie einen Kopulationspartner in diesem anderen Stamm finden. da sie ja Hresh selbst nicht haben konnte.

Oder aber sie würde sich überhaupt nicht binden. Diese Möglichkeit gab es schließlich immer noch. Torlyri hatte nie kopuliert. Koshmar hatte nie kopuliert. Also — man mußte nicht unbedingt verpartnert sein, nicht wahr? Koshmar war eine hervorragende Stammesführerin, fand Taniane, auch wenn sie manchmal den Eindruck erweckte, als sei sie von irgend etwas gehetzt, als sei sie engherzig und hart. Aber in Koshmars Leben war nun einmal kein Platz für einen Kopulationsgefährten: das äußerste, was sie sich in der Hinsicht erlauben durfte, war das, was sie mit Torlyri machte, nämlich die Tvinnr-Sache, aber eben keine nachwuchsorientierte Kopulation. Aber schließlich war sie ja Stammesführer. Der Stammeshäuptling paarte sich nicht, das war so Brauch. Oder vielleicht war es auch Gesetz. Und in Koshmars Fall war es zweifellos auch das, was sie selbst vorzog.

Aber traurig war das schon, sich auszumalen, daß man nie, gar nie einen Kopulationspartner haben sollte. Andererseits, wenn das der Preis war, den man dafür zu bezahlen hatte, daß man Stammesoberling sein durfte, dann war es vielleicht auch wieder nicht zu viel.

„Nimmt sich der Häuptling wirklich niemals einen Kopulationspartner?“ fragte Taniane Torlyri.

„Vielleicht haben sie es früher getan“, antwortete Torlyri. „Du könntest ja Hresh dazu fragen. Aber eins ist sicher, keine Führerin, von der ich je gehört habe, hatte einen Partner.“

„Aber ist es das Gesetz — oder bloß ein Brauch?“

Torlyri lächelte. „Da ist der Unterschied nicht besonders groß zwischen den beiden. Aber wieso fragst du? Meinst du, daß Koshmar sich einen Kopulationspartner suchen sollte?“

„Koshmar?“ Taniane brach in schallendes Lachen aus. Die Vorstellung von Koshmar mit einem männlichen Partner war vollkommen absurd. „Aber nein, bestimmt nicht!“

„Nun, aber du hast mich gefragt.“

„Ach, das war nur so ganz allgemein. Wo sich doch inzwischen so viele unserer alten Bräuche verändern, da habe ich eben wissen wollen, ob das auch hier der Fall ist. Jetzt paaren sie sich doch fast alle, nicht bloß die zur Zucht bestimmten Paare. Und vielleicht kommt ja mal eine Zeit, wo Häuptlinge das auch tun.“

„Höchstwahrscheinlich wird das so sein“, sagte Torlyri. „Aber ich glaube, nicht bei Koshmar.“

„Würde es dir Kummer bereiten, wenn Koshmar sich paart?“

„Wir sind Tvinnr-Partnerinnen. Und daran würde sich nichts ändern, wenn sie sich mit einem Mann paart. Oder wenn ich es täte. Das Tvinnr-Band bleibt immer und ewig bestehen, gleichgültig, was sonst geschieht. Aber Koshmar ist eigentlich nicht von der Art, die sich einem Mann überantworten würde.“

„Nein. Nein, das ganz und gar nicht.“ Taniane zögerte ein wenig. „Und du? Bist du es, Torlyri?“

Torlyri lächelte. „Ich gestehe, daß ich mir genau diese Frage in letzter Zeit öfter gestellt habe.“

„Aber die Opferfrau ist doch auch eine, die dem herkömmlichen Brauch gemäß nie kopuliert, oder irre ich mich? Wie der Stammeshäuptling. oder der Chronist. Aber alles ändert sich jetzt dermaßen schnell. Jetzt könnte doch auch die Opferpriesterin sich einen Kopulationspartner nehmen. Oder sogar der Chronist.“

Torlyris Augen glitzerten in gutmütiger Belustigung. „Ja doch, sogar der Chronist könnte das tun. Das würde dir wohl gefallen, wie?“

Taniane wandte die Augen ab. „Ich habe nur ganz allgemein gefragt.“

„Oh. Dann verzeih. Ich dachte, du hast einen besonderen Grund.“

„Nein. Bestimmt nicht! Ja, glaubst du denn, ich würde den Hresh haben wollen, selbst wenn er mich anfleht? Diesen komischen Jungen, der den ganzen Tag über seine Nase in irgendwelche staubige Ecken steckt und für niemanden mehr ein vernünftiges Wort übrig hat.?“

„Hresh ist kein gewöhnlicher Junge, gewiß. Aber auch du bist nicht durchschnittlich und gewöhnlich, Taniane.“

„Ich?“ fragte sie bestürzt. „Wieso?“

„Du bist es eben nicht, und weiter nichts. In dir verbirgt sich mehr, glaube ich, als die meisten Leute vermuten.“

„Meinst du^ wirklich? Ehrlich?“ Sie dachte darüber nach. Ungewöhnlich? Äußergewöhnlich? Ihr Stolz sträubte ihr funkelnd das Fell.

Natürlich war ihr klar, wie dumm-kindisch es war und wie unreif, deswegen so offenkundiges Vergnügen zu zeigen. aber niemand hatte sie jemals zuvor dermaßen gepriesen. und so etwas von Torlyri zu vernehmen von Torlyri.

In einer plötzlichen Gefühlsaufwallung warf sie die Arme um die Ältere. Einen Augenblick lang hielten die beiden Frauen einander eng umschlungen. Dann löste sich Taniane und trat zurück.

„Ach, Torlyri, ich hoffe so sehr, daß du den Partner findest, den du haben willst, wenn du das wirklich haben willst.“

„He, du, warte mal!“ rief Torlyri lachend. „Wann hätte ich je gesagt, ich hab irgend etwas in der Hinsicht vor? Ich habe doch nichts weiter gesagt, als daß ich anfange mich zu fragen, ob so was sich für mich schicken würde, weiter nichts!“

„Aber du solltest dich verbinden“, sagte Taniane. „Alle, alle sollten sich paaren und kopulieren. Die Stammesführerin sollte es tun — ich meine, die nächste Führerin, die nach Koshmar. Der Chronist sollte sich paaren. In diesem Neuen Frühling sollte niemand, keiner einzeln und allein bleiben. Denkst du das nicht auch, Torlyri? Alles verwandelt sich! Also muß alles sich ändern!“

„Ja“, sagte Torlyri, „alles verändert sich.“

Später fragte sich Taniane, ob sie vielleicht nicht doch zu direkt und offen gewesen sei, zu naiv. Worte, die man Torlyri gegenüber aussprach, konnten ja nur allzu leicht direkt in Koshmars Ohr gelangen, und diese Vorstellung fand Taniane denn doch ein wenig beunruhigend.

Dann aber zuckte sie die Achseln und begann sich mit den Händen den Leib abzutasten. Sie ließ die Hände über ihre glatten festen Flanken gleiten und hinauf zu den kräftigen jungen Brüstchen, die sich unter ihrem schimmernden kastanienroten Pelz abhoben. Ihr Körper schmerzte vom Wachsen. Eine wilde Schar unbeantworteter Fragen schnatterte in ihrem Kopf herum. Aber die Zeit wird die Antworten auf all das finden, dachte Taniane. Was ich jetzt tun muß — ist die Kunst des Wartens zu erlernen.

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